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Inhalt

Armin Nassehi
Editorial

Hannah Lühmann
Brief einer Leserin (27)

Adrian Lobe
Like the dislike
Sozialer Widerstand im digitalen System

Jasmin Siri
SPD: Revoluzzer, Lampenputzer
Über das Dilemma, eine ordentliche Revolution zu veranstalten

Marc Winkelmann
Bambule
Revolte vor Ort: Hamburg

Armin Nassehi
Das große Nein
Über die Eigendynamik gesellschaftlichen Protests

Hedwig Richter
Sind Frauen die besseren Revolutionäre?
Eine kleine Heldinnengeschichte

Anja Dilk
Molli
Revolte vor Ort: Berlin

Wolfgang Schmidbauer
Die heilige Johanna des Weltbrandes
Gedanken zu Greta Thunberg

Gerhard Seyfried
Von Zwille bis Hering
Eine Werkdurchsuchung

Karl Bruckmaier
Weiß-blau ist bairisch, und grün scheißt die Gans
Ein Protestsong

Astrid Séville
Das Märchen vom Widerstand
Der Vulgärheroismus der Rechtspopulisten

Boris Groys
Die totale Souveränität
Künstler als Doppelagenten der Revolte

Gert Heidenreich
Schwarze Nullen
Manifest wider die Schönfärberei

Heike Littger
Zorro
Revolte vor Ort: München

Cornelia Koppetsch
»Ich denke oft an Piroschka«
Neue subversive Protestformen im Feminismus

Christina Behler
Paradise Lost
Maria 2.0 – Vom Unmut der Frauen in der katholischen Kirche

FLXX
Schlussleuchten von und mit Peter Felixberger

Die Autoren

Impressum

Armin Nassehi
Editorial

Dies ist das 200. Kursbuch, das 31. seit 2012 unter unserer Verantwortung. Dass es Revolte 2020 heißt, ist nicht nur eine Reminiszenz an den alten Mythos, das Kursbuch sei gewissermaßen der Begleiter aller Revolten seit 1965 gewesen, sondern auch ein Hinweis darauf, dass wir es derzeit – weltweit – mit Revolten und Protesten ganz unterschiedlicher Natur, ganz unterschiedlicher Interessen und vor allem ganz unterschiedlicher politischer Couleur zu tun haben. Es ändert sich viel – und das nicht nur durch geradezu unsichtbaren sozialen Wandel im Hintergrund oder im Sinne langsamer Veränderungen durch die Entscheidungsinstanzen der Gesellschaft, sondern in protestierender, revoltierender, in mancher Hinsicht gar revolutionärer Form. Protest erzeugt Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit und Lautstärke. Wir nehmen das Jubiläum also nicht zum Anlass einer nostalgischen Rückschau, sondern zur strengen Gegenwartsanalyse.

Werden die Proteste in Hongkong China wirklich herausfordern können? Was wird aus den unterschiedlichen Protestformen in Südamerika werden? Wird Protest in autoritären Regimen eine Chance haben? Welche Bedeutung hat der Rechtspopulismus mit seinen Bewegungen? Werden die Klimaproteste tatsächlich eine weltweite Lösung des Problems ermöglichen? Es ließen sich noch viele Fragen stellen, die die weltweiten Protestbewegungen angehen. Gemeinsam ist all diesen Beispielen, dass Protest offensichtlich dann wahrscheinlicher wird, wenn staatliche oder andere institutionelle Formen der Konfliktbearbeitung, der Entscheidungsfindung, des Interessenausgleichs und der Deliberation nicht mehr zu befriedigenden Ergebnissen kommen. Protest ist ein großer Demokratiegenerator – er macht auf Missstände und Interessenlagen aufmerksam. Er kann aber auch zivilisierte Formen der Gewaltenteilung infrage stellen oder delegitimieren. Protest und Revolte weisen jedenfalls auf Ordnungsprobleme hin und darauf, dass sich die Gesellschaft ohnehin schon verändert – nur vielleicht nicht in die Richtung, in die man selbst es gerne hätte. Proteste sind gewissermaßen der Lackmustest dafür, wie Gesellschaften mit ihren inneren Konflikten umgehen. Und sie sind ein Veränderungsgenerator.

Dieses Kursbuch steht damit dann doch in der Tradition des Kursbuchs, ein Begleiter und Beobachter, aber ein reflektierender, bisweilen distanzierter, manchmal eher skeptischer Zeitgenosse von protestierenden Bewegungen zu sein. Die Autorinnen und Autoren, die wir dafür gewinnen konnten, arbeiten sich an ganz unterschiedlichen Feldern ab.

Adrian Lobe spürt Revolten im digitalen Zeitalter nach und erkundet die Handlungsfähigkeit des digitalen Menschen, der sich in einem System bewegt, das Nein-Sagen nicht vorsieht. Jasmin Siri eruiert, wie die SPD als eine politische Kraft aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen ist und gerade aufgrund ihres Erfolgs nicht mehr Protest und Revolte verfolgt, sondern diese in die Form des Verwaltungsaktes bringen muss. Gert Heidenreichs engagierter Beitrag ist der Lüge auf der Spur, nicht nur der Lüge, die es immer gegeben hat, sondern der politischen Lüge, die sich nicht darum schert, dass das Lügenhafte sichtbar wird. Heidenreichs Text ist selbst ein Protest gegen diesen Siegeszug der organisierten Unwahrheit. Wolfgang Schmidbauer untersucht mit psychologischem Blick die Figur Greta Thunberg als Gesicht des Klimaprotestes. Für ihn materialisiert sich in Thunberg eine historisch durchaus öfter zu beobachtende Form der revolutionären Kraft von Mädchen, während Hedwig Richter wirklich überraschende Einsichten darüber vermittelt, welche Rolle Frauen in revolutionären Umwälzungen und in der Geschichte der Demokratie spielen.

Astrid Séville ist dem vulgären Heroismus rechter Populisten auf der Spur, bei dem sich die Selbstzuschreibung des Heldischen mit einer merkwürdigen Opferhaltung verbindet. Sie empfiehlt dagegen die Kraft verständigungsorientierter Deliberation statt Verständnis für diese Opferhaltung. Eine ähnliche Opferhaltung prangert Cornelia Koppetsch mit ihrem Beitrag zur identitätspolitischen Form des gegenwärtigen Feminismus an, in der sie den Ausdruck einer gewissen Gesellschaftsvergessenheit feministischer Proteste und Kritik ausmacht. Boris Groys wechselt das Terrain und sieht gerade in der musealen avantgardistischen Kunst eine bemerkenswerte Dialektik walten: Die Kunst müsse auf ihre eigenen Traditionen Bezug nehmen, gerade um fähig zu sein, das revolutionär Neue ins Werk zu setzen. Karl Bruckmaiers Protestsong gegen/über/an den Protestsong nimmt eine solche künstlerische Tradition aufs Korn und wundert sich darüber, wie wenig Zukunft er immer schon hatte. Ich selbst nehme mir die Freiheit, in einem längeren Beitrag die grundlegende Funktion, die Eigendynamik und die interne Steigerungslogik von Protesten in den Fokus zu nehmen.

Christina Behlers Beitrag hat ein eher ungewöhnliches Thema im Visier, nämlich die Frauenbewegung Maria 2.0 in der katholischen Kirche gegen die patriarchalischen Strukturen derselben. Dieser Beitrag ist das Ergebnis unseres dritten Aufrufs, dem Call for Papers, für jüngere Autorinnen und Autoren, die sich für einen Text im Kursbuch bewerben können.

Schließlich sind drei Reportagen hervorzuheben: Anja Dilk, Marc Winkelmann und Heike Littger haben Protest- und Revolteszenen in Berlin, Hamburg und München beobachtet, haben ganz unterschiedliche Orte der Revolte aufgesucht und berichten darüber – von Kleinparteien wie »Volt« oder »Die PARTEI« über »Extinction Rebellion«, über innere Revolten einer Stadtkirche oder einer Handelskammer und der autonomen Szene bis hin zu Künstlerkolonien, nachhaltiger Mode und zum Oktoberfest. Diese drei Reportagen konkretisieren vieles von dem, was in den anderen Beiträgen auftaucht. Und sie zeigen, wie die Nein-Stellungnahme, der Protest und das Nein sich in der und gegen die Widerständigkeit der Gesellschaft behaupten.

Es ist übrigens eine Widerständigkeit, die offenbar aushält, dass in der Gesellschaft ihr eigenes Ende, ihr Untergang, ja der Weltuntergang öfter behauptet wird, als er stattfindet. Diese Diskrepanz zwischen erwartetem und eingetretenem Weltuntergang ist Gegenstand der zweiten Kolumne »FLXX« von Peter Felixberger.

Mit den Zeichnungen von Gerhard Seyfried kommt ein Held meiner Jugend in diesem Kursbuch zu Wort oder besser: ins Bild. Gerhard Seyfried ist ein genialer Zeichner, der die Alternativszene in West-Berlin begleitet hat. Das Tollste daran ist die Selbstironie, die mancher Ernsthaftigkeit von Szenen bei Demonstrationen, in theoretischen Diskussionen, in Wohngemeinschaften einen selbstironischen Blick entgegengesetzt hat. Wir freuen uns sehr, dass Gerhard Seyfried uns eine Auswahl seiner Zeichnungen von damals bis in die Gegenwart zur Verfügung gestellt hat.

Schließlich sei noch Hannah Lühmann gedankt, die den 27. Brief einer Leserin geschrieben hat.

Hannah Lühmann
Brief einer Leserin (27)

Ein Typ, mit dem ich eine Zeit lang zusammen war, gab mir einmal einen Text. Er wollte unbedingt, dass ich ihn lese. Es ist ein paar Jahre her, ich war Ende 20, er Ende 30. Im Nachhinein kommt es mir gar nicht mehr so vor, so besonders jung gewesen zu sein, aber ich fühlte mich zu dieser Zeit unwissend, unfertig, an allem scheiternd, vor allem an der Politik. Der Text erschien mir, dadurch, dass er mir so sehr ans Herz gelegt worden war, als etwas nicht Willkürliches, als etwas Gesetztes: Ich wollte, dass er wichtig ist, dass er zu mir spricht. Deswegen habe ich ihn sehr oft gelesen. Es waren 13 Seiten, mit schwarzen Kopierbalken am Rand, aus irgendeinem Reader herauskopiert und dann eingescannt. Er handelt von der Universität, vom Erwachsenwerden, vom Hadern mit der bürgerlichen Ordnung, mit der eigenen Anpassung – und von der Frage, ob es möglich ist, revolutionär zu sein, ohne das eigene Denken aufzugeben. Heute, wo die Menschen, auch und gerade die Jungen und die Akademiker, wieder besonders bereit zu sein scheinen, ihr Denken freiwillig einzustellen, lohnt es sich, diesen Text wieder zu lesen. Er spricht über die Jahre hinweg.

Der Text ist von Rainald Maria Goetz. Er ist im Kursbuch 54. Jugend im Dezember des Jahres 1978 erschienen und trägt den Titel »Der macht seinen Weg. Privilegien. Anpassung. Widerstand«. Es ist die erste Veröffentlichung von Goetz überhaupt, er war damals 24 Jahre alt. Es ist der Text eines sehr jungen Mannes, auf eine rührende Weise ein bisschen eitel: Goetz entwirft die dramatische Szenerie seines Einzelgängertums, beschreibt eingangs, wie er, fernab der anderen Studierenden, »an einem Wintertag, während es draußen schneit«, in der Cafeteria des Germanistischen Instituts einen Gedichtband von Paul Celan liest, »wie um sein Leben«. Wir befinden uns im Deutschland des Jahres 1978, ein Jahr nach den Ereignissen des sogenannten Deutschen Herbstes, der Ermordung Hanns Martin Schleyers, der »Landshut«-Flugzeugentführung und den Selbstmorden der Anführer der ersten RAF-Generation in Stammheim. Und vor diesem Hintergrund, in einem als repressiv empfundenen Klima der »Sympathisantenhatz«, sucht der Einzelgänger Goetz nach einem Zugang zum Politischen, zu einer revolutionären Sprache, zu einem revolutionären Handeln.

Zwar graut es ihm einerseits vor der »amorphen Masse« der Unpolitischen, der Angepassten, es graut ihm vor dem »Allensbach-Demoskopie-Menschen«, auf der anderen Seite aber – und das ist es, was ihn wirklich verstört – erlebt er, wie auch und gerade seine politisierten Kommilitonen freiwillig das Denken aufgeben. In einer großartig geschilderten Szene beschreibt er, wie ein Freund von ihm in eine Karl-Marx-Gruppe eingetreten ist und ihm, eben noch ein Zweifler und Schöngeist, entgegentönt: »Ich habe jetzt einen Standpunkt.« Goetz selbst, aufgerieben zwischen solchen Klischees marxistischen Sprechens und dem politischen Konservatismus seines althistorischen Instituts, flieht in die Kunst: »in die Literatur, in die Bücher, ins Theater, ins Schreiben«.

Einmal aber, und das ist das Großartige an diesem Text, kommt es zu einem Wendepunkt oder jedenfalls zu einem Punkt, an dem kurzzeitig etwas aufbricht: Im Herbst 1977 verfolgt Goetz, »informationsgierig«, die linke französische Presse, um eine andere Sicht auf die Ereignisse in Deutschland zu bekommen. Die fremde Sprache hilft ihm »paradoxerweise«, den »Ekel« vor den Inhalten eines revolutionären Vokabulars »zu durchstoßen«, weil es »nicht mehr um die bloße Äußerlichkeit von Benennungen geht«. Auf einmal empfindet er nicht mehr jene »Etiketten- und Schablonenhaftigkeit«, die ihn seit Schultagen als »denkfeindlich« abstieß. Auf einmal kann er das Private auf das Abstrakte beziehen, die Politik rutscht ihm »vom Kopf ins Herz«.

Ich las diesen Text das erste Mal im Jahr 2014, es war kurz bevor – mit dem Krieg in der Ukraine – diese seltsame neue Zeit der Ernsthaftigkeit begann, in der wir auf einmal lebten. Ich weiß noch, wie ich im Berliner »Haus der Kulturen der Welt« auf einer Tagung zum Thema Krieg war und ein Freund von mir auf seinem Twitter-Account die Ereignisse in der Ukraine hochemotional mitverfolgte. Ich war neidisch auf ihn. Ich wartete darauf, dass mir die Politik vom Kopf ins Herz rutschte. Ich sehnte mich danach, »politisch zu sein«, eine »Haltung zu haben«, was bei mir zu der Zeit gleichbedeutend war mit »irgendwie links sein«. Ich glaube, es ging vielen jüngeren Menschen so. Wir wollten uns informieren, uns interessieren, etwas tun, aber gleichzeitig hatten wir das Gefühl, alles, was man tun könne – in eine Partei eintreten, selber etwas gründen, Politisches posten –, wäre irgendwie aufgesetzt, unauthentisch, unecht. Wir waren noch nicht an dem Punkt, an dem wir, um mit Goetz zu sprechen, »unsere Wirklichkeit auf diese Abstrakta beziehen können«. Wir kamen aus dem Zeitalter der Ironie.

Heute, 2019, ist das Politische zurück. Und mit ihm ist auch die Pose wieder da, genauso wie die »Spielzeugrevolutionäre«, wie Goetz an einer Stelle seines Textes einen jungen Mann bezeichnet, der, sich als eine Art Che Guevara gebärdend, eine Geburtstagsfeier besucht. Vor fünf Jahren wussten wir noch nicht, wie es überhaupt möglich werden soll, von einer bestimmten Position aus zu sprechen. Heute sind die »Etiketten« und »Schablonen« zurück, sie sind denkfeindlich wie eh und je, bringen, wie eh und je, Erleichterung. Heute haben wir einen neuen, aus den Gender- und Kulturwissenschaften hervorgegangenen Diskurs, der sich so wunderbar selbst sortiert, dass man ihn nicht mehr durchdenken muss, um in der aus ihm hervorgegangenen Sprache zu sprechen. Wir haben Parolen wie check your privilege und toxische Männlichkeit, wir haben den alten weißen Mann und die people of colour. Wir haben safe spaces, wir haben trigger warnings. Die Leute haben jetzt wieder einen Standpunkt.

Adrian Lobe
Like the dislike
Sozialer Widerstand im digitalen System

Im Oktober 2018 kam es in der US-Wüstenstadt Chandler zu einem denkwürdigen Ereignis. Am helllichten Tag stürmte ein Mann auf eine Kreuzung und zerstach mit einem spitzen Gegenstand den Reifen eines Roboterfahrzeugs. Der Verdächtige, ein Mann Mitte 20, flüchtete nach der Attacke zu Fuß in die umliegende Nachbarschaft.1 Seitdem die Google-Schwester Waymo in dem Vorort von Phoenix ihre autonome Fahrzeugflotte zu Testzwecken auf die Straße schickte, kam es immer wieder zu tätlichen Übergriffen. In einem Fall soll ein 69-Jähriger einen Testfahrer mit einem Revolver bedroht haben.2 (Die Roboterautos, die mit Radar, Sensoren und Kameras ausgestattet sind, haben als rollende Rekorder praktischerweise Fotos des Verdächtigen gemacht und der Polizei zu Fahndungszwecken übermittelt). In anderen Fällen sollen die Waymo-Fahrzeuge mit Steinen beworfen und mit Messern attackiert worden sein. Die lokale Polizei zählte 2017 und 2018 über ein Dutzend tätliche Angriffe.

Nicht nur in Arizona, auch in Kalifornien vermelden Polizeibehörden vermehrt Vandalismusvorfälle, die sich gegen digitalisierte Vehikel richten. In San Francisco stieg 2018 ein Taxifahrer aus seinem Auto aus und schlug auf die Windschutzscheibe eines Roboterfahrzeugs ein. Ein Sicherheitsroboter, der in Parkhäusern patrouillierte und Obdachlose vertreiben sollte, wurde von wütenden Bürgern demoliert; Wohnungslose, die gerade eine Zeltstadt errichteten, stülpten eine Plane auf den Roboter, schlugen auf ihn ein und schmierten Barbecue-Sauce auf seine Sensoren.

In Paris zündeten wütende Taxifahrer Reifen an und kippten Autos um, um gegen den Fahrdienstleister Uber zu protestieren. Und in San Francisco wurden die privaten Google-Busse, welche die Mitarbeiter aus der Stadt ins Hauptquartier nach Mountain View befördern, wegen steigender Mieten von einer aufgebrachten Stadtguerilla mit Steinen beworfen – ein Vorfall, den der Medientheoretiker Douglas Rushkoff als Titel für sein Buch Throwing Rocks at the Google Bus wählte 3 – und der offensichtlich von manchem als Betriebsanleitung für einen Maschinensturm gelesen wurde und zu zahlreichen Nachahmungstaten führte.

Das linke US-Magazin Mother Jones bezeichnete die Vorkommnisse, denn auch als »neue ludditische Revolte«.4 Im Jahr 1811 zerstörten englische Arbeiter um ihren Rädelsführer Ned Ludd Webstühle, um gegen die Automatisierung und den drohenden Arbeitsplatzverlust zu protestieren. In ganz Europa steckten aufgebrachte Weber Spinnereien und Fabriken in Brand. Über das Motiv der zeitgenössischen Vandalen herrscht Unklarheit. Die Angreifer waren offenbar von einer Mischung aus diffuser Technologiekritik und blinder Zerstörungswut getrieben – und nicht unbedingt politisch motiviert (wobei zu fragen wäre, wie Randale und politische Motivation überhaupt zusammenhängen, denn dadurch ginge auch immer eine gewisse Legitimation und Überhöhung von Gewalt einher). Vielleicht werden die aktuellen Attacken dereinst als Maschinensturm 2.0 in die Geschichtsbücher eingehen. Vielleicht markieren sie aber auch den Beginn einer Epoche, in der sich die Automatisierung vom Menschen entkoppelt hat.

Denn in den Angriffen auf die Roboterfahrzeuge zeigt sich eine gewisse Tragik, um nicht zu sagen: Vergeblichkeit. Während sich die mechanischen Webstühle zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch physische Gewalt noch restlos zerstören ließen, kann man heute gegen die KI-Systeme nichts mehr ausrichten. Man kann einem Roboterfahrzeug die Scheibe einschlagen und den Reifen zerstechen, aber Daten über seine Umgebung wird es weiterhin sammeln. Es wird sogar weiterfahren, wenn auch holprig. Irgendwann wird ein autonomes Fahrzeug vielleicht sogar in der Lage sein, sich selbst zu reparieren. Und selbst wenn man so ein »autonomes« (oder sollte man nicht besser sagen: heteronomes?) Fahrzeug unwiederbringlich zerstört, rattert die Datenmaschinerie in den dahinter arbeitenden Rechenzentren weiter. Die Digitalisierung erscheint wie ein Perpetuum mobile, das uns alle überrollt. Kann sich das digitale Subjekt dagegen noch wehren?

Nach Bruno Latour gibt es gar keine Objekte mehr (allenfalls Fossilien, zumindest bis zu dem Moment, wo sie freigelegt und archäologischen Praktiken zugeführt werden), sondern nur noch Aktanten.5 Ein Schlüssel ist in einem Netzwerk genauso ein Handelnder wie der Hotelgast, der diesen an der Rezeption abgibt, oder ein Autofahrer, der die Wählhebelstellung seines Automatikgetriebes von P (Parken) auf D (Drive, Fahren) stellt. Auch ein Roboterfahrzeug ist ein Aktant, vielleicht sogar ein (Kontroll-)Agent, der den Fahrer erkennungsdienstlich behandelt, durch Eye-Tracking-Systeme etwa, die Müdigkeit detektieren.

Bei so vielen Aktanten stellt sich die Frage, wer überhaupt noch handlungsfähig und ob es der Mensch im Besonderen ist. Sind die Attacken auf die Waymo-Fahrzeuge bloß eine Art Ersatzhandlung? Kann es sein, dass die Vandalen ihrerseits von automatisierten Systemen radikalisiert wurden, dass sie sich gewissermaßen im Tatobjekt geirrt haben, dass sie ein Netzwerk attackiert haben, was längst Teil ihrer eigenen politischen Sozialisation ist? Dass sie also gar nicht die Automation an sich sabotieren wollen (und können), sondern ihre eigene Mechanisierung, dass der gewaltsame Protest quasi performativer Ausdruck der eigenen Teilautomatisierung ist? Juristisch gesprochen: Liegt hier nicht womöglich ein untauglicher Versuch vor, so wie der Abtreibungsversuch an einer Nichtschwangeren oder Tötungsversuch an einer Leiche, weil es ja gar nicht Roboterautos sind, die uns steuern, sondern immaterielle und menschengemachte Werkzeuge wie Algorithmen, die man nirgends sieht und die man nicht einfach mit Hammer und Meißel zerstören kann?

Die Gretchenfrage vor diesem Hintergrund lautet, wie sich der Mensch inmitten einer künstlichen Umgebungsintelligenz, wo Algorithmen Wege vorspuren (und es keine Auswege zu geben scheint), überhaupt revoltieren kann, und ob er das Gefühl verspürt, gegen die höfisch anmutenden Dienstleister aufzubegehren. Ist Revolte noch zeitgemäß? Ist Subversion in algorithmischen Systemen überhaupt möglich? Findet der Maschinensturm möglicherweise woanders statt, in gesellschaftlichen Systemen, wo wir ihn aufgrund unserer Wahrnehmungsvorhänge gar nicht vermuten? Wie kann man, innerlich wie äußerlich, revoltieren, wo einem affirmative Algorithmen permanent das eigene Denken bestätigen? Kann man überhaupt gegen ein System sein, das mit derart verlässlicher mathematischer Präzision unseren eigenen Willen ermittelt?

Nach Albert Camus ist der Mensch in der Revolte »ein Mensch, der nein sagt«.6 Diesen existenzialistischen Kernsatz muss man mehrmals lesen, weil er mehr ist als die bloße performative Negation einer Frage oder Aussage. Er beschreibt eine Haltung, aus der heraus der moderne Mensch erst sein kann. Nein zu sagen bedeutet, gesellschaftliche Zustände abzulehnen, Grenzen einzuziehen. Wer nicht Nein sagen kann, ist ein Sklave, der nur Befehle ausführt. Das Nein hat etwas zutiefst Lebensbejahendes. Wer Nein sagt, also revoltiert, trifft eine Entscheidung: »Er stellt das Vorzuziehende dem Nichtvorzuziehenden gegenüber.« 7 Erst im Aufstand findet der Mensch zu sich, wird er sich seiner Rechte bewusst. »Die Revolte«, schreibt Camus, »ist die Tat des unterrichteten Menschen, der das Bewusstsein seiner Rechte besitzt.« 8 Die Revolte ist der einzige Ausweg aus der Absurdität des Lebens. Um es auf die berühmte existenzialistische Formel zu bringen: La vie est absurde, mais il ne faut pas se résigner, il faut se révolter.

Wenn die Revolte die »Tat des unterrichteten Menschen« ist – sind virtuelle Assistenten, die den Menschen entmündigen, dann reaktionär? Woraus soll ein kritischer Geist erwachsen, wenn geistlose Intelligenzen unseren Willen formen? Was heißt Nein in einer digitalen Konsumwelt? Kann es ein Nein außerhalb des totalen Verzichts geben? Wie lassen sich Grenzen ziehen, wo das biopolitische Zugriffsrecht auf unser Leben immer schrankenloser wird? Sind wir bereits so resigniert, dass wir die Verwaltung unseres Lebens Algorithmen überantworten?

In der analogen, industrialisierten Gesellschaft gab es noch klare Abgrenzungen zwischen Milieus, Kategorien und Codierungen; gesellschaftliche Großkonflikte ließen sich mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Das emblematischste Beispiel neuerer Zeit ist der Slogan »Atomkraft? Nein danke«, der schon Mitte der 1970er-Jahre entworfen wurde und mit dem die Umweltbewegung revoltierte, um damit ihre Ablehnung zur Kernenergie zum Ausdruck zu bringen. Gerhard Schröders kategorisches Nein zum Irak-Krieg 2003 war nicht nur eine Revolte gegen die völkerrechtswidrige US-Militärintervention, sondern gleichsam die Reaffirmation politischer Souveränität. Mit der Ausdifferenzierung und Atomisierung der Gesellschaft sowie der zunehmenden Komplexität politischen Handelns ist das Revoltieren schon allein deshalb schwieriger geworden, weil sich politische Sachfragen nicht mehr auf klare Ja-Nein-Kategorien herunterbrechen lassen.

Das Nein wurde in den letzten Jahren zum Symbol für Obstruktion. So wurden die Grünen wahlweise als Verbotspartei oder Neinsager abgestempelt, die den gesellschaftlichen Fortschritt blockierten. Italiens rechtspopulistischer Innenminister Matteo Salvini sagte in der Regierungskrise im August 2019, das Land brauche viele »Si« und keine »No«.9

Mit der Digitalisierung der Gesellschaft erleben wir nun das Phänomen, dass sich, eigentlich systemwidrig und zunächst differenzierend anmutend, ein »Ja, aber« in die binären Entscheidungssysteme einschleicht. Wenn man bei Amazon nach einem Produkt sucht, sagt der Weiterempfehlungsmechanismus sinngemäß: »Ja, aber es gibt doch auch noch weitere ähnliche Produkte! Warum suchen Sie nicht danach?« Wenn man seinen Facebook-Newsfeed öffnet, dann springen einen die bejahenden Kommentare und Posts förmlich an, die sagen wollen: »Ja, so ist es, du hast schon immer recht gehabt! Aber wir haben da auch noch was anderes für dich: Noch mehr Freunde, noch mehr Gruppen!« Soziale Netzwerke sind so clever designt, dass man zu diesem System nur Ja sagen kann – schon allein aufgrund der Tatsache, dass einem der Algorithmus permanent die eigene Meinung bestätigt. Man kann ja schlecht seine eigene Subjektstellung verneinen. Das ist die Krux an diesem aufoktroyierten Sozialvertrag: dass man das Angebot nur mit einem Ja beantworten kann. Es ist eine Form totalitärer Herrschaft, bei der Widerspruch ganz subtil aus dem System ausgeschlossen wird. »Like ist digitales Amen«, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han: »Während wir Like klicken, unterwerfen wir uns dem Herrschaftszusammenhang.« 10

Nein ist eine Kategorie, die medialen Ökosystemen wie Facebook fremd ist. Den Dislike-Button, den die Community schon seit Jahren einfordert, hat Facebook nie eingeführt. Auf die Frage, warum es keine Möglichkeit der Missfallensbekundung in dem sozialen Netzwerk gibt, antwortete Facebook-Chef Mark Zuckerberg 2014: »Das ist nicht etwas, von dem wir glauben, dass es gut ist. Wir entwickeln das nicht. Ich denke nicht, dass es eines Abstimmungsmechanismus auf Facebook darüber bedarf, ob Posts gut oder schlecht sind. Ich denke nicht, dass es sozial sehr wertvoll oder gut für die Community ist …« 11

Die Aussage konnte man als Paternalismus werten, aber auch als kommunikative Entmachtung. Die Community-Mitglieder sollen unter der digitalen Pastoralmacht gehorchen – eine Art Training am digitalen Selbst, ständig affirmativ gut gelaunt zu sein. So wie der Soldat stramm im Regiment stehen muss, soll der linientreue Nutzer mit der digitalen Uniform der Likes und Smileys zum digitalen Defilee antreten. Abweichungen von der Norm sind rein programmiertechnisch schon nicht möglich. Nein sagen bzw. revoltieren geht da nicht. Wer auf Facebook Nein zur Überwachung sagt beziehungsweise schreibt, sagt implizit doch Ja zum Datenkapitalismus. Jeder Klick, jeder Like wirkt systemstabilisierend und spült noch ein paar Werbedollar mehr in die Kassen des Konzerns. Das ist eine der fundamentalsten Umcodierungen, die das Kommunikationssystem je erlebt hat.

Das bedingungslose Ja der Nutzer korrespondiert mit einem fast schon unterwürfigen Ja der Maschinen. Virtuelle Assistenten sind programmierte Jasager: Sie sagen zu allem Ja und Amen, weil das auf Bedarfsweckung gründende System sonst gar nicht funktionsfähig wäre. Ein Nein wäre ja nicht bloß Konsumverzicht, sondern ein Stöckchen ins Räderwerk der Maschinen und damit die Negation der gesamten On-demand-Wirtschaft. Es hat in der Geschichte des Kapitalismus noch nie eine Version gegeben, die sich als derart alternativlos darstellte wie der algorithmengetriebene Datenkapitalismus.

Doch dieses programmierte Jasagertum offenbart sich bloß an der Benutzeroberfläche. In den Entscheidungsbäumen sind die Einstellungen ganz anders codiert. Indem Algorithmen aus unserem Gesagten unsere Präferenzen entschlüsseln, stellen sie, mit Camus gesprochen, das Vorzuziehende dem Nichtvorzuziehenden gegenüber, sagen sie implizit Nein zu bestimmten Alternativen und Handlungsoptionen – und negieren damit die Subjektstellung des Individuums. Der Einzelne soll ja gar nicht mehr suchen, recherchieren, vergleichen oder wollen, sondern bloß konsumieren. Der armselige Tinder-Nutzer, der Partner auf der Dating-Plattform wie verdorbenes Obst aussortiert, indem er auf dem Display nach links (Ablehnung) oder rechts (Zustimmung) wischt, revoltiert ja nicht, sondern er fleht den Algorithmus förmlich an, ihm noch mehr Bilder, noch mehr Suchende und irgendwann auch einen »Match«, also übereinstimmende Zustimmung, anzuzeigen. Selbst bei einem Swipe nach rechts sagt er nicht Nein zu den Abgelehnten, sondern Ja zu seiner totalen digitalen Vermarktung und Steuerung.

Man muss sich den Homo digitalis daher als unglücklichen Menschen vorstellen. Er muss nicht mehr wie Sisyphos den Stein jedes Mal aufs Neue den Berg hinaufrollen – nach Camus liegt in dieser Repetitivität und Mechanik gerade das Sinnstiftende, weil man mit dieser Unerschütterlichkeit den Göttern trotzt –, sondern er wird selbst zum Stein, wird durch Manipulationstechniken wie Nudging ständig selbst geschoben. Der Mensch hat gar keine Aufgabe mehr.

Das Smart Home lernt aus den Routinen des Bewohners und schaltet proaktiv die Heizung ein, wenn der Bewohner auf dem Heimweg ist. Der Internet-Browser empfiehlt Artikel zur Lektüre, die einen interessieren – nicht nur im Konjunktiv, sondern im Indikativ, weil die Berechnungen so präzise sind. Und Amazon stellt in Zukunft per Drohnen Pakete zu, die wir gar nicht bestellt haben, aber insgeheim wünschen. Zumindest hat der Online-Händler bereits ein Patent für ein Vorbestellsystem angemeldet, bei dem Waren in Gebiete verfrachtet werden, wo sie noch gar nicht bestellt wurden.12 Wie soll man gegen diese automatisierte Zwangsbeglückung revoltieren?

Die Absurdität unseres Daseins besteht darin, dass uns Algorithmen mittlerweile besser kennen als wir uns selbst. Daraus resultiert ein Rollenkonflikt zwischen dem digitalen Subjekt und seinem Doppelgänger, eine innere Revolte, die gar nicht so sehr auf die Abänderung der äußerlichen Machtstrukturen abzielt, sondern darauf, den algorithmischen Versuchungen zu widerstehen. Soll man auf den Link klicken? Soll man sich ergeben? Oder mühsam einen Abnutzungskampf gegen Maschinen führen, die so viel ausdauernder und hartnäckiger sind?

Die Digitalisierung basiert auf einem Taschenspielertrick: Der Mensch glaubt, er würde Maschinen befehligen, dabei unterwirft er sich lediglich den Programmierbefehlen, die die Softwareentwickler geschaffen haben. Künstliche Agenten sind die Aufseher einer techno-autoritären Digitalherrschaft, die uns auf Schritt und Tritt verfolgen und unseren Alltag kolonisieren. Der Nutzer von Sprachassistenten wie Alexa oder Siri sagt ständig Ja zur Überwachung und bestellt mit seiner unentgeltlichen Datenarbeit die virtuellen Felder der Tech-Konzerne. Er bedient diese Maschinen nicht, sondern er dient ihren Besitzern. Der Sklave, der auf Baumwollplantagen schuftete, konnte gegen seinen Herren noch aufbegehren und unter Einsatz seines Lebens sich aus der Sklaverei befreien. Das digitale Subjekt, das sich mit smarten Geräten selbst versklavt hat, kann sich aus der Umklammerung selbst dann nicht mehr lösen, wenn es die Geräte abschaltet und aus seinem Alltag verbannt. Die Daten verfolgen einen bis ans Ende des Lebens. Einmal gespeichert, immer verhaftet.

Wenn man also nicht mehr revoltieren kann, was dann? Gibt es andere Formen der geistigen Emanzipation? Wie ließe sich der Aufstand gegen die Algorithmen proben, die mittlerweile zu Autoritäten in unserem Alltag erstarkt sind? Auf eine Formel gebracht: Wie sagt man Nein zu einem System, das nur Ja versteht? Oder um auf Latour zurückzukommen: Wer kann überhaupt revoltieren?

Was wir in sozialen Netzwerken wie Facebook erleben, ist ein passives Revoltiertsein, ein ständiges Um- und Weitergedrehtwerden von Datenpaketen. Eine Art künstliches Erregtwerden. Algorithmen zeigen uns ständig Bilder oder Videos, die uns schockieren, erregen, empören, um unser »Engagement« und damit den Werbewert zu erhöhen.

Die Programmierer sind Erregungstechniker par excellence: Sie können die Lautstärke in den Echokammern wie an einem Mischpult rauf- und runterpegeln. Solange sich dieser Erregungszustand aber nur im Newsfeed abspielt, hat das Revoltieren etwas Simulatorisches. So notierte die Technik-Soziologin Zeynep Tufekci treffend, dass sich ihr Facebook-Feed »wie Disneyland« anfühle, obwohl die meisten ihrer Freunde im Exil, in Haft, in Verstecken oder »in einer offenen Rebellion« seien.13 Facebook priorisiere eben nicht ein »dunkles Update einer Freundin, deren Mann in einem ägyptischen Gefängnis sitzt«, sondern irgendeinen vergnüglichen Beitrag. In dieser mechanischen Depolitisierung und damit einhergehenden ontologischen Deformation – Facebook ist wie ein viel zu winziges Guckloch in die Wirklichkeit – liegt ein flagranter Angriff auf die bürgerliche Öffentlichkeit, die ja selbst bestimmen sollte, welchen Sucher sie auf Ereignisse legt und was sie zum Politikum macht. Die subtile Manipulation der Meinungsbildung führt dazu, dass die Nutzer immer vehementer gegen die Scheibe ihrer Skinner-Box schlagen, dass sie beginnen, innerlich zu rebellieren, diese kollektive Wut aber keinen Adressaten findet. Man weiß nicht, ob die 2617 Mal, die ein Smartphone-Nutzer pro Tag sein Display berührt,14 nun eine zärtliche Zustimmung sind oder latenter Protest. Ein verzweifeltes Klopfen an die Scheibe, den gläsernen Käfig zu verlassen?

Wenn die Programmierer die Einstellungen verändern, öffnet sich zuweilen das Tor zum Protest, greift der Unmut aus dem digitalen in den physischen Raum über. Im Januar 2018 traf das Facebook-Management eine Entscheidung, die von großer politischer Tragweite sein sollte.15 Der Konzern kündigte an, fortan stärker lokale Posts priorisieren zu wollen. Am 12. Januar 2018 gründete Leandro Antonio Nogueira, ein Maurer aus Périgueux, die Facebook-Gruppe »Vous en avez marre? C’est maintenant!« (zu Deutsch: Habt ihr die Schnauze voll? Jetzt ist es Zeit, zu handeln!), um gegen das Tempolimit von 80 Stundenkilometern auf Landstraßen zu protestieren.16 Die Gruppe gewann rasch neue Mitglieder, und die Administratoren eröffneten unter dem Codenamen »Colère« (Wut) und der jeweiligen Département-Nummer neue lokale Gruppen. Zwei Wochen später sollten die Facebook-Gruppen bereits 80 000 Mitglieder zählen – die Bewegung der Gelbwesten war geboren.

Der französische Informations- und Kommunikationswissenschaftler Olivier Ertzscheid hat die These aufgestellt, dass die antifiskalische Revolte, die landesweit jede zweite Radarstation demolierte und selbst vor der Zerstörung nationaler Heiligtümer nicht zurückschreckte, von Facebooks Algorithmen angefacht wurde.17 Die zeitliche Koinzidenz zwischen der Modifikation des Newsfeed-Algorithmus und dem exponentiellen Mitgliederwachstum der Facebook-Gruppen indiziere einen Kausalzusammenhang. War Facebook der Geburtshelfer der Gelbwesten? Oder waren die Bewegten bloß die datenbewegten Statisten einer algorithmischen Steuerung (was einen gewissen Sozialdeterminismus unterstellte)? War der Gelbwestenprotest bloß das Nebenprodukt einer geänderten Rezeptur der Datengewinnung (was implizieren würde, dass politische Proteste bloß Externalitäten der Raffinerie von Daten sind)? Ist das Nein zur Benzinsteuer, das die Bürger der Politik entgegenschleuderten, in Wahrheit nicht auch ein Ja zu Facebooks Regionalisierungsstrategie? Und ist dieses Ja zu einer privaten Moderation öffentlicher Interessen dann nicht doch ein stillschweigendes Nein zu einer rechtlich verfassten Demokratie, mithin eine Absage an die Bürgerschaft? Liegt der kollektive Unmut womöglich in einem diffusen Gefühl der Ohnmacht begründet, dass Programmierer mit ihren Codes die Verfahrensregeln der digitalen Demokratie fest- bzw. überschreiben, dass man der Sprachgewalt der Programmiersprache nichts entgegenzusetzen hat?

Der Oxford-Ökonom Carl Benedikt Frey, Autor der viel zitierten Arbeitsmarktstudie, wonach durch die Automatisierung bis 2030 fast die Hälfte aller Arbeitsplätze verschwunden sein wird, nannte die Wahl Trumps zum US-Präsidenten einen »Maschinensturm«.18 US-Bürger in den Schwermetallrevieren des Rust Belt, die von den Folgen der Automatisierung am stärksten betroffen sind, wählten überproportional häufig Trump. Wo die Zerstörung von Maschinen, die man nicht mehr braucht, sinnlos ist, zerstört man eben das politische Inventar – und wählt einen Mann, der mit Wollust die Institutionen demontiert. Ist Trump der Ned Ludd der amerikanischen Politik? Der Rädelsführer einer autoritären Revolte, ein geistiger Brandstifter, der die Lunte an die Verfassung legt?

Man kann dieser Deutung eine weitere These hinzufügen: Vielleicht war die US-Wahl doch so etwas wie ein Aufstand gegen die Algorithmen.19 Vielleicht haben sich die Wähler nicht nur gegen die als bevormundend rezipierten Meinungsumfragen aufgelehnt, sondern auch gegen die algorithmischen Prognosetechniken, deren behavioristische Modelle von einer gewissen Determiniertheit und Statik des Wahlverhaltens ausgehen. Nach dem Muster: Wer diese und jene Datenpunkte aufweist, ist ein Demokrat und muss Clinton wählen. Nach diesen Prognosen wurde auch das Microtargeting, also das personalisierte, zielgruppengerechte Ausspielen von Wahlwerbung, justiert. Hillary Clinton setzte bei ihrer Kampagne einen komplexen Computeralgorithmus namens Ada (in Anlehnung an die Computerpionierin Ada Lovelace) ein, der bei strategischen Entscheidungen eine wichtige Rolle spielte: welche Ressourcen eingesetzt werden, wo die Kandidatin auftritt, wo Wahlwerbung gemacht wird.20 Auf Basis der Daten führte der Computer täglich 400 000 Simulationen durch, wie das Rennen gegen Trump aussehen würde. Offensichtlich halfen die Gesetze der Mathematik aber nicht weiter – Clinton verlor die Wahl. In diesem Licht wäre der Wahlakt eine Revolte gegen die eigene Ausrechenbarkeit gewesen. Aber könnte es nicht sein, dass die Wahl Trumps wie im Übrigen auch das Brexit-Votum das Produkt eines außer Kontrolle geratenen Sozialexperiments war, weil algorithmische Schleusenwärter Fake News passieren ließen und Meinungsroboter mit am Tisch saßen, automatisierte Claqueure, die diskursive Spielregeln reihenweise ausschalteten und den Gedanken der offenen Debatte torpedierten?

Walter Benjamin hat in seiner Besprechung des von Ernst Jünger herausgegebenen Sammelbandes Krieg und Krieger einen bemerkenswerten Satz notiert: »Jeder kommende Krieg ist zugleich ein Sklavenaufstand der Technik.« 21 Der Philosoph hat diese heute prophetisch anmutenden Zeilen 1930, drei Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten und neun Jahre vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Benjamin ging von einem anderen Technikbegriff als die zeitgenössische Kulturkritik aus (zu der Zeit bastelte man noch an mechanischen Rechnern), doch der Konnex von Kriegszustand und Unbeherrschbarkeit von Technik darf auch heute noch als gültiges Axiom gelten.

Denkt man Camus’ Annahme, wonach der Mensch sich im Aufstand erfüllt, weiter, hinge Humanität in einer automatisierten Welt maßgeblich von der Revoltefähigkeit des Menschen ab, genauso wie von seiner Fähigkeit, den technischen Fortschritt zu kontrollieren. Metaphysisch ausgedrückt: Nur wer Nein sagt, revoltiert. Und nur wer revoltiert, ist.

Es kann in Zukunft nicht darum gehen, Roboterautos zu demolieren oder gar zum Maschinensturm auf die Rechenzentren aufzurufen, die Tech-Konzerne wie Festungen schützen, oder – als selbstdisziplinarische Verzichtsübung – einer digitalen Askese das Wort zu reden. Eine solch nihilistische Haltung erzeugt nur noch mehr soziale Verwerfungen. Es muss darum gehen, sich im Mächtekonzert der Maschinen Gehör zu verschaffen, den Algorithmen und ihren Programmierern Grenzen aufzuzeigen: Bis hierher und nicht weiter! Wer Ja zur Maschine sagt, sagt Nein zur Menschlichkeit. Die Sentenz »Nein ist Nein« ist denn auch ein Code, den lernende Algorithmen lernen müssen. Einem System, das Menschen zu willfährigen Steuerungsobjekten degradiert und deliberative Verfahren durch maschinelle Dezision ersetzt, kann man nicht laut genug widersprechen. Das Nein ist noch immer das mächtigste Werkzeug, das der Mensch mit sich führt – und das einzige Instrument, das den Rigorismus von Programmcodes derogiert. Gerade deshalb ist es so wichtig, gegen die Affirmation von Algorithmen, die Suggestion des Rechthabens, das Duckmäusertum digitaler Diener, aufzubegehren. Denn ein Mensch, der revoltiert, wird nicht automatisiert.

Anmerkungen

1 Simon Romero: »Wielding Rocks and Knives, Arizonans Attack Self-Driving Cars«, in: New York Times vom 31.12.2018: https://www.nytimes.com/2018/12/31/us/waymo-self-driving-cars-arizona-attacks.html [zuletzt abgerufen am 06.10.2019].

2 Ray Stern: »People Are Attacking Driverless Waymo Vehicles in Tempe, Too«, in: Phoenix New Times vom 28.01.2019: https://www.phoenixnewtimes.com/news/arizona-city-reports-people-attacking-waymo-self-driving-cars-11185541 [zuletzt abgerufen am 06.10.2019].

3 Douglas Rushkoff: Throwing Rocks at the Google Bus. How Growth Became the Enemy of Prosperity. New York 2016.

4 Kevin Drum: »New Luddite Revolt Targets Driverless Cars«, in: Mother Jones vom 31.12.2018: https://www.motherjones.com/kevin-drum/2018/12/new-luddite-revolt-targets-driverless-cars/ [zuletzt abgerufen am 06.10.2019].

5 Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin 1996.

6 Albert Camus: Der Mensch in der Revolte. Hamburg 2018, S. 27.

7 Ebd., S. 28.

8 Ebd., S. 36.

9 Oliver Meiler: »Die italienische Regierung zerbricht an sich selbst«, in: Tages-Anzeiger vom 09.08.2018: https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/giganten-und-zwerge-geben-ein-sommerdrama/story/14732508 [zuletzt abgerufen am 24.10.2019].

10 Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken. Frankfurt am Main 2014, S. 23.

11 Danny Paez: »Facebook Downvote Button: Why Zuckerberg Avoided It for So Long«, in: Inverse vom 09.02.2018: https://www.inverse.com/article/41137-facebook-downvote-button-why-zuckerberg-avoided-it [zuletzt abgerufen am 06.10.2019].

12 Joel R. Spiegel et al.: »Method and system for anticipatory package shipping«, in: https://patents.google.com/patent/US8615473B2/en, [zuletzt abgerufen 06.10.2019].

13 Zeynep Tufekci: »The Web of Relationships We Have To Save«, in: Medium vom 31.07.2015: https://medium.com/message/the-web-of-relationships-we-have-to-save-7f337de03e34 [zuletzt abgerufen am 22.10.2019].

14 John Brandon: »You Touch This Gadget 2,617 Times Per Day. Here’s How to Stop«, in: Inc. vom 13.01.2017: https://www.inc.com/john-brandon/you-touch-this-gadget-2617-times-per-day-heres-how-to-stop.html [zuletzt abgerufen am 16.10.2019].

15 Alex Hardiman: »More Local News on Facebook«, in: Facebook Newsroom vom 29.01.2018: https://newsroom.fb.com/news/2018/01/news-feed-fyi-local-news/ [zuletzt abgerufen am 15.10.2019].

16 Vincent Glad: »Comment les gilets jaunes sont nés en janvier sur un rond point de Dordogne«, in: Libération vom 14.12.2018: https://www.liberation.fr/debats/2018/12/14/comment-les-gilets-jaunes-sont-nes-en-janvier-sur-un-rond-point-de-dordogne_1697685 [zuletzt abgerufen am 15.10.2019].

17 Pauline Bock: »How Facebook fuelled France’s violent gilet jaunes protests«, in: wired.co.uk vom 31.12.2018: https://www.wired.co.uk/article/les-gilet-jaunes-yellow-vest-protests-in-france-facebook [zuletzt abgerufen am 23.10.2019].

18 Simon Kuper: »From climate change to robots: what politicians aren’t telling us«, in: Financial Times vom 26.10.2017: https://www.ft.com/content/707822f4-b90d-11e7-9bfb-4a9c83ffa852 [zuletzt abgerufen am 22.10.2019].

19 Vgl. Harald Staun: »Der Sieg der Wähler gegen ihre Schatten«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 13.11.2016, S. 53.

20 John Wagner: »Clinton’s data-driven campaign relied heavily on an algorithm named Ada. What didn’t she see?«, in: Washington Post vom 09.11.2016: https://www.washingtonpost.com/news/post-politics/wp/2016/11/09/clintons-data-driven-campaign-relied-heavily-on-an-algorithm-named-ada-what-didnt-she-see/?noredirect=on [zuletzt abgerufen am 06.10.2019].

21 Walter Benjamin: Gesammelte Werke II. Frankfurt am Main 2011, S. 178.