Cover

Über dieses Buch

Mit einem Sprung aus dem Schlafzimmerfenster einer schönen Frau rettet sich der Spanier Luiz Galvez, der sich in seinen Memoiren als einer der letzten großen Abenteurer des ausgehenden 19. Jahrhunderts versteht, vor einem wütenden Ehemann und stürzt sich damit zugleich in die politische Arena Brasiliens. Denn durch seinen Sprung hat er zufällig das Leben des bolivianischen Botschafters in Brasilien gerettet, der in Verbindung mit den USA eine der Schlüsselfiguren bei der Erschließung des Kautschukgebietes am oberen Amazonas ist. Kautschukhandel war in jener Zeit ein Mittel zu schneller Bereicherung und Amazonien das ideale Experimentierfeld für Abenteurer, Revolutionäre, Eroberer und Glücksucher jeglicher Art. Auch Luiz Galvez macht sich unter irrwitzigen Umständen mit einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft von der Küstenstadt Belém in den Urwald auf. Bis zur Ankunft im tiefen Brasilien hat er mit seiner Truppe, zu der, natürlich, drei schöne Frauen gehören – eine verliebte Nonne, eine leidenschaftliche brasilianische Revolutionärin und eine temperamentvolle französische Opernsängerin –, manches Abenteuer zu bestehen, manche Schlacht zu schlagen. In exotischer Urwaldlandschaft wird schließlich für kurze Zeit mit operettenhaftem Dekor ein Imperium der Ausschweifungen errichtet und Galvez zum Kaiser von Amazonien ausgerufen. Doch mit dem Jahrhundertwechsel bricht dieses Reich der Träume, das versuchte, die Realität, die Armut auszuschließen, in einem Putsch wie eine Seifenblase zusammen, und Galvez kehrt nach Europa zurück.

»Das Ganze liest sich wie ein Hollywood-Spätwestern der 60er-Jahre, in dem alle Register der Soap-Opera gezogen werden [...] eine Mischung aus Schlammbad und Tortenschlacht, die irgendwo zwischen burlesker Farce und Slapstick-Komödie anzusiedeln ist.« (Hans Christoph Buch)

Der Autor

Márcio Souza wurde 1946 in Manaus (Amazonien) geboren, wo er auch heute wieder lebt. Er studierte Sozialwissenschaften in São Paulo und leitete die Nationale Buchabteilung der Biblioteca Nacional in Rio de Janeiro. Neben seiner literarischen Tätigkeit (Romane, Essays, Drehbücher, Filmkritiken) war er auch als Journalist und Dramaturg tätig. In deutscher Übersetzung liegen vor: »Galvez, Kaiser von Amazonien« und »Mad Maria oder Das Klavier im Fluss«. Sein Debüt »Galvez«, auch in den USA ein Bestseller-Erfolg, machte ihn mit einem Schlag bekannt.

Die Übersetzerin

Ray-Güde Mertin (1943–2007) war eine deutsche Philologin, Literaturagentin und Übersetzerin portugiesischer, brasilianischer, spanischer und hispanoamerikanischer Literatur. So übertrug sie Werke von António Lobo Antunes, João Ubaldo Ribeiro und José Saramago ins Deutsche.

Leben und wundersame Abenteuer des Don Luiz Galvez Rodrigues de Aria in den sagenumwobenen Städten Amazoniens sowie die ergötzliche Eroberung des Territoriums von Acre in wohlausgewogener Darstellung zum Vergnügen des Lesers berichtet

Márcio Souza
Galvez,
Kaiser von Amazonien

Roman

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Ray-Güde Mertin

Edition diá

Inhalt

1. Teil
November 1897 bis November 1898

2. Teil
Mitten auf dem Amazonas

3. Teil
Manaus, März bis Juni 1899

4. Teil
Das Kaiserreich von Acre Juli bis Dezember 1899

Impressum

»Jenseits des Äquators ist alles erlaubt.«
Portugiesisches Sprichwort aus dem 15. Jahrhundert

»Fast alles.«
Luiz Galvez, gestürzt

Das vorliegende Buch ist ein Roman, in dem historische Persönlichkeiten zu einer Synthese verschmolzen sind, die den Irrsinn der Monokultur zeigt. Die Ereignisse der Vergangenheit stehen hier unter neuen Vorzeichen. Der Autor hat versucht, einen bestimmten Ausschnitt aus dem Leben seiner Region zu zeigen.

1. Teil
November 1897 bis November 1898

»In solchen Dingen stolpert die Zunge nie, wenn nicht zuvor die Absicht zu Fall kommt. Sollte ich aber vielleicht aus Unachtsamkeit oder aus Bosheit spotten, so würde ich dem, der mich deswegen schelten wollte, antworten, was Mauleón, ein beschränkter Dichter und unordentliches Mitglied der Akademie der Nachahmer, einem Mann erwiderte, der ihn fragte, was ›Deum de Deo‹ heiße; er sagte, es bedeute ›Dummer Deibel‹«.

Miguel de Cervantes: Exemplarische Novellen

Breitblättriger Wald Dies ist eine Geschichte voller Abenteuer, deren Held am Ende vor Altersschwäche im Bett stirbt. Und was den Stil betrifft, so wird der Leser feststellen, dass auch Amazonien glücklich und endlich das Jahr 1922 erreichte, als der Modernismus begann. Das macht nichts, denn schließlich schreibt man keine Abenteuerromane mehr wie früher. Im Jahre 1922 des gregorianischen Kalenders wurde in Amazonien noch der breitblättrige Stil der Parnassiens gepriesen. Heutzutage haben wir genug von exotischen Abenteuern und selbst von klassischen Adjektiven. Man kann sogar behaupten, dass wir es hier mit dem letzten exotischen Abenteurer zu tun haben, einem Abenteurer, der noch erlebt hat, wie Zigarren mit Tausend-Reis-Scheinen angezündet wurden, und so aus eigener Erinnerung bestätigen konnte, was aus jener legendären Zeit berichtet wurde. Und nach ihm? Multinationaler Tourismus.

José de Alencar Im Jahre 1945 beschloss ein alter Mann, seine Memoiren zu schreiben. Er lebte in Cádiz, war pensioniert und schon seit geraumer Zeit am Ende seiner Manneskraft. Der Alte reiste gern und war bei seinen wenigen Freunden als ein ausgemachter Lügner bekannt. Aber in Spanien kam der Lüge eine besondere Bedeutung zu. Ebenso in Amazonien. Der Alte hinterließ einen Stapel Manuskripte, in denen er eine Reihe von Tollheiten erzählte, die auch seine Freunde schon gehört hatten, ohne ihm jedoch Glauben zu schenken. Er aber kümmerte sich nicht darum, denn er wusste, dass diese Tollheiten bemerkenswerte Begebenheiten in seinem Leben gewesen waren. Sein Leben war nur deshalb bedeutend gewesen, weil er es in einem gänzlich unbedeutenden Land verbracht hatte. Der Alte starb 1946 und hinterließ keinerlei Erben. Offensichtlich beendete er das Manuskript, denn der Packen Papier, das mit einer gleichmäßigen, klaren Schrift beschrieben war, wurde zwanzig Jahre später in noch gutem Zustand in einer Mappe wiedergefunden. Wie es sich für einen echten Abenteuerroman gehört, fand ein brasilianischer Tourist 1973 das Manuskript bei einem Bouquinisten in Paris. Bis heute weiß man nicht, wie dieses Manuskript von Cádiz in das Regal eines Antiquariats auf dem Boulevard Saint-Michel gelangt ist. Jedenfalls erstand der Brasilianer, der in den Buchhandlungen von Paris herumstöberte, das in Portugiesisch verfasste Manuskript für 350 Francs, was zu jener Zeit nicht gerade viel war. Genau der angemessene Preis für ein unbedeutendes Manuskript. Der Brasilianer las das Manuskript in zwei Tagen. Dabei wurde er an José de Alencar erinnert, der in seinem Buch »Der Krieg der Trödler« genau das getan hatte, was er jetzt zu tun beschloss, nämlich das Manuskript zu ordnen und zu veröffentlichen. Der brasilianische Tourist war ich. Ich war ziemlich beeindruckt von den Tollheiten dieses Spaniers aus dem 19. Jahrhundert. Aus diesen auf so seltsame Weise entdeckten Papieren, um mit José de Alencar zu sprechen, habe ich dieses Buch zusammengestellt, das nun gedruckt worden ist. Und um noch einmal mit dem Meister Alencar zu sprechen, rate ich den Lesern, »richtet euch ein in dieser Welt, sie ist der Meister Puppenspieler, der die Marionetten führt«. Ich hoffe zumindest, dass ich die 350 Francs, die ich für das Manuskript ausgegeben habe, wiederbekomme, denn ich habe dafür unter anderem eine Busreise nach Nizza und ein Abendessen in Les Balcans geopfert.

Titelblatt Hier und da ist die Tinte schon etwas verblasst, auch haben sich einige Motten an manchen Adjektiven gütlich getan. Nichtsdestoweniger beginnt die Geschichte mit dem Bericht über ein Länderdreieck, das den Amoaca-, Arara-, Canamari- und Ipuriná-Indianern gehörte. Offenbar war dieses Dreieck damals auf den bolivianischen Landkarten als »unentdecktes Gebiet« verzeichnet. Es war dies ein Landstrich voller tropischer Krankheiten und gewundener Flüsse, eingekerbt zwischen Bolivien, Peru und Brasilien. Kurz, kein rechtschaffener Mensch wäre je auf den Gedanken gekommen, sich dort niederzulassen. Aber ein Mann aus dem Staat Ceará, ohne jedes Hab und Gut, verließ seine Gegend und schlug sich an einem gewundenen Fluss entlang durch. Dabei stieß er auf die Ipuriná. Er brachte es fertig, sich eine Hütte zu bauen, und schrieb an den Vicomte von Santo Elias, einen einflussreichen Kaufmann in Belém, mit der Bitte, ihm Waren zu schicken. Die Ipuriná-Indianer nannten jenen Fluss Aquiri. Der Cearenser, der mit der Kunst der Kalligrafie auf dem Kriegsfuß stand, kritzelte diesen Namen auf den Umschlag. Der Vicomte entzifferte nach viel Mühe das Wort als Acre. So begann der Vicomte, ein gutes Geschäft zu machen, ohne zu wissen, dass er einen Landstrich getauft hatte. Acre war reich an schönen Exemplaren der hevea-brasiliensis und sollte noch viele Jahre unter dem Zeichen von Missverständnissen stehen.

Postkarte Eine Nacht im Juli 1898 in Belém, der Hauptstadt von Pará. Ich beginne meinen Bericht in der Mitte meines Lebens, ich bin schon neununddreißig Jahre alt. In der Erinnerung sehe ich matt schimmernden Mondschein vor mir. Der sonst so beliebte Volksmarkt »Ver-o-Peso« ist nur eine Silhouette, die Straßen sind an jenem frühen Morgen lau. Die Häuser dunkel. Die elektrischen Straßenlaternen ziehen Hunderte von Nachtfaltern an, die um sie herumschwirren und zu Boden fallen wie tote Fliegen. Von der Guajará-Bucht her weht eine Brise, die die Hitze etwas erträglicher macht und den Geruch der Ebbe mit dem Moder von Planken vermischt. Jene Ecke, die nach Kumabaum und Rosenholz duftet, ist ein dreckiger Stadtteil voller Schlamm und verfaulter Abfälle. Die Straßen, die zum Markt führen, sind nur schlecht beleuchtet, und es ist nicht viel los. Einige Nachtschwärmer sind noch unterwegs. Ich liege derweil gut gebettet in einem Schlafzimmer. So schien es wenigstens.

Politisch-eheliches Allegro I Während ich einen nach Parfum duftenden Körper streichle, geht dort unten Luiz Trucco oder besser Don Luiz, wie der einsame und verdrießliche Vertreter Boliviens genannt wurde, vorbei. Er war ein Mensch, der die Monotonie jener Nächte des ausgehenden Jahrhunderts einfach nicht mehr ertragen konnte. Ich selbst konnte seinen Missmut nicht teilen. Seit einigen Jahren hatte sich gezeigt, dass der Kautschukhandel ein Mittel zu schneller Bereicherung war, und Amazonien hatte sich in ein ideales Experimentierfeld verwandelt. Wer in diesen Breiten zu Reichtum gelangt war, stellte ihn auch zur Schau. Dabei war man so fantasielos, dass man sich der Eintönigkeit einfach nicht erwehren konnte. Und so sündigte man aus Mangel an Fantasie.

Ich hielt Luiz Trucco für einen Kosmopoliten. Er hatte sich an das reichhaltige Angebot von Städten wie Mailand und Buenos Aires gewöhnt, wo er vorher gearbeitet hatte. Für jemanden wie ihn musste es wahrhaftig ermüdend sein, immer in denselben überfüllten Bars und Pensionen zu verkehren, wo alle es eilig hatten, viel Lärm machten und doch nicht wussten, worüber sie sich unterhalten sollten. Trucco hatte die Angewohnheit, seinen Groll auf Spaziergängen auszuführen. An jenem Sonntagmorgen, es war nämlich Sonntag, floh er vor den Menschen in den alten Stadtteil, wo sich das Fort befand. Dort setzte er sich auf eine Mauer. Er hätte seinen Gedanken nachhängen können, aber das Licht, das auf dem Fluss tanzte, wirkte wie Balsam für alle seine Sorgen. Trucco, der eine Schlüsselstellung in der bolivianischen Diplomatie innehatte, war ein Mensch, der sich immer Sorgen machte.

Politisch-eheliches Allegro II Während ich die kleine, feste Brust küsse, die nach Pipirioca duftet, geht dort unten auf der Straße Luiz Trucco vorbei. Er hält den Silberknauf seines Spazierstocks aus Zedernholz umfasst und befindet sich auf dem Nachhauseweg. Sein Stock schlägt in kostbarem Takt gegen den marmornen Bürgersteig. Er schien ganz in Gedanken versunken zu sein, und zwar so sehr, dass er die drei Männer, die ihm wie Schatten gefolgt waren und, wie es sich gehört, Kapuzen trugen, gar nicht bemerkt hatte. Nun ergab es sich, dass die Männer ihn genau in der schlecht beleuchteten Tür zu dem Lagerhaus unter mir überfielen. Sie umzingelten den Alten geschwind, und man sah Truccos Gestalt in weißem Leinenanzug den Spazierstock schwingen wie ein Dirigent seinen Stab. Trucco verteidigte sich geschickt, kein Zweifel, aber lange hätte er nicht widerstanden, wenn nicht der verfluchte Mann der Kreolin, die ich gerade bumste, mit gezücktem Säbel ins Zimmer gestürmt und ich mich nicht erhoben und mit einem großen Satz durchs Fenster gesprungen wäre, in der Hand noch einen Teil meiner Kleidung. Wie in einem guten Fortsetzungsroman landete ich genau auf den vier Männern. Wir bildeten ein Knäuel auf dem Boden, und ich hörte die Kreolin oben schreien. Ihr Mann, ein portugiesischer Matrose, verpasste ihr eine Tracht Prügel. Die drei Angreifer flüchteten bald darauf um die Ecke, Richtung Kathedrale, und Trucco lief in die entgegengesetzte Richtung, während ich mich in der noch offenen Hose verhedderte.

Politisch-eheliches Allegro III All das geschah sehr schnell. Ich hatte den Lärm der Leute da unten auf dem Bürgersteig sehr wohl gehört, ihn aber nicht weiter beachtet. Ich weiß nicht mehr, wie es Trucco überhaupt gelungen war, so schnell bis zur Ecke vorzulaufen, geschweige denn, wie ich es geschafft hatte, den Sprung ohne gebrochene Rippen zu überstehen. Ich ging auf Trucco zu. Er stand an der beleuchteten Tür zu einem Nachtlokal. Er sah, dass ich meine Hose festhielt und nicht ganz angezogen war. Zum Glück war es mir gelungen, wenigstens Jackett und Hose mitzunehmen. Ich hatte keine Schuhe, es gelang mir aber, den Gürtel zu schließen und die Jacke zuzuknöpfen. Dabei fiel mir ein, dass ich dort oben mein Leinenhemd vergessen hatte. Ein Trost war, dass meine Geldbörse mit den wenigen Ersparnissen noch in der Hosentasche steckte.

Selbstbildnis Ich sagte bereits, dass ich neununddreißig Jahre alt war, groß, leicht vornübergebeugt, und einen Spitzbart mit gezwirbeltem Schnauzbart hatte. Außerdem trug ich eine runde Brille mit goldenem Gestell und hatte eine spitze Nase. Ich bin ein mediterraner Typ, meine Haut war von der Sonne gebräunt. Ich war ein gut aussehender Mann und bemerkte in jenem Augenblick, dass Trucco mich ungläubig betrachtete. »Danke, dass Sie mich vor dem Überfall gerettet haben«, sagte Trucco etwas verlegen über meine Erscheinung, die, zugegebenermaßen, nicht gerade alltäglich war. Ich entgegnete, er schulde mir keinen Dank, es handle sich lediglich um eine Reihe von Irrtümern, die ohnehin der Leitfaden meines Lebens seien. Ich erklärte ihm, dass eigentlich ich derjenige sei, der überfallen worden war, und zwar von einem mit einem Säbel bewaffneten Ehemann. Da nannte er mir seinen Namen: Luiz Trucco, Generalkonsul Boliviens. Ich streckte ihm zur Antwort meine Hand entgegen und erklärte, ich sei Journalist und hieße Galvez, Luiz Galvez. Trucco bedankte sich noch einmal und bestand darauf, dass ich ihn aus einer misslichen Lage befreit hätte, was ich nicht ganz von mir weisen konnte. Er fragte, ob ich etwas trinken wolle. Und so betraten wir eine belebte Bar. Es war das Nachtlokal Juno und Flora, wo als Attraktion die Reize von »Lili, der Unbesiegbaren« geboten wurden, einer großen Tänzerin und diseuse aus Kuba, einer Verdreherin parnassischer Metren und tropischer Rhythmen.

Juno und Flora und andere mythologische Gottheiten Das Lokal zeichnete sich nicht eben durch eine besondere Einrichtung aus, es war aber einfach und gemütlich. Dank langjähriger Dienste genoss es ein gutes Ansehen. Es gab dort einen kleinen Raum mit Sofas und einigen runden Tischen aus verschmutztem Marmor. Es herrschte Halbdunkel. Wir setzten uns an einen Tisch in der Nähe des Orchesters. Das Lokal leerte sich langsam, nur die standhaftesten Gäste blieben noch. Zwei Mädchen tanzten unbeholfen einen Cancan. Sie mussten aus Pará stammen. Die beiden schwitzten ununterbrochen. Zu unserer Bedienung kam die Besitzerin, Dona Flora, persönlich. Sie war dick und hatte gebleichtes Haar. Sie hätte ebenso gut die Göttin Juno sein können. Das übliche Willkommen wurde uns entboten, dann bestellte Trucco einen Whisky. Die Musik klang wie auf einem Fest, das sich dem Ende zuneigt. Der Ober brachte unsere Getränke. Trucco fragte, ob Lili noch auftreten werde. Der Ober erwiderte, ihre Nummer stünde immer um Mitternacht auf dem Programm. Es herrschte bei allem eine gewisse Vertrautheit. Zwei Polinnen setzten sich zu uns an den Tisch. Ich rückte die Stühle zurecht, damit sie sich setzen konnten, wobei mir auffiel, dass die Damen schon ziemlich alt und mitgenommen aussahen. Ich beschloss, mich ein wenig umzusehen, während Trucco mit den beiden Kokotten einige Höflichkeiten austauschte.

Ein unruhiger Bolivianer Trucco schien nicht gerade beglückt zu sein über die Unterhaltung mit den beiden Kokotten. Später gestand er mir, dass er nicht wusste, warum er sich immer noch gestattete, solche Etablissements zu betreten. Nicht etwa, dass er zum Moralisten geworden wäre. Aber er fühlte sich immer einsamer, und der Kontakt mit der käuflichen Fürsorge der Kokotten irritierte ihn. In Wahrheit war er ziemlich nervös und glaubte, es gebe eine Verschwörung gegen seine Person oder gegen sein Land, zumal er beides miteinander verwechselte. Alles, was die Brasilianer unternahmen, erschien wie eine Verleumdung seiner Person, und ihre Großtuerei war ihm höchst unangenehm. Er wusste, dass er alterte und dass die Zeit, die er noch zu leben hatte, nicht mehr ausreichte für die Aufgabe, die er zu erfüllen hatte.

Gespräche im »Juno und Flora« Stellt euch eine Kapelle von fünfzehn müden Musikern vor, die an einem frühen Sonntagmorgen die »Tritsch-Tratsch-Polka« von Strauß spielen.

Galvez: »Ein gepflegtes Etablissement.«

Trucco: »Das hinterletzte Hurenloch.«

Galvez: »Mir kommt es vor wie das Paradies.«

Trucco: »Wollen die Mädchen nicht etwas trinken?«

Galvez (brüllend): »Wollt ihr einen Drink?«

Erste Kokotte: »Oui, mon copain …«

Zweite Kokotte: »Ja, Champagner …«

Trucco: »Veuve Clicquot, Jahrgang 1855.«

Galvez: »Madre de Dios!«

Trucco: »Hierzulande wird Geschichte im Bordell gemacht.«

Galvez: »Und zwar heilige Geschichte …«

Trucco: »Mit Politikern und all diesen Scheißreichen.«

Galvez: »Ja und? Ist dagegen was einzuwenden?«

Trucco: »Wir werden in Vergessenheit geraten. Die auch. Nicht einmal als Wüstlinge wird man unser gedenken.«

Galvez: »Auf das Wohl Boliviens!«

Trucco: »Auf das Wohl Boliviens! Niemand wird sich an irgendetwas erinnern.«

Galvez: »Und die Fotografie?«

Trucco: »Schwarz-weiß … mein Gesicht ist so weiß, dass es wie gepudert aussieht …«

Erste Kokotte: »Mich juckt’s an der Mizzi.«

Mythologisches Die Tänzerinnen fielen unterdessen in den high-step und schwangen ihre Beine dabei fast an meiner Nasenspitze vorbei. Ich möchte behaupten, dass ich den Geruch schwitzender Frauen spürte. Ihnen schien es auch noch zu gefallen, sich im Rhythmus zu wiegen und vor den ehrenwerten Herren die Beine hochzuwerfen. Und dabei hatten sie – wie die Königin Victoria – nichts drunter. Die Luft war zum Zerschneiden, und die Tänzerinnen hüpften zwischen dem Gelächter und dem anfeuernden »Schwing den Hintern, Mulata!« hin und her. Ich würde sagen, wir waren den aufgebrachten Göttern des Dschungels unterworfen. Einer Polin (aus Santarém) kam die Gänsehaut, als ein Fünfzigjähriger, der einem Roman der Gebrüder Goncourt hätte entsprungen sein können, mit seiner riesigen Zunge ihren Arm leckte. Der Kerl sah zerknittert aus und wie vorzeitig durch das harte Leben auf den Kautschukplantagen gealtert. Auf einem Sofa ritt, wie einem Albtraum entsprungen, eine Walküre auf dem Bein eines Gecken auf und ab und gab so Tiefsinniges von sich wie »Ach, mein Kleiner«. Ein anderer, dunkelhäutig, mit wulstigen Lippen und einer Narbe im Gesicht, goss Wein über die üppigen Brüste seiner Begleiterin. Und ich dachte so bei mir, dass Trucco nicht ganz unrecht hatte, sich über diesen vulgären Traum von aufbewahrter Keuschheit aufzuregen. Hände, Arme, Musselins, Kaschmir und billiges Baumwolltuch verwickelten sich in diesem nächtlichen Erguss ineinander. Aber ich schwöre, dass sie sich in gänzlich anderem Takt als die Wiener Polka bewegten, mehr Andante als Allegro. Ein Fettleibiger brach nun über einem Tisch zusammen; dabei fegte er Flaschen und Gläser beiseite und seine Begleiterin gleich mit, bis ihn zwei Rausschmeißer unter Hieben und Schubsen an die Luft setzten. All dies geschah mit größter Ruhe, ohne dass sich jemand aufregte oder schrie, nur der Ober sammelte eiligst die Scherben von dem teppichbelegten Boden. Trucco war schon betrunken und offenbar der Einzige, den der Vorfall entsetzt hatte. Ich verstand sehr wohl, warum Trucco so peinlich berührt war. Er war ein wenig neidisch auf die Vitalität, die sich in jenem Halbdunkel entsponnen hatte, und auf diese Emporkömmlinge, die es sich zwischen einer vollen Flasche und einer willigen Hure gut gehen ließen. Trucco wollte einfach nicht glauben, dass er zu spät gekommen sein sollte, um an diesen einladenden nächtlichen Ausschweifungen noch teilzuhaben. Schließlich war solch ein Etablissement der ideale Ort für die Besitzer der Kautschukplantagen, die in die Einsamkeit des Urwaldes flohen, den ich übrigens noch gar nicht kannte, aber ich konnte mir vorstellen, wie einsam und unerbittlich es dort sein musste. Trucco war betrunken, und nun begann auch ich mich zu ärgern. Außerdem wollten die beiden Kokotten die ganze Zeit nur meinen Schwengel anfassen und fuhren mir mit ihren langen Fingernägeln im Nacken auf und ab.

Spinozas Ethik Umgeben von dem Geruch verschwitzter Kleidung und abgestandenem Parfum hob Senator Hypolitus Moreira den Rock seiner kleinen fünfzehnjährigen Kusine, deren Schamhügel noch unbehaart war. Sie kicherte und schlug die Beine übereinander, an denen die beringten Finger des Senators entlangstrichen. Sie lachte und genoss das Vordringen des alten Hypolitus, der sich den struppigen Bart kratzte, während aus seinen Mundwinkeln der Speichel tropfte. Der alte Zausel war hungrig. Die flüchtige Scham des Weibchens spornte ihn noch mehr an. Senator Hypolitus, Stütze der Gesellschaft, triumphierte mit seinen zitternden Fingern, die behänd den Gegenstand ihres Verlangens erreicht hatten. Ein glückseliger Alter …

Ein unruhiger, betrunkener Bolivianer Trinke nie mit einem Bolivianer. Trucco war entschlossen, mir den Grund seines Zorns verständlich zu machen. Er flüsterte mir ins Ohr, auch Bolivien könnte ein wenig von jener Verderbtheit gebrauchen, die offenbar nur das mit dem Kautschuk verdiente Geld bewirken konnte. Ich gab der Kokotte, die mir am nächsten saß, einen Klaps auf den Schenkel und erhob mich.

Aquarell Es wurde hell.

Das Licht von Belém ist nicht für die Augen der Bohemiens geschaffen. Wir traten auf die Straße, wo sich schon viele körbetragende Bedienstete tummelten. Wir gingen in Richtung Altstadt, wo die Nacht noch fortzudauern schien und die Häuser müde erwachten. Trucco lief mithilfe meiner Beine, und zwei Kokotten folgten uns wie zwei Schoßhündchen. Sie schienen glücklich zu sein. Passanten gingen gleichgültig an uns vorüber, ohne sich an unserem Aussehen zu stören. Ein Polizist lehnte an einem eisernen Pfosten und kratzte sich hingebungsvoll am Sack. Ein weiterer friedlicher Tag brach an.

Griff eines Regenschirmes Trucco: »Es kommt mir hier vor wie in Lissabon. Waren Sie schon einmal in Lissabon?«

Galvez: »Ich kenne Lissabon, eine schöne Stadt.«

Trucco: »Sogar der Gestank in Belém ist noch portugiesisch.«

Galvez: »La Paz stinkt sicher wie Madrid.«

Trucco: »Ich mag Vulgarität nicht.«

Galvez: »Die Mädchen folgen uns immer noch.«

Trucco: »Schicken Sie sie fort. Hier ist Geld.«

Galvez: »Wie Sie wünschen.«

Bezahlung Ich gab den beiden Kokotten das Geld und verfrachtete Trucco in eine Kutsche. Der Alte bedankte sich, versank in den Polstern und gestikulierte dem Kutscher etwas zu. Ich ging noch ein gutes Stück in Begleitung der beiden Kokotten, aber wir sprachen nicht mehr miteinander. Sie zählten immer wieder das Geld, und ich hatte schließlich sogar Angst, sie könnten noch mehr verlangen. Ich war knapp bei Kasse und hatte mir in der Redaktion der Zeitung schon einen Vorschuss holen wollen. Trucco muss mit einem ganz schönen Kater aufgewacht sein.

Speisezimmer Trucco beschloss, mich in den kleinen Kreis seiner Freunde aufzunehmen, denn er konnte mich gut leiden. Er lud mich zum Abendessen ein. Ich zog mir ein gestärktes Hemd an. Es war sieben Uhr. Ein steifer Butler empfing mich an der Tür. Trucco wohnte sehr schön. Er war rasiert und ausgeruht und erschien mir sogar jünger. Der Butler musterte noch einmal prüfend den Tisch, während zwei Dienstmädchen die Gedecke hinstellten. Es war ein Abendessen für vier. Trucco führte mich zu seiner Waffensammlung. Auf Regalen aus dunklem Holz lagen hinter Glas alte Pistolen auf Samt aufgereiht. Liebevoll beschrieb er die einzelnen Waffen und ihre Metallteile, von denen einige vergoldet waren. Eine Sammlung, die seine hispanische Leidenschaft für Gewalt erkennen ließ. Luiz Trucco rührte mich sogar ein wenig, aber ich ließ mich nicht als Komplizen vereinnahmen.

Ein Paar Ein Gong ertönte. Luiz Trucco steckte die spanische Pistole in ihr Etui zurück. Die beiden anderen Gäste waren angekommen. Ein Paar aus Pará, Bürger, die es zu etwas gebracht hatten. Es waren Cira und Alberto Chermont de Albuquerque. Sie hatte einen mädchenhaften Körper und trug ein einfaches Kleid aus weißem Leinen. Ich erinnere mich so gut daran, weil dieses sicher die nachhaltigste Begegnung war, die ich in Belém hatte. Sie wirkte wie zwanzig, hatte graue Augen und um den roten Mund einen spöttischen Zug. Alberto war ein wohlhabender Holzhändler aus einer alten Familie in Pará. Er war klein, energisch, hatte eine dünne Stimme und einen stets sorgfältig gepflegten Bart. Ich weiß, dass er mehr Geduld als Liebe für seine Partnerin empfand, und so ist er mir in Erinnerung geblieben als das stoische Opfer einer Vernunftheirat. Er trug ein dunkles Jackett mit Knöpfen aus peruanischen Silbermünzen an den Ärmeln. Cira hatte eine Klosterschule in Belgien besucht und dann Jura in São Paulo studiert. Alberto, der keinen solch brillanten Lebenslauf vorweisen konnte, war auf einer Handelsschule in Recife gewesen und interessierte sich für die Feinheiten des Holzmarktes. Sie hingegen, die wusste, dass sie hübsch, reich und elegant war, schockierte mit Vorliebe die Gemüter der Provinz. Für die anderen Frauen, die weniger durch Glück und Intelligenz verwöhnt waren, war Ciras Leben stets ein unerschöpflicher Anlass zu neidvollen Kommentaren und stummen Vorwürfen. Was aber kein Hindernis war, dass Cira als Maßstab für Mode galt und für eine Frau mit einer gewissen Berühmtheit gehalten wurde. Cira und Alberto lächelten bei jener ersten Begegnung, und es schien mir, als ginge sie immer vor ihm her und beherrschte selbstsicher die Situation. Trucco stellte mich als Journalist der Provinz von Pará vor, und ich hörte Cira gestehen, sie sei Leserin der Zeitung, sie beklagte sich aber, dass die internationale Berichterstattung zu sehr vernachlässigt werde. Ein köstlicher Likör wurde gereicht.

Encyclopaedia Britannica Die hevea-brasiliensis ist eine Pflanze aus der Familie der Euphorbiazeen und wird, wie die Kulissen zu einer Komödie, immer wieder in meiner Geschichte auftauchen. Sie ist die Hauptquelle für die Kautschukgewinnung. Wenn der Baum ausgewachsen ist, erreicht er etwa dreißig Meter Höhe und hat einen Stamm von drei Meter Umfang. Ein schöner Baum, kein Zweifel, und als ich mitten im Urwald eines dieser Exemplare ausfindig machen konnte, unterließ ich es nicht, ihm meine Ehrerbietung zu erweisen. Die Blätter sind dunkelgrün und fassen sich weich an. Durch den Stamm zieht sich ein weißer Saft, der Latex. Der verfestigte Latex wird zu Kautschuk. Die Botaniker wussten nicht genau, welche Funktion Latex eigentlich im Metabolismus des Baumes hatte. Aber das war auch nicht wichtig, denn schließlich hatten die Kaufleute bereits eine weniger botanische Funktion des Latex entdeckt. Interessant ist auch, dass die hevea-brasiliensis eine hermaphroditische Pflanze ist.

Der Schauplatz Der Likör, den Trucco gereicht hatte, war in Belém von einem deutschen Landwirt hergestellt worden, der durch den Verkauf seines Produktes an die Kautschukhändler reich geworden war. Truccos Haus war gemietet und gehörte Dr. Eugenio Bentes Ferreira, einem Arzt, der durch die Behandlung von Kautschukhändlern zu Reichtum gelangt war. Das Geld vieler Leute in Belém hatte zu jener Zeit mit dem Kautschukhandel zu tun. Truccos Haus war ein gutes Beispiel dafür. Eine stattliche Villa mit hohen Fenstern und einem weiträumigen Speisesaal, dessen Fußboden mit schwarzen und weißen Streifen aus Kiefernholz ausgelegt war. An den Wänden Bilder mit Opernszenen, ein Lüster aus dem 18. Jahrhundert an der Decke, und durch das Fenster konnte man den Garten mit einem gusseisernen englischen Springbrunnen sehen. Wir setzten uns auf Korbstühle. Der Tisch war mit einer seltenen chinesischen Vase geschmückt.

Menu des Abendessens bei Luiz Trucco

Appetithäppchen

Gekochter Weißfisch in Sauce

Coquilles Saint-Jacques, überbacken

Ente in Maniokpfeffersauce

Rahmkäsetörtchen à la Dona Isabel de Vilhena

Weißwein

Türkischer Kaffee

Trujillo-Zigarren

Gutes Essen und gute Unterhaltung Dona Conceição Ferreira Belmonte, Witwe des Generals Belmonte und Eigentümerin der Reederei Ferreira, Salgado & Co.