Cover

Inhaltsverzeichnis

Titel

Informationen zum Buch

Impressum

Widmung

Landkarte von Altra

Prolog

Kapitel 1 - Alia

Kapitel 2 - Alia

Kapitel 3 - Reyvan

Kapitel 4 - Alia

Kapitel 5 - Alia

Kapitel 6 - Alia

Kapitel 7 - Alia

Kapitel 8 - Maryo

Kapitel 9 - Alia

Kapitel 10 - Reyvan

Kapitel 11 - Zaron

Kapitel 12 – Alia

Kapitel 13 – Zaron

Kapitel 14 – Duhr

Kapitel 15 – Alia

Kapitel 16 - Alia

Kapitel 17 - Zaron

Kapitel 18 - Alia

Kapitel 19 - Maryo

Kapitel 20 - Alia

Kapitel 21 - Alia

Kapitel 22 - Zaron

Kapitel 23 - Alia

Kapitel 24 - Alia

Kapitel 25 - Alia

Kapitel 26 - Zaron

Kapitel 27 - Alia

Kapitel 28 - Reyvan

Kapitel 29 - Alia

Kapitel 30 - Alia

Kapitel 31 - Alia

Kapitel 32 - Alia

Kapitel 33 - Alia

Kapitel 34 - Alia

Kapitel 35 - Maryo

Kapitel 36 - Alia

Kapitel 37 - Alia

Kapitel 38 - Alia

Kapitel 39 - Alia

Kapitel 40 - Alia

Kapitel 41 - Cilian

Kapitel 42 - Alia

Kapitel 43 - Alia

Epilog - Berana

Dank

Glossar

 

C. M. Spoerri

 

 

Alia

Band 4: Das Auge des Drachen

 

 

Fantasy

 

 

 

 

 

 

Alia (Band 4): Das Auge des Drachen

Alia war von Anfang an zu Großem bestimmt. Jeder Schritt, den sie gegangen ist, führte sie der Erfüllung ihrer Prophezeiung näher. Sie kennt jetzt ihr Schicksal, weiß, wer sie ist, und sie hat Verbündete, die ihr ins Talmerengebirge folgen. Denn für den letzten Kampf wird sie nicht nur Kraft und Mut benötigen, sondern auch die Unterstützung aller Völker von Altra: der Menschen, Elfen, Gorkas, Zwerge und … der Drachen.

 

Die Autorin

C. M. Spoerri wurde 1983 geboren und lebt in der Schweiz. Sie studierte Psychologie und promovierte im Frühling 2013 in Klinischer Psychologie und Psychotherapie. Seit Ende 2014 hat sie sich jedoch voll und ganz dem Schreiben gewidmet. Ihre Fantasy-Jugendromane (›Alia-Saga‹, ›Greifen-Saga‹) wurden bereits tausendfach verkauft, zudem schreibt sie erfolgreich Liebesromane. Im Herbst 2015 gründete sie mit ihrem Mann den Sternensand Verlag.

 

 

 

www.sternensand-verlag.ch

info@sternensand-verlag.ch

 

1. Auflage, Februar 2020

© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2020

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski

Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig

Korrektorat 2: Jennifer Papendick

Satz: Sternensand Verlag GmbH

 

ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-087-4

ISBN (epub): 978-3-03896-098-0

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Für meine Leser.

Danke für eure Unterstützung und eure Liebe zu dieser Geschichte.

Landkarte von Altra

 

Prolog

 

Mehr als achtzehn Jahre zuvor …

 

Celina beobachtete, wie Ramor im Zimmer unruhig hin und her ging. Sie saß auf einem vergoldeten Sessel, der mit weichem schwarzen Samt überzogen war, doch sie hatte keine Augen für den Prunk um sie herum. Zu viele Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf, seit sie eine Vision gehabt hatte, die ihr Bauchschmerzen bereitete.

»Bist du dir ganz sicher?« Ramor blieb vor ihr stehen und sah auf sie herunter, während er beiläufig über sein glatt rasiertes Kinn strich, wie er es immer tat, wenn er unsicher war. In seinen dunkelbraunen Augen las sie sowohl Unsicherheit als auch Wut, Letztere war jedoch nicht auf sie gerichtet.

»Ja, das bin ich«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Und wenn mein Vater davon erfährt, wird er nicht zögern und uns beide – uns drei – töten lassen. Vergiss nicht, er braucht mir nur ein einziges Mal in die Augen zu sehen, dann weiß er von unserem Mädchen.«

»Verflucht …« Ramor raufte sich das kurze schwarze Haar und nahm seine unstete Wanderung durch das Zimmer wieder auf.

Von draußen war der Schrei einer Möwe zu hören. Der kühle Wind blies in die langen, weißen Vorhänge, welche die Fenster verdeckten, und machte die schwülwarme Hitze des Abends erträglicher.

Celina strich gedankenverloren über ihren Bauch, der mit jeder Woche wuchs. Bald würde sie ihn unter ihren weiten Gewändern nicht mehr verbergen können, denn sie war im sechsten Monat und man erkannte deutlich ihre Rundungen. Zum Glück interessierte sich ihr Vater herzlich wenig für sie. Das kam ihr jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben zugute, denn er hatte noch nichts von ihrer Schwangerschaft bemerkt. Sie sah ihn viel zu selten, als dass es ihm auffallen könnte, und natürlich versuchte sie, ihm in letzter Zeit noch stärker aus dem Weg zu gehen, als sie es ohnehin schon tat.

Seit Celina wusste, dass in ihr ein Mädchen heranwuchs, freute sie sich umso mehr auf ihr Kind. Sie hatte sich immer schon eine Tochter gewünscht, nur war ihr dieses Glück nie vergönnt gewesen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie überhaupt von Ramor ein Kind hatte empfangen können, normalerweise wurden Magier in ihrem Alter unfruchtbar.

Celina erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie zum ersten Mal ihre Erdmagie in ihren Körper geschickt und bemerkt hatte, dass ein neues Leben in ihr heranwuchs. Und auch den Moment, als sie Ramor, der ebenfalls Erdmagie beherrschte, das Geschlecht des Kindes feststellen ließ, würde sie nie vergessen. Er hatte die Augen geschlossen gehabt, aber die Tränen waren ihm über die Wangen geronnen, als er leise geflüstert hatte: »Es wird ein Mädchen.«

Sie hatten sich daraufhin in den Armen gelegen und vor Freude geweint.

Es schien, als ob die Götter ihnen besonders wohlgesonnen waren, ihre Liebe mit einem Kind krönen wollten und große Pläne mit ihnen hatten – das zeigte die Vision deutlich, die sie soeben Ramor erzählt hatte.

»Lass uns so bald wie möglich aus Merita verschwinden«, beschloss Ramor, der abermals stehen geblieben war. »Wenn deine Vision stimmt, dann ist unsere Tochter in Gefahr. Er wird niemals zulassen, dass sie zur Welt kommt.«

Celina nickte. »Nein, das wird er nicht … aber wohin sollen wir fliehen? Bis zur Niederkunft dauert es nicht mehr lange. Ich kann unser Kind doch nicht auf der Flucht zur Welt bringen.«

Ramor nahm ihre Hand in seine und küsste sie. »Ich werde dir beistehen«, murmelte er und seine Augen ruhten sanft auf ihrem Gesicht. »Mit meinen heilenden Kräften kann ich dir helfen und du bist eine solch mächtige Magierin … Zusammen werden wir es schaffen.«

Celina erwiderte seinen Blick zweifelnd. »Du weißt, wie wichtig es ist, dass sie überlebt«, flüsterte sie. »Die Vision war eindeutig: Sie wird die Zirkel wieder auf den richtigen Weg führen. Den Weg, den meine Großmutter für die Magier vorgesehen hatte.«

Ramor hob die Schultern. »Das kann sie aber nur, wenn wir so weit wie möglich von deinem Vater weg sind, wo sie in Ruhe aufwachsen und ihre Kräfte entwickeln kann.«

»Er wird uns verfolgen lassen.« Celina stand auf und Ramor stützte sie, als sie zum Fenster ging. »Selbst wenn er nichts von unserer Tochter weiß – sobald er merkt, dass wir geflohen sind, wird er uns verfolgen und töten lassen. Ich weiß zu viel über ihn. Zu viel, das ihm schaden könnte, wenn ich es den falschen Menschen erzähle.«

Kapitel 1 - Alia

 

Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, es wird bald Mittag sein. Ich strecke mich wohlig und wende mein Gesicht zu Zaron. Er hat sich aufgrund der brütenden Hitze, die hier in Chakas Tag und Nacht anhält, von den leichten Decken befreit und liegt neben mir.

Liebevoll wandert mein Blick über seinen nackten Körper.

Sein langes schwarzes Haar ist wie immer offen und seine Gesichtszüge wirken entspannt. Die Bartstoppeln geben ihm ein verwegenes Aussehen und sind ebenso dunkel wie die feinen Härchen, die sich auf seiner breiten Brust krausen. Er hat eine Hand auf den Bauch gelegt, während sich die andere unter seinem Kopf befindet.

Ein warmes Kribbeln durchläuft meinen Körper, als ich ihn betrachte. Er ist entspannt und schläft so tief, dass er nicht einmal bemerkt, wie ich die Hand hebe und ihm sanft über die Schulter streichle.

Wir haben uns Erholung mehr als verdient nach der Flucht durch die Goharwüste. So viel ist seit Bairout geschehen … seit wir in der Hafenstadt von Reyvan entführt worden sind und nur mit viel Glück und der Unterstützung des Kampfmagiers Duhr fliehen konnten. Danach sind wir den Renóvai Akil und Sabeeha begegnet und Akil hat mir die Gabe der Wiedergeburt geschenkt. Ohne ihre Hilfe wären wir in der Goharwüste an unseren Verletzungen gestorben.

Meine Gedanken wandern zu Reyvan und meine Hand hält auf Zarons Schulter inne.

Steht er wirklich unter einem Bann von Xenos? Leider deutet alles darauf hin, dass der Zirkelleiter von Lormir aus ihm eine Marionette gemacht hat. Die ganze Zeit, als wir durch die Wüste nach Chakas geflohen sind, habe ich gespürt, dass wir verfolgt wurden, und ich bin mir inzwischen sicher, dass Reyvan unter den Verfolgern war. Hoffentlich findet er uns hier, im Zirkel von Chakas, nicht.

Chakas … ich hatte zwar gehofft, dass ich in dieser Stadt endlich Antworten auf meine Fragen erhalten würde, hätte jedoch nie mit dem gerechnet, was ich erfahren habe. Ich weiß nun, wer meine Familie ist, wer meine Eltern waren, und habe meinen Onkel Roís, den Zirkelleiter von Chakas, kennengelernt, der so ganz anders ist, als ich ihn eingeschätzt hatte.

Seit ich Roís gestern zum ersten Mal traf, nachdem Kapitän Maryo Vadorís uns zu ihm geführt hatte, hat sich alles verändert. Ich habe meinen Cousin und meine Cousine sowie meine Tante kennengelernt, einen Königsgreif erhalten und meine Bestimmung erfahren: Ich soll meinen eigenen Großvater Lesath, den Herrscher von Merita, stürzen, die schwarze Magie verbannen und die magischen Zirkel retten.

Wie um alles in der Welt soll ich das bloß anstellen? Das ist mir immer noch ein Rätsel.

Ich weiß, dass Lesath ein überaus mächtiger Magier ist. Dass ich dieselben Kräfte habe wie er, nämlich alle vier Elementmagien beherrsche, macht mir nur bedingt Mut. Denn diese Macht hatte meine Urgroßmutter Lidia, die ehemalige Herrscherin und Gründerin der Zirkel, damals auch nicht davor geschützt, von ihrem eigenen Sohn ermordet zu werden. Und ich bin mir sicher, dass sie bei Weitem besser mit ihren Kräften umzugehen verstand als ich. Schließlich habe ich meine Magie erst vor wenigen Monaten erhalten und stehe noch in den Anfängen, was deren Beherrschung anbelangt.

Zaron bewegt sich neben mir und reißt mich aus den Gedanken. Zärtlich lasse ich meine Finger von seiner Schulter aus weiter nach oben wandern, streiche über sein schwarzes Haar, das ihm bis auf die Brust fällt. Er murmelt etwas und öffnet verschlafen die Augen.

Als sein Blick auf meinen trifft, bildet sich ein leichtes Lächeln auf seinen Lippen. »Guten Morgen, mein Liebling«, begrüßt er mich mit seiner tiefen Stimme. »Hast du gut geschlafen?«

Ich erwidere sein Lächeln und versuche, all meine Gefühle für ihn in diese Geste zu legen. »Wie ein Stein und du?«

»Ebenso«, brummt er und streckt sich. »Es tut gut, endlich mal wieder in einem richtigen Bett zu liegen, und dann noch mit einer Frau wie dir – was will man mehr?« Seine Augen funkeln wie schwarze Diamanten.

Mir wird ganz warm in der Brust. Noch vor ein paar Monaten hätte ich mir nicht vorstellen können, dass er sich irgendwann so unbefangen geben, mich mit so viel Liebe anlächeln würde. Als ich ihn zum ersten Mal in den Eiswäldern traf, war er beinahe zerfressen von seinem Kummer um seine verlorene Liebe. Er hatte sich und sein Leben aufgegeben, gar sterben wollen. In seinen Augen hatte ich diesen Schmerz gelesen, der nie gänzlich verschwand, selbst wenn er gelächelt hatte.

Damals war ich noch mit Reyvan zusammen, auf der Suche nach dem Schwarzmagier in den Eiswäldern, und wusste nicht, wie tief meine Gefühle für einen Menschen sein können. Für einen Menschen wie Zaron. Seit ich ihn getroffen habe, ist alles anders, auch wenn der Schmerz über die Trennung von Reyvan in meinem Herzen nachhallt.

Ein Teil von mir liebt den Elfenprinzen noch immer, schließlich haben wir uns nicht im Streit getrennt, sondern weil es das Schicksal so wollte. Doch wir scheinen nicht füreinander bestimmt zu sein. Wie sonst ist zu erklären, dass unserer Liebe unter solch grausamen Umständen ein Ende bereitet wurde und er nun vielleicht sogar unter einem Bann von Xenos steht? Ich habe den Elfen nicht mehr wiedererkannt, als er uns in Bairout entführt hat.

Rasch verdränge ich die trüben Gedanken. Ich bin nun mit Zaron zusammen. Ich liebe ihn und weiß, dass er mich ebenso liebt – ein Gefühl, das mich mit Glück erfüllt.

Ich beuge mich zu ihm hinunter, und für einen Moment verschmelzen unsere Lippen in einem zärtlichen Kuss. Seine Hände streicheln über meinen Rücken, während er mich stärker zu sich zieht.

Doch ehe er mich mit seiner Leidenschaft gefangen nehmen kann, stütze ich meine Hände an seiner Brust ab und schäle mich aus den Laken.

»Was hast du vor?« Er richtet sich auf und beobachtet, wie ich durchs Zimmer gehe.

»Ich werde meinen Onkel besuchen«, erkläre ich, während ich mich eilig wasche und meine Kleider zusammensuche. »Es gibt noch so viel zu besprechen und ich will keine Zeit verlieren.«

»Warte, nicht so eilig.« Zaron steht ebenfalls auf und greift nach seinem Burnus. »Ich werde mitkommen.«

Ich werfe ihm einen raschen Blick zu. »Du musst mich nicht begleiten, ich habe mir den Weg zu Roís’ Gemächern gemerkt«, erwidere ich, während ich das Tuch zu einem Kleid um meinen Körper wickle. Dieses Kunststück fällt mir bereits um einiges leichter als beim ersten Mal, als ich in Bairout einen Dir angezogen habe.

»Ich lasse dich bestimmt nicht alleine durch ein Gebäude voller Magier gehen.« Um Zarons Mund deutet sich ein energischer Zug an, der keine Widerrede duldet. »Zumal uns die Kampfmagier von Xenos mit ziemlicher Sicherheit immer noch auf den Fersen sind. Wer weiß, ob sie nicht doch in den Zirkel hineingelangen können?«

Ich zucke mit den Schultern. »Wenn du möchtest, kannst du gerne mitkommen.«

»Und ob ich das tue.« Er wäscht sich ebenfalls, ehe er sich anzieht.

Kurz darauf verlassen wir das Schlafzimmer und treten in den Raum, der direkt daneben angrenzt und geschmackvoll eingerichtet ist. Hohe Fenster mit weißen und hellblauen Vorhängen zu unserer Linken lassen Sonnenstrahlen herein, die auf den reich verzierten Möbeln tanzen. Kunstvoll gewobene Teppiche verschlucken unsere Schritte. Direkt dem Schlafzimmer gegenüber befindet sich ein weiterer Raum, in dem ein ebenso prunkvolles Bad liegt. Wir wollen jedoch nach rechts, um durch die Haupttür in den Gang hinauszutreten und die Gemächer meines Onkels aufzusuchen.

Als wir an der Sitzgruppe vorbeikommen, die zum Verweilen einlädt, halten wir überrascht inne. Jemand war hier und hat uns ein köstliches Frühstück hingestellt. Allerdings scheint das schon vor einer Weile geschehen zu sein, denn es haben sich bereits zwei Fliegen darauf niedergelassen. Ich schaudere unwillkürlich, als ich an die Drachenfliegen in der Wüste denken muss, die uns fast getötet hätten.

»Da meinte es wohl jemand gut mit uns.« Zaron wirft einen anerkennenden Blick auf die zahlreichen Speisen, die auf dem niederen Tisch zwischen den gemütlichen Sesseln und dem Sofa stehen. »Ich denke, wir sollten unsere Gastgeber nicht enttäuschen und zuerst etwas essen.«

Mein knurrender Magen stimmt ihm zu.

 

Eine Stunde später stehen wir vor der Tür, die zu den Gemächern meines Onkels Roís führt. Ich hebe die Hand und klopfe zaghaft. Von drinnen ertönt eine Antwort, dann sind Schritte zu hören und die Tür wird von einem Diener geöffnet.

Als wir eintreten, kommt uns mein Onkel entgegen. Er trägt ein luftiges, einfaches Gewand, das von einem Burnus verdeckt wird, ähnlich jenem von Zaron. Seine braunen Locken fallen ihm wie immer verspielt ins attraktive Gesicht, das bei unserem Anblick von einem Lächeln erhellt wird, welches sich in seinen azurblauen Augen wiederfindet.

»Seid willkommen«, begrüßt er uns freundlich. »Ich hoffe, ihr habt gut geschlafen?«

»Ja, danke«, antworte ich verhalten. Es kommt mir immer noch komisch vor, dass ich auf einmal einen Onkel habe, der mich auch noch so herzlich begrüßt und in seiner Familie aufnimmt.

»Du bist wahrscheinlich hier, weil du wissen willst, wie meine Pläne mit dir aussehen?« Roís sieht mich aufmerksam an.

Er scheint meine Gedanken noch besser erahnen zu können als Reyvan. Kein Wunder, er ist ein Schwarzmagier und beherrscht das Luftelement.

»Ja, das würde ich tatsächlich gerne wissen.« Ich bemühe mich, selbstsicher zu klingen. »Ich hatte Zeit, all die Informationen zu verdauen, die du mir gestern gegeben hast. Trotzdem sind einige Fragen offengeblieben.«

»Das kann ich mir denken.« Er schmunzelt. »Kommt, lasst uns bei einem Glas Wein darüber sprechen. Ich nehme an, ihr habt bereits gegessen?«

Als ich nicke, geht er uns voran in ein weiteres Zimmer, das dem Wohnzimmer in unseren Gemächern ähnlich sieht. Er deutet mit einer Handbewegung an, dass wir uns auf die weichen Polstermöbel setzen sollen, die einen quadratischen, niederen Tisch umgeben. Reich verzierte Kissen sorgen für eine noch bequemere Sitzfläche.

»Für mich nur Wasser, danke«, sage ich, ehe er mir Wein einschenken kann. Ich muss unbedingt einen klaren Kopf behalten, schließlich geht es um meine Zukunft. Zudem ist es noch nicht einmal Mittag.

»Und du, Zaron?« Roís deutet mit dem Kristallkelch auf den Schwarzmagier.

»Ich nehme gern einen Schluck Wein, danke«, antwortet dieser.

Ich werfe ihm einen raschen Blick zu. Es ist mir noch gut in Erinnerung, wie er damals, als Reyvan und ich ihn in den Eiswäldern getroffen haben, mehr besoffen als nüchtern war. Allerdings hat er, seit er mit mir zusammen ist, dieses Trinkverhalten verändert. Zwar hat er seine Vorliebe für Wein nicht abgelegt, sich seither aber auch nicht mehr derart betrunken.

Roís schenkt sich ebenfalls etwas Wein ein und setzt sich zu uns. »Also, schieß los, was sind deine Fragen?« Er trinkt einen Schluck und wirft mir einen forschenden Blick zu.

Ich rutsche ein wenig auf dem Kissen herum, bis ich eine bequeme Position gefunden habe. »Ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll.« Ich runzle die Stirn und versuche, meine Gedanken zu ordnen. »Was hat es mit dem Greifenorden auf sich? Und was bedeutet es, dass ich nun einen Königsgreif namens Sonnenauge habe?«

Roís lehnt sich zurück und fährt sich mit dem Finger über das Kinn. In seinen blauen Augen erkenne ich ein Aufblitzen, das ich nicht richtig zuordnen kann.

»Der Greifenorden wurde von meinem Vater gegründet«, antwortet er. »Er sah darin eine Möglichkeit, wie Magier ihre Kräfte verstärken können. Allerdings nur diejenigen, die von den Greifen auch als würdig empfunden werden. Vater kam jedoch nicht weit mit seinen Forschungen, da er vorzeitig verstarb. Mein Sohn Cilian hat sein Erbe übernommen und versucht seither, Greife zu züchten und an Menschen zu gewöhnen, sodass der Orden bald wachsen kann. Momentan hat er ja erst fünf Mitglieder: mich, meine beiden Kinder, meine Frau und jetzt dich.«

Ich greife nach dem Wasserglas, das auf dem Beistelltisch vor mir steht, und trinke einen Schluck. »Wie kann ein Greif einem Magier helfen, seine Macht zu stärken?«, will ich weiter wissen.

»Indem er seine Magie für ihn öffnet und mit ihm verbindet«, erklärt Roís bereitwillig. Seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. »Greife sind mächtige magische Wesen, musst du wissen. Sie besitzen so viel Wärme wie zwanzig Magier zusammen. Allerdings können sie nur indirekt Magie wirken, indem sie sich mit magiebegabten Wesen verbinden.«

Ich lege den Kopf schief, während ich versuche, mir das alles zu merken. »Dann ist es keine schwarze Magie, wenn man sich mit einem Greif verbindet?«

Roís schüttelt lächelnd den Kopf und trinkt einen weiteren Schluck aus seinem Kristallkelch.

»Werde ich lernen, wie das geht?«, frage ich, und Aufregung keimt in mir auf. Die Vorstellung, mich mit Sonnenauge zu verbinden, weckt sowohl Nervosität als auch Faszination in mir.

»Das gehört zu meinem Plan, ja«, erwidert mein Onkel, während sein Blick aufmerksam über mein Gesicht gleitet. »Sonnenauge ist schon ganz wild darauf, sich mit dir zu verbinden. Er hat die Magie in dir wie ein Spürhund gewittert. Ihr zwei werdet die mächtigste Verbindung eingehen, die es im Greifenorden bisher gegeben hat.«

Ich sehe ihn überrascht an. »Werde ich mit seiner Hilfe Lesath stürzen können?«

Mein Onkel nickt bedächtig. »Das hoffe ich. Mit seiner Hilfe und mit derjenigen der fünf Völker.« Er stellt seinen Kelch auf den niederen Tisch.

Ich überlege einen Moment, dann runzle ich die Stirn. »Und wie genau willst du diese fünf Völker zusammenbekommen?«

»Nun, drei Völker hast du bereits vereint.« Roís lächelt. »Die Menschen wirst du selbst vertreten. Die Elfen Maryo Vadorís und die Gorkas … Maryo hat erzählt, dass du ihm zu einem neuen Mannschaftsmitglied verholfen hast?«

Ich nicke. »Das stimmt. Ksora. Sie hat uns von den Gorkas befreit.«

»Entschuldige, wenn ich Euch unterbreche«, bemerkt Zaron, der die ganze Zeit schweigend zugehört und an seinem Wein genippt hat. »Aber in der Prophezeiung war von ›Erben‹ die Rede. Kann es nicht sein, dass die Erben von fünf Völkern benötigt werden? Also direkte Nachkommen der Herrscher?«

»Das stimmt.« Ich wiederhole den letzten Vers der Prophezeiung, den ich mir gemerkt habe.

 

Fünf Völker ihre Knie beugen

Geschlossen einen Stern erzeugen

Was Böses hat hervorgebracht

Allein besiegt der Erben Macht

 

Roís sieht uns einen Moment lang stirnrunzelnd an. »Ich glaube, du könntest recht haben, Zaron«, meint er dann langsam.

»Ksora ist eine Erbin. Sie ist die Tochter von Trask, dem Gorkaherrscher von Westend«, bemerke ich. »Und ich scheine ebenfalls ein Erbe anzutreten …«

»Ja, aber damit fehlen uns noch drei. Die Elfen, Zwerge und Drachen«, sagt Roís nachdenklich.

»Maryo ist zwar ein Elf, aber kein Erbe, soweit ich weiß.« Ich werfe einen Blick zu Zaron, der dies mit einem stummen Nicken bestätigt. »Er stammt nicht direkt von der Königin der Westendelfen ab.«

»Dann müssen wir jemanden zu den Elfen und den Zwergen schicken«, stellt Roís fest.

»Vielleicht könnte uns Tyrian Caltayó, der Bruder von Reyvan, helfen?«, schlage ich vor. Ich hatte ihn ja damals, als ich mit Xenos und Reyvan in der gläsernen Stadt war, kennengelernt.

Es ist uns allen klar, dass Reyvan selbst uns niemals unterstützen wird, solange er unter Xenos’ Einfluss steht, auch wenn er nun durch die Heirat ein direkter Erbe der Westendelfen ist. Ich spüre einen vertrauten Stich in meiner Brust bei dem Gedanken, dass der stolze Elf von dem Schwarzmagier unterworfen wurde.

»Das kann sein.« Roís nickt. »Aber sicher wäre ich mir dessen nicht. Was hätte Tyrian Caltayó für einen Grund, uns helfen zu wollen?«

»Er war ebenfalls einmal ein Pfand im Zirkel von Lormir«, erwidere ich. »Und Xenos hat irgendetwas mit dem Tod seiner Mutter zu tun. Er hat allen Grund, dafür sorgen zu wollen, dass die Macht der Zirkel eingeschränkt wird.«

»Oder die Zirkel komplett vernichtet werden«, murmelt Zaron.

Ich hebe erstaunt eine Augenbraue.

»Die Elfen waren von Anfang an dagegen, dass die Zirkel gegründet werden«, erklärt Roís. »Sie waren die Ersten, die sich durch die Zirkelmagier bedroht fühlten. Deswegen haben sie sich vor fünfhundert Jahren gegen die Magier erhoben und die anderen Völker dazu angehalten, es ihnen gleichzutun. Darauf folgte, wie du ja weißt, der Hundertjährige Krieg. Erst Lesath konnte mit Xenos’ Hilfe dem Krieg mit den Elfen ein Ende setzen, indem er vor vierhundert Jahren mit ihnen eine Vereinbarung einging. Wie genau die aussah, weiß niemand, nicht einmal wir anderen Zirkelleiter. Aber zusätzlich hat er dafür gesorgt, dass der Frieden zwischen Elfen und Magiern mit dem Pfand gewahrt wurde.«

»Werden sich die Elfen wieder gegen den Zirkel erheben, wenn Lesath gestürzt wird?«, frage ich nachdenklich.

»Das weiß keiner«, antwortet Roís seufzend. »Hoffen wir, dass sie aus der Vergangenheit gelernt haben und die Vereinigung der fünf Völker dazu beiträgt, dass solch ein Krieg nicht wieder ausbrechen kann.«

Ich nicke. »Vielleicht unterstützt uns auch der Onkel von Reyvan. Wenn er hört, dass sein Neffe von Xenos unterworfen worden ist, wird er bestimmt mit sich reden lassen. Und er ist ja auch ein Erbe des Throns der Elfen von Zakatas, oder?«

Roís fährt sich mit dem Zeigefinger über das bartlose Kinn. »Könnte sein. So oder so werde ich jemanden in die gläserne Stadt schicken müssen, um mit den Elfen von Zakatas zu verhandeln.«

Das bedeutet, es wird noch eine Weile dauern, bis wir nächste Schritte planen können. Aber das ist mir recht, ich bin froh, wenn ich endlich einmal etwas zur Ruhe kommen und alles verdauen kann, was seit meinem sechzehnten Geburtstag geschehen ist. Unwillkürlich denke ich an meine Familie und unterdrücke den Wunsch, zurück nach Lormir zu reisen, um mich zu vergewissern, dass es ihnen gut geht. Das würde nichts bringen und wäre außerdem viel zu gefährlich. Je weiter ich von Xenos weg bin, desto besser. Zudem hatte ich meine Freundin Kala darum gebeten, mir eine Nachricht zu schicken, sobald sie etwas über meine Familie herausgefunden hat, und ich bin sicher, dass sie das tun wird. Es geht hier längst nicht mehr nur um mich, sondern um etwas viel, viel Größeres und Wichtigeres.

Seufzend streiche ich mir mit dem Handrücken über die Stirn und sehe meinen Onkel wieder an. »Und was ist mit den Zwergen? Wie bringen wir sie dazu, unsere Pläne zu unterstützen?«

»Ich habe da so eine Idee«, meint Zaron nachdenklich. »Aber es wird einige Zeit in Anspruch nehmen.«

»Was für eine Idee?« Ich sehe ihn fragend an.

»Ich kenne einen Erben des Zwergenvolkes. Du ebenfalls, Alia. Ogrem.«

»Ogrem?« Meine Augenbrauen schieben sich zusammen.

Zaron nickt mit Nachdruck. »Ja, er ist der direkte Erbe des Clans der Eiszwerge.«

Jetzt bin ich verwirrt. »Aber … er hat sich doch damals als Sohn von … äh … Terlem oder so vorgestellt?«

»Das stimmt«, bestätigt Zaron und lehnt sich etwas im gepolsterten Sessel zurück. »Er ist nicht mit Baltor, dem derzeitigen Clanoberhaupt, verwandt. Aber die Zwerge wählen immer einen Stellvertreter für ihren Anführer. Dabei ist es ihnen gleichgültig, ob dieser von demselben Blut ist oder nicht. Sollte Baltor etwas zustoßen, hat Ogrem das Sagen.« Er schwenkt sein Weinglas in der Hand und nimmt dann einen kleinen Schluck, ehe sich ein Schmunzeln auf seinen Lippen bildet. »Ogrem mag es nicht, als Erbe oder gar Zwergenprinz bezeichnet zu werden. Er sagte immer, die Zeiten, wenn er den Clan führen muss, werden noch früh genug kommen. Bis dahin wolle er lieber ein normales Leben.«

Ich sehe ihn hoffnungsvoll an. »Meinst du, er wird uns unterstützen?«

Zaron zuckt mit den Schultern und streicht sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Du hast gehört, wie sehr die Zwerge den Zirkel hassen. Das tun sie vor allem wegen Lesath, weil er sie in die Berge verbannt und einen Teil ihrer Geheimnisse des Runenschmiedens gestohlen hat.« Seine Augen blitzen auf. »Ihn zu stürzen, wird ihnen mehr Freude bereiten als alle Diamantenminen dieser Welt.«

Jetzt bin ich Feuer und Flamme für seinen Plan. Es könnte uns tatsächlich gelingen, auch die Zwerge auf unsere Seite zu bekommen. »Dann lass uns jemanden ausschicken, um sie zu fragen«, schlage ich aufgeregt vor.

Zaron hebt die Hand, um meinen Enthusiasmus etwas zu dämpfen. »Das wird jedoch, wie gesagt, eine Weile dauern. Ich weiß nicht, ob wir so viel Zeit haben.«

Ich will mich nicht so rasch geschlagen geben. Wir müssen einen Weg finden, wie wir Ogrem informieren können. »Vielleicht würde uns Maryo helfen?«, werfe ich ein. »Seine Cyrona ist schnell und könnte in drei Monaten wieder hier sein.«

Roís sieht nachdenklich von Zaron zu mir. »Ja, das könnte funktionieren. Ich denke, ich werde drei Monate lang verheimlichen können, dass ihr hier seid. Vielleicht hat Xenos bis dahin die Suche nach euch sogar aufgegeben.«

»Und wer geht zu den Elfen?«, frage ich.

»Das werde ich selbst übernehmen«, antwortet Roís bestimmt. »Es gibt magische Portale, welche die fünf Zirkel und Merita miteinander verbinden. Allerdings können nur Schwarzmagier sie benutzen. Man braucht dafür die Macht des Amuletts.« Er deutet auf das schwarze Amulett um seinen Hals, das ihn als Zirkelleiter auszeichnet. »Ich werde nach Arganta reisen und von dort zu den Elfen. Dann sollte ich in zwei Monaten ebenfalls wieder zurück sein.«

»Du willst alleine gehen? Ist das nicht zu gefährlich?« Der Gedanke, dass sich mein Onkel allein auf solch eine lange Reise macht, löst in mir Unbehagen aus. »Was, wenn dir unterwegs etwas zustößt?«

Roís schüttelt lächelnd den Kopf. »Glaub mir, meine Nichte, ich kann mich wehren.«

»Gut, dann senden wir Maryo und seine Mannschaft zu den Eiszwergen und du gehst zu den Elfen von Zakatas«, fasst Zaron zusammen.

»Genau.« Roís nickt. »In der Zwischenzeit kannst du, Alia, üben, wie du deine Magie mit Sonnenauge verbindest. Meine Kinder Cilian oder Delaila werden dir bestimmt gerne dabei helfen.«

»Wohl eher Cilian«, bemerke ich mit schief gelegtem Kopf, was Roís schmunzeln lässt.

Mein Cousin ist mir vom ersten Moment an mit Freundlichkeit und Wärme begegnet, ganz im Gegensatz zu meiner Cousine Delaila, die mir wohl am liebsten auf der Stelle die Augen ausgekratzt hätte.

»Ja, meine Tochter ist nicht allzu gut auf dich und Zaron zu sprechen. Aber sie wird sich schon beruhigen. Sie hat manchmal solche … Phasen. Wenn sie endlich einen Mann hätte, würde das ihr Temperament vielleicht etwas zügeln.«

»Sie hat keinen Gefährten?«, frage ich verblüfft mit einem Seitenblick zu Zaron, dem dieses Thema immer noch unangenehm zu sein scheint.

Er hat mir schließlich gestanden, dass er vor vielen Jahren etwas mit ihr hatte und sie dann wegen einer anderen Frau sitzen ließ. Eine Tatsache, die Delaila ihm noch immer äußerst übel nimmt. Trotzdem … bei einer Magierin, die wahrscheinlich ein paar Hundert Jahre alt, einflussreich und wunderschön ist, hätte ich angenommen, dass sie eine Familie hat.

Roís schüttelt den Kopf. »Nein, bisher war keiner gut genug für sie und sie wollte ohnehin nie Kinder – anders als Cilian. Aber da er eine normalsterbliche Frau geheiratet hat, sind sie und ihre Kinder bereits vor langer Zeit verstorben. Er spricht nie darüber, aber er hat nie wieder eine Frau lieben können seither.« Er seufzt und für einen kurzen Moment glaube ich, Schmerz in seinen Augen zu erkennen. »Das ist wohl auch einer der Gründe, wieso er und ich uns immer mehr voneinander entfernt haben. Er verkriecht sich hinter seiner Arbeit als Mitglied des Greifenordens und als Lehrer im Zirkel. Auch ihm würde ich wünschen, dass er irgendwann nochmals die Liebe findet.«

»Das wird er bestimmt«, sage ich zuversichtlich.

»Hoffen wir es.« Roís klingt wenig überzeugt. »Aber lass uns wieder zu unseren Plänen zurückkehren.«

Ich nicke. »Es fehlt noch der Erbe der Drachen. Wie können wir sie überzeugen, uns zu unterstützen?«

»Den werdet ihr zusammen um Hilfe bitten müssen, sobald alle anderen Erben vereint sind«, antwortet Roís. »Die Drachen leben in den Talmeren, die auf dem Weg nach Merita liegen. Ich würde abraten, den Seeweg zu nehmen, da euch die Magier mit Sicherheit dort vermuten und am ehesten überfallen. Aber das besprechen wir, wenn alle Vorbereitungen getroffen und die Elfen, Zwerge, Gorkas und Menschen vereint sind.«

Ich nicke und trinke einen weiteren Schluck Wasser.

»Alia, da gibt es noch etwas, das ich dir zeigen wollte«, wechselt Roís abrupt das Thema.

Ich hebe erstaunt den Blick. Noch eine Neuigkeit?

In Roís’ Augen lese ich zu meinem Erstaunen eine Trauer, die tief aus seinem Herzen kommt.

»Was denn?«, frage ich mit belegter Stimme.

»Komm mit.« Er steht auf.

Kapitel 2 - Alia

 

Ich folge nachdenklich meinem Onkel. Warum muss er immer ein Geheimnis daraus machen, was er mir zeigen oder sagen will? Daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen.

Er führt Zaron und mich einen Gang entlang und eine gewundene Treppe hinunter. An deren Ende liegt ein Garten, der gerade mal etwa zwanzig Schritt breit ist. Er wird durch hohe Mauern vor neugierigen Blicken geschützt. Die exotischen Pflanzen, die hier wachsen, sind sorgsam gepflegt und der Duft von Rosen liegt schwer in der warmen Luft. Mir fällt auf, dass als einzige Bäume zwei Trauerweiden zu sehen sind. Sie gleichen stummen Wächtern, die über etwas wehklagen.

Ich stutze, als wir unter den Ästen einer der Weiden hindurchgehen und auf einmal vor mehreren Grabsteinen stehen.

»Das ist das Grab deiner Eltern.« Roís tritt einen Schritt zur Seite, damit ich einen bestimmten Stein sehen kann.

Er wurde mit viel Liebe zum Detail hergestellt und besteht aus weißem Marmor. Ein Blumenmuster ziert den Rand. Zwei Namen sind mit Gold eingraviert: Ramor und Celina. Davor wächst ein weißer Rosenbusch.

Hier, direkt zu meinen Füßen, liegen meine leiblichen Eltern. Die Menschen, die mit mir durch die Wüste fliehen wollten und von Lesath kaltblütig verfolgt wurden, der seine eigene Tochter töten ließ. Celina, meine Mutter, die mir das Leben geschenkt, meine Prophezeiung und mich einem fremden Magier anvertraut hat. Zaron. Der Mensch, der nun hinter mir steht, dessen Hände auf meinen Schultern ruhen.

Tränen sammeln sich unwillkürlich in meinen Augen, während ich zu begreifen versuche, warum die Götter mir solch eine Bürde auferlegt haben. Und wieso ich meine leiblichen Eltern nie kennenlernen durfte. Wie gerne hätte ich sie nur ein einziges Mal gesehen – nur ein einziges Mal ihre Stimmen gehört. Aber das ist etwas, das mir für immer verwehrt bleiben wird.

Eine Weile stehe ich wie betäubt da und starre auf den marmornen Grabstein. Langsam sinke ich in die Knie, während Tränen über meine Wangen rinnen und den trockenen Boden benetzen.

Wie gerne hätte ich sie kennengelernt. Ihr Grab jetzt vor mir zu sehen, macht ihren Tod so … endgültig. So sinnlos.

»Mein Bruder … er hat mir einen Brief geschickt«, murmelt Roís, der neben mir ebenfalls in die Hocke gegangen ist. »Er schrieb, dass er und Celina fliehen wollten und sie vorhatten, Richtung Chakas zu gehen.« Er hält inne und legt seine Hand auf meinen Unterarm. »Ich habe sofort einen Trupp Kampfmagier ausgeschickt, die ihnen entgegenreiten und helfen sollten. Mir war klar, dass Lesath sie verfolgen würde. Leider kamen sie zu spät … Sie haben nur noch die Leichen von Ramor und Celina gefunden, die Zaron notdürftig vergraben hat.«

Ich hebe den Blick und wende ihm mein Gesicht zu. »Danke, dass du mir das Grab gezeigt hast«, flüstere ich mit erstickter Stimme. »Das bedeutet mir unendlich viel.«

In seinen blauen Augen lese ich Schmerz. »Es ist das Einzige, was ich für meinen Bruder noch tun konnte – dich zu ihm zu bringen. Jetzt wird er in Frieden ruhen.«

Ich nicke und starre wieder auf den Grabstein.

»Du kannst jederzeit hierherkommen, Alia.« Roís atmet leise durch und steht auf. »Ich lass euch nun alleine. Wenn ihr etwas braucht, ich bin in meinem Arbeitszimmer.«

Noch lange, nachdem uns Roís verlassen hat, sitzen Zaron und ich vor dem Grab meiner Eltern. Ich kann mich nicht davon losreißen und Zaron drängt mich nicht. Er kniet schweigend neben mir, hält meine Hand fest und gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein.

»Es ist seltsam …«, murmle ich schließlich. »Ich habe keinerlei Erinnerung an meine Eltern und trotzdem fühle ich mich mit ihnen auf eine Art verbunden, die ich nicht erklären kann.«

»Das ist ganz natürlich«, erwidert Zaron leise. »Deine Mutter hat dich neun Monate lang unter ihrem Herzen getragen. Eine solch tiefe Verbindung vergisst die Seele nicht, selbst wenn die Bilder an die Menschen verblasst sind.«

Ich wende ihm den Kopf zu. »Wie haben sie ausgesehen?«

»Du gleichst deiner Mutter sehr«, erwidert Zaron. »Sie war eine schöne, starke Frau. Deine Augen hast du jedoch von deinem Vater. Beide hatten dunkles Haar, so wie du. Dein Vater hatte ein wenig mehr Locken als deine Mutter …« Er hält inne.

»Was ist?« Ich runzle die Stirn, während ich ihn mustere.

Seine Augen blitzen auf und seine Lippen verziehen sich zu einem leichten Lächeln. »Mir kam gerade eine Idee. Lass uns zu Roís gehen. Vielleicht kann ich dir ein Bild von deinen Eltern zeigen.«

Mein Herzschlag beschleunigt sich. Das wäre zu schön. Wie sehr habe ich mir in den letzten Jahren, seit ich weiß, dass Miara und Mertin nicht meine leiblichen Eltern sind, gewünscht, sie zu sehen. Zu wissen, wie sie aussahen, wer sie waren.

Zaron steht auf und ich erhebe mich ebenfalls. Mit einem letzten Blick auf das Grab wende ich mich zum Gehen. Es tut gut zu wissen, dass ich jetzt jederzeit hierherkommen und sie besuchen kann. Irgendwie gibt es mir das Gefühl, dass ich weiß, wo meine Wurzeln sind.

 

Wir verlassen den Garten und gehen zurück zu Roís’ Gemächern. Er sitzt an seinem Schreibtisch, als wir von einem Diener hineingeführt werden.

»Roís, erlaubst du Alia und mir, in dein Laboratorium zu gehen?«, fragt Zaron ohne Umschweife.

Der Zirkelleiter hebt erstaunt den Blick. »Was wollt ihr denn dort?«

»Ich will versuchen, Alia ihre Eltern zu zeigen«, erklärt Zaron.

Ich sehe Erkenntnis in Roís’ Augen aufblitzen. »Eine gute Idee, darauf hätte ich auch kommen können. Hier ist der Schlüssel. Sorgt einfach dafür, dass ihr nichts durcheinanderbringt und den Raum danach sorgfältig wieder abschließt.«

Zaron nickt und nimmt den Schlüssel entgegen, nachdem er sich den Weg beschreiben ließ.

Das Laboratorium befindet sich in einem abgelegenen Bereich des Zirkels, weit unten in den Kellerräumen. Offenbar nutzt Roís es sehr selten – im Gegensatz zu Xenos, der zum Teil tagelang über irgendwelchen Experimenten brütete, als ich noch seine persönliche Dienerin in Lormir war.

Als wir den Raum betreten, bestätigt sich meine Vermutung. Alles im Laboratorium ist mit Spinnweben und Staub bedeckt, der aufwirbelt, sobald wir uns bewegen. Ich unterdrücke einen Hustenanfall und halte mir meinen Ärmel vor Nase und Mund.

»Hm, er scheint nicht oft hierherzukommen«, bemerkt Zaron und sieht sich suchend um. »Ah, dort ist er ja.«

Er steuert auf eine große, runde Kugel zu, über die ein verdrecktes Tuch geworfen wurde. Als er es wegnimmt, steigt eine weitere Staubwolke hoch und wir niesen beide.

Als ich wieder einigermaßen klar sehen kann, erkenne ich einen Visor. Ehrfürchtig starre ich das magische Gerät an, das ich bisher nur aus Xenos’ Labor kannte und mit dem er mir damals meine Familie nach den Zirkeltagen gezeigt hatte.

»Weißt du, wie man es bedient?«, frage ich Zaron.

»Das wird nicht allzu schwer sein«, erwidert er und geht um die Kugel herum, in der Tausende von kleinen Wolken herumschwirren. »Allerdings werde ich ihn nicht berühren können, ohne dass ich den halben Zirkel umbringe. Denn der Visor saugt die Magie eines Menschen auf, damit er funktionieren kann. Bei einem Schwarzmagier ohne Amulett wäre das fatal, da ich automatisch die Wärme aller um mich herum verwenden würde. Daher musst du ihn bedienen.«

»Ich?« Zweifelnd sehe ich ihn an.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie Xenos mich davor gewarnt hatte, den Visor in seinem Laboratorium zu berühren. Aber damals hatte ich auch noch keine magischen Kräfte.

Zaron legt eine Hand auf meine Schulter und sieht mich eindringlich an. »Ja, du. Ich werde meine Erinnerungen durch dich schicken. Aber du musst den Visor berühren, damit sie sichtbar werden.«

Ich atme tief durch und nicke. »Also gut. Was muss ich tun?«

»Lege deine Hand auf die Kugel.« Ich folge seiner Aufforderung. »Und jetzt schließ die Augen.«

Ich spüre sofort, wie sich eine Präsenz meines Körpers bemächtigt, als sich die Wolken unter meiner Hand ansammeln. Es ist ein verwirrendes und bedrohliches Gefühl, nicht unähnlich jenem, wenn meine Gedanken gelesen werden.

»Ich werde nun deine Hand halten und mir die Erinnerung an deine Eltern ins Gedächtnis rufen«, murmelt Zaron. »Es sollte funktionieren, wenn du versuchst, die Verbindung zwischen mir und dem Visor herzustellen.«

»Gut«, flüstere ich.

Mein Herz beginnt wie wild zu klopfen. Gleich werde ich meine leiblichen Eltern sehen.

Es dauert eine Weile, dann spüre ich, wie die Kräfte des Visors durch mich hindurch zu Zaron übertreten. Ich öffne die Augen, um mit ansehen zu können, was passiert. Mit einem Mal fangen die Wolken in der Kugel an, sich zu formen, fügen sich zusammen, nehmen immer stärkere Strukturen an. Der Visor beginnt mir meine Wärme zu entziehen. Einen Moment lang habe ich Angst, dass er mich unterkühlen könnte, dann merke ich, dass er nicht allzu viel von meiner Magie benötigt, um die Bilder entstehen zu lassen. Ich bin nun so aufgeregt, dass ich meinen Herzschlag im Hals spüre.

Und dann sehe ich Zarons Erinnerungen: wie er meine Eltern damals mitten in der Goharwüste gefunden hat. Meine Mutter sieht krank und schwach aus. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt, so abgemagert und kraftlos, wie sie wirkt. Trotzdem erkenne ich die Ähnlichkeit mit mir. Sie hat ebenso dunkelbraunes Haar wie ich und ihre Züge sind weich. Mein Vater Ramor scheint sie sehr zu lieben. Immer wieder wirft er ihr besorgte Blicke zu. Er hat kurze, dunkle Locken und in seinen Augen lese ich eine Willenskraft, wie ich sie selten gesehen habe.

Meine Mutter hält in ihren Armen etwas … mich. Ich bin ein kleines Bündel, das kaum genug Kraft zum Weinen hat.

Ich sehe auch Meíssa, Zarons damalige Gefährtin, wie sie sich über meine Mutter beugt, mich in die Arme nimmt. Es ist ein komisches Gefühl zu wissen, dass Zaron und sie damals ein Paar waren. Ich muss zugeben, dass sie sehr gut ausgesehen hat, und bin fast etwas neidisch auf ihre langen Beine, die weiblichen Rundungen und ihre anmutigen Bewegungen. Sie war wunderschön, hatte eine sanftmütige Erscheinung, die auf einen liebevollen Charakter schließen ließ und ich kann nun nachvollziehen, wieso es Zaron gebrochen hat, als sie starb.

Rasch verdränge ich diese Eifersucht. Das wäre nun wirklich unangebracht. Zumal ich sie wahrscheinlich selbst sehr nett gefunden hätte, hätte ich sie unter anderen Umständen kennengelernt. Sie strahlt eine Güte aus, die mich beeindruckt.

Ich spüre, dass ich die Bilder nicht mehr lange aufrechterhalten kann, wenn ich nicht frieren will, denn der Visor raubt mir mit jeder Sekunde mehr Magie. Mit Wehmut lasse ich ihn langsam los. Die Erinnerung bricht ab.

Zaron, der die ganze Zeit schweigend meine Hand gehalten hat, mustert mich mit seinen schwarzen Augen. Ich lese einen Hauch der alten Trauer darin und werde mir erst jetzt bewusst, was diese Geste für ihn bedeutet.

Es muss unheimlich schwer gewesen sein, Meíssa wiederzusehen. War ihr Tod doch der Grund dafür, dass er Schwarzmagier wurde.

»Danke«, hauche ich und umarme ihn, drücke mein Gesicht an seine Brust. Seine Arme schlingen sich ebenfalls um mich und seine Muskeln spannen sich an.

»Gern geschehen«, murmelt er in mein Haar. »Jetzt weißt du, wer deine Eltern waren.« Er atmet leise durch und scheint nach den richtigen Worten zu suchen. »Es tut mir leid, dass ich ihnen nicht helfen konnte.«

Ich schüttle den Kopf und drücke mich stärker an ihn. »Du musst dich doch nicht entschuldigen. Immerhin hast du alles versucht, obwohl du sie nicht kanntest.«

Zaron löst sich abrupt von mir, was mich ihn verwundert ansehen lässt.

»Lass uns gehen.« Er verbirgt den Visor wieder unter dem Tuch und wirbelt abermals Staub auf. »Es ist immer noch nicht leicht, sie zu sehen.«

Ich nicke, denn ich weiß, wen er meint.

 

Wir kehren zurück in unser Zimmer. Zaron scheint tief in Gedanken versunken zu sein und ich lasse ihn. Er hat nach über achtzehn Jahren seine Gefährtin wiedergesehen, kurz bevor sie damals gestorben ist. Und auch ich habe so einiges, worüber ich nachdenken muss.

Ich setze mich auf dem Balkon, der sich vor unserem Schlafzimmer befindet, auf eine Liege und schaue auf die Stadt und das Meer hinunter. Ein Sonnendach aus dunklem Stoff, das ein Diener vorsorglich aufgestellt hat, spendet Schatten und macht die Hitze erträglicher. Im Hafen meine ich, die hellen Segel der Cyrona zu erkennen, aber wahrscheinlich ist das nur Einbildung. Es liegen so viele Schiffe vor Anker, dass es ein Wunder wäre, wenn ich Maryos Schiff von hier aus erkennen würde.

In Gedanken rufe ich mir die Bilder meiner verstorbenen Eltern in Erinnerung. Auch wenn ich sie nicht kennenlernen konnte, sind sie mir auf eine Art vertraut. Gleichzeitig muss ich an meine Familie denken, bei der ich aufgewachsen bin. Meinen Vater und meine Mutter, meine Geschwister … hoffentlich geht es ihnen gut … die Ungewissheit, was aus ihnen geworden ist, nagt an mir. Meine Gedanken schweifen zu der Begegnung mit Kala vor einigen Wochen, als wir den Gorkas im Westendwald entkommen sind. Damals erzählte sie mir, dass keiner weiß, was Xenos mit meiner Familie angestellt hat. Ich hoffe inständig, dass es ihnen gut geht, und verwünsche wieder einmal den grausamen Zirkelleiter.

Dann denke ich an die Prophezeiung und das Gespräch mit meinem Onkel. Wir haben gar nicht besprochen, wann er und Maryo aufbrechen werden – falls der Elfenkapitän überhaupt einwilligt, zu den Zwergen zu gehen. Ich kann mich gut daran erinnern, wie sehr Reyvan die Zwerge verabscheut hat … und sie ihn. Vielleicht sollte ich mitgehen? Aber nein, dann würde ich nicht mit Sonnenauge üben können. Es ist wichtig, dass wir unsere Magie miteinander verbinden lernen, und ich bin gespannt darauf, wann mein Unterricht diesbezüglich beginnt.

»Woran denkst du?«, fragt Zaron, der sich nach einer Weile zu mir gesellt.

»An alles, was ich seit gestern erfahren habe«, antworte ich und ergreife seine Hand, um mich von ihm auf die Beine ziehen zu lassen. »Ich habe das Gefühl, mein Leben hat sich komplett verändert.«

Zaron nimmt mich in seine Arme. »Ja, das stimmt«, murmelt er. »Aber ich bin immer noch hier bei dir und werde dich unterstützen, was auch immer du als Nächstes tun wirst.«

»Ich liebe dich«, sage ich unwillkürlich und hebe den Kopf. »Und ich danke dir, dass ich dir vertrauen kann.«

Er wendet den Blick ab und sieht auf das Meer hinaus. In seinen Augen vermeine ich, einen kurzen Kampf zu lesen, ehe er mich loslässt und zurück in unsere Gemächer geht. Ich sehe ihm nachdenklich hinterher und werde das Gefühl nicht los, dass er mir gerade etwas sagen wollte und nicht konnte.

 

Wir bleiben den restlichen Nachmittag in unseren Gemächern und ruhen uns aus. Gegen Abend kommt ein Diener, der uns zum Abendessen abholt. Ich hoffe insgeheim, dass Delaila nicht wieder dabei sein wird. Leider wird meine Hoffnung in dem Augenblick zerstört, als wir den Speisesaal betreten.

Roís, seine Frau und seine erwachsenen Kinder sitzen bereits am Tisch und schauen uns entgegen. Als mein Blick auf Delaila fällt, fröstle ich ob der Feindseligkeit, die mir aus ihren blauen Augen entgegensprüht. Zudem komme ich mir mit einem Mal unscheinbar vor, denn sie trägt ein wunderschönes, weit ausgeschnittenes Kleid, das ihre langen Beine nur gerade so weit verdeckt, dass es noch anständig ist. Ihr fließendes Haar fällt offen über ihre Schultern, und jede ihrer Bewegungen zeugt von einer Eleganz, die eindeutig darauf schließen lässt, dass sie von hoher Abstammung ist.

Als sie anmutig aufsteht, um uns wie der Rest der Familie zu begrüßen, fällt mir auf, dass sie mich um einen halben Kopf überragt. Ihr Körper gleicht dem einer Gazelle, ist straff und schlank. Ich fühle mich wirklich wie ein Bauernmädchen neben ihr. Falls sie ernsthaft daran interessiert ist, Zaron zurückzugewinnen, werde ich zumindest äußerlich keine Chance haben, mit ihr zu konkurrieren.

Ich schlucke, als sie mir die Hand reicht und meine einen Moment zu lange festhält. Ihr Blick aus azurblauen Augen bohrt sich in meinen, und ein spöttisches Lächeln spielt um ihren sinnlichen Mund. »Ich möchte mich in aller Form bei dir für mein Verhalten von gestern entschuldigen, liebe Cousine«, flötet sie so laut, dass alle es hören können.

Jeder Ton ist eine Verhöhnung, jede Geste eine Erniedrigung. Sie spricht mit Absicht Temer, damit ich mich zusätzlich anstrengen muss, ihren Worten zu folgen.

Ich versuche, mir meine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen, sondern erwidere fest ihren Blick. »Kein Grund, sich zu entschuldigen, liebe Delaila«, antworte ich mit einem ebenso falschen Lächeln auf Temer und danke insgeheim Zaron für die zahlreichen Unterrichtsstunden in dieser Sprache. »Nicht jeder kann mit solch einer … Überraschung gleich gut umgehen.« Ich werfe einen wissenden Blick zu Zaron rüber, der gerade Elira und Cilian begrüßt. »Ich habe vollstes Verständnis für deinen überstürzten Rückzug.«

Delaila scheint einen Moment lang irritiert zu sein von meiner Antwort, fängt sich aber rasch wieder. »Ich sehe, du bist nicht auf den Mund gefallen«, zischt sie mir so leise zu, dass die anderen es nicht hören. »Aber ich warne dich: Sei dir deiner und vor allem Zarons nicht zu sicher. Wenn du mir frech kommst, wirst du das bereuen!«