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Stuttgarter
Biblische Beiträge 77

Herausgegeben von
Barbara Schmitz und Michael Theobald

Angelika Strotmann ·
Monika Schrader-Bewermeier

Grenzen überschreiten –
Verbindendes entdecken –
Neues wagen

Festschrift für Hubert Frankemölle
zum 80. Geburtstag

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© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2019

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg

Druck und Bindung: Sowa Sp. z o.o., ul. Raszynska 13,

05-500 Piaseczno, Polska

Printed in Poland

www.bibelwerk.de

eISBN 973-3-460-51073-9

ISBN 973-3-460-00771-0

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Grußworte

1.Biblisch-didaktisch-literarische Rezeptionen und jüdisch-christlicher Dialog

HEIKE BEE-SCHROEDTER

Ein Text entsteht im Kopf des Lesers – Die Bedeutung der Rezeptionsästhetik für die biblische Exegese

MICHAEL FRESTA

Voller Begeisterung für die Heilige Schrift – Hubert Frankemölle als Hochschullehrer

EVA SCHULZ-JANDER

»Überall hängt noch ein Fetzen Paradies«. Biblische Spuren im Werk von Else Lasker-Schüler

VOLKER GARSKE

Die Maria-Eva-Typologie in Fontanes Roman Effi Briest – Eine kritische Anfrage zum Verschwinden biblischer Motive aus dem kollektiven Gedächtnis in Schule und Hochschule

HARTMUT STEINECKE

Jenny Aloni und Hubert Frankemölle – Brückenbauer zwischen Christentum und Judentum

BERNHARD LANG

Falk und Ernestine: Ein kleiner Dialog über Lessings »Nathan«

2.Alt- und Neutestamentliches oder die bleibende Angewiesenheit des Neuen auf das Alte Testament

CHRISTOPH DOHMEN

Exodus und Heimat

FRANZ-JOSEF ORTKEMPER

»Durch Zufall sind wir geworden« (Weish 2,2)

DETLEV DORMEYER

Evangelium: Begriff, Biographie und Dialog mit jüdischen und griechisch-römischen Lesern

ANGELIKA STROTMANN

Hat das Markusevangelium ein Problem mit der Tora? Einige Gedanken zur Diskussion um das markinische Gesetzesverständnis

MARTIN EBNER

Was wäre gewesen, wenn …? Josef als der erste Repräsentant der »besseren Gerechtigkeit« (Mt 1,18 f.)

NORBERT METTE

»Führe uns nicht in Versuchung« (Mt 6,13; Lk 11,4) – Erörterungen zur 6. Vaterunser-Bitte in kerygmatischer Absicht

PETER VON DER OSTEN-SACKEN

Pfingsten für die Gojim. Apostelgeschichte 10 als Zugang zu einem evangeliumstreuen Umgang mit dem Phänomen gleichgeschlechtlicher Zuneigung

MARTIN LEUTZSCH

Bibelübersetzung im Bibelkommentar – Ein vernachlässigtes Quellencorpus in der Erforschung jüdischer Bibelübersetzungen

MARIA NEUBRAND

Jüdisch–christlicher Dialog und Neutestamentliche Wissenschaft

3.Jüdisch-christlicher Dialog: Voraussetzungen, Überlegungen, Konflikte

WALTER HOMOLKA

Untergang und Erneuerung – Liberales Judentum in Deutschland

MICHAEL WEINRICH

Eine ökumenische Frage. Die Integration Israels in die Ekklesiologie bei Hubert Frankemölle. Eine Sympathiebekundung

HANS HERMANN HENRIX

Jesus Christus als »Tora in Person« – Ein christologischer Versuch

RAINER KAMPLING

Antijudaismus als Häresie – Konsequenzen aus einer Glaubenserkenntnis

JOSEF WOHLMUTH

Narratio minima. Erfahrungen im jüdisch-christlichen Gespräch

MICHAEL THEOBALD

Von der Karfreitagsfürbitte zur Revision der Formel vom »nie gekündigten Bund«. Joseph Ratzingers »Anmerkungen zum Traktat De Iudaeis«

GERD HÄFNER

Verfehlte Präzisierungen. Die Anmerkungen zum Traktat »De Iudaeis« von Joseph Ratzinger – Benedikt XVI. in neutestamentlicher Perspektive

Ein ganz persönlicher Schluss

HANSPETER HEINZ

Tacheles. Aperçus aus Telefongesprächen

Publikationen von Hubert Frankemölle ab 2004

Kurzviten von Herausgeberinnen, Autorinnen und Autoren

Vorwort

Zum 80. Geburtstag von Hubert Frankemölle möchten wir, die beiden Herausgeberinnen der Festschrift, zusammen mit den Autorinnen und Autoren den Jubilar als Menschen und als Wissenschaftler ehren, der sich Zeit seines Lebens nicht in seiner Profession als Neutestamentler eingerichtet hat, sondern der immer wieder Neues ausprobierte, sich auf unbekanntes Terrain wagte und sich über den engen wissenschaftlichen Kontext hinaus auf kirchlicher und gesellschaftspolitischer Ebene engagierte. Sein besonderes Anliegen über die Jahrzehnte hinweg war und ist der christlich/katholisch-jüdische Dialog, für den er sich auch gegen Widerstände bis heute unermüdlich einsetzt. Damit eng verbunden, in gewisser Weise sogar dessen Voraussetzung, ist Hubert Frankemölles wissenschaftlich-theologisches Erkenntnisinteresse. In Forschung und Lehre, im Dialog mit Kirchenvertretern und in öffentlichen Vorträgen möchte er ein Bewusstsein dafür wecken, dass die christliche Grundurkunde, das Neue Testament, ganz und gar jüdisch geprägt ist – „Das jüdische Neue Testament und der christliche Glaube“ lautet der Titel eines seiner Bücher – und daran erinnert, dass die Verbundenheit mit Israel eine fundamentale Dimension christlicher Identität ist.

Der Titel der Festschrift: „Grenzen überschreiten – Verbindendes entdecken – Neues wagen“ beschreibt einen Prozess, den Hubert Frankemölle theoretisch wie praktisch, wissenschaftlich wie politisch besonders im christlich-jüdischen Dialog gegangen ist, so sehr, dass Hartmut Steinecke ihn (zusammen mit Jenny Aloni) in seinem Beitrag als „Brückenbauer zwischen Christentum und Judentum“ bezeichnen kann. Brücken überspannen natürliche wie künstlich geschaffene Grenzen, sie lösen Grenzen aber nicht einfach auf, sondern weisen auf ihre physische wie psychische Notwendigkeit hin oder einfach auf ihre geologische Vorgegebenheit. Auch zum Menschen und seiner biologisch-individuellen wie kulturell-religiösen Identität gehören Grenzen, die ernstgenommen werden müssen. Doch zugleich sind wir darauf angewiesen diese Grenzen zum Anderen, zum Du wie zum Fremden hin immer wieder zu überschreiten, sie in und durch die Begegnung mit dem Anderen erweitern zu lassen und gegenseitig zu entdecken: er oder sie oder es ist gar nicht so fremd, so anders wie ich und meine Gruppe. Aus dieser Erkenntnis heraus kann und sollte dann auch ein neues Handeln folgen, im besten Sinne mit dem Anderen.

Grundvoraussetzungen für einen solchen Dreischritt sind Offenheit, Neugier und Interesse. Diese Eigenschaften zeichnen Hubert Frankemölle nicht nur in Bezug auf den christlich-jüdischen Dialog aus, sondern auch im Umgang mit anderen Themen und Bereichen. Gerade seine SchülerInnen, aber nicht nur sie, weisen in ihren Festschrift-Beiträgen darauf hin. So überschritt Hubert schon relativ früh die Grenzen des historisch-kritischen Methodensettings, ohne dieses aber völlig aufzugeben, und damit auch die Grenzen zu anderen Fächern, insbesondere zu den Sprachwissenschaften. Neue literaturwissenschaftliche und linguistische Methoden der Textinterpretation interessierten ihn so sehr, dass er u.a. die Rezeptionsästhetik, im theologischen Binnenraum dann auch pragmatische Exegese genannt, für seine eigene wissenschaftliche Arbeit an den biblischen Texten fruchtbar machte. Sein bei Patmos erschienener zweibändiger Matthäuskommentar ist hier besonders hervorzuheben.

Weniger an den Themen der eigenen Veröffentlichungen als an der Unterstützung einschlägiger Qualifikationsprojekte seiner SchülerInnen ist sein Interesse an literarischen Bibelrezeptionen zu erkennen, ebenfalls eine Überschreitung der üblichen engen Fachgrenzen. Beinahe schon selbstverständlich, aber doch wichtig zu erwähnen ist seine Zusammenarbeit mit Kollegen der Evangelischen Theologie. Last but not least muss an dieser Stelle betont werden, dass Hubert Frankemölle wesentlich an der Implementierung von sogenannten „Trialog“-Veranstaltungen an der Universität Paderborn beteiligt war, und damit schon früh – lange vor der Einrichtung von Lehrstühlen und ganzen Instituten für Islamische Theologie – dazu beitrug, die bis dahin quasi exklusive christlich-jüdische Beziehung zum Islam hin zu öffnen. Dass ihn der Islam als dritte abrahamitische, monotheistische Religion bis heute beschäftigt, zeigt seine letzte große Monographie von 2016 über Abraham/Ibrahim als Vater des Glaubens.

Eine Grenze, die Hubert Frankemölle ebenfalls selbstverständlich überschritten hat, ist schließlich die – zumal an deutschen Universitäten – gerne gezogene Grenze zwischen Fachwissenschaft und Fachdidaktik, zwischen Forschung und Lehre. Aus den Beiträgen seiner SchülerInnen in diesem Band ist zu schließen, dass der Jubilar auch ein „begeisterter und begeisternder Hochschullehrer“ (Michael Fresta) war, der nicht nur methodisch und didaktisch klar agierte, sondern seine Inhalte auch authentisch, zugewandt und offen vermittelte, und dem es gelang ihre Relevanz für seine Studenten aufzuzeigen.

Als Monika Schrader-Bewermeier und ich uns Mitte 2018 für diese Festschrift entschieden, wussten wir, dass wir nur sehr wenig Zeit für ihre Realisierung hatten, dass wir möglichst viele Weggefährten von Hubert aus unterschiedlichen Kontexten zu Wort kommen lassen wollten und dass auch Persönliches seinen Platz finden sollte. Unter diesen Bedingungen erschien uns eine rein thematische Festschrift nicht durchführbar. Tatsächlich ging unser Konzept auf, denn bis auf sehr wenige Ausnahmen sagten alle Angefragten zu und von diesen wiederum hielten so gut wie alle ihre Zusage ein und schrieben in sehr kurzer Zeit ihren Beitrag. Dafür danken wir an dieser Stelle schon einmal herzlich.

Trotz dieser Einschränkungen ist ein Band entstanden, der bis auf das Thema Trialog die verschiedenen oben aufgeführten Bereiche des grenzüberschreitenden Engagements von Hubert Frankemölle gut sichtbar macht und sie in der einen oder anderen Weise weiterführt: Im Zentrum des ersten Teils stehen Beiträge zur methodischen, literarischen und didaktischen Rezeption biblischer Texte, die mal mehr, mal weniger persönlich gehalten sind und mit einem kleinen literarischen Beitrag abschließen. Der zweite Teil enthält Überlegungen, Analysen und Gedanken zu alttestamentlichen und neutestamentlichen Texten, die die bleibende Angewiesenheit des Neuen auf das Alte Testament und auf das Frühjudentum zeigen. Maria Neubrands Aufsatz leitet dann über zum dritten Teil, in dem der christlich-jüdische Dialog mit seinen geschichtlichen und gegenwärtigen Voraussetzungen, mit konstruktiven Überlegungen, aber auch mit den jüngeren wie älteren Konflikten um die Äußerungen von Papst em. Benedikt XVI. – Joseph Ratzinger zum katholisch-jüdischen Dialog im Zentrum steht. Den inhaltlichen Abschluss des Bandes bildet ein sehr persönlich gehaltener Text von Hanspeter Heinz.

Die Autorinnen und Autoren der vorliegenden Festschrift gehören im Wesentlichen zu drei Lebens- und Arbeitskontexten von Hubert Frankemölle, sie waren und sind für ihn zum Teil bis heute in diesen Zusammenhängen, manchmal auch darüber hinaus, Weggefährten. Der erste Lebens- und Arbeitskontext betrifft Menschen, die Hubert an der Universität Paderborn kennengelernt haben: als Hochschullehrer und Doktorvater, als Kollege in den beiden Instituten für Theologie (katholisch und evangelisch) und der kulturwissenschaftlichen Fakultät. Der zweite Lebens- und Arbeitskontext betrifft die Kollegen und Kolleginnen der eigenen Profession, der biblischen Theologie, insbesondere der neutestamentlichen Exegese. Einige von ihnen kennen Hubert Frankemölle schon aus Studienzeit und Qualifikationsphase, die meisten haben mit ihm in verschiedenen Bereichen der wissenschaftlichen Exegese oder in der Vermittlung von Bibelkenntnissen zusammengearbeitet: bei der Herausgabe von biblischen Zeitschriften, Reihen und Sammelbänden, in der Arbeitsgemeinschaft katholischer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler (AKN), im Wissenschaftlichen Beirat des Katholischen Bibelwerks Stuttgart (KBW). Der dritte Lebens- und Arbeitskontext schließlich betrifft all diejenigen, mit denen er in den zentralen Bereichen seines Engagements zusammengearbeitet und -gekämpft hat, konkret vor Ort, in verschiedenen Institutionen, in Wissenschaft und Forschung: im Einsatz für die Aufarbeitung der antisemitischen Vergangenheit der „christlichen“ deutschen Mehrheitsgesellschaft, besonders für die Erinnerung an die zahlreichen Opfer der Schoa und daraus erwachsend der Einsatz für einen wahrhaft christlich-jüdischen Dialog. Die drei Grußworte, die dem Vorwort folgen, stammen dementsprechend von Menschen, die Hubert Frankemölles gesellschafts- und kirchenpolitisches Wirken gerade in diesem Bereich würdigen.

Wir Herausgeberinnen wünschen dem Jubilar weitere gesunde Jahre, in denen er sich trotz seiner familiären Verpflichtungen in gewohnter Weise immer mal wieder in aktuelle Debatten einschaltet und vielleicht auch noch den einen oder anderen Aufsatz schreibt. Gottes reicher Segen möge ihn dabei begleiten!

Paderborn, den 9. Mai 2019

Angelika Strotmann und Monika Schrader-Bewermeier

Grußwort von Monika Schrader-Bewermeier, geschäftsführende Vorsitzende der GCJZ Paderborn

Im Namen der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Paderborn e.V. gratuliere ich Hubert Frankemölle ganz herzlich zur Vollendung seines 80. Lebensjahres.

Wir freuen uns sehr, dass viele seiner Weggefährten aus unterschiedlichen Betätigungs- und Begegnungsfeldern einen erinnernden und wertschätzenden Beitrag zu dieser Geburtstagsfestschrift verfasst haben. Mit ihr möchte die GCJZ Paderborn ihrem Gründer und langjährigen Vorsitzenden in besonderer Weise für sein Engagement danken. Im Folgenden nenne ich einige zentrale Beispiele von Hubert Frankemölles großen Verdiensten um den christlich-jüdischen Dialog, vor allem in der konkreten Arbeit vor Ort in Paderborn.

Nach dem Wechsel von der Universität Münster an die Universität Paderborn hatte Hubert Frankemölle durch Besuche mit Studenten in der hiesigen Synagoge, der kleinsten in Westfalen, guten Kontakt zum Auschwitz-Überlebenden und damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde, Erwin Angreß, knüpfen können, woraus sich eine jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit entwickelte. Huberts Idee, auch hier in Paderborn eine Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zu gründen, stimmte der Vorsitzende der Gemeinde gern zu, aber unter der Voraussetzung, dass sich mehr als sieben Mitglieder finden würden. Nach zweijähriger beharrlicher organisatorischer und inhaltlicher Vorplanung konnte schließlich am 4. Juni 1987 die Gründungsversammlung der dann 59. GCJZ im Adam-und-Eva-Haus Paderborn, dem damaligen Museum für Stadtgeschichte, erfolgen. 104 Personen trugen sich an diesem Tag als Mitglieder in die Satzung ein, womit Erwin Angreß sehr einverstanden war. 24 Jahre lang, bis 2011, war Hubert Frankemölle dann als geschäftsführender Vorsitzender aktiv und erreichte mit sehr engagierten Vorstandsmitgliedern, dass gleich in den ersten Jahren mehrere öffentlichkeitswirksame Aktionen und große Veranstaltungen durchgeführt werden konnten.

Schon zwei Jahre nach der Gründung fand 1989 ein Treffen ehemaliger Paderborner Juden und begleitender Angehöriger mit einem umfangreichen örtlichen Programm statt, wozu ein ganzes Hotel belegt wurde. Auch hieran hatte Hubert Frankemölle als GCJZ-Vorsitzender unter historisch-fachwissenschaftlicher Vorarbeit von Dr. Margit Naarmann einen erheblichen Anteil. Den vom Stadtrat einstimmig angenommenen Antrag dazu hatte Günter Bitterberg gestellt, damaliger Ratsherr der Stadt Paderborn und Gründungsmitglied der GCJZ. Aus diesem für die Gäste und lokalen Paten bewegenden und wertvollen Besuch entwickelte sich eine jährliche Einladung seitens der Stadt Paderborn an die Nachkommen jeweils einer Familie, die durch Mitglieder der GCJZ während ihres Besuchs begleitet werden. Zur Freude aller Beteiligten gelingt diese Begegnung bis heute und es haben sich wiederholte private Folgebesuche und anhaltende freundschaftliche Kontakte entwickelt.

1990 wurde am Standort des ehemaligen jüdischen Waisenhauses zur Erinnerung an die ermordeten Kinder eine darüber informierende Stele aufgestellt. 1993 konnte nach langem Ringen und leider auch einigen für Hubert Frankemölle unschönen Erfahrungen endlich ein angemessenes Mahnmal für die ermordeten Juden am Standort der in Paderborn am 10. November 1938 vernichteten Synagoge errichtet werden.

1997 fand in Paderborn, nach Huberts erfolgreichem Antrag beim Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR) und intensiven Vorbereitungen mit der Stadt, die deutschlandweite zentrale Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit statt. In Anwesenheit des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und des Ministerpräsidenten des Landes NRW, Johannes Rau, wurde der ehemalige Bremer Bürgermeister Hans Koschnik mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet.

In den folgenden Jahren wurden u.a. auch auf Initiative von Hubert mehrere Wege nach ehemaligen Paderborner Juden und Jüdinnen benannt und Erinnerungstafeln mit Sachinformationen zur jüdischen Stadtgeschichte aufgestellt. Besonders zu nennen sind auch drei umfangreiche Vortragsreihen, die Hubert Frankemölle mit namhaften und seit Jahren im christlich-jüdischen Gespräch engagierten Referenten initiierte. Diese an verschiedenen Orten in der Stadt Paderborn durchgeführten Veranstaltungen dokumentierte er anschließend durch die Herausgabe der folgenden Sammelbände: „Opfer und Täter – Zum nationalsozialistischen und antijüdischen Alltag in Ostwestfalen-Lippe“ (1990), „Christen und Juden gemeinsam ins dritte Jahrtausend“ (2001) und „Juden und Christen im Gespräch über Dabru emet – Redet Wahrheit“ (2005).

Wie schon an der Konzeption der Vortragsreihen zu erkennen ist, beschränkte sich Huberts Engagement für das christlich-jüdische Gespräch nicht nur auf Paderborn, sondern reichte weit darüber hinaus. Von 2000 bis 2010 war er Mitglied im Vorstand des DKR, wo er mit großer Sachkenntnis und Empathie die dortige Arbeit mitgestaltete. Seiner Idee und Organisation ist es zudem zu verdanken, dass seit 2006 jeweils am Montag nach der Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit ein Treffen von Rabbinern, Mitgliedern der deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland am jeweiligen Austragungsort der Eröffnung stattfindet. Diese Gespräche bieten die besondere Gelegenheit, dass sich auch Repräsentanten und Verantwortungsträger in dieser Konstellation zum jeweiligen Jahresthema austauschen und beraten.

Fest steht jedenfalls Folgendes: Mit Mut, Beharrlichkeit, Fleiß und persönlicher Bescheidenheit hat Hubert Frankemölle viele Jahre die Notwendigkeit des christlich-jüdischen Dialoges in politischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Kreisen deutlich gemacht, immer wieder das Gespräch auf Augenhöhe angemahnt und Wege zu einem solchen Dialog aufgezeigt. Wie wir ihn kennen, wird er als aufmerksamer Zeitgenosse damit auch noch nicht aufhören.

In jüdischen Kreisen wünscht man sich zu Geburtstagen gern: „Bis 120 Jahre“, es gibt aber auch die Variante „Bis 100 wie 20“ und dieser schließen wir uns gerne an.

Für die GCJZ Paderborn und im Namen des gesamten Vorstands, besonders auch des derzeitigen Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde Paderborn, Alexander Kogan,

Monika Schrader-Bewermeier

Grußwort von Dr. Hans Maaß Vorstandsmitglied beim DKR der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (1998-2016)

Hubert Frankemölle lernte ich, so jedenfalls nach meiner Erinnerung, bei einer Mitgliederversammlung des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im Heinrich-Pesch-Haus in Ludwigshafen kennen. Es war jedenfalls eine zahlreich besuchte Mitgliederversammlung, bei der es hoch her ging, weil unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallten. Hubert Frankemölle fiel mir dabei wegen seines abgewogenen und sachkundigen Urteils auf. Ich weiß heute nicht mehr, worum es damals konkret ging, geblieben ist allerdings dieser Eindruck.

Viele Jahre später gehörten wir gemeinsam dem Vorstand des Deutschen Koordinierungsrates (DKR) an. Dort gab es genügend Gelegenheiten zur Bestätigung des ursprünglichen Eindrucks. Ein aktiver, aber besonnener Geist. Besonnen bedeutete allerdings nicht stumm, sondern nach dem Motto: rede nur, wenn du wirklich etwas zu sagen hast! So wandte er sich als katholischer Theologe direkt an Papst Benedikt XVI., als dieser 2007 wieder auf eine Fassung des Missale Romanum, des liturgischen Buches der römischen Messfeier, aus dem Jahr 1962 zurückgriff, wo am Karfreitag für die Juden gebetet wird, „dass Gott, unser Herr, wegnehme den Schleier von ihrem Herzen, auf dass auch sie erkennen unseren Herrn Jesus Christus.“ Frankemölle wies in seinem Brief unter anderem auf die Wirkung dieser Maßnahme innerhalb der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hin: „Entsprechend ärgerlich empfinden daher vor allem die jüdischen Mitglieder das Festhalten an der Karfreitagsfürbitte ‚Pro conversione Iudaeorum‘ im Missale Romanum von 1962. Dies auch deswegen, weil damit die seit alters her verbundene Behauptung der ‚obaecatio: Verblendung‘ der Juden verbunden ist, da sie ‚in Finsternis: tenebris‘ wandeln.“

Dies ist nur eines von vielen Beispielen seines Mutes zu respektvollem und ehrerbietigem Widerspruch um der Wahrheit und theologischen Redlichkeit willen; denn spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hatte sich der Blick der römisch-katholischen Kirche auf das Judentum grundlegend geändert – allen konservativ-restaurativen Kreisen und ihren Tendenzen zum Trotz. Dieser Mut nötigte allen, die mit Hubert Frankemölle zu tun hatten, Respekt ab.

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Sein theologischer Forschungs-Schwerpunkt, um nicht zu sagen: sein Verdienst, liegt nach meiner Wahrnehmung darin, dass er den Blick auf das Judentum weitete, indem er nicht nur das rabbinische, sondern auch das hellenistische Judentum erforschte und so neue Perspektiven auf das christlich-jüdische Verhältnis in der Frühzeit des Christentums ermöglichte. Dies wurde bis dahin sowohl von Theologen, die das christlich-jüdische Gespräch förderten, als auch von judenfeindlichen Interpretationen in der Regel übersehen. Der Jubilar bezog dagegen auch jüdisch-hellenistische Texte in seine Forschung ein und trug damit zur Überwindung einer verengten theologischen Beschäftigung und Bewertung des Judentums zur Zeit Jesu bei. Ein Zitat aus seiner als „Grundlagenwissen für den jüdisch-christlichen Dialog“ bezeichneten Veröffentlichung „Das jüdische Neue Testament und der christliche Glaube“ mag dies belegen: „Es gab nicht ein zeitliches Nacheinander von Jesusdeutungen in dem Sinne, dass hebräisch-aramäische Deutungen am Anfang standen, die von griechisch-jüdisch beeinflussten Deutungen abgelöst wurden, wie sie im NT vorliegen.“1 Sein Anliegen ist der Hinweis auf ein breiteres Spektrum jüdischen Denkens zur Zeit des frühen Christentums, so dass dessen theologische Entwicklung nicht nur in einer Ablösung vom Judentum zu verstehen war.

Wichtig sind für das christlich-jüdische Gespräch auch Hinweise, die in der theologischen Diskussion oft übersehen werden: „Auch das sogenannte Alte Testament wurde von Christen von Anfang an als ihre Bibel anerkannt, ohne die Texte zu überarbeiten“. Allerdings konnte Frankemölle als katholischer Theologe den Begriff „Altes Testament“ anders verwenden als evangelische Theologen, für die – wenn auch nur hinsichtlich des Bestands, nicht der Anordnung der biblischen Bücher – nur die Hebräische Bibel das „Alte Testament“ bedeutet. Nach der katholischen Tradition gelten auch die in der Septuaginta und Vulgata über die Hebräische Bibel hinaus enthaltenen Schriften als „Altes Testament“. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich, wie berechtigt die Einbeziehung des hellenistischen Judentums in die Darstellung der frühchristlichen theologischen Entwicklung ist.

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Besonders am Herzen lagen dem Jubilar die Fragen christlich-jüdischer Begegnung in der Gegenwart. Ausführlich ging er auf das Dokument amerikanischer Rabbiner „Dabru Emet“ ein, einen innerjüdischen Appell, die veränderte christliche Sicht des Judentums ernst zu nehmen. Dieses Dokument wurde christlicherseits zunächst teils gar nicht, teils sehr zurückhaltend zur Kenntnis genommen; vor allem wurde von theologischen Puristen – auch innerhalb der EKD – in Frage gestellt, ob die Behauptung, Christen und Juden verehrten denselben Gott, zutreffe, da Juden Gott nicht als „Vater Jesu Christi“ bekennen.

Ganz praktisch leistete Hubert Frankemölle einen Beitrag zum christlich-jüdischen Gespräch, indem er den offiziellen Deutschland-Besuch des damaligen Kurienkardinals und Präsidenten des „Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen“ nutzte und ihn zu einem Gespräch in Berlin mit den beiden deutschen Rabbinerkonferenzen einlud. Daraus entwickelte sich in den Folgejahren ein regelmäßiges Treffen von Vertretern der Rabbinerkonferenzen mit Vertretern der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der EKD unter Federführung des Deutschen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit.

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Nach der Katastrophe der Schoa war beiden großen christlichen Konfessionen bewusst, dass sie ihre jahrhundertelange abwertende Sicht des Judentums und das daraus entspringende Verhältnis revidieren mussten. Die Erklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Synodalerklärungen deutscher evangelischer Landeskirchen sind Beispiele dafür. Für Hubert Frankemölle allerdings war das christlich-jüdische Gespräch nicht nur eine Pflichtaufgabe, der sich ein deutscher Theologe im 20. Jh. stellen und entledigen musste, sondern eine theologische Grundaufgabe zum besseren Verständnis des eigenen Glaubens und seiner grundlegenden Schriften.

Im Januar 2019

Dr. Hans Maaß, evangelischer Pfarrer und Vorstandsmitglied beim DKR der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit (1998-2016)

1Hubert Frankemölle, Das jüdische Neue Testament und der christliche Glaube. Grundlagenwissen für den jüdisch-christlichen Dialog, Stuttgart 2009.

Grußwort von Heinz Paus, Bürgermeister a. D. der Stadt Paderborn

Ich gratuliere Professor Hubert Frankemölle ganz herzlich zu seinem runden Geburtstag und freue mich mit ihm darüber, dass aus diesem Anlass eine Festschrift erscheinen wird.

Ich kenne Professor Hubert Frankemölle seit Beginn meiner Tätigkeit als erster hauptamtlicher Bürgermeister der Stadt Paderborn. Wir trafen uns aus Anlass der jährlichen Gedenkstunde am Mahnmal für die ermordeten Paderborner Juden. Dieses traditionelle Gedenken an dem von Kirkeby geschaffenen Mahnmal auf dem Platz, auf dem bis zum 9. November 1938 das Gotteshaus der jüdischen Gemeinde stand, ist nach wie vor ein bedeutendes Ereignis im Paderborner Jahreskalender. Für viele Hundert Paderborner ist es ein persönliches Anliegen, an dieser Feierstunde teilzunehmen. Ich habe es zudem immer als Ehrenpflicht für den Paderborner Bürgermeister angesehen, dabei stellvertretend für die Bürger unserer Stadt ein Grußwort zu sprechen, zumal ein leitender Mitarbeiter der Stadt Paderborn Rädelsführer bei der Brandstiftung und Schändung der Synagoge am Morgen des 10. November 1938 war.

Hubert Frankemölle trug viele Jahre als Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Paderborn Verantwortung für diese Feierstunde und sprach oft einleitende Worte. Wir verstanden uns sofort recht gut, waren wir doch beide aus dem Westmünsterland und hatten an derselben Schule, dem Alexander Hegius Gymnasium in Ahaus unser Abitur gemacht. Zudem können wir uns auf Plattdeutsch unterhalten.

Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit war und ist in unserer Stadt eine bedeutende Institution, steht fest an der Seite der jüdischen Kultusgemeinde und gestaltet ein breites Programm an Veranstaltungen, mit dem sie die Geschichte der Juden in Paderborn wach hält, den christlich-jüdischen Dialog pflegt und aktiv gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus streitet. Mir stehen zahlreiche bedeutende Initiativen und Veranstaltungen der Gesellschaft vor Augen. Ich will nur einige erwähnen: Jedes Jahr findet im historischen Rathaus der Stadt zum Ende der Woche der Brüderlichkeit eine Veranstaltung statt, die jeweils von Schülern Paderborner Schulen mitgestaltet wird. Die Geschichte der Juden in Paderborn ist intensiv erforscht und dokumentiert worden. Schon seit vielen Jahren laden die Stadt Paderborn und die GCJZ Angehörige jüdischer Familien zu uns in die Stadt ein, in der diese Familien oft über Generationen gelebt und vielfach hohes Ansehen genossen hatten. Diese enge Verknüpfung mit der Stadt fand durch den Holocaust ein schreckliches Ende. Die Familienmitglieder wurden und werden jeweils durch Mitglieder der GCJZ betreut und haben ein offizielles städtisches Besuchsprogramm. Zahlreiche Paderborner Straßen, Wege und Plätze tragen auf Vorschlag der Gesellschaft Namen ehemaliger jüdischer Bürger.

Auch die Verleihung des Ehrenringes der Stadt am 7. 3. 2001 an den seinerzeitigen Vorsitzenden der Jüdischen Kultusgemeinde, Erwin Angreß, einem Überlebenden des Holocaust, der nach dem Ende der Naziherrschaft nach Paderborn zurückgekehrt war, wurde in Gesprächen zwischen Verantwortlichen der Gesellschaft und der Stadt vorbereitet.

Bei all diesen Initiativen und Projekten war Hubert Frankemölle ein wichtiger Anreger, Gesprächspartner und aktiver Streiter für das Anliegen der christlich-jüdischen Zusammenarbeit. Ihm war und ist es erkennbar ein Herzensanliegen, die Erinnerung an das unfassbare Verbrechen der Shoa wach zu halten, den Völkermord, der im Namen unseres Volkes verübt wurde. Darum ist er sehr sensibel gegen jede Form von Rassismus und Antisemitismus, erhebt laut und vernehmlich seine Stimme gegen Gedankenlosigkeit und Verharmlosung.

Hubert Frankemölle hat sich nicht nur auf lokaler und regionaler Ebene für das »Nie Wieder«, für den Dialog zwischen Christen und Juden stark gemacht. Er hat auch auf Bundesebene Verantwortung für dieses Anliegen übernommen. Ich durfte gelegentlich an der jährlichen zentralen Veranstaltung zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit teilnehmen, bei der die »Buber-Rosenzweig-Medaille« verliehen wird. Dabei durfte ich wahrnehmen, dass Hubert Frankemölle für sein verantwortliches Mitwirken an der Spitze der deutschen Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hohes Ansehen und Respekt genießt.

Ich möchte mich bei Hubert Frankemölle für seinen großen Einsatz für die Erinnerungskultur, für die enge Einbindung der jüdischen Kultusgemeinde in unsere Stadt, für den christlich-jüdischen Dialog, für die Mitarbeit an der Schaffung eines Klimas der Offenheit und des Respekts in Paderborn ganz herzlich bedanken, ebenso für manch hilfreiche Anregung und kritisch-konstruktive Worte.

Ich wünsche Hubert Frankemölle für das neue Lebensjahrzehnt alles erdenklich Gute und Gottes Segen.

Heinz Paus

Bürgermeister der Stadt Paderborn 1999–2014

1.Biblisch-didaktisch-literarische Rezeptionen und der christlich-jüdische Dialog

Ein Text entsteht im Kopf des Lesers – Die Bedeutung der Rezeptionsästhetik für die biblische Exegese

HEIKE BEE-SCHROEDTER

Als ich von den Herausgeberinnen um einen Beitrag für diese besondere Festschrift zu Ehren meines Doktorvaters und langjährigen Chefs Hubert Frankemölle gebeten wurde, musste ich nicht lange überlegen. In meiner fast 10-jährigen Zusammenarbeit mit ihm als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Biblische Theologie – Neues Testament an der Universität Paderborn habe ich sehr viel von und mit ihm gelernt. Besonders nachhaltig ist mir hier unsere intensive Beschäftigung mit wissenschaftsmethodischen hermeneutischen Fragestellungen in Erinnerung. Als Forschender, der sich mit der Auslegung von biblischen Texten befasst, stößt man immer wieder auf die letztlich für das eigene Tun und für das Selbstverständnis relevante methodisch hermeneutische Frage: Wie analysiert und interpretiert man als Exeget einen Text? Welche Vorgänge lassen sich dabei erkennen und beschreiben? Und wie ist dann die so reflektierte exegetische Textanalyse sprachlich angemessen zu vermitteln?

Dass wir uns hier als Doktoranden und auch der Jubilar selbst intensiv mit diesen grundlegenden Fragen exegetischer Arbeit mittels sprachwissenschaftlicher Literatur in Oberseminaren und im privaten Studium auseinandergesetzt haben, ist vor allem den Anregungen von Hubert Frankemölle und seiner Offenheit für interdisziplinäres Arbeiten und gegenüber den Erkenntnissen anderer Forschungsbereiche zu verdanken. Er regte uns zu diesen Überlegungen an, leitete uns mit dem Hinweis auf literaturwissenschaftliche Forschungsbeiträge zu einem Blick »über den fachwissenschaftlichen Tellerrand« und damit zu interdisziplinärer Arbeitsweise an. Die gewonnenen Erkenntnisse wandte ich dann für mein Promotionsvorhaben methodisch an und so gewann meine interdisziplinär angelegte Forschungsarbeit einen grundlegend rezeptionsorientierten Ansatz.1

Das damals vor gut 20 Jahren so intensive wissenschaftspropädeutische, hermeneutische Studium hat mich bis heute – auch in meiner aktuellen Vermittlungstätigkeit im Diözesanmuseum Paderborn – entscheidend geprägt. Und so möchte ich hier in diesem Beitrag noch einmal wesentliche Erkenntnisse einer literaturwissenschaftlichen Forschungsrichtung zum Lesen und Interpretieren eines Textes vorstellen und ihre nach wie vor aktuelle Bedeutsamkeit für die fachexegetische Arbeit im Bereich der Bibelwissenschaft und auch für vermittelnd pädagogische Arbeit insgesamt skizzieren. Gemeint ist hier die sogenannte Rezeptionsästhetik aus dem Bereich der Literaturwissenschaft: Ihre Vertreter versuchten das Phänomen höchst unterschiedlicher wissenschaftlicher, d. h. methodengeleiteter Interpretationen zu einem literarischen Werk zu erklären. Besondere Aktualität gewann diese Reflexion durch die Nachkriegsliteratur seit der Mitte des letzten Jahrhunderts. Sie entzog sich durch ihren oft fragmentarischen Charakter, die Brechungen und Perspektivwechsel einer einheitlichen Sinnzuschreibung. Die Publikation höchst unterschiedlicher Interpretationen zu einem Werk war die Folge, die die Literaturwissenschaft theoretisch nicht erklären konnte.2

1.Methodik und Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik

Vorab war man davon überzeugt, als Literaturwissenschaftler mit einem möglichst umfassenden Wissen über den Autor und die Entstehungszeit des Textes eine eindeutige »richtige« Interpretation desselben durchführen zu können. Wie lange diese Auffassung präsent war und in Vermittlungsprozessen noch immer ist, zeigen die uns allen sicherlich noch bekannten Interpretationsfragen: Was will der Autor uns mit diesem Text sagen? Welche Intention hatte der Autor? Und auch in neueren fachwissenschaftlich-exegetischen Beiträgen ist die autororientierte, oft redaktionskritische Arbeitsweise mit entsprechenden Formulierungen aus der Sicht des Evangelisten dominant.3

Die Rezeptionsästhetik verlagert demgegenüber den Schwerpunkt der Textbetrachtung und nimmt den Rezipienten bei der Interpretationsarbeit in den Blick: So formuliert Iser folgende Frage als die zentrale Frage literaturwissenschaftlich methodischer Forschung: Wie werden Texte aufgenommen?4 Indem so deutlich zwischen literarischem Text einerseits und der Rezeptionstätigkeit des Interpreten andererseits unterschieden wird, können die unterschiedlichen Interpretationen zu einem Werk theoretisch erklärt werden.5 Der Interpret nimmt den Text nicht in Form einer reinen Abbildung an sich wahr, sondern – so stellt Iser heraus – er ist zunächst einmal ein Leser, der mit seinen kognitiven und emotionalen Voraussetzungen den Text im Lesevorgang aufnimmt. Diese je eigenen Dispositionen der Leser sind letztlich für die Unterschiedlichkeit der nachfolgenden Interpretationen verantwortlich.6 Das Lesen und die Interpretation eines Textes als einen solchen, vom Leser her letztlich determinierten und aktiven Vorgang zu verstehen, deckt sich mit der Auffassung von Lern- und Wahrnehmungsprozessen der gegenwärtigen kognitiven Entwicklungspsychologie.7 Besonders einleuchtend und evident erscheint mir hier die Interpretation sogenannter Kippbilder:8

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Warum erkennen in diesen Bildern die einen Betrachter eine alte Frau, die anderen eine junge Frau im rückwärtigen Profil? Oder zwei einander zugewandte Profile von Menschen oder einen Pokal? Das Bild an sich ändert sich nicht, die Zuweisung und Interpretation der hellen und dunklen Farbflächen geschieht allein im Kopf des Betrachters. Die Rezeptionsästhetik hat es sich zur Aufgabe gemacht nachzuweisen, dass die so beschriebene Mitarbeit des Lesers und Interpreten – bzw. hier im Beispiel der Bilder: des Betrachters – kein Manko und kein Defizit derselben ist, sondern wesenhaft zum Text – respektive der Zeichnungen – gehört.9

Während einige Literaturwissenschaftler vom Charakter des Textes her die Aktivität des Lesers als logische Folgerung zu begründen versuchen, bemühen sich andere darum, dies mit Hilfe der Dokumentation und Auswertung von Textinterpretationen nachzuweisen.

Einer der bekanntesten Vertreter der ersten Richtung, der sogenannten ›Wirkungsästhetik‹ ist der bekannte italienische Sprachwissenschaftler und Romanautor Umberto Eco.10 Als Semiotiker definiert er Texte als Zeichensysteme.11 Indem er Zeichen generell eine Kommunikationsfunktion zuweist und damit als Mittel zur Verständigung zwischen Sender und Empfänger charakterisiert, verortet er auch Texte primär in einem grundlegenden Kommunikationsmodell, das aus Sender, Botschaft und Empfänger besteht.12 Die damit verbundene Betonung der pragmatischen Dimension der Zeichen findet ihren plakativen Ausdruck in folgendem Satz: »Ein Text will, dass ihm jemand dazu verhilft zu funktionieren.«13 Aufgabe des Lesers ist es dabei, diese Zeichen zu aktualisieren. Durch die Eigenart der Zeichen wird die Intensität der postulierten Mitarbeit gesteigert: Im Gegensatz zu Stimuli, auf die der Empfänger nur eine mögliche Reaktion zeigen kann, besitzen Zeichen symbolischen Charakter, das heißt, sie stehen für etwas Abwesendes. Folgendes Beispiel verdeutlicht das: Während auf den Stimulus ›Knieschlag‹ im Rahmen eines biologischen Reiz-Reaktions-Schemas nur die Reaktion ›Beinheben‹ folgen kann, löst das Wort ›Rose‹ je unterschiedliche Bedeutungszuweisungen bei Lesern aus, die von dessen Vorerfahrungen geprägt sind und die sich von der Vorstellung des Autors nochmals unterscheiden können.14 Die strenge Betonung der Verwiesenheit von Texten auf diese Tätigkeit der Empfänger führt bei Eco zur Schlussfolgerung: Der Text selbst muss die Mitarbeit der Leser miteinplanen. Damit Kommunikation über Worte und Texte jedoch gelingen kann – und das führt Eco ebenfalls aus – ist ein gewisser, beim Autor und seinen potentiellen Lesern gemeinsamer Grundkonsens über die Bedeutung derselben und über ihre Beachtung im Rezeptionsvorgang unabdingbar.15

Iser nimmt in der Nachfolge Ecos noch genauer literarische Texte und ihre Interpretationen methodologisch in den Blick. Als solche lassen sich ja auch biblische Texte letztlich verstehen. Er differenziert dabei in seiner Erläuterung der pragmatischen Funktion ästhetischer Texte zwischen Text und Werk: »Der Text als solcher hält nur verschiedene ›schematisierte Ansichten‹ parat, durch die der Gegenstand des Werkes hervorgebracht werden kann. […] denn das Werk ist mehr als der Text, da er erst in der Konkretisation sein Leben gewinnt.«16 In literarischen Texten potenziert sich dieser Verweischarakter: Denn »dem imaginären Gegenstand fiktionaler Texte […] fehlt die Qualität empirisch vorhandener Existenz. Hier wird (beim Lesen – Anm. der Autorin) nicht ein abwesender, ansonsten aber existierender Gegenstand vergegenwärtigt, sondern vielmehr ein solcher erzeugt, der nicht seinesgleichen hat.«17 Iser beschreibt die pragmatische Dimension literarischer Texte so: Sie wollen in die Welt der Leser eingreifen, sie zum Nachdenken bewegen, ihnen durch die Vorstellung von Gegen-Welten, die sich von der realen Wirklichkeit der Leser unterscheidet, verdeutlichen: Eure reale Lebenswelt ist nur eine von vielen. Es gibt auch Alternativen! Um diese Kommunikation zu ermöglichen muss der Text – seine Perspektive hier einmal fiktional einnehmend – den Leser und sein Denken miteinplanen. Iser nennt diese Wirkungsstrukturen des Textes den »impliziten Leser«: Gemeint ist damit nicht eine reale Person, sondern die »im Text ausmachbare Leserrolle«18, die Art und Weise, wie der Text selbst den möglichen realen Leser vorsieht, ihn also impliziert.

Dennoch – und das ist für unseren Zusammenhang hier entscheidend – lässt sich die Wirkung eines Textes auf seinen Leser vom Text aus nicht voll kontrollieren. Vielmehr betont Iser, dass es der einzelne Leser selbst ist, der je individuell den Text im Akt des Lesens in ein Werk überführt. Er beendet die potentielle Bedeutungsvielfalt, die Virtualität des Textes, indem er eine vereindeutigende Sinnzuweisung vornimmt.19 Das so entstehende Werk ist jedoch nicht mit dem Text identisch; hier zeigt sich die ästhetische Qualität eines literarischen Textes. Sie (die ästhetische Qualität) erweist sich darin, dass die Texte »etwas zu erzeugen vermögen, was sie selbst noch nicht sind.«20

Aus einer anderen Perspektive, der des Lesers selbst, interpretieren Vertreter der sogenannten Rezeptionstheorie das Wesen literaturwissenschaftlicher Arbeit. Sie schließen aus den v. a. historisch ausgewerteten, tatsächlich fassbaren Auslegungen eines Textes auf die prinzipielle Virtualität desselben. Die Verwiesenheit des Textes auf den Leser und den Akt des Lesens wird auch hier betont. So stellt Jauß in seinem Beitrag »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«21 heraus: »Das literarische Werk ist kein für sich bestehendes Objekt, das jedem Betrachter zu jeder Zeit den gleichen Anblick darbietet. Es ist kein Dokument, das monologisch sein zeitloses Wesen offenbart.«22 Und weiter: »Das geschichtliche Leben des literarischen Werkes ist ohne den aktiven Teil seiner Adressaten nicht denkbar.«23 Er betont, dass die historische Bedeutsamkeit eines Textes nicht vom Text als solchem abhängt, sondern dass jener lediglich eine Struktur vorgeben und einen Erwartungshorizont antizipieren kann. Entscheidend für die tatsächliche Bedeutsamkeit eines Textes ist der lebensweltliche Erfahrungs- und Erwartungshorizont des realen Lesers. Er ist für die Einlösung und Überführung der intendierten Textwirkung zuständig.24

Zusammenfassend lassen sich folgende wichtige Erkenntnisse der Rezeptionsästhetik auch für die biblische Exegese – und erweiternd für die Interpretation ästhetischer Werke insgesamt – herausstellen:

Die bewusste Einordnung auch literarischer Texte in einen umfassenden Kommunikationszusammenhang und die Betonung der pragmatischen Textdimension erteilt autororientierten Interpretationsformen eine klare Absage. Ein Textsinn lässt sich auch nicht satzweise aus einem Text herauslösen. Vielmehr besitzt er in dieser methodologischen Betrachtungsweise einen kommunikativen Charakter: Als Reaktion auf die Umwelt entstanden, will er zu neuem Sehen und Bewerten der Welt anleiten. Einen Text verstehen heißt dann, dieses Angebot als Leser bzw. Betrachter wahrzunehmen. Die Verwiesenheit des Textes auf den Leser, den er in seiner Leserlenkung immer schon mit einplant, kennzeichnet ihn selbst als Virtualität, die erst im entscheidenden Rezeptionsvorgang bzw. Lesevorgang seiner Funktion zugeführt wird. Die Tatsache, dass sich die Entstehung eines Werkes einer vollständigen Steuerung durch den Text entzieht, bedeutet umgekehrt: Ein Text lässt zwar eine Vielzahl von Sinnzuschreibungen und Interpretationen zu, die den Wirkungsstrukturen zwar mehr oder weniger angemessen, – das heißt: sie beachtend – sein können; eine Bewertung als ›richtig‹ oder ›falsch‹ im Sinne einer Verabsolutierung verbietet sich jedoch.

Anderseits sei auch nochmals an die Grenzen der Interpretationsvielfalt erinnert, die die Rezeptionsästhetiker durchaus auch sehen und betonen: Damit Kommunikation gelingt, ist eingrenzend mit Eco festzuhalten: »Auch ein ›offener‹ Text ist doch immer ein Text, und ein Text kann zwar unendlich viele Interpretationen anregen, erlaubt jedoch nicht jede beliebige Interpretation.«25

2.Folgerungen der rezeptionsästhetischen Sichtweise für die Exegese von Bibeltexten

Eine solche differenzierte Textauffassung einer grundsätzlichen wesenhaften Interpretationsvielfalt ästhetischer Werke und Texte ermöglicht eine neue Art der Kommunikation über sie. Jede Wahrnehmung und Interpretation ist zunächst einmal zu würdigen und sollte als Interpretation des jeweiligen Lesers kenntlich werden. Ferner ist es auch für Wissenschaftler als Experten im Diskurs nun relevant, auf behauptende autororientierte Aussagen zu verzichten und vielmehr seine eigene Rolle als Leser soweit wie möglich zu reflektieren und transparent zu machen.

In diesem Kontext gebührt dem Jubilar nun große Anerkennung. Denn er versuchte besonders in seinem Kommentar zum Matthäus-Evangelium, der in meiner Dienstzeit an der Universität entstand, diese rezeptionsästhetischen Erkenntnisse auf seine Arbeit als Exeget anzuwenden und in seinem ausführlichen zweibändigen Auslegungskommentar zu diesem Buch umzusetzen.26 Zunächst stellt er dem Leser seines Kommentars sein Selbstverständnis als Exeget vor und beschreibt daraus folgernd die von ihm gewählte Auslegungsperspektive: Er möchte seine Auslegung als »Reiseführer« verstanden wissen, die den Leser zu einer eigenen, durchaus auch emotional und handelnd berührenden Lektüre des Matthäus-Evangeliums anleiten möchte. Dabei stellt er die Momentaufnahme seines Leseangebots heraus: Er betont, dass das Schreiben immer subjektiv sei und zudem ein lebensgeschichtlich-dynamischer Vorgang. Das gleiche Schreibprojekt von ihm vor 10 Jahren wäre anders ausgefallen. »Die eigene Lebensgeschichte, der christlich-jüdische Dialog nach Auschwitz, neue Erkenntnisse der Literaturwissenschaft (vor allem bezüglich der Rezeptionstheorien) machen die Auslegung zu einem momentanen Gespräch des Kommentarschreibers mit dem MtEv in der Intention, den Leser dieses Kommentars zum eigenen Lesen und Verstehen anzuleiten.«27 Zudem verwendet er den Leser einladende Formulierungen wie: »Die Partitur des Textes erschließt sich leicht dem Leser«,29