image

STUTTGARTER BIBELSTUDIEN 246

Begründet von Herbert Haag, Norbert Lohfink und Wilhelm Pesch
Fortgeführt von Rudolf Kilian, Hans-Josef Klauck, Helmut Merklein und Erich Zenger

Herausgegeben von Christoph Dohmen und Michael Theobald

Meik Gerhards

Der Ursprung Davids

Studien zum Buch Rut
im Alten Testament und
in der Hebräischen Bibel

image

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2019

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller

Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg

Druck und Bindung: Sowa Sp. z o.o., ul. Raszynska 13,
05-500 Piaseczno, Polska

Printed in Poland

www.bibelwerk.de

ISBN 978-3-460-03464-8

eISBN 978-3-460-51081-4

Vorwort

Es ist noch nicht lange her, da fand ich das Buch Rut eher langweilig und hätte nie daran gedacht, ausführlicher darüber zu arbeiten. Das Interesse wurde geweckt, als mir deutlich wurde, dass sich aus der Rut-Exegese wichtige Erkenntnisse zu den Fragen der kanonischen Geltung des Alten Testaments in der christlichen Kirche und des christlichen Verständnisses alttestamentlicher Texte ergeben.

Dass das Rutbuch im Kontext dieser Fragestellungen, die nicht voneinander zu trennen sind, ein besonderes Interesse beanspruchen kann, ergibt sich zum einen aus der in mehreren jüngeren Aufsätzen publizierten These von H. J. Fabry, nach der die unterschiedliche Einordnung des Buches im christlichen und im jüdischen Kanon von weitreichender theologischer Bedeutung ist, wobei die jüdische Einordnung unter die Ketubim keineswegs Priorität gegenüber der christlichen Einordnung unter die Geschichtsbücher beanspruchen kann.

Zum anderen ist das Rutbuch auf Grund einer bereits in den 1930er Jahren veröffentlichten These von A. Jepsen interessant, nach der die Figur der Naomi als Typos des exilischen Israel zu verstehen ist, das die Zuwendung Gottes neu erfährt. Von dieser These ausgehend kann im Buch Rut eine typologisch-messianische Bedeutungsebene ausgemacht werden, für die auch die Figuren von Boas und Rut relevant sind. An diese Ebene kann die christliche Rezeption anknüpfen, indem sie Boas als Typos Christi und Rut als Typos der nichjüdischstämmigen (heidenchristlichen) Kirche versteht.

Diese nur sehr oberflächlich skizzierten Ansätze werden in der vorliegenden Arbeit vertieft. Der Diskussionshorizont, in dem sich die Studie verortet, wird ausführlicher in den Prolegomena umrissen, die dem ersten Kapitel vorausgehen. Das Buch wurde zunächst, noch ohne die Prolegomena, von Herrn Prof. Dr. B. Janowski und Herrn Prof. Dr. F. Hartenstein zur Publikation in einer von ihnen herausgegebenen Reihe angenommen. Herr Prof. Janowski gab noch einige Hinweise zur Gestaltung des Textes, für die ich ihm danke. Die Publikation in der ursprünglich angedachten Reihe scheiterte aber an mir unbekannten Problemen des Verlages. Umso mehr freue ich mich über die Bereitschaft von Herrn Prof. Dr. C. Dohmen und Herrn Prof. Dr. M. Theobald, das Manuskript in die Reihe der ‚Stuttgarter Bibelstudien‘ aufzunehmen. Dafür danke ich den beiden Herausgebern von ganzem Herzen.

Göttingen, den 24. Juli 2019

Meik Gerhards

Inhalt

Prolegomena. Zum theologischen Diskussionshorizont: Das Alte Testament als Teil des christlichen Kanons

1.Einleitung

1.1. Verschiedene Lesarten der Rut-Erzählung

1.2. Geschichtsbuch oder Teil der Ketubim?

1.3. Die jüdische Zuordnung zu den Ketubim als Abgrenzung vom Christentum

1.3.1. Anordnung der kanonischen Bücher als Mittel der Interpretation

1.3.2. Die Zuordnung zu den Ketubim nach Y. Zakovitch

1.3.3. Zum Erklärungsversuch von H.-J. Fabry

1.3.4. Notwendige Modifikationen von Fabrys These

1.4. Bezug zum theologischen Diskussionshorizont

1.5. Übersicht über die vorliegende Arbeit

2.Quellen zur Einordnung des Buches Rut in den Kanon

2.1. „Hebräische“ und „hellenistische“ Tradition

2.2. Melito von Sardes, Josephus und Hieronymus

2.3. Weitere Beobachtungen zur jüdischen Tradition

3.Grundlagen zum Verständnis des Buches Rut

3.1. Das Buch Rut als späte theologische Lehrerzählung

3.1.1. Literarischer Charakter und Datierung

3.1.2. Zur Konstruktion der Handlung

3.2. Das Buch Rut als Brücke zwischen Richterbuch und Samuelbüchern

3.2.1. Rt 4,18–22 als Einleitung der David-Geschichte

3.2.2. Rt und Jdc 17–21

3.2.3. Ergebnis

3.3. Das Buch Rut als Davidgeschichte

3.3.1. Der Bezug zu David

3.3.2. Die Vorgeburtsgeschichte Davids

3.3.3. Das Königtum der künftigen Heilszeit

3.3.3.1. Geschichtliche und typologisch-messianische Bedeutungsebene

3.3.3.2. Beziehungen zu messianischen Texten

3.3.3.3. Typologisches Denken

3.3.3.4. Individuelle Schicksale mit kollektiver Bedeutung

4.Auffälligkeiten der Erzählung und ihr Beitrag zum Verständnis

4.1. Rut schließt sich Naomi an

4.2. Der nächtliche Gang auf die Tenne

4.2.1. Keine Verführung des Boas

4.2.2. Die Inszenierung einer Bitte

4.2.3. Einsatz mit ganzer Person

4.2.4. Wagemut aus Gottvertrauen

4.2.5. Die Anerkennung durch Boas

4.3. Der Feldanteil Elimelechs und die Abstammung Obeds

4.4. Bilanz zu Kap. 4

5.Der typische Charakter der zentralen Figuren

5.1. Naomi als Repräsentantin Israels

5.2. Rut als Typos von Nichtisraeliten, die sich Israel anschließen

5.3. Boas als Typos des Messias

5.3.1. Boas als Mittler göttlicher Zuwendung und (Er-)löser

5.3.1.1. Rt 2,13 und Jes 40,1 f.

5.3.1.2. Rt 2,20 und Ps 89

5.3.1.3. Rt 3,9; Rt 2,12 und Ez 16,8

5.3.1.4. Boas als „Löser“ (גֹּאֵל)

5.3.2. Boas und die Gerechtigkeit des Messias

5.3.2.1. Die Verbindung von Lösung und Leviratsverpflichtung

5.3.2.2. Die Erlaubnis zur Nachlese

5.3.2.3. Die Aufnahme einer Moabiterin in Israel

5.3.2.4. Zusammenfassung zu 5.3.2.

5.3.3. Das Wirken des Boas im Licht messianischer Psalmen

6.Das Buch Rut in der alttestamentlichen Geschichtsdarstellung

6.1. Jdc 17–21 als Vorbereitung der Rut-Erzählung

6.2. Die Charakteristika des davidischen Königtums

6.3. Typologischer Ausblick auf die messianische Zeit

7.Zum christlichen Verständnis des Buches Rut

7.1. Rut im Stammbaum Jesu Christi (Mt 1,5)

7.2. Rut bei Ambrosius von Mailand

7.3. Das Buch Rut, seine christliche Rezeption und das Selbstverständnis der Kirche als Gottesvolk

7.4. Zum übertragenen Verständnis von Land und Landbesitz

8.Das Buch Rut im Alten Testament und in der Hebräischen Bibel

8.1. Das Buch Rut im Alten Testament – zur Plausibilität von Fabrys These

8.2. Das Buch Rut in der Hebräischen Bibel

8.3. Zur Vorgeschichte der Zuordnung zu die Ketubim

8.4. Anfragen an die Zuordnung zu den Ketubim

8.5. Theologische Folgerungen

Literaturverzeichnis

Prolegomena

Zum theologischen Diskussionshorizont: Das Alte Testment als Teil des christlichen Kanons

„Einen Anhang zum Richterbuch bildet das Büchlein Ruth, das eine Episode aus der Richterzeit erzählt. Die kleine Novelle, deren Hauptgestalt ein moabitisches Mädchen ist, trägt durchaus nicht den idyllischen Charakter, den man ihm bisweilen andichtet, sondern ist von stärksten heilsgeschichtlichen Motiven durchpulst und gestaltet. Ruth erscheint in der Stammbaumlinie der davidischen Dynastie und damit als Vorfahrin des Herrn Christus (Ruth 4,21 f.; Matth. 1,5 f.). Von ebenso großer Bedeutsamkeit ist, daß es eine Heidin ist, die als Glied in der Kette der Entwicklung auf die Fülle der Zeiten hin erscheint. Das Gottesheil ist nicht auf Israel beschränkt, sondern gilt der ganzen Welt, gilt ihr von vornherein und Anfang an. Israel ist nur Mittel und Werkzeug zur Erfüllung dieses universalen Heilsplanes und Heilsgeschehens, das Gott Zug um Zug ‚zu Stand und Wesen bringt‘. Das zu verkündigen, ist die Geschichte der Moabitin Ruth sonderlich geeignet, denn es ist eine rechte Führungsgeschichte, vergleichbar der Führungsgeschichte Abrahams, dem Ruth im Verlassen von Vaterland und Freundschaft gleicht, oder der Josephs, der wie Ruth in der Fremde aus der Armut in das Glück gehoben wird, das bei der Moabitin das Glück des Stehens in der auf Christus hinführenden Linie ist. Die Heidin die gekommen ist zu dem Herrn, dem Gott Israels, daß sie unter seinen Flügeln Zuflucht hätte (Ruth 2,12), erfährt, daß er seine Gnade nicht versagt den Lebenden und den Toten (Ruth 2,20). So ist das Büchlein Ruth in besonderer Weise dadurch geprägt, daß es Vorgeschichte des Christus, Vorlauf der Christusgeschichte ist, und es wirft damit ein bezeichnendes und aufhellendes Licht auf den Grundzug der Zeit, in der seine Erzählung sich begibt“1.

So wird das Rutbuch in einer Handreichung für Religionspädagogen charakterisiert, die das Katechetische Amt der Evangelischen Kirche von Westfalen in den 1950er Jahren herausgegeben hat. Die von der damals herrschenden Wort-Gottes-Theologie geprägte Broschüre will aus ihrer Sicht überholte Auffassungen über das Alte Testament überwinden helfen und die Unverzichtbarkeit des ersten Kanonteils auch für den Religionsunterricht darlegen.

Als überholt gelten der Broschüre die Ergebnisse einer Exegese, die einseitig von der historischen Kritik bestimmt ist und die das Alte Testament daher nur als „Urkundensammlung zur Entwicklung der Frömmigkeit und der religiösen Vorstellungen“ in den Blick bekommt.2 Die aktuelle Forschung sei dagegen von der Einsicht bestimmt, „daß der Blickpunkt, unter dem allein das AT recht zu sehen und zu werten ist, theologischer Art zu sein hat, daß der Winkel, der allein das Phänomen AT zu fassen vermag, der theologische Winkel ist“.3 Da aber wissenschaftliche Erkenntnisse „unverhältnismäßig lange Zeit brauchen, um Allgemeingut der Interessierten zu werden“, hielten viele noch immer die rein historische Sicht auf das Alte Testament für die einzig richtige – so wie auch „Harnacks Vorlesungen über das ‚Wesen des Christentums‘ immer noch im Schwange gehen, obwohl sie dem Fachmann als so überholt gelten, daß sie ein Gegenstand der Theologiegeschichte geworden sind“4.

In der gegenwärtigen Situation klingt diese theologische Standortbestimmung wieder fremd. Der in der Handreichung nur am Rande erwähnte Harnack ist von einem „Gegenstand der Theologiegeschichte“ wieder zum Impulsgeber geworden, auch im Blick auf die Bedeutung des Alten Testaments für die Kirche. N. Slenczka hat mit der These, „dass das AT (…), wie Harnack vorgeschlagen hat [!], eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte“5, sogar mediale Aufmerksamkeit erregt.6

Mit Slenczka habe ich mich bereits an anderer Stelle auseinandergesetzt7, was mir u. a. die Kritik eigebracht hat, dass ich ihm wohl „zu viel Ehre“ erwiesen hätte, seien seine Argumente doch „so alt wie das Christentum“ selbst8. An die damit zitierte Rezension wäre eine Fülle von Gegenfragen zu richten; an dieser Stelle sei aber festgehalten, dass man Slenczka nicht zu viel Ehre antut, wenn man seine Thesen zum Alten Testament sehr ernst nimmt. Das gilt vor allem, weil Slenczka das Verdienst hat, dass er den Finger auf ein Problem legt, dem Theologie und Kirche gar nicht ausweichen können: auf die Spannung zwischen der zumindest in der Evangelischen Kirche verbreiteten Ablehnung einer spezifisch christlichen, gar christologischen Auslegung des Alten Testaments auf der einen Seite und seiner Beibehaltung im Kanon auf der anderen.

Welche Position führende Kreise der Evangelischen Kirche heute vertreten, spiegelt sich in den „Sonderseiten“ der Jubiläumsausgabe der Luther-Bibel von 20179, in denen es zu Luthers christologischem Verständnis des Alten Testaments heißt:

Aus heutiger Sicht erscheint dieses Verständnis des Alten Testaments von Christus her und auf das neutestamentliche Heilsgeschehen hin als nicht unproblematisch. Die moderne Wissenschaft erschließt die biblischen Schriften von ihren eigenen historischen Entstehungszusammenhängen her. Nicht zuletzt hat auch das Bewusstsein, dass das christliche Alte Testament die Heilige Schrift des Judentums ist, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu geführt, es zunächst in seiner eigenständigen Bedeutung wahrzunehmen. Doch zu Luthers Zeit war ein direktes christologisches Verständnis noch gut möglich10.

Wenn aber „das christliche Alte Testament die Heilige Schrift des Judentums ist“ – man beachte die exklusive Formulierung: Es heißt nicht etwa, dass das christliche Alte Testament auch die Heilige Schrift des Judentums sei! –, und wenn das angemessene Verständnis biblischer Texte maßgeblich dadurch bestimmt sein soll, dass „die moderne Wissenschaft“ die Texte „von ihren eigenen historischen Entstehungszusammenhängen her“ erschließt – also nicht aus dem Kontext des beide Testamente umfassenden kirchlichen Kanons –, dann ist der Vorschlag von Harnack und Slenczka, dem Alten Testament nur noch eine Stellung zuzuerkennen, wie Luther sie den Apokryphen zuweist11, durchaus nachvollziehbar.

Slenczka verweist dazu auch auf ein anderes Beispiel, das „faktisch (…) die Konsequenz“ aus der Stellungnahme der Sonderseiten zieht12: Im Vorwort zur Lutherbibel 2017 stellt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), H. Bedford-Strohm, fest, dass im Alten Testament „die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel im Mittelpunkt“ stehe, während es im Neuen Testament „um Jesus Christus“ gehe. Dass die im Alten Testament erzählte Geschichte Gottes mit Israel in einer Verbindung zu Jesus Christus stehe, dass sie gar auf das Kommen Jesu Christi hinauslaufe und in seinem Kommen ihre Vollendung finde – wie schon der erste Abschnitt des Neuen Testaments, der Stammbaum Jesu in Mt 1,2–17, feststellt – wird in dem Vorwort nicht gesagt. Es hätte wohl auch, wie Slenczka aus einem anderen Zusammenhang mitteilt, in führenden Kreisen der EKD zu „erheblichen Irritationen“ geführt13. Wenn das aber gilt, kann man Slenczka kaum widersprechen, wenn er unter Berufung auf das Vorwort zur Lutherbibel 2017 feststellt: „Das Alte und das Neue Testament haben nach dieser Zusammenfassung bereits unterschiedliche Gegenstände, und die Botschaft von Jesus Christus ist Gegenstand des Neuen, offenbar aber nicht des Alten Testaments. Damit ist aber eben das Evangelium von Jesus Christus, das der Grund der kanonischen Geltung der biblischen Schriften ist, nicht Gegenstand der Verkündigung des Alten Testaments“14. Die Folgerung liegt auf der Hand: Es gibt dann keinen Grund, dem Alten Testament kanonische Geltung zuzuerkennen.

In der römisch-katholischen Kirche besteht größere Offenheit für ein spezifisch christliches Verständnis des Alten Testaments. So wird im Vorwort zur revidierten Einheitsübersetzung15 festgehalten, dass beide Testamente „untrennbar zusammengehören“, weil es nur einen Gott gibt, dessen Wort die Welt geschaffen hat und in Jesus Christus Fleisch geworden ist. „Deshalb wird das Neue Testament im Lichte des Alten Testaments und das Alte Testament wird im Lichte des Neuen Testaments gelesen“. Die Einheit der Heiligen Schrift wird darin gesehen, dass sie „von der großen Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen“ erzählt. Wenn aber die Einheit der christlichen Bibel und die gegenseitige Bezogenheit der beiden Testamente in der katholischen Kirche auch stärker betont werden, dürfte das Problem, das sich am Vorwort und an den Sonderseiten der Lutherbibel aufzeigen lässt, auch in der katholischen Kirche nicht unbekannt sein.

In diesem wichtigen theologischen Diskussionshorizont will die vorliegende Arbeit Stellung beziehen, indem sie zeigt, dass die Charakterisierung des Buches Rut aus der Handreichung der 1950er Jahre in allen wesentlichen Punkten immer noch Zustimmung verdient – und zwar gerade dann, wenn das Buch von seinen „eigenen historischen Entstehungszusammenhängen her“ verstanden wird. Es soll also keinen Rückschritt hinter den in den Sonderseiten der Lutherbibel 2017 benannten Ansatz der „modernen Wissenschaft“ geben – allerdings darf der historisch-kritische Ansatz auch nicht einseitig als die Zugangsweise der „modernen Wissenschaft“ gelten: Zur modernen Wissenschaft gehört ebenso die Einsicht, dass Texte Sinnpotentiale enthalten, die in verschiedenen Rezeptionskontexten unterschiedlich aktualisiert werden.16 Angesichts dieser Grundeinsicht kann es einer kirchlich verantworteten Theologie, gleich welcher Konfession, nicht gleichgültig sein, dass der zweiteilige Kanon der christlichen Bibel der Rezeptionskontext ist, der der Kirche vorgegeben ist. Gerade eine Kirche, die diesen Rezeptionskontext in Gestalt einer revidierten Bibelübersetzung den Lesern buchstäblich in die Hand gibt, kann diesen Kontext theologisch nicht außer Acht lassen. Wo der christliche Kanon als Verstehenskontext ernst genommen wird, zeigt sich, wie das Vorwort zur Einheitsübersetzung formuliert, dass „das Neue Testament im Lichte des Alten und das Alte Testament im Lichte des Neuen“ betrachtet werden will. Anders gesagt: Es zeigt sich eine Korrelation des Verstehens zwischen beiden Kanonteilen bzw. zwischen Jesus Christus und dem Alten Testament: Einerseits ist Jesus Christus vom Alten Testament her zu verstehen, weshalb das neutestamentliche Christuszeugnis voller Bezugnahmen auf alttestamentliche Texte ist; dabei wird aber zugleich das Alte Testament in das Licht Jesu Christi gerückt, wobei sich Zusammenhänge und Sinndimensionen in den alttestamentlichen Texten zeigen, die ohne das neutestamentliche Christuszeugnis nicht wahrzunehmen wären.17

Das Rutbuch gehört zu den alttestamentlichen Texten, bei denen das exegetisch grundlegende Postulat, den Text in seinem eigenen Anspruch ernst zu nehmen, dazu führen kann, den christlichen Kanon aus Altem und Neuem Testament als angemessenen Rezeptionskontext zu entdecken. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass das Buch, mit der Handreichung gesagt, „eine rechte Führungsgeschichte“ erzählt. Das Buch Rut handelt aber nicht nur von der göttlichen Führung im individuellen Leben der Hauptpersonen Naomi und Rut, sondern ist auch, wie die Handreichung feststellt, „von stärksten heilsgeschichtlichen Motiven durchpulst und gestaltet“. So beginnt es mit einer Hungersnot (Rt 1,1), die als Anspielung auf die Erzvätergeschichten zu verstehen ist. Deren Thema ist wiederum, wie Gott in Abraham eine Segensgeschichte für die ganze Menschheit beginnt. Das Buch endet mit einem Ausblick auf die Geburt Davids (Rt 4,17.22), des Königs, mit dem messianische Hoffnungen verbunden sind, denen auch das Buch Rut mit einer von prophetischen Texten inspirierten typologisch-messianischen Bedeutungsebene Ausdruck verleiht. Schon diese knappen Beobachtungen zeigen, dass das Buch Rut nicht für sich steht, sondern das Alte Testament insgesamt als Verstehenskontext voraussetzt. Die messianischen Hoffnungen, denen es Ausdruck verleiht, weisen aber über das Alte Testament hinaus, das die Erfüllung dieser Hoffnungen nicht mehr berichtet.

Stellt man aber die Frage, ob und ggf. wo sie sich erfüllt haben – und das gehört dazu, wenn der Text ernst genommen wird –, dann wird eine kirchlich orientierte Exegese das Neue Testament nicht außer Acht lassen. Sie wird die alttestamentliche Geschichte Gottes mit Israel, von der die Ruterzählung ein Teil sein will, nicht so unverbunden neben die neutestamentliche Botschaft von Jesus Christus stellen, wie es im Vorwort der revidierten Lutherbibel der Fall ist. Vielmehr wird sie bemüht sein, das Rutbuch zumindest probeweise als Teil der „großen Liebesgeschichte Gottes mit den Menschen“ zu verstehen, die nach dem Vorwort zur Einheitsübersetzung das Thema der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments ist. In diesem gesamtbiblischen Kontext findet die Frage nach der Erfüllung der im Buch Rut angesprochenen messianischen Hoffnungen eine Antwort: Sie erweisen sich als in Jesus Christus erfüllt, der als Sohn Davids ein Nachfahre von Boas und Rut ist, und der – so wie Boas die Moabiterin Rut zur Ehe nimmt – Gläubige nichtjüdischer Abstammung in das Gottesvolk aufnimmt. Damit wäre die eine Seite der Verstehenskorrelation angesprochen: das Licht, das vom neutestamentlichen Zeugnis auf einen alttestamentlichen Text fällt. Was die andere Seite angeht, den Beitrag des Alten Testaments zum neutestamentlichen Zeugnis, so zeigt das Rutbuch am Beispiel seiner aus Moab stammenden Hauptperson, dass Gläubige, die sich für die Zugehörigkeit zum Gottesvolk und zu Gott selbst entscheiden, ebenso Teil des Gottesvolkes sind wie die, die in das Volk hineingeboren sind. Diese Einsicht, vor deren Hintergrund die einzige Erwähnung Ruts im Neuen Testament (Mt 1,5) zu verstehen ist, ist für das Selbstverständnis der Kirche als Gottesvolk aus Juden und Nichtjuden in Kontinuität zum Gottesvolk des Alten Testaments grundlegend.

Werden diese theologisch gewichtigen Sinndimensionen wahrgenommen, die sich nur zeigen, wenn man über eine Exegese hinausgeht, die die Texte allein „von ihren eigenen historischen Entstehungszusammenhängen her“ erschließt, wenn man also das Buch Rut in den Gesamthorizont der Bibel aus Altem und Neuem Testament stellt, wird man über die kanonische Geltung des Alten Testaments anders denken als es die Sonderseiten zur Lutherbibel 2017 nach Slenczkas berechtigter Kritik nahelegen.

In den Sonderseiten wird allerdings auch darauf hingewiesen, dass „das christliche Alte Testament die Heilige Schrift des Judentums ist“. Darin kommt die Kritik an einer spezifisch christlichen Auslegung des Alten Testaments zur Geltung, die sich in den letzten Jahrzehnten aus der institutionalisierten Form des jüdisch-christlichen Dialogs ergeben hat. Diese Kritik erkennt den Anspruch des heutigen Judentums, der unmittelbare, legitime Erbe des antiken Israel, des alttestamentlichen Gottesvolkes, zu sein, grundsätzlich an, während die direkte Kontinuität der vor allem aus nichtjüdischstämmigen Gliedern bestehenden Kirche zu Alt-Israel als problematisch gilt. Das Rutbuch liefert aber schon innerhalb des Alten Testaments einen Beleg dafür, dass man sich dem Gottesvolk auch auf Grund einer Entscheidung anschließen kann, so dass der genealogische Zusammenhang mit Israel zumindest nicht allein entscheidend ist. Im Horizont des christlichen Kanons wird daraus ein wichtiger Schriftbeleg dafür, dass sich die aus Juden und Nichtjuden bestehende Kirche in legitimer Kontinuität zum alttestamentlichen Gottesvolk verstehen kann. Für den Anspruch der Kirche, das Alte Testament als Teil ihres Kanons zu betrachten, ist diese Einsicht entscheidend: Die Kirche kann von daher die Israeliten des Alten Testaments als ihre „Vorfahren“ betrachten und das, was im Alten Testament zu Israel gesagt ist, im Licht des neutestamentlichen Christuszeugnisses „innerlich und geistlich“ auf sich beziehen. Damit wurde Luther zitiert18, da hierin ein wesentliches Element seines christlichen Verständnisses des Alten Testaments liegt, das vor dem Hintergrund der theologisch begründeten Kontinuität von alttestamentlichem Gottesvolk und christlicher Kirche unproblematisch ist. Problematisch wird es, wo diese Kontinuität bestritten wird.19

Schließlich bleibt zu beachten, dass das „christliche Alte Testament“ nicht einfach mit der „Heiligen Schrift des Judentums“ gleichgesetzt werden kann wie die Sonderseiten ebenfalls behaupten. Das christliche Alte Testament und die jüdische Hebräische Bibel sind vielmehr zwei verschiedenen Kanones, wofür nicht zuletzt die unterschiedlichen Einordnungen des Buches Rut stehen, das im Alten Testament unter den Geschichtsbüchern erscheint, während es in der Hebräischen Bibel zu den „Schriften“ (Ketubim) gerechnet wird. H. J. Fabry hat darauf hingewiesen, dass diese Unterschiede in der Einordnung theologisch beachtlich sind, weil sie die gesamtbiblische Bedeutung der Gestalt des Königs David betreffen. Fabry nennt gute Gründe dafür, dass die im Judentum übliche Zuordnung zu den Ketubim gegenüber der christlichen Einordnung in die Geschichtsbücher sekundär ist und mit der Absicht der Abgrenzung gegenüber dem Christentum vorgenommen wurde. Wenn diese These zutrifft, hat die Hebräische Bibel im Blick auf das theologische Gesamtverständnis der gemeinsamen heiligen Schriften kein älteres Recht als das Alte Testament: Indem das Alte Testament mit dem Neuen zum christlichen Kanon zusammengeschlossen wird, erfährt das Verständnis der alttestamentlichen Texte durch die Korrelation mit dem Christuszeugnis gewisse Brechungen; andererseits steht die Einordnung des Buches Rut unter die Ketubim, wie sie in der Hebräischen Bibel üblich ist, ihrerseits dafür, dass auch das jüdische Verständnis der heiligen Schriften Alt-Israels kein ungebrochenes ist.

Dass die messianischen Hoffnungen, die auf der typologisch-messianischen Bedeutungsebene des Buches Rut zum Ausdruck kommen, in Jesus Christus erfüllt sind, dass das Buch also „Vorgeschichte des Christus“ und „Vorlauf der Christusgeschichte“ ist, wie die eingangs zitierte Handreichung sagt, erschließt sich nur dort, wo zumindest Offenheit für das kirchliche Bekenntnis besteht, dass Jesus von Nazareth der im Alten Testament vorbereitete Messias ist. Aus allgemein-hermeneutischer Sicht lässt sich das christliche Verständnis also nicht als objektiv richtig oder allein gültig erweisen. Jedoch – wer das kirchliche Bekenntnis in dem substantiellen Sinn teilt, dass er sich im Leben, Glauben und Denken Jesus Christus verpflichtet weiß20, wird im Sinn von Joh 5,39 die christliche Lesart als normativ gelten lassen.

Die vorliegende Arbeit möchte diesem Verstehensansatz nachdenken, gerade weil mit der Exegese des Rutbuches so wichtige Folgerungen für die kanonische Geltung des Alten Testaments in der Kirche verbunden sind. Da die historische Exegese als relativ objektivster Zugang zu Texten eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Voraussetzung für ein wissenschaftlich begründetes theologisches Verständnis ist, ist dabei mit historischen Erörterungen zur Einordnung des Buches Rut in den Kanon sowie mit Fragen der historischen Exegese zu beginnen. Diese historischen Erörterungen sollen einer vorschnellen theologischen Vereinnahmung der Erzählung entgegenwirken. Anschließend soll die christliche Verstehenstradition in den Blick genommen und mit Einsichten der historischen Exegese verbunden werden.

1Niemeier, Christus, 21 f.

2Niemeier, Christus, 4.

3Niemeier, Christus, 3.

4Niemeier, Christus, 1.

5Slenczka, Testament, 49.

6Vgl. dazu Slenczka, Testament, 55–58. Slenczka bezieht sich dabei allerdings nicht auf das „Wesen des Christentums“, sondern auf Harnacks Marcion-Buch von 1921.

7Vgl. Gerhards, Protevangelium, 39 ff.

8M. Oeming, Rezension zu: Gerhards, M., Protevangelium, ThRev 114 (2018), Sp. 455 f. (Zitat: Sp. 455).

9Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel. Revidiert 2017. Jubiläumsausgabe 500 Jahre Reformation. Mit Sonderseiten zu Martin Luthers Wirken als Reformator und Bibelübersetzer, Stuttgart 2016.

10S. 35 der im hinteren Teil der in Anm. 7 genannten Bibelausgabe abgedruckten „Sonderseiten“.

11Vgl. Slenczka, Testament, 55; 306–310.

12So Slenczka, Rezeptionshermeneutik, 148.

13Slenczka, Testament, 311 berichtet über die Entstehung der Einführung zu der von der Bildzeitung herausgegebenen Volksbibel von 2012. In einem Entwurf hatte der damals bereits emeritierte (bei Slenczka fälschlich: damalige) Bischof der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK), J. Schöne, geschrieben, dass im Alten Testament alles auf den einen zulaufe, „der sich als Sohn Gottes offenbart hat: Jesus Christus“, und: „Vom Neuen Testament her lesen und verstehen Christen auch das Alte Testament“. Die EKD lehnte diese Sätze mit der Begründung ab, dass sie in ihren Reihen „erhebliche Irritationen“ auslösen würden. Als Quelle nennt Slenczka eine Internetseite des „Gemeindenetzwerkes“, auf der sich ein Kommentar von Altbischof Schöne unter dem Titel: „Was treibt die EKD um?“ findet (www.gemeindenetzwerk.de/?p=8816 [von mir eingesehen am 7. Juli 2019]).

14Slenczka, Rezeptionshermeneutik, 147.

15Die Bibel. Einheitsübersetzung des Heiligen Schrift. Gesamtausgabe, Stuttgart 32017. Das Vorwort ist von den Vorsitzenden der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie von vier weiteren Bischöfen teilweise deutschsprachiger Diözesen unterzeichnet.

16Zu dieser Kritik an den Aussagen der Sonderseiten vgl. ausführlicher Gerhards, Gott und das Leiden, 278.

17Diese Korrelation kommt beispielhaft in der Emmaus-Geschichte (Lk 24,13–35) zur Geltung. Dort erschließt einerseits der Auferstandene den beiden wandernden Jüngern was in „Mose und allen Propheten“ über ihn gesagt ist (24,27). Dabei werden Zusammenhänge im Alten Testament deutlich, die die Jünger zuvor so nicht gesehen hatten: Der Messias ist zugleich der Gottesknecht, der für die Sünden der vielen leiden und sterben muss. Andererseits wird aus dieser Sicht auf die alttestamentlichen Texte verständlich, dass Jesus leiden und in Gottes Herrlichkeit eingehen musste (24,26). Vgl. dazu Gerhards, Windeln, 20–25; ders., Protevangelium, 100–103.

18Luther hält in: WA 31/2, 243,7–9 fest, dass wir Christen das, was die Israeliten des Alte Testaments als „unsere Vorfahren“ äußerlich und körperlich erfahren haben, innerlich und geistlich erfahren können (Hoc, quod passi sunt nostri antecessores secundum historiam externe corporaliter, hoc nos patimur secundum nostram historiam interne et spiritualiter). Konkret geht es an dieser Stelle darum, dass die Zusage Jesajas an Hiskia, dass die Erretteten des Hauses Juda wieder Wurzeln schlagen und Frucht bringen werden (Jes 37,31), von Christen als bleibend gültiges Trostwort verstanden werden kann, das dazu ermuntert, in scheinbar hoffnungslosen Situationen die Hoffnung nicht zu verlieren: Est autem consolacio, ne desperemus in rebus apparentibus carni impossibilibus restitui posse (a. a. O., 243, 20 f.). So sehr Luther vor einer unreflektierten Anwendung von Allegorien warnt (cavete ergo ab ineptis et vulgatis allegoriis!, a. a. O., 243,4 f.), so kann dieser Trost doch allegorisch auf das getötete und wiederbelebte Gewissen bezogen werden (a. a. O. 243, 18–20).

19Wenn die Kontinuität zwischen alttestamentlichem Gottesvolk und Kirche bestritten wird, werden das alte Israel (und das heutige Judentum als dessen Fortsetzung) und die Kirche als zwei Religionsgemeinschaften betrachtet. Dann aber gilt: „Sobald sich das Bewusstsein ausbildet, dass dieses Buch [= das Alte Testament] nicht von der Kirche, sondern von einer Religionsgemeinschaft handelt und zu ihr spricht, von der sich die Kirche getrennt hat, wird das Verhältnis der Kirche zu diesem Schriftenkorpus hochproblematisch“ (Slenczka, Testament, 82). Das „Bewusstsein“, dass sich die Kirche von der israelitisch-jüdischen Religionsgemeinschaft getrennt hat, wird allerdings dem komplexeren historischen Befund nicht gerecht (vgl. dazu unten S. 36 f.). Wie am Beispiel des christlichen Verständnisses des Rutbuches gezeigt werden soll, ist es auch nicht aus der Heiligen Schrift zu begründen.

20„Substantiell“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das Bekenntnis nicht „entsubstantialisiert“ verstanden wird, dass sich also das Vertrauen auf den lebendigen Herrn Jesus Christus als eine unabhängig vom Gläubigen und seinem religiösen Selbstverständnis existierende Größe richtet. Dass dies in der gegenwärtigen evangelischen Theologie nicht selbstverständlich ist, zeigt etwa Slenczka, Flucht. Das kirchliche Kernbekenntnis in substantiellem Sinn zu teilen, bedeutet etwa, die „innere Freundschaft mit Jesus“ zu suchen, auf die nach J. Ratzinger (Papst Benedikt XVI.) „alles ankommt“, und die „ins Leere zu greifen“ droht, wenn der wahre Jesus „so ganz anders“ gewesen sein sollte, „als ihn die Evangelisten darstellen und als ihn die Kirche von den Evangelien her verkündigt“ (Die Zitate in: Ratzinger, Jesus I, 10 f.). Das substantielle kirchliche Bekenntnis geht also mit einem Vertrauen in die Jesus-Darstellung der Evangelien und ihre Fundierung in der wirklichen Geschichte Jesu einher.

1.Einleitung

1.1.Verschiedene Lesarten der Rut-Erzählung

Die von Herder und Goethe ausgehende, innerhalb der alttestamentlichen Wissenschaft u. a. von H. Gunkel vertretene Tradition, das Buch Rut als idyllische Novelle zu verstehen, deren Schönheit sich „jedem unverbildeten Geschmack“ erschließt21, kommt der bukolischen Sehnsucht einer rationalisierten Lebenswelt entgegen22; dennoch wurde sie mittlerweile zu Recht relativiert: Die Not der Witwen Naomi und Rut taugt nicht zum Gegenstand romantischer Sehnsuchtsbefriedigung23. Auch darf nicht übersehen werden, dass das Buch auf Grund vieler Bezüge zu anderen alttestamentlichen Texten der gebildeten, schriftgelehrten Literatur zuzurechnen ist. Daher sind es gewiss keine „Verirrungen des grübelnden Verstandes“24, vom Buch Rut mehr zu erwarten als eine „Geschichte, wie sie das Volk gerne hört: nach Regen Sonnenschein!“25 Der Text selbst gibt die Frage nach einer tieferen theologischen Tendenz auf.

Das Buch enthält Potentiale, die es für eine feministisch und sozialgeschichtlich interessierte Exegese besonders interessant machen. Es trägt im Titel den Namen einer Frau, einer Migrantin aus Moab, und hat in der Figur der Naomi eine weitere weibliche Hauptperson. Eine feministische Auslegung kann den Akzent darauf legen, wie kinderlose Witwen als Randfiguren einer männerdominierten Gesellschaft durch gegenseitige Solidarität mit Gottes Hilfe soziale und materielle Absicherung finden. Dazu wird zwar eine dritte, nunmehr männliche, Hauptperson in Gestalt des Boas benötigt; bei ihm kann jedoch gefragt werden, ob ihm als Handlungsträger derselbe Rang zukommt wie den Frauen Rut und Naomi.26

Die Frauenperspektive des Buches hat sogar zu der Vermutung Anlass gegeben, dass eine Frau der Verfasser ist.27 Wiederum können manche Aspekte der Erzählung gerade aus feministischer Sicht auch als problematisch empfunden werden.28 Unstrittig ist jedoch, dass die Frauenfiguren, aber auch Boas, bei einer sozial und politisch engagierten Lesart als Vorbilder verstanden werden können, die Orientierung in aktuellen Fragen bieten, und zwar neben den feministischen Fragestellungen und Fragen sozialer Sicherheit auch im Problemkreis von Migration und Identität.29

Die Sinnpotentiale des Rutbuches werden aber durch feministische, sozial- und identitätsgeschichtliche30 Ansätze nicht ausgeschöpft. Angesichts der „große[n] Bandbreite unterschiedlicher Lesarten“ wäre die Empfehlung aber unbefriedigend, dass jeder und jede Einzelne „den Text selbst zur Hand (…) nehmen“ solle, „um sich ein eigenes Bild von dieser Erzählung zu machen“31. Eine Exegese, die sich als Anwalt des Textes versteht und als solcher in der „Vielfältigkeit“ der Interpretationsansätze32 Orientierung zu schaffen sucht, wird zunächst nach dem ursprünglichen Sinn der Erzählung fragen. Sie wird also zu erheben suchen, wie das Rutbuch wohl in seinem Entstehungsmilieu aufgenommen wurde und – einen Schritt weiter und damit (noch) spekulativer33 – was der Autor intendierte.

Dabei ist der schriftgelehrte Charakter des Buches zu berücksichtigen. Als Erzählung, die wohl in der späten Perserzeit oder der hellenistischen Zeit entstanden ist, nimmt es Bezug auf eine Vielzahl anderer Texte, die schon damals als kanonisch galten oder auf dem Weg dorthin waren. Unter diesen Bezugnahmen sind der Rückverweis auf das Richterbuch in der Zeitangabe von Rt 1,1 und der das Buch abschließende Stammbaum Davids in 4,18–22 am auffälligsten. Sie verorten das Rutbuch zwischen dem Richterbuch einerseits und den Samuelbüchern andererseits. Nachdem das Buch Rut mit einem Ausblick auf seine Geburt schloss, wird David in den Samuelbüchern persönlich auftreten. Das Rutbuch weist aber nicht nur Bezüge zu den umliegenden Geschichtsbüchern, sondern auch zum Pentateuch und zu prophetischen Texten auf. Es verortet sich also in einem weiten biblischen Horizont, der nicht zuletzt für das Verständnis der Frauenfiguren von Bedeutung ist.

A. Jepsen hat schon in den 1930er Jahren gezeigt, dass die Figur der Naomi im Licht deuterojesajanischer Texte als Personifikation Israels zu verstehen ist, das durch Gericht und Exil hindurch zu neuer Hoffnung kommt.34 Für die Rut-Figur ergibt sich aus dem weiteren biblischen Horizont ein Verständnis als Urbild von Nichtisraeliten, die sich in der messianischen Heilszeit Israel anschließen werden. In diesem Rahmen rückt die Heirat von Rut und Boas in das Licht des, wiederum aus Deuterojesaja bekannten, Bildfeldes „Hochzeit mit Gott“, das metaphorisch die Befreiung und Wiederherstellung Israels nach dem Exil beschreibt35, wozu die Einbeziehung nichtisraelitischer Völker in den Herrschaftsbereich des Messias kommen kann36. Indem er als menschlicher Löser (גֹּאֵל) dem göttlichen גֹּאֵל Deuterojesajas entspricht37, wird Boas – passend für eine Figur, die zu den Stammvätern Davids gehört (Rt 4,17.22) – zum Typos des Messias.

Dass im Rutbuch mit einer typologisch-messianische Bedeutungsebene zu rechnen ist, und dass sie sich schon den ursprünglichen Lesern erschließen konnte, ist nicht nur in den Bezügen zu Deuterojesaja und anderen prophetischen Texten begründet, sondern ergibt sich auch aus dem zeitgeschichtlichen Hintergrund. D. Böhler hat anhand anderer Erzählungen (Susanna, Jephtahs Tochter, Judit) gezeigt, dass „in biblischer Prosa des 3. und 2. Jh. v. Chr. (…) die hintersinnige Bedeutung einer weiblichen Figur eher das zu Erwartende, das automatisch mindestens Erfragte“ ist.38 Indem also Naomi – nicht nur, aber auch – „hintersinnig“ für Israel steht, und Rut – nicht nur, aber auch – für Nichtisraeliten, die sich in der messianischen Zeit Israel anschließen, teilt das Buch Rut die von Böhler benannte Tendenz, auch wenn man mit der Datierung vor das 3. Jh., nämlich in das späte 4. Jh. v. Chr., gehen kann. Damit scheint der Frauenperspektive des Buches ursprünglich ein anderer Sinn zuzukommen als der, an dem die feministische und sozialgeschichtliche Exegese interessiert ist.

Gegen das typologisch-messianische Verständnis könnte eingewandt werden, dass es der nachrangigen Hauptperson Boas zu viel Ehre erweist. Der Einwand wiegt aber nicht schwer. Dass die weiblichen Hauptpersonen, Naomi und Rut, einen Vorrang vor der männlichen Hauptperson Boas zu haben scheinen39, ist auf der typologisch-messianischen Bedeutungsebene insofern sinnvoll, als Naomi als Repräsentantin Israels und Rut als Repräsentantin der Völker, die sich Israel anschließen, für den Leser unmittelbares Identifikationspotential besitzen. Für Boas als Repräsentanten des Messias gilt das nicht in gleicher Weise. Zugleich darf die Figur des Boas nicht allzu sehr gegenüber den starken Frauen zurückgestellt werden. So zeigt er sich zwar von Ruts Verhalten beeindruckt, sowohl von dem, was er gehört hat (2,11), als auch von ihrem Einsatz auf der nächtlichen Tenne, den er selbst erlebt (3,10). Allerdings ist er nicht so schwach dargestellt wie manche behaupten, die etwa von der Frauenperspektive auf einen weiblichen Verfasser schließen.40

1.2.Geschichtsbuch oder Teil der Ketubim?

Mit der Entdeckung der typologisch-messianischen Bedeutungsebene wird das Rutbuch aber gerade aus christlicher Sicht interessant. In der christlichen Auslegungstradition hat das Verständnis des Boas als Typos Jesu Christi und das der Rut als Typos der nichtjüdischstämmigen, „heidenchristlichen“ Kirche eine lange Tradition. Wenn das Buch aber tatsächlich eine typologisch-messianische Bedeutungsebene enthält, ist dieses traditionelle christliche Verständnis der Erzählung nicht willkürlich aufoktroyiert, sondern knüpft – unter der Voraussetzung, dass Jesus der in alttestamentlichen Texten angekündigte Messias ist – an etwas an, von dem das Buch selbst spricht.

Dass die feministische und sozialgeschichtliche Exegese zu anderen, im weitesten Sinne ethischen Lesarten kommt, ergibt sich auch daraus, dass sie nicht vorrangig an der Befreiung und Wiederherstellung Israels nach Gericht und Exil interessiert ist und noch weniger daran, diese alttestamentlichen Erfahrungen von Gericht und Heil als Urbild (Typos) des Erlösungswerkes Jesu Christi und der Begründung der christlichen Kirche zu verstehen. Das Verständnis wird allerdings nicht nur von Interessen und Fragestellungen gelenkt, mit denen einzelne Ausleger oder Auslegungsrichtungen an den Text herangehen; beim Buch Rut sind auch die unterschiedlichen Stellungen innerhalb des Kanons der heiligen Schriften Alt-Israels zu beachten.

In der Septuaginta und den ihr folgenden christlichen Bibelübersetzungen steht das Buch Rut an der Stelle zwischen dem Richterbuch und den Samuelbüchern, an der es sich durch Rt 1,1 und 4,18–22 selbst verortet. Hier erscheint das Rutbuch als Teil einer Geschichtsdarstellung, die von der Schöpfung der Welt und den Anfängen Israels (Genesis) bis in die Perserzeit (Esra / Nehemia; Ester) reicht. Indem es in 4,11 f. ausdrücklich auf die Genesis zurückgreift und indem es ebenfalls in Kap. 4, wenn auch nicht ausdrücklich, auf die Durchsetzung des Mischehenverbots in Esr 9–10 anspielt41, beansprucht das Buch Rut, Teil eines Geschichtsbildes zu sein, das bis in die Perserzeit reicht, und das zur Entstehungszeit des Buches bereits auf dem Weg zur kanonischen Anerkennung war, auch wenn noch kein allgemein anerkannter fest umrissener Bibelkanon bestand.42 Diesem Geschichtsbild fügt das Rutbuch an dem wichtigen Wendepunkt von der Richterzeit zur Königszeit eine neue Episode hinzu. Damit stellt sich die Frage, welche inhaltlichen Aspekte diese Episode zum sich verfestigenden Geschichtsbild ergänzt.

Im Unterschied zur christlichen Tradition hat sich im Judentum eine Einordnung in den dritten Teil der Hebräischen Bibel, unter die „Schriften“ (hebr. כְּתוּבִים, daher: „Ketubim“), durchgesetzt. Ihrer Textgrundlage, dem Codex Petropolitanus (ML)43, folgend bietet auch die Biblia Hebraica das Buch Rut als Teil der Ketubim. Es steht in ihr als erste der fünf „Megillot“ (Festrollen)44 unmittelbar nach dem Proverbienbuch.

Die Zuordnung zu den Ketubim hat, zumal sie sich in der Biblia Hebraica als einer verbreiteten wissenschaftlichen Ausgabe des hebräischen Textes findet, zweifellos ihren Anteil daran, dass das Buch Rut üblicherweise als isolierte Schrift und nicht als Teil des kanonischen Geschichtsbildes behandelt wird. Wo das Rutbuch aber von den Geschichtsbüchern isoliert wahrgenommen wird, liegen ethische, auch feministische und sozialgeschichtliche Lesarten näher als eine Auslegung, die die typologisch-messianische Bedeutungsebene in den Vordergrund rückt und Anschluss an die christliche Auslegungstradition sucht.

Vor diesem Hintergrund hat eine Exegese, die mit der Frage nach der ursprünglichen Bedeutung des Buches Rut einsetzt, die Vorfrage zu klären, ob der im christlichen Bereich üblichen Zuordnung zu den Geschichtsbüchern oder der in der jüdischen Tradition etablierten, den Fachexegeten aus der Biblia Hebraica vertrauten Zuordnung zu den Ketubim das ursprüngliche Recht zukommt.

Von vornherein ist festzustellen, dass die jüdische Zuordnung zu den Ketubim die Selbstverortung der Erzählung außer Acht lässt.45 Daher ist keineswegs ausgemacht, dass die jüdische Tradition ursprünglicher ist als die christliche, und dass sie dem Rutbuch eher gerecht wird – im Gegenteil: Die jüdische Zuordnung zu den Ketubim scheint eher erklärungsbedürftig. Nach H.-J. Fabry entspricht sie dem jüdischen Bedürfnis der Abgrenzung vom Christentum. Es lohnt sich, dieser These Fabrys nach zudenken, zumal sie mit theologischen Konsequenzen für den christlichen Umgang mit den heiligen Schriften Alt-Israels als dem Alten Testament der Kirche verbunden ist.

1.3.Die jüdische Zuordnung zu den Ketubim als Abgrenzung vom Christentum

1.3.1.Anordnung der kanonischen Bücher als Mittel der Interpretation

Als Mittel der Interpretation stand die Bücheranordnung noch während der Zeit zur Verfügung, in der die Einzeltexte schon abschließend fixiert waren, sich aber noch keine überregional akzeptierten Standardanordnungen durchsetzen konnten, was letztlich erst nach Erfindung des Buchdrucks der Fall war.46

Dass die Anordnung der Bücher Hinweise auf das Gesamtverständnis des Kanons liefert, wird deutlich, wenn man vergleicht, welche Bücher in verschiedenen Zweigen der Handschriftenüberlieferung an das Ende des Alten Testaments bzw. der Hebräischen Bibel gestellt wurden.

Im christlichen Alten Testament hat sich weitgehend die Schlussstellung der Propheten durchgesetzt, letztlich die des Zwölfprophetenbuches, bei der das Alte Testament mit der Ankündigung der Wiederkehr Elias vor dem Tag Jahwes (Mal 3,23 f.) schließt. Diese Anordnung bringt die christliche Überzeugung zum Ausdruck, dass das Alte Testament das Kommen Jesu Christi vorbereitet. Da nach Mt 11,14; 17,10–13 (par. Mk 9,11–13) die in Mal 3,23 f. angekündigte Wiederkehr Elias als in Johannes dem Täufer erfüllt gilt, verklammert die Schlussstellung des Maleachi-Buches das letzte Buch des Alten mit dem ersten Buch des Neuen Testaments und damit die beiden Teile des christlichen Kanons überhaupt.

Die Schlussstellung der Propheten im Allgemeinen und des Maleachibuches im Besonderen hat sich im christlichen Kanon allerdings erst allmählich durchgesetzt. Die Codices Vaticanus, Sinaiticus und Alexandrinus stellen jeweils unterschiedliche Bücher an das Ende des Alten Testaments: Im Vaticanus schließt das Alte Testament zwar mit den Propheten, allerdings nicht mit dem Maleachi-, sondern mit dem Danielbuch; im Sinaiticus endet das Alte Testament mit Hiob, im Alexandrinus mit dem Sirachbuch. In allen drei Fällen ist das Bemühen erkennbar, vom Ende des Alten Testaments eine Brücke zum Neuen zu schlagen. Im Vaticanus steht mit Daniel ein Auferstehungszeuge am Ende des Alten Testaments47; auch Hiob, mit dem das Alte Testament im Sinaiticus schließt, gehört nach Hi 42,17a (LXX) zu denen, die Gott auferwecken wird48.