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Inhalt

Armin Nassehi
Editorial

Katja Gasser
Brief einer Leserin (25)

Georg Seeßlen
Dahoam is Dahoamnis
Bayern als Mythos, Ideologie und Ware

Maxim Biller
Max in Palästina
Eine Erzählung

Michael Haas
»Wenn ich komponiere, bin ich wieder in Wien«
Exilmusik und Rückkehr

Dirk von Gehlen
Heimat hacken
Wie das Internet eine neue Begriffssoftware schreibt

Adrian Lobe
Neue Heimat Internet
Heimweh nach dem Netz

Eran Shakine
A Muslim, a Christian and a Jew

Naika Foroutan
Heimat. Erde. Migration.
Mein kulturelles Code-Switching

Michael Brenner
Ein Zuhause, aber keine Heimat
Eine kleine Geschichte jüdischer Zugehörigkeitsgefühle

Levi Israel Ufferfilge
Wenn ich dich vergäße, Jerusalem
Von einem jüdischen Nachhause

Robert Misik
Woher kommst Du?
Heimat zwischen politischer Aufladung und gefühligem ­Selbstverständnis

Armin Nassehi
Woher kommst Du nicht?
Sieben Exkursionen in eine Soziologie der Heimat

Jürgen Dollase
Schweinshaxe im 3-Sterne-Restaurant
Über das Verschwinden der »Heimatküchen«

Die Autoren

Impressum

 

Armin Nassehi
Editorial

Es heimatet sehr. Alle entdecken die Heimat – als Wunschvorstellung, als Projektionsfläche, als Feind und Albtraum, sogar als ministrables politisches Thema. Kurz vor dem Verfassen dieses Editorials habe ich in einem Bioladen am Münchner Rotkreuzplatz fettige Kartoffelchips gesehen – der Markenname hieß »Heimatgut«. Deutsche Kartoffeln. Da fehlte nur noch ein alter weißer Mann, der sie sich gekauft hätte. Unter uns: Das ganze Gerede um Heimat ermattet uns langsam – deshalb heißt dieses Kursbuch Heimatt. Das hat sich Peter Felixberger ausgedacht, und er hat es damit wirklich gut getroffen.

Und doch lohnt es sich, über Heimat nachzudenken – nicht, was sie wirklich ist, sondern warum sich die Frage stellt und was die Leute mit der Frage anstellen. So unterschiedlich die Beiträge dieses Kursbuchs auch sind – es eint sie alle eine Distanznahme zum Thema. Es wird nicht für oder gegen den Heimatbegriff gestritten, es wird nicht die eine durch eine andere Heimat ersetzt, es wird nicht das eine richtige Verständnis von Heimat propagiert, sondern alle sind in dem Erstaunen darüber verfasst, wie Regionales zu Heimatlichem aufgerundet wird, um es in den Worten von Jürgen Dollase zu sagen, der sich dem Thema von der Kulinarik her nähert. Alle Beiträge weisen je für sich darauf hin, dass der Begriff Heimat zugleich Lösung und Problem ist und ganz offensichtlich auf eine Leerstelle in modernen Gesellschaften verweist, die sehr unterschiedlich gefüllt werden kann. Robert Misik weist darauf hin, dass diese Leerstelle durch jenen »Elefant im Raum« mit Namen Migration derzeit besonders sichtbar wird. Naika Foroutan thematisiert diese Leerstelle, indem sie auf die schwierigen Mehrfachcodierungen verweist. Georg Seeßlen spielt dies am Beispiel Bayerns durch. Mein eigener Beitrag identifiziert die Rede von der Heimat als eine Ersatzhandlung, bei der aber nicht ganz klar ist, wofür eigentlich.

Einen ganz neuen Ort, der unter Heimatverdacht geraten kann, machen Dirk von Gehlen und Adrian Lobe aus: das Internet, jenen ortlosen Ort, an dem sich nicht nur die junge Generation immer häufiger aufhält. »Es gibt im Sinne der reinen Idee von Volk und Heimat keinen Ort auf der Welt, der unreiner ist als das Internet,« schreibt von Gehlen, und Adrian Lobe bemerkt ganz ähnlich, dass im Netz zwar Heimat gesucht wird, aber nicht ganz klar sei, was da an diesem, zum Teil geistlosen Ort gefunden wird. Er ist sich aber sicher: »Der Geist wird immer eine Heimat finden.«

Dass die Arbeit an dieser Leerstelle von Einheit, Einheitlichkeit und alternativloser Zugehörigkeit zu den größten Katastrophen der Moderne geführt hat, wird in den Beiträgen von Michael Brenner, Michael Haas, Levi Israel Ufferfilge und Maxim Biller sichtbar. Die systematische Dementierung der Zugehörigkeit des Jüdischen zum Eigenen ist der Index, den alles Nachdenken über Heimat in deutscher Sprache trägt – und in welcher Sprache gibt es sonst Heimat?

Wir freuen uns ganz besonders über die Erzählung Max in Palästina, die Maxim Biller eigens für dieses Kursbuch verfasst hat. Sie schwebt in der Spannung von Drinnen und Draußen, von Zugehörigkeit und ihrer Dementierung, vom Staunen und der lapidaren Einsicht, wie banal die Dementierung daherkommt.

Dann möchte ich auch den Beitrag von Levi Israel Ufferfilge erwähnen. Wir haben bei diesem Kursbuch das erste Mal einen Call for Papers für jüngere Autorinnen und Autoren geschaltet. Es erging die Aufforde­rung, uns Konzepte für Beiträge zum Kursbuchthema einzusenden. Auf der Basis von 61 eingesandten Konzeptpapieren haben wir Levi Israel Ufferfilge gebeten, einen Beitrag für dieses Kursbuch zu verfassen. Der 31-jährige Lehrer für Isrealitische Religionslehre und Hebräisch am Jü­dischen Gymnasium München beschreibt in seinem Beitrag Wenn ich dich vergäße, Jerusalem, wie sich die Spannung zwischen der jüdischen Diaspora und Israel darstellt. Der Beitrag endet so: »›Und hast du dann nie Heimweh?‹, fragte mich vor zwei Jahren im westfälischen Müns­ter eine Grundschülerin in der Sukkah der jüdischen Gemeinde. ›Doch‹, versicherte ich ihr. ›Ich weiß nur nicht, wonach.‹«

Der nächste Call for Papers für das Kursbuch 199 mit dem Titel Intelligenzen ist übrigens bereits on­line – bewerbt Euch!

Schließlich möchte ich auf die Kunststrecke hinweisen, auf die Zeich­nungen von dem in Tel Aviv lebenden Künstler Eran Shakine, die einen Moslem, einen Christen und einen Juden dabei zeigen, wie sie sich durch die Welt bewegen. Irgendwie wirken die drei verloren, fast matt, Heimatt eben, aber sie mühen sich nach Kräften auf der Suche nach gemeinsamer Zugehörigkeit.

Der geneigten Beobachterin und auch dem mitgemeinten Pendant wird aufgefallen sein, dass die Hauptbeiträge dieses Kursbuchs mit einer Ausnahme aus männlicher Feder stammen. Nichts Neues in dieser alten Heimatt. Werden wir wieder gefragt, ob Heimat vielleicht ein rein männliches Thema sei (vgl. Kursbuch 196)? Vielleicht ist es das – zumin­dest, wenn man den Textoutput betrachtet. Der Input sah ganz anders aus. Der Anteil der angefragten Autorinnen lag bei zirka 40 Prozent, die zweite Runde eingeschlossen. Sofortige oder auch spätere Absagen haben das vorliegende Ergebnis nach sich gezogen. Gut, dass es am Ende auf die Texte und weniger auf das Geschlecht der Autorinnen und Autoren ankommt – dennoch: Wir bleiben dran (Ihr auch?)!

Umso mehr freuen wir uns darüber, dass Katja Gasser den Stab auf­genommen und den 25. Brief einer Leserin beigesteuert hat.

 

Katja Gasser
Brief einer Leserin (25)

Ich schreibe diesen Leserbrief in einem kleinen Dorf, im Süden Österreichs, meiner Herkunftslandschaft. In Ludmannsdorf, einem Dorf an der Grenze, in dem zwei Sprachen koexistieren: Slowenisch und Deutsch. Ich bin aufgewachsen inmitten von Grün. Ich habe dieses Grün als Selbst­verständlichkeit wahrgenommen, als etwas, das ist, weil es so ist, wie es eben ist. Als Gegebenheit. Als nichts, was bedroht werden könnte. Als nichts, was verteidigt werden müsste. Als nichts, was besondere Beach­tung verlangte. Zugleich in dem Gefühl, sehr früh, dass das, was hier als »natürlich« gilt, mich nicht meint, mich einschüchtert, mich in meinem Welt- und Selbstempfinden mehr bedrängt denn stärkt, mehr ausgrenzt denn eingemeindet. Ilse Aichinger, eine meiner frühen literarischen Licht­gestalten, hat einmal gesagt, dass die Natur dazu da sei, um gekontert zu werden. Diese Natur Ilse Aichingers meint das Einverständnis mit der Welt, wie sie sich einem darbietet. Dieses Einverständnis ge­deutet als eine Haltung des »Das versteht sich von selbst« oder »Es ist, weil es eben so ist«. Diesem Einverständnis wohnt immer schon et­was erbarmungslos Nichtrettendes, etwas Menschenzerstörerisches inne. Und weil dem so ist, muss die Natur, in der Aichinger’schen Spielart gedacht, gekontert werden. Das »Natürliche« sei im Grunde »die allerletzte Schmach«, schrieb Roland Barthes einst in Über mich selbst. Und er führt in diesem Kontext den Begriff der Evidenz ein: Das, was evident sei, sei »gewalttätig«, »auch wenn diese Evidenz sanft, liberal, de­mo­kratisch vorgestellt wird«.

In einer Art Rhetorik der Evidenz scheint sich mir Wolf Lotter in seinem Beitrag »It’s your economy, stupid« aus dem Kursbuch 197, das sich aus unterschiedlichsten Perspektiven dem Grün widmete, zu verfangen. Diese Rhetorik der postulierten Evidenz führt in Wolf Lotters Text zu einer gegenwärtig durchaus massiv forcierten Denkunschärfe, die unseren politischen Diskurs maßgeblich prägt. Lotter spricht pejorativ von »kollektiven Interessen«, inszeniert diese als Gegenspieler von »Selbstbestimmung«, »Selbständigkeit«, »Selbstverantwortung« und »mehr Freiraum für alle« und kommt zu dem Schluss, dass die Grünen nicht zuletzt daran krankten, dass sie nicht entschieden genug an einem »Zivilkapitalismus« arbeiteten, an einer »neuen Ökonomie der Selbst­verantwortung«, die endlich die »alte Tante Kollektiv«, den »deutschen Ungeist der Einheit«, »die ganze autoritäre Grundlage dieser autoritär gebliebenen Kultur« abgestreift hätte. Wolf Lotter markiert den eigenen Denkansatz als radikal antihierarchischen und emanzipatorischen und meint, damit die ideologisch grundierte Herrschaftsstruktur seines eigenen Sprechens verschleiern zu können. Diese ideologisch gegerbte Herrschaftsstruktur seines eigenen Sprechens – sie gibt sich unter anderem darin zu zeigen, dass in ihr, ganz nebenbei, der Begriff der Solidarität entsorgt wird: Sie, die Solidarität, tritt hier rhetorisch nur mehr als »alte Tante Kollektiv« gewandet auf, die das Individuum samt Vielfalt einschränkt und einengt und »echte Transformation« verhindert. Was aber bedeutet »echte Transformation«? Wem dient etwa das Krankreden eines sozialökonomischen Sicherheitsbedürfnisses von Menschen? Wem nützt die Verachtung von »Verbeamtung«, von der Lotter spricht, und wem die Überhöhung des Freiheitsstrebens des Individuums? Schutz und Hilfe: Kein Mensch kommt ohne sie aus, dafür braucht es keine ökonomische Bildung.

Die Natur ist ohne unsere Fähigkeit zu solidarischem Empfinden, ohne »die alte Tante Kollektiv«, nicht zu retten. Die Natur, die heute ge­kontert werden muss, ist jene, die technologischen Fortschritt samt Zerstörung der Idee des Wohlfahrtsstaates und Vereinzelung als natürliche Vorgänge tarnt. Das heißt keineswegs, dass man automatisch tech­nologiefeindlich und rückwärtsgewandt ist. Es heißt nur, dass man nicht bereit ist, den Menschen auf einen einzigen Aspekt seiner Fähigkeitsvielfalt zu reduzieren und damit zuzulassen, dass seine Komplexität allein auf die flexible Verwertbarkeit in einem ökonomischen System hin reduziert wird, das den Glauben an so etwas wie Gesellschaft längst hinter sich gelassen hat. Es heißt nichts anderes, als Widerstand gegen eine Unterwerfung des Menschen unter ein angeblich selbst ersehntes Sys­tem, das all jene, die etwa über kein kreatives Potenzial verfügen, als Nutzlose aussortiert. Das Besingen der »Selbständigkeit« und der »Selbstbestimmung« scheint gegenwärtig mehr denn je jener armselige Rest zu sein, den man den Nichtherrschenden, der Unterschicht nicht zuletzt, vorsetzt, damit sie moralisch beschäftigt und dadurch bei Laune bleiben.

Die Idee, dass es Gesellschaft nicht gibt, ist alt, sie ist ein ideologisches Konzept, das immer schon dazu angetan war, die Kluft zwischen jenen, die sich im Reichtumvermehren üben, und anderen, für die nur Armut abfällt, zu vergrößern. Das heißt ebenfalls nicht automatisch, dass man kapitalismusfeindlich ist – die Kritik am unreflektierten antikapitalistischen Reflex und die historische Kontextualisierung sind richtig und wichtig. Es indiziert vielmehr die gesellschaftspolitisch motivierte Nicht­bereitschaft, für die Vielfalt die Vorstellung von Gemeinsamkeit zu opfern: Das ist nicht inkonsequent oder feige, wie es Wolf Lotter insinuiert, vielmehr ist es der Einsicht geschuldet, dass Vielfalt allein kein valides gesellschaftliches Konzept ist. Sie, die Vielfalt, braucht einen Kitt, etwas, was die Menschen jenseits ihrer Differenz, deren gesellschaftliche, poli­tische Anerkennung essenziell ist, zusammenhält, ihnen eine Per­spek­tive gibt. Solidarität könne man durch Argumente nicht moralisch erzwingen, schreibt Heinz Bude in seinem jüngsten Buch Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee, noch könne man Solidarität als Therapie für ein verwundetes Ich empfehlen. Und weiter: »Man weiß den Gewinn der Solidarität nur zu ermessen, wenn man die Einsamkeit kennt.« In Zeiten, in denen »exkludierende Solidarität« politisch hoch im Kurs steht, sollte man sich umso intensiver rückbesinnen auf diesen schlichten Satz, den letzten dieses jüngsten Buches von Heinz Bude.

Wie wollen wir leben, wer wollen wir sein in Zukunft? Die gewalt­tätige Evidenz: Man sollte sie bei diesen Überlegungen als Spielart der Ver­nunft immer wieder mitbedenken. Und die Zusammenhänge, die sich einem zeigen, auf ihre Bruchstellen hin untersuchen, auf dass nicht zuletzt ihre weltanschauliche Ordnungsstruktur erkennbar werde.

Ob das Grün, mit dem ich aufgewachsen bin, meinen Sinn für das Gefährdete gestärkt oder geschwächt hat? Jedenfalls hat mich mein zweisprachiges Dorf an der Grenze Folgendes gelehrt: dass die »Provinz des Menschen« (Elias Canetti) universell zu denken ist, ohne geografische Grenzen. Und dass Heimat vor allem dort ist, wo Menschen mit einem mitfühlen und zu Solidarität bereit sind. Selbstverständlich ist nichts, Fortschritt kann auch Rückschritt heißen. Vor allem aber: »Du gibst zu, dass es möglich ist, dass grün nie mehr grün wird, hast es schon zugegeben« (aus Ilse Aichinger: »Wisconsin und Apfelreis«).