9783869134277.jpg

 

 

 

 

 

 

 

 

LOGO-ARS-VIVENDI-RSch-ebook.jpg 

 

 

Jeff Röckelein

 

Arme Hunde

 

Roman

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Juli 2014)

 

© 2014 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung einer Fotografie von © Maggie McCall / Trevillion Images

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-449-9

 

Alle handelnden Personen sind fiktiv; auch das Frankenwalddorf Tschanz existiert nur in der Fantasie des ­Autors.

 

I

Ein Maimorgen, wie er uns sofort und für den Rest des Tages ein schlechtes Gewissen beschert, wenn wir nicht geradewegs vom Bett aus in die Laufschuhe schlüpfen und eine Runde durch Wald und Wiese drehen. Im Vormonat hatte Joseph Ratzinger den Namen Benedikt angenommen, und schon hatte sich ein Azorenhoch bis zu uns vorgearbeitet. Blauer Himmel, ein paar Schönwetterwolken, siebzehn Grad bereits um halb acht und ein leichter Südwestwind lassen keine andere Wahl, als in Sporthose und Trikot loszuziehen, um den allfälligen Infarkt noch ein wenig weiter hi­nauszuschieben.

So war es an jenem Sonntag, da ich mit Higgins federnden Schrittes vor die Haustür trat und sogleich dem Verbrechen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. Seitenspiegel und Wischerarme meines alten Golfs waren abgebrochen. Die Antenne hatte die Form eines umgedrehten V angenommen, die Reifen lagen platt darnieder, und der Auspuffstutzen hing freudlos herab. Auf der rechten Seite pflügte sich vom Scheinwerfer bis zum Rücklicht ein tiefer Kratzer durch den schwarzen Lack, und von der Motorhaube grüßte ein weißes Fuck U. Die Scheiben waren heil geblieben, sie einzuschlagen hätte zu viel Lärm gemacht. Da war offenbar jemand planmäßig zu Werke gegangen.

Es war der Beginn der Pfingstferien, und mein sogenannter Nachbar hatte am Vorabend zu einer Gartenparty geladen. Drei zugewachsene Gestalten waren mit Motorrädern gekommen, eine seltsame Bruderschaft, weder Höllenengel noch Lederrocker, mit zwei durchaus gefälligen Sozias. Der Single kompensierte sein Defizit mit einem rötlichen Ziegenbart. Man begrüßte sich mit Umarmungen und Schulterklopfen, redete sich mit »Alter« und »Ische« an, und ich war mir nicht sicher, ob ich einen sächsischen Akzent heraushörte oder nur den Rennsteigdialekt. Aus dem Gettoblaster dröhnten alsbald die Hells Bells; es roch nach Thüringer Bratwürsten, Steaks und Maiskolben vom Grill, dazu gab es Knoblauchbaguette und Gampertbräu vom Fässchen. Auch die beiden Söhne der Nachbarin waren mit von der Partie: Linus, sechzehn, und Leander, dreizehn. Ich war gerade mit Higgins auf dem Rückweg vom Abendgassi gewesen und hatte verkniffen einen »schönen Abend noch« gewünscht. Das angebotene Bier hatte ich abgelehnt; ich müsse noch arbeiten.

 

Der sogenannte Nachbar, von dem ich weder Vor- noch Nachnamen kannte, war der neue Freund von Tanja Ultsch und im April bei ihr eingezogen. Tanja ist um die vierzig; sie ist mittelgroß, hat langes, rabenschwarzes Haar und die aufregendste Figur nicht nur von Tschanz, sondern des ganzen Frankenwaldes, und sieht auch sonst aus wie Liz Taylor in ihren guten Jahren. Der Herr Freund schien jünger zu sein, ein langes, schmales Handtuch mit fliehendem Kinn auf dünnem Hals, einem blonden Pferdeschwanz bis zu den Schulterblättern und einem Ohrring. Der Blick aus blauen, schläfrigen Augen hatte etwas Glasig-Wissendes, und die Hakennase konnte man sich auch als Geierschnabel vorstellen. Die Kraterlandschaft in seinem Gesicht stammte wohl von einer Akne, und dazu passte die übliche anämische Gesichtsfarbe lichtscheuen Gesindels, das von der Stütze lebt und den ganzen Tag lang Pornos guckt. Und, immer wieder faszinierend: Männer, die sowieso keinen Arsch in der Hose haben, müssen ihre Jeans ohne Gürtel tragen. Ekelhaft. Was findet eine Frau bloß an einem solchen Fuzzi von der traurigen Gestalt?

Seit der Vater von Linus und Leander vor zwei Jahren ausgezogen war, machten seine Söhne der Mutter nach Kräften das Leben schwer. Das Vokabular, mit dem Tanja vom Älteren immer wieder lautstark bedacht wurde, hatte bei mir schon wiederholt zu der Überlegung geführt, ob es nicht an der Zeit wäre, hinüberzugehen, dem Rotzlöffel ein paar aufs Hirn zu geben und ihn Mores zu lehren. Und als Tanja einmal auf der Veranda ihrem Leander den Schuh zubinden wollte, fing sie sich einen Tritt gegen die Schulter ein, der sie zu Boden warf. Heutzutage zieht rüpelhaftes Verhalten im Elternhaus oder in der Schule ja keinerlei Konsequenzen nach sich und wird am liebsten mit Pubertät entschuldigt. Und weil jeder ein Opfer von irgendwas oder irgendwem ist, gibt es auch keine Täter mehr.

Am Mittag vor der Party hatte es den beiden Knaben gefallen, aus Jux und Tollerei ein paar Kracher zu zünden und in den Garten zu werfen. Ich saß lesend unter meinem Haselnussbaum und konnte Higgins gerade noch am Halsband erwischen und daran hindern, dass er in Panik über den Zaun sprang und in den Wald flüchtete. »Hört mit dem Scheiß auf, ihr Sackgesichter!«, brüllte ich hinüber. Sie zogen tatsächlich die Köpfe ein und verdrückten sich ins Haus. Higgins war tagelang nicht mehr freiwillig in den Garten zu kriegen.

 

Auf AC/DC folgten Metallica und Rammstein, anschließend, zur Erholung, die Langversion von In-A-Gadda-da-Vida mit dem gespenstischen Orgelintro und dem nach wie vor unfassbaren Trommelsolo, welches mich wieder milder stimmte. Doch was dann kam, war unüberhörbar Weckt die Toten von In Extremo. Meine Geduld war zu Ende. Um elf marschierte ich hinüber an den Zaun. Damen und Kinder waren offenbar ins Haus gegangen.

»Hören Sie mal, es gibt hier Leute, die nach 22 Uhr gern ihre Ruhe hätten«, fuhr ich den mir am nächsten Stehenden an.

»He, Mücke, mach doch mal das Ding leiser. Man versteht den Herrn gar nicht«, rief der Rotbart in Richtung Musik. »Worum geht’s denn?«

»Es gibt hier Leute, die nach 22 Uhr gern ihre Ruhe hätten.«

»Das haste ja schon gesagt. Willste ’n Bier?«

»Ich will kein Scheißbier. Ich will meine Ruhe haben, ihr tauben Schellen.«

»Das Scheißbier nimmste zurück. Dafür spielen wir dir jetzt was Ruhiges vor. He, Nigger, wickel doch mal den Mozart aus. Der Herr wünscht sich was Ruhiges zur guten Nacht.«

»Was seid ihr bloß für Riesenarschlöcher!«

Und während ich voller Ingrimm zurückstapfte, wurde mir von den Streichern der Kleinen Nachtmusik heimgegeigt.

 

Der massakrierte Golf war die Quittung für meinen Auftritt, kein Zweifel. Deshalb bin ich, statt mit Higgins zu laufen, gleich hinübergegangen und habe ausdauernd bei »Familie Ultsch« geklingelt. Der Galgenvogel kam langhaarig in ausgewaschenen violetten Bermudas, einem weißen Schlabber-T-Shirt und Adiletten angeschlurft.

»Na, noch ’ne schöne Party gehabt?«, begann ich scheinheilig.

»Ja, doch. Du hättest ruhig noch kommen können, Mann. Wir waren wohl echt ’n bisschen laut, was?«, erkundigte er sich besorgt.

Ich zeigte auf den Golf in meiner Einfahrt. Er schlappte hinter mir her und besah sich das Werk.

»Ja, Sack und Asche!«, schimpfte er. »Wer macht denn so was?! Das muss man sich nicht gefallen lassen. Diese Vandalen sollte man nackt durchs Dorf treiben und an den Eiern aufhängen.«

»Wie spät wurde es denn gestern?«, fragte ich.

»Um halb eins sind wir ins Haus und haben da noch ein bisschen weitergefeiert. So bis zwei, halb drei, stimmt’s, Tanja?«

Tanja Ultsch war inzwischen im geblümten Morgenmantel und barfuß vor die Haustür gekommen, verschränkte die Arme unter der Brust und nickte. »Ja, genau. Bis zwei, halb drei.«

»Und dann sind alle heim?«

»Bei uns liegt jedenfalls keiner mehr rum.«

»Und ihr habt nichts gehört oder gesehen?«

»Nö.«

»Na dann. Bis demnächst.«

Weil ich mir gleich beim Zubettgehen Ohropax reingestopft hatte, waren weder Straßengeräusche zu mir durchgedrungen noch ein etwaiges Gebell meines Hundes.

 

Hans Modschiedler, um Schadensbegutachtung gebetener Kfz-Meister, Freund, Helfer und Nachbar zur anderen Seite, erkannte mit dem Blick des Fachmanns: »Das war’s, Armin. Baujahr fünfundachtzig?«

»Vierundachtzig.«

»Egal. Den kannst du so oder so verschrotten. Neue Spiegel ranzumachen kostet ja schon mehr, als die alte Karre wert ist.«

Ich hatte den Vorfall noch am selben Tag bei der Polizei angezeigt, für den Fall, dass es bei der Versicherung etwas zu holen gab. Am Nachmittag kam auch prompt ein Streifenwagen mit zwei Beamten. Sie haben fotografiert, die Seitenspiegel aus dem Holunderstrauch geborgen und eingetütet. »Wir nehmen die mal mit zum Bedampfen zwecks eventueller Fingerabdrücke«, erklärte Polizeihauptmeister Kremer, »aber ich kann Ihnen da wenig Hoffnung machen. Sie sind jetzt schon der Dritte in diesem Jahr. Wir sammeln einfach mal alles; vielleicht kriegen wir irgendwann einen zu fassen.«

 

Der Pferdeschwänzige fuhr ebenfalls Motorrad, eine schwarze Harley Sportster. Die Harley ist eigentlich kein Motorrad, sondern eine Religion mit Auspuff. Bei uns im Frankenwald gibt es enge Kurven, bei denen manche Fahrer ein Problem kriegen: Sie müssen vermeiden, mit dem Bike umzukippen, weil sie zu langsam sind. Und zu langsam sind sie, wenn ihre Karren eine geringe Bodenfreiheit haben wie die Harley und sie in einer Rechtskurve bergauf mit den verchromten Endrohren nicht über den Straßenbelag schrappen wollen.

Tanja durfte gelegentlich mitfahren. Sie saß dann etwas erhöht hinten auf dem Bock, auf einer Handbreit sparsam gepolsterten Leders. Obwohl die Sportster in der Szene inzwischen als »Sissy Bike« gilt, wurde sie ursprünglich doch für Männer konzipiert, die tagelang geradeaus durch Marlboro Country fahren müssen und nie ein Wort reden dürfen; folglich wird eine Sitzbank von ihnen als Dekadenz für Schattenparker und BMW-Fahrer betrachtet. Selbst ein so korrekter Hintern wie der von Tanja schmerzt da nach einer Stunde. Wegen des winzigen Tanks muss man aber ohnehin öfter einen Stopp einlegen. Zu zweit machten sie nur Tagestouren, in die Fränkische Schweiz oder nach Thüringen. Er selbst war schon am Plattensee, hat er mir erzählt, und am Nordkap. »Saukalt, dort oben. Und das im Juli. Und immerzu Nebel. T-Shirt kaufen, in der Kneipe aufwärmen und umdrehen; mehr willste da gar nicht.«

Bei schönem Wetter unter der Woche fuhr er allein, wenn er nicht gerade die Maschine putzte, denn ­Tanja arbeitete Vollzeit als MTA beim alten Dr. Geiger in Ludwigsstadt, er offenbar gar nicht. Am Mittwoch hatte er verkündet, er wolle am nächsten Tag einen Ausflug »in die DDR« machen, über Coburg nach Masserberg, dann zur Hohenwartetalsperre und über Probstzella wieder zurück. Nachts um zwei, halb drei ging ich mit dem Akkuschrauber und einer 30 mm Scharnierschraube hinüber zu Tanjas Carport, wo die Harley abgestellt war. Wer auch immer meinen Golf auf dem Gewissen hatte – das muss man sich nicht gefallen lassen. So ist es. Als Gastgeber bist du verantwortlich, da kannst du ­deine Hände in Unschuld waschen, solange du willst. Ich drehte die Schraube in die Mitte des Hinterradprofils, eine Sache von wenigen Sekunden, und huschte durch meinen Garten zurück ins Haus.

Bei einem schlauchlosen Reifen entweicht die Luft nur langsam, und am Hinterrad ist das so lange nicht besonders gefährlich, wie der Reifen auf dem Felgenhorn bleibt und die Geschwindigkeit auf Landstraßenniveau. Als erfahrener Biker bemerkt man das, wenn sich der Reifen schwammig anfühlt – so man das hat, was ein berühmter Rennfahrer aus Österreich mal einen »sensiblen Hintern« genannt hat. Begeht man nicht den Fehler, die Schraube herauszudrehen, hat man durchaus Chancen, sich von Tankstelle zu Tankstelle zu hangeln, Luft nachzufüllen und heil zurückzukehren. Sollte sie trotzdem rausfliegen, gibt es immer noch den Pannenschaum – falls man einen dabei hat. In den USA ist es anscheinend verboten, einen Platten zu fahren. Deswegen hat die über fünf Zentner schwere Harley auch nur einen Seitenständer und der Fahrer dann ein Problem, sobald er sie zwecks Hinterradausbaus hinlegt und anschließend ohne Kran wieder hochkriegen will. Meine einundachtziger BMW-Touring wiegt nicht nur siebzig Kilo weniger, sondern verfügt außerdem über einen ordentlichen Mittelständer, eine serienmäßige Luftpumpe und eine Bordapotheke.

Als ich am Donnerstag früh um neun mit Higgins aus dem Wald zurückkam, saß der leptosome Untöchtel schon im Sattel und setzte gerade seinen Helm auf. Offenbar wegen der sehr erfreulichen Wettervorhersage hatte er aufs Leder verzichtet und nur den Nierenschutz über den Pullover geschnallt. »Gute Fahrt!«, rief ich noch hinüber, als schon belfernd der V-Twin ansprang. Die Zipfel seines rot-weiß karierten Halstuchs und ein paar Strähnen des Pferdeschwanzes wirbelten zum Abschied im Nacken, während er in die Hauptstraße einbog.

Zwei Tage später, am Samstagnachmittag, sah ich durchs Wohnzimmerfenster, dass er in kurzen Hosen und mit dem schwarzen T-Shirt im Liegestuhl auf der Veranda lag. Ein Paar Krücken lehnte am Geländer. Das bis zum Knie eingegipste rechte Bein hatte er auf einer umgedrehten Bierkiste gelagert, der rechte Arm war über den Ellenbogen hinaus bandagiert. Er trug das Haar offen, rauchte, blinzelte in die Sonne und hörte die Bundesligakonferenz. Er ließ wieder die ganze Straße teilhaben; der Club führte 2:1 gegen Bochum. Ab und zu nahm er einen Schluck aus einer riesigen Colaflasche. Tanja war mit bunten Unterhosen, Unterhemden, Handtüchern und einer zerrissenen Jeans am Wäscheständer zugange. Im Carport stand nur ihr Fiesta.

 

Weil Higgins plötzlich auf dem linken Hinterbein lahmte, hatte uns Hans Modschiedler um zehn zur Tierärztin nach Kronach gefahren; mein Golf war noch immer nicht verkehrstüchtig, denn ich war mir nicht schlüssig, ob ich ihn wieder herrichten lassen wollte.

Higgins war ein Belgischer Schäferhundmischling. Die »Mali« sind eine unglaublich agile und gelehrige Rasse mit erstaunlicher Auffassungsgabe. Eine Hündin war jahrelang auf dem Nürnberger Flughafen im Einsatz gewesen, weil sie, wie mir ihre Hundeführerin erzählte, siebenundzwanzig verschiedene Gerüche unterscheiden konnte, von Drogen über Waffen bis Geld. Higgins verstand nicht nur die gängigen Kommandos, sondern auch ganze Sätze und Gesten. Ich sagte beispielsweise in der Küche und mit dem Rücken zu ihm: »Aus die Maus, jetzt gibt’s nichts mehr, geh ins Wohnzimmer und leg dich auf dein Kissen«, und nach den üblichen drei Sekunden, die ein Hund für die Übersetzung der Menschensprache braucht, trabte er ab. Oder ich deutete wortlos mit dem Zeigefinger auf den Boden neben meinem linken Bein, und er kam und setzte sich hin. Beziehungsweise seit dem Vortag tat er es nicht mehr, weil er erkennbar Schmerzen hatte.

Frau Doktor Hartmann durfte, dem faltenlosen Hals nach zu urteilen, höchstens Mitte dreißig sein, eine große, schlanke Blondine, die man sich gut beim Beachvolleyball oder als Fußballtrainerin vorstellen konnte und die bei der Arbeit ihre Haare am Hinterkopf zusammengesteckt trug. Noch immer die Nichtraucherstimme, noch immer ohne Ring an den langen schmalen Fingern. Sie kannte Higgins von den Jahresimpfungen her. Sie ließ ihn den Flur entlanggehen, stellte ihn auf den Tisch, zog das Bein in die Länge, tastete das Hüftgelenk ab und verschob das Kniegelenk. Beim Hund müssen die Schmerzleitungen anders vernetzt sein als beim Menschen. Mir tat schon das Zuschauen weh.

»Ich tippe auf Kreuzband- und/oder Meniskusriss«, diagnostizierte sie im klinischen Tonfall einer Frau, die vorgibt zu wissen, was sie vom Leben will.

»Und das bedeutet?«, fragte ich genauso unterkühlt, weil ich ihr nicht das Vergnügen gönnen wollte, sich ein baggerndes Herrchen einzubilden, bloß um es abblitzen lassen zu können.

»Operation, Knochenspreizung und Implantat zur Spannung des Kniebandes. Anders als beim Menschen kann man die Bänder beim Hund nicht wieder flicken.«

Beim aktuellen Parfum tippte ich auf Issey Miyake; ich glaubte, den Duft von Tagetes herauszuriechen, meinen Lieblingsduft, wenn es um florale Noten geht.

»Und Sie können Higgins operieren?«

»Nein. Da weiß ich in Süddeutschland nur zwei oder drei, die eine TTA-Operation können. Der eine ist Schweizer und arbeitet ambulant auch bei uns. Bei dem habe ich an der Uni in Zürich studiert. Den frag ich mal. Aber ich sag Ihnen gleich, billig wird’s nicht, Herr Gareis.«

Wir sahen uns an. Wir wussten beide: Das war der Lackmustest. Higgins war schließlich schon fast vierzehn. Graugrüne Augen durchleuchteten meine Gedanken und meine Seele.

»Higgins ist mein einziges Kind.«

Sie nickte. Test bestanden. Guter Mann.

»Dann sollten wir jetzt gleich ein paar Röntgenaufnahmen machen, die wir auch für die OP verwenden können.«

»Kann man auf einem Röntgenbild Bänderrisse sehen?«

Sie parierte meine Stichelei professionell.

»Normalerweise nicht. Aber wir können andere Ursachen ausschließen und eine eventuelle Kniegelenksarthrose erkennen, und der Chirurg kann sich ein Bild machen, bevor er anfängt zu schneiden.«

Eine Stunde später war mein Hund aus der Ruhigstellungsnarkose erwacht und hatte eine Plastikschiene unter einem blauen, elastischen Verband bekommen, die das Knie provisorisch stabilisierte. Dazu erhielt ich die Ermahnung, ihn keinesfalls von der Leine zu lassen und jede Art von Sprüngen zu unterbinden. Sie gab mir zehn Previcox mit und versprach, mich anzurufen, sobald sie einen Bescheid von ihrem Kollegen hatte.

 

Damit begann für den armen Higgins eine Leidenszeit. Geschäfte zu verrichten wurde zur akrobatischen Übung, und an dreibeiniges Treppensteigen musste er sich erst gewöhnen. Normal sitzen konnte er, trotz der Tabletten, gar nicht mehr, und nachts wusste er nicht, wie er sich betten sollte. Weil ich nicht wollte, dass er sich zu mir ins Dachgeschoss quälte oder sich heimlich den Verband abriss, legte ich mich im Wohnzimmer auf einer Matratze neben ihn. Herr und Hund einträchtig am Boden, ein Bild für die Ewigkeit.

Am Dienstag waren wir gerade im Garten. Higgins lag auf seiner gesunden Seite am Zaun im Schatten des Holunders. Ich musste mich im Rahmen meines MBA-Fernstudiums mit einem Economist-Artikel über John Maynard Keynes beschäftigen, als das Telefon klingelte. Die Praxis bot einen OP-Termin am Samstag an. Der Chirurg habe gerade in Nürnberg zu tun, und ich solle Higgins mit leerem Magen um zwölf Uhr bringen.

Ich ging zu meinem Hund hinüber, um es ihm zu sagen. »Bleib liegen, Higgins, braver Hund, alles ist fein, alles wird gut.« Ich setzte mich zu ihm, kraulte ihm den Bauch und pflückte eine Zecke aus seinem Fell.

Der Herr Nachbar kam auf Krücken an den Zaun gehumpelt.

»Henry Higgins, Mann, Junge, was ist denn mit dir los?«

Ich war baff. Er kannte Higgins’ Vornamen.

»Hat er sich das Bein gebrochen?«

»Nein, Meniskus und Kreuzband gerissen. Am Samstag wird er in Kronach operiert.«

»Ja, Sack und Asche! Wieso reißen bei einem solchen Hund die Bänder? Der ist doch keine degenerierte Kampfratte wie dieser Kläffer von der Pia da drüben! Higgins kommt stammbaummäßig sofort nach dem Wolf, nach canis lupus lupus, wie wir sagen.«

Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

»Sieht man doch gleich an den langen Beinen. Damit können die auch noch im tiefen Schnee jagen. Die müssen doch stabile Bänder haben.«

»Ich glaube, da bin ich mit schuld. Er rennt gern hinter der Frisbeescheibe her und fängt sie aus der Luft. Die Ärztin meint, dass er sich dabei überdehnt hat. Er ist halt doch nimmer der Jüngste.«

»Mann, Higgins, alter Schwede. Wart mal, ich hab was für dich.«

Er humpelte dreibeinig davon und kam mit einer Plastiktüte am Krückengriff wieder.

»Da darf er doch was von kriegen, oder?«

In der Tüte war ein Glas mit Cocktailwürstchen. Ich nahm es heraus und öffnete es. Higgins stand schief auf den Beinen, und während ich ihn festhielt, damit er sich nicht auf die Hinterfüße stellte, wurde er von dem gebildeten Tagedieb gefüttert. Nicht nur, dass er My Fair Lady und lateinische Fachbegriffe kannte, jetzt erwies er sich auch noch als Hundeflüsterer.

Der korrupte Higgins ließ sich die Würste eines Golfmörders schmecken. Schon seit vor fünfzehntausend Jahren einige Wölfe in der Menschenwelt zu Hunden wurden, haben sie ihre Welt digitalisiert: Menschen mit Wurst sind die Einsen, solche ohne die Nullen.

»Aber sachma, Mann, wie bringste den Higgins nach Kronach?«

»Weiß ich noch nicht. Der Hans Modschiedler ist ja seit gestern im Urlaub an der Ostsee.«

»Am Samstach, sachste? Da könnte dich doch die Tanja fahren, oder?«

 

Wir klappten im Fiesta die Rückbank um und legten Higgins in den Kofferraum, und während Tanja chauffierte, passte ich auf, dass er in dem ungewohnten Auto keine Faxen machte.

»Ist ja irgendwo schon lustig«, plapperte sie drauflos. »Vor zwei Wochen hat sich der Leander beim Fußballspielen den Zeh gebrochen, dann bricht sich letzte Woche der Hubert den Haxen, und jetzt humpelt auch noch der Higgins. Bin mal gespannt, wer als Nächstes dran ist.«

Hubert hieß er also, der Arsch ohne Hintern. Tanja trug enge schwarze Jeans zur ärmellosen weißen Bluse. Finger- und Fußnägel waren karmesinrot lackiert. Beim Lippenstift tippte ich auf kirschrot. Ich fand, etwas weniger Make-up hätte ihr besser gestanden, aber sie musste ja nicht mir gefallen, leider. Wenn ich mich auf meinem Sitz immer wieder halb zu Higgins hindrehte, eröffneten sich mir beunruhigende Einblicke.

»Wie ist das eigentlich passiert mit Huberts Bein?«, fragte ich.

»Ein alter Opi mit einem Opel hat ihn schon bei Mitwitz abgeschossen. Hat ein Stoppschild überfahren und Hubert von links umgeschmissen. Sein rechtes Bein kam unter die Maschine zu liegen. Das Wadenbein ist gebrochen, außerdem hat er Verbrennungen vom Auspuff und sich auf dem Asphalt den Arm aufgerissen. Sie haben ihn gleich nach Kronach ins Krankenhaus gebracht, und ich hab ihn Freitagabend abgeholt.«

»Und die Maschine?«

»Wahrscheinlich Schrott. Gabel und Rahmen verzogen, wenn ich das richtig verstanden habe, und ein Riss im Motorblock. Dem Hundertjährigen haben sie an Ort und Stelle den Führerschein abgenommen.«

 

Wir brachten meinen armen canis nach Kronach in die Praxis am Kreuzberg. Sie war ebenerdig, ein als Karree angelegtes Ensemble, und hatte einen durch Glasschiebetüren zugänglichen, begrünten Innenhof, als Spielwiese für Katzen oder Welpen. Im Ostflügel war die allgemeine Praxis untergebracht, der Westflügel diente als Anmeldung und Verkaufsraum für Futter und Tierbedarf, im Nordflügel wurde operiert und im Süden waren die Privaträume.

Der kooperative Higgins stieg auf die hydraulisch abgesenkte Tischplatte; sie wurde hochgefahren, und ich hielt ihn umarmt und sprach ihm Mut zu, bis ihm der injizierte Ketamincocktail die Beine wegzog. Den Chi­rurgen bekam ich nicht zu Gesicht, aber Dr. Hartmann sagte, es werde etwa sechs Stunden dauern, bis Higgins wieder aufgewacht und transportfähig sei. Wir fuhren zurück, und Tanja erklärte sich ohne Umschweife bereit, mich auch am Abend zu chauffieren.

»Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt, der Hubert und du?« Ich konnte meine Neugierde nicht unterdrücken. Außerdem waren mir seinerzeit, nach dem Auszug ihres Mannes, immer wieder freche Gedanken gekommen, wenn ich sie im Garten beim Unkrautzupfen, Wäscheaufhängen oder Sonnenbaden sah. Letztlich waren es ihre ungezogenen Räudl gewesen, die mich daran hinderten, den Gedanken auch Worte und Taten folgen zu lassen, und so waren – seit dem Einzug des Neuen – unsere gutnachbarlichen Kontakte etwas eingeschlafen.

»Übers Internet.« Sie lächelte erinnerungsselig. »Der Bodo war ja zu Hause eher der Langweiler, in jeder Hinsicht. Und die Buben kamen immer weniger mit ihm zurecht. Außerdem hatte er wohl schon die ganze Zeit über nebenher was laufen.«

Sie schaltete in den Dritten und nahm Anlauf für den Wilhelmsthaler Berg.

»Und als der Bodo dann weg war, hab ich mir gedacht, jetzt suchst du dir mal was Interessantes. Und da stoß ich im Internet auf einen mit Pferdeschwanz und Tätowierung am Arm, und einer Harley, und mit einem Hund auf’m Tank, und mit Motorradbrille, der Hund. ›WildRoverNoMore‹ nannte sich der Typ und wollte jemanden ›für immer‹.«

Vor der Kurve schaltete sie in den Zweiten.

»Er ist bei der Kripo in Coburg, bei der Drogenfahndung. Seit drei Monaten ist er vom Dienst suspendiert, weil er bei einer Schießerei einen mazedonischen Dealer erschossen hat. Er selber hat einen Streifschuss am Arm abgekriegt. Die Untersuchung der Staatsanwaltschaft läuft noch.«

Sie blieb im Zweiten und drehte ihn hoch.

»Die Kumpels von seiner Geburtstagsfeier neulich sind auch alle bei der Polizei. Ein interessantes Völkchen.«

»Die Mädels auch?«

»Und ob! Die Kürzere, die Silke, ist bei der Autobahnpolizei in Hof, und die Bobbi ist bei der Kripo und macht gerade einen Profillehrgang.«

»Einen Profilerlehrgang.«

»Oder so.«

»Wie kommt denn der Hubert mit deinen Söhnen zurecht?«, wollte ich wissen.

Sie überlegte kurz. »Erstaunlich gut. Er bemüht sich gar nicht erst, den Ersatzpapa zu spielen, sondern behandelt sie fast wie Erwachsene. Als er gerade eingezogen war und der Linus wieder mal seinen Anfall gekriegt und mich als ›blöde Kuh‹ beschimpft hat, da hat er ihn sich vorgeknöpft und ihm klar gemacht, wo von jetzt an die rote Linie verläuft. Und dem Leander hat er gezeigt, wie man den Geschirrspüler einräumt und die Waschmaschine be- und entlädt und so im Haushalt mithilft. Und irgendwann mal dürfen sie mit ins Schießkino der Polizei. Seitdem ist Respekt ausgebrochen.«

»Und wie ist’s mit dir?«

Wieder dachte sie kurz nach. »Der Hubert ist zwar kein George Clooney, aber er ist witzig und zuverlässig, säuft und prügelt nicht, und ich fühl mich bei ihm sicher. Und kochen kann er auch noch. Was will ich mehr?«

»Hat der Mann ein Glück.«

Ich seufzte zum Fenster hinaus.

»Tja, mein lieber Armin«, sagte sie, eine Spur zu unbekümmert für meinen Geschmack, »du hast ja immer bloß geschaut und dich nie getraut.«

Patsch. Volltreffer. Blattschuss. Woher wusste die das?

»Was hättest du denn mit so einem alten Nölla wie mir anfangen wollen?«

Sie schaute herüber und klimperte mit den Augendeckeln.

»Gibt’s da nicht diesen Spruch mit alten Männern und Wein?«

Ich musste schlucken. Wie kann ein einzelner Mensch in meinem Alter so blind und begriffsstutzig sein.

»Und wie schmeckt dir jetzt dieser junge Wein?«, fragte ich und glotzte wieder zum Fenster hinaus.

»Spritzig ist er, fruchtig. Wie ein Spargel mit Riesling. Oder sagt man umgekehrt?«

Wir platzten beide heraus und lachten bis fast zum Ortsschild von Hesselbach. Tanja Ultsch hatte eindeutig einen roten Kopf.

 

In Tschanz lag Hubert im Garten und winkte uns zu sich.

»Kommt mal her. Es gibt was Neues.«

Tanja beugte sich zu ihm hinunter und kriegte einen Kuss.

»Vorhin waren zwei uniformierte Kollegen da und wollten zu dir, Mann. Sie haben drei Mongos geschnappt, die in letzter Zeit Autos demoliert, Zäune eingetreten und Verkehrsschilder verbogen haben sollen.«

Feuerdunnerkeil.

»Wann und wo haben sie sie geschnappt?«

»Am letzten Wochenende. Als sie da hinten die Gartenlaube vom Stöckers August anzünden wollten. Der August hat sie beobachtet und einen Heinz Dressel aus Gifting erkannt.«

Ich musste dringend zurück in mein Haus. Falls die Praxis anrief.

 

Der Anruf kam um halb vier. Mein armer Higgins hatte es nicht geschafft. Higgins, mein Retter aus dem tausend Klafter tiefen schwarzen Loch, in das ich nach der Scheidung vor zehn Jahren gefallen war, als ich tagelang nicht aus dem Bett stieg, wochenlang das Haus so gut wie nie verließ und von der Depressionsspirale garrottiert zu werden drohte, bis mein lebenskluger Nachbar Hans mich aufrüttelte und kategorisch befahl: »Vergiss die Frau, schmeiß die Pillen weg, besorg dir einen Hund und geh raus in die Natur!«, woraufhin ich Higgins aus dem Tierheim holte – eine verstörte, abgemagerte Kreatur, deren Herr, ein Witwer mit beginnender Demenz, ihn nicht ins Altersheim mitnehmen durfte – und wir uns anschließend gegenseitig aufpäppelten; mit Stadtwurst, gegrilltem Hähnchen und frischer Leber, die er von mir bekam, bis sich seine Rippen nicht mehr durchs Fell drückten; er mit Schwanzwedeln, Handabschlecken und diesem herzzerreißenden Blick, in dem sich bedingungslose Hingabe und unverstellte Zuneigung einer treuen Hundeseele spiegelten, womit er mir sagte: Wir beide haben, jeder für sich, Schlimmes durchgemacht, aber von jetzt an bleiben wir zusammen, und ich werde dich nie verlassen, und wir beschützen uns gegenseitig.

Higgins war nicht mehr in diese Welt zurückgekehrt. Sein Herz war zu schwach gewesen für zwei Narkosen in so kurzer Zeit.

In meinem Innern öffneten sich, zuerst zentimeterweise, die Flügel eines riesigen Schleusentors. Mit der letzten Kraft des schon Besiegten stemmte ich mich dagegen. Doch dann schwoll der Strom an, riss mich fort, überrollte mich. Ich lag allein am Boden. Ich war der ärmste aller Hunde. Higgins, Tanja und Hubert wogen eine Tonne und nahmen mir die Luft. Ich drehte mich auf den Bauch, umarmte das Hundekissen, heulte mir auf meine alten Tage noch die Seele aus dem Leib, verfluchte Gott, die Welt und mich, schluchzte in den Teppich, verschluckte Hundehaare, bekam einen Hustenanfall und einen lächerlichen Schluckauf. Her mit dem Strick. Wo ist das Treppengeländer? Alles wurde schwarz. Ich war tot.

Um sieben ging die Haustür auf. Tanja hatte schon seit zwei Jahren einen Zweitschlüssel, so wie ich einen von ihrem Haus, falls mal was sein sollte.

»Warum gehst du nicht ans Telefon?«

Ich saß vor einer heruntergebrannten Kerze auf dem Holzboden im Wohnzimmer, den Rücken an der Wand, den Kopf auf den Knien, und konnte nicht aufstehen. Sie erfasste die Situation, hockte sich neben mich und drückte mich an ihre Brust. Sie wusste alles, weil Frauen immer alles wissen, und deshalb brauchte sie keine Fragen zu stellen. Ob sie auch das mit der Schraube wusste?

Ich muss es dem Hubert sagen, dachte ich, während die salzigen Reste der Sintflut von Tanjas Bluse aufgesogen wurden. Ich muss es ihm sagen, dass ich mich wie ein spießiger Michel von Äußerlichkeiten habe täuschen lassen und ihn fast umgebracht hätte. Dass er in Wahrheit ein prima Kerl ist und ich mich freue, dass die Tanja einen so guten Mann gefunden hat. Dass ich ihm meine BMW schenke, weil ich jetzt fünfunddreißig Jahre unfallfrei gefahren bin und es dabei auch bleiben soll, und dass die BMW im Vergleich zur Harley zwar eine Gummikuh ist, aber einen erstklassigen Wetterschutz fürs Nordkap hat, einschließlich Griffheizung, und eine ordentliche Sitzbank für die Tanja. Und dass ich ab sofort der Armin, sein Freund, bin und dass wir, sobald seine Suspendierung aufgehoben und sein Bein wieder in Ordnung ist, eine Riesengartenparty …

 

Musste ich es ihm wirklich sagen?

Musste ich das wirklich alles sagen?

 

Tanja zog mich vom Boden hoch, wischte mir mit einem Tempo das Gesicht ab, legte sich meinen linken Arm auf ihre Schulter und fasste mich um die Hüfte.

»Los, komm mit rüber zu uns. Wir haben einen Iphöfer Silvaner, und wir haben sowieso was mit dir zu bereden.«