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Thomas Peter

 

Bauernopfer

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (3. Auflage)

© der Originalausgabe 2011 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Tessy Klier

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung eines Fotos von Karl-Josef Hildenbrand / picture alliance

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-401-7

 

Für Sepp, Anderl und Häbsi

und für Thomas und Martin

 

»Media vita in morte sumus«

 

Mitten im Leben sind wir im Tode

 

Alles frei erfunden

Das hier ist ein Kriminalroman. Die Handlung und alle darin agierenden Figuren sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig. Sofern real existierende Institutionen oder Orte vorkommen, die in einem Regionalkrimi nun mal nicht zu vermeiden sind, entspringen auch deren Verknüpfungen mit der Geschichte in jedem Fall der Fantasie des Autors.

 

Zwengs der Authi…, Auzi…, Authenziti… − damit sich’s echt anhört, wurden folgenden Abkürzungen verwendet:

BKA Bundeskriminalamt

BGH Bundesgerichtshof

LKA Landeskriminalamt

 

KPI Kriminalpolizeiinspektion

KPI-Leiter Leiter der Kriminalpolizeiinspektion

PD Polizeidirektion, Polizeidirektor

(oberster Chef)

 

K1 Kommissariat 1 (Straftaten gegen das Leben)

K2/2 Kommissariat 2/2 (Vermögensdelikte)

K3 Kommissariat 3 (Spurensicherung)

PI Polizeiinspektion

EZ Einsatzzentrale

 

DAD DNA-Analyse-Datei

AG Arbeitsgruppe

 

AH Alte Herren, Fußballer mit Erfahrung

 

Prolog

Warum galt das nichts mehr, was er sagte? Das war doch bis jetzt immer anders gewesen. Wenn er eine Entscheidung gefällt hatte, dann war das unumstößlich gewesen; alle hatten sich daran gehalten und es hatte keinen Widerspruch gegeben. Und jetzt? Immer das gleiche Thema, immer die gleiche Leier. Dabei hatte er seine Meinung zu dieser verrückten Idee schon lange gefasst und er war der Überzeugung, er hätte sie auch unmissverständlich geäußert. Aber nein, scheinbar zählte das nicht mehr. Er hatte jetzt die Faxen dick. Außerdem wollte er das Ende der Radioübertragung des Bundesligaspieles zwischen Rot-Weiß Essen und Bayern München hören. Bis eben hatte es 3:3 geheißen und es war spannend. Dieses blödsinnige Gespräch, das ihn beim Radiohören störte, war für ihn beendet.

Also gut, er würde es noch ein letztes Mal erklären, laut und deutlich, dann musste aber endgültig Schluss sein. Bei den letzten Worten schrie er seinen Besucher fast an. Danach stand er auf und wandte sich ab. Das musste doch ein deutliches Zeichen sein; deutlich genug.

Plötzlich spürte er einen dumpfen Schmerz am Hinterkopf. Instinktiv vollzog er ein halbe Drehung, sein Wohnzimmer hörte jedoch nicht auf, weiter um ihn zu kreisen. Er spürte, dass er nach hinten wegsackte und ruderte hilfesuchend mit den Armen. Die Finger der rechten Hand fanden und umklammerten den Unterarm seines Gegenübers. Der Sturz war aber nicht mehr zu vermeiden und seine Fingernägel schrammten über die fremde Haut. Im Fallen schlug seine rechte Schulter gegen die Tischkante, wodurch die große Blumenvase, die Lieblingsvase seiner Frau, herunterfiel und zerbrach. Auf dem Rücken kam er zwischen Tisch und Kanapee zum Liegen.

Noch immer unfähig zu begreifen, was passiert sein könnte, starrte er zur Zimmerdecke empor. Es musste ein Schlag gewesen sein, der ihn niedergestreckt hatte. Und jetzt beugte sich dieser Schatten über ihn. Warum sah er nicht mehr scharf? Gefahr – er musste sich verteidigen, irgendwie. Er versuchte sich aufzurichten und dem vermeintlichen Angreifer die Hände entgegenzustrecken. Doch seine Arme fühlten sich bleischwer an und gehorchten ihm viel zu langsam.

Den Schmerz nach dem zweiten Schlag, der ihm den Schädelknochen zertrümmerte, spürte er nicht mehr. Das Spiel war aus, es blieb beim 3:3.

 

 

* * *

 

 

Ihre Kleider hatte sie säuberlich zusammengefaltet und am Ufer abgelegt. Sie stand bis zu den Knien im kühlen Wasser der Donau und wenn jetzt jemand den Uferweg entlang käme, würde er sie splitternackt sehen. Na und? Die Sonne war seit zwei Stunden den milchig-blauen Himmel emporgeklettert und kündigte erneut einen heißen Tag an. Aber das war ihr auch egal. Es war ihr genauso egal wie ihre Nacktheit. Was hatte das denn noch für eine Bedeutung, dort wo sie hinging! Sie freute sich auf die andere Welt. Schließlich hatte Großvater sie ja zu sich gerufen. Immer wieder. Und er hatte dabei so herzlich gelächelt, so vertraut und liebevoll. Er wirkte so glücklich, so zufrieden, so geborgen. Sie war sogar überzeugt, ihr Onkel Korbinian, den sie nur von einem Schwarzweißfoto her kannte, sei ihr in einer der zahlreichen durchweinten Nächte erschienen. Als sie an das Spitzbubengesicht mit der Wehrmachts-Schirmmütze dachte, lächelte sie unwillkürlich. Sie ging zwei Schritt nach vorne und spürte die Strömung, die kräftig an ihren Hüften zerrte. Sie stieß sich ab und ließ sich mitreißen. Die andere Welt konnte nur besser sein als das Leben hier, denn hier war es kein Leben mehr, keine Freude, keine Hoffnung, keine Zuversicht. Sie ließ sich zur Flussmitte treiben und tauchte unter. An der Oberfläche tanzte die Sonne als verwaschener heller Fleck, um den herum das Wasser der Donau grün schimmerte und in ein dunkles Grau auslief. Da war ja auch Großmutter. Wie schön ihr Gesicht strahlte. Sie trug immer noch das grüne Kleid, das man ihr zur Beerdigung angezogen hatte. Sie winkte ihr zu.

Dann wurde es dunkel und kühl.

 

 

* * *

 

 

Blöde Menschen! Was die immer alle wollten. Was ging ihn denn das Glück der anderen an? Einen Dreck! War er dafür verantwortlich, dass es denen gut ging? Nein, die konnten ihm gestohlen bleiben; die sollten ihn in Ruhe lassen. Jeder musste für sich selber leben, und er brauchte niemanden. Er hatte seine Kühe. Die erledigten ihre Aufgabe, die ihnen von der Natur zugedacht war, und nörgelten dabei nicht ständig rum und winselten und jammerten. Manchmal muhten sie ein wenig lauter, dann wollten sie fressen oder gemolken werden, und dann war wieder Ruhe. Aber die Leute, die waren alle gleich, einer wie der andere. Und was sollte dieses Gerede von Verantwortung und Schuld und Gewissen! Er trug keine Schuld, an gar nichts.

Ein Geräusch, das nicht in die gedämpfte Kulisse des Kuhstalles passte, ließ ihn aufhorchen. Vor der Futtermulde kniend drehte er den Kopf zur Tür. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er gegen die helle Deckenbeleuchtung. Keine zwei, drei Meter entfernt stand ihm jemand gegenüber. Von hier unten im Gegenlicht sah er nur eine schlanke Silhouette. Aber er erkannte die kleine runde Öffnung in dem Gegenstand, den die Person ihm entgegenstreckte. Wieder diese Pistole. Reflexartig riss er den Kopf zur anderen Seite. Aus dem Augenwinkel nahm er einen kurzen hellen Blitz wahr, dort, wo eben noch die Waffe auf ihn gezeigt hatte. Es war das Letzte, was er in seinem Leben sehen sollte. Den Knall hörte er nicht mehr.

 

Sonntag, 12. Oktober

Sie kam mit dem Klingeln gar nicht hinterher. Theresa Kornburg hatte wie jeden Tag den Blumenschmuck am Marterl nahe beim Hochwasserdamm kontrolliert und strampelte jetzt mit wehender Kittelschürze und flatterndem Kopftuch wieder zurück ins Dorf. Auf dem Schotterweg waren ganze Völkerscharen unterwegs. Alle genossen den Sonnenschein an diesem herrlichen Herbsttag: Familien mit herumtollenden Kindern und zickzackschnüffelnden Hunden, verträumt Händchen haltende Paare, schwitzende Jogger und stochernde Walker, grellbunte Rennfahrer mit futuristischen Sonnenbrillen, Freizeitradler mit Hosenklammern, Pferdeliebhaber, die die gelangweilt grasenden Rösser auf den Koppeln links und rechts des Weges bewunderten, und Stadtflüchter, die durch die Wiesen und Felder zur glitzernden Donau hinunter flanierten – sie alle wuselten vor Frau Kornburg auf dem Weg herum. Und im Gegensatz zu ihr hatten alle Zeit und Muße, um interessiert in der Gegend herumzuschauen, auf alles Mögliche zu deuten und es zu bequatschen. Aber außer ihr fiel auch keinem auf, dass die Stalltür in dem Hof neben den Pferdekoppeln offen stand.

›Komisch‹, dachte Frau Kornburg, ›beim Bichler ist doch sonst immer alles zu.‹ Egal ob zehn Grad Kälte oder dreißig Grad im Schatten, der Bauer ließ sonst weder am Wohnhaus noch am Stall oder an einer der Scheunen ein Tor, eine Tür oder ein Fenster offen stehen. Sie wurde langsamer und betrachtete den Hof. Nichts regte sich in dem Geviert. Doch jetzt, da sie sich auf das Anwesen konzentrierte, konnte sie zwischen dem Geplapper und Getöse auf dem Weg das Vieh im Stall hören. Die Tiere waren unruhig, unzufriedenes Muhen mischte sich mit metallischem Gerassel. Es ging zwar auf die Fütter- und Melkzeit zu, aber die Arbeiten waren noch nicht überfällig. Und außerdem war der Bichler in diesem Punkt immer zuverlässig.

›Dann müsste er sie ja heute früh schon nicht …‹, dachte Frau Kornburg. Sie hielt an, lehnte ihr Rad an die Mauer und betrat den gekiesten Hof.

»Herr Bichler?«, rief sie, und noch einmal mit anderer Betonung: »Herr Bichler?« Sie erhielt keine Antwort. Neugierig, aber auch sehr vorsichtig betrat sie durch die offene Tür den Stall. Der alte Bichler mochte es überhaupt nicht, wenn man auf seinem Hof herumschnüffelte. In den Boxen wankten die Kühe ungeduldig hin und her und schlugen dabei gegen die Metallgitter. Obwohl am helllichten Tag die Beleuchtung brannte, war es duster hier drinnen; besonders wenn man aus dem Sonnenschein hereinkam. Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um. Dann entdeckte sie ihn am anderen Ende des Stalles. Auf ein weiteres, zögerliches »Herr Bichler?« reagierte er nicht. Nach ein paar Schritten in seine Richtung blieb sie stehen wie vom Donner gerührt. Sie atmete hörbar ein und bekreuzigte sich. »Jesus, Maria und Josef …«

 

Das Gedudel des Telefons riss Charly aus seinem Tagtraum. Der Blick aus dem Bürofenster auf die roten und gelben Blätter der Kastanienbäume im warmen Glanz des Spätnachmittags hatte ihn dazu verführt, sich noch einmal die drei Tage ins Gedächtnis zu rufen, die er vor kurzem zusammen mit Petra in Südtirol verbracht hatte. Er erinnerte sich an die fantastische Aussicht auf dem Höhenweg, an Petras herzliches Lachen, als er den Kuhfladen genau in der Mitte getroffen hatte, an den schweren Rotwein, der beim Abendessen so majestätisch im Kerzenschein glühte, und an die winzigen Härchen an Petras Bauch, die verführerisch in der schummrigen Saunabeleuchtung geflimmert hatten. Die Reise war die Überraschung seiner Frau zu seinem 41. Geburtstag gewesen.

Der Kurzurlaub hatte seinen Kommissariatsleiter allerdings nicht daran gehindert, während dieser Zeit den Dienstplan zu gestalten und ihn für den Nachmittagsdienst am heutigen Sonntag einzuteilen, bevor er irgendetwas dagegen hatte sagen können. Der Vorgesetzte ging gerne den für ihn einfachen Weg, und er wusste, dass der gutmütige Kriminaloberkommissar ihn dafür zwar nicht lieben, den Sonntagsdienst aber ohne Murren erledigen würde.

Fünfundvierzig Minuten noch, dann käme die Ablösung und Charly hätte einen unspektakulären, geradezu langweiligen Bereitschaftsdienst beendet und das Wochenende beschaulich ausklingen lassen. Doch jetzt jodelte dieses Telefon und auf dem Display leuchtete ›1012 PD IN EZ‹. Und wenn die Einsatzzentrale am Wochenende den Bereitschaftsdienst der Kripo anrief, bedeutete das in der Regel nichts Gutes.

Er ließ die abgewetzten Cowboystiefel von der Tischkante gleiten und setzte sich aufrecht hin.

»Kripo Ingolstadt, K1, Valentin«, meldete sich Charly. Sein Familienname war der Grund, dass er Charly genannt wurde. Eigentlich hieß er Georg. Doch bereits in den ersten Tagen seiner Polizeiausbildung waren die Kollegen auf die Idee gekommen, ihn in Anlehnung an das bayerische Komiker-Original Karl statt Georg zu nennen. Und ein Karl wird bei der bayerischen Polizei in den meisten Fällen automatisch zum Charly. Nur seine Mutter nannte ihn noch Georg, während sein Vater und seine Frau Petra ihn Schorsch riefen.

»Moin, moin, Bruce, EZ, hier«, schepperte es im Hörer und Charly musste lächeln, als er seinen Gesprächspartner erkannte: Heinz Uwe Dirksen, vor Jahren von der Nordseeküste nach Bayern emigriert und seither Polizist in Ingolstadt. Wenn er auch mit Leib und Seele die bayerische Lebensart zelebrierte, so weigerte er sich beharrlich, den Dialekt anzunehmen. Bestenfalls sprach er gepflegtes Hochdeutsch und nicht sein Waterkant-Kauderwelsch. Den bayerischen Dialekt imitierte er nur zur allgemeinen Belustigung in geselligen Runden oder zu seinem eigenen Spaß.

Heinz Uwe war der Überzeugung, dass man nur wirklich dazu gehörte, wenn man einen Spitznamen – oder einen Nickname, wie er sich ausdrückte – hatte. Und da er sich selbst die Kampfkraft von Bruce Lee und die Coolness von Bruce Willis zusprach, sollten alle ihn als Bruce kennen und ihn ausschließlich so nennen.

»Servus, Heinz«, begrüßte ihn Charly, »was gibt’s?«

»Z’Knoglersfreid end, an da Roßlett’n, had si’ scheint’s da Aussabauer entleibt.«

»Hä?« Auf diese dialektische Kaskade war Charly nicht gefasst.

Bruce stöhnte. »Im Ingolstädter Ortsteil Knoglersfreude, Roßlettenstraße, ist anscheinend der Besitzer des am weitesten außen gelegenen landwirtschaftlichen Anwesens durch Freitod aus dem Leben geschieden.«

»Ah, jetzt! Geht doch.« Charly sah seinen gemütlichen Abend auf der Couch in unerreichbare Ferne rücken. »Und, weiter?«

»Roßlettenstraße 17, Josef Bichler. Tot im Stall aufgefunden von einer Nachbarin. Suizid durch Erschießen, die Waffe hat er noch in der Hand. Kollegen von der Inspektion sind vor Ort. Der Notarzt bescheinigt unnatürlichen Tod. Was machst du denn heute noch? Ich geh jetzt dann nach Hause.«

»Danke, Depp. Wen hast du schon alles verständigt?« Charly überging die Anspielung. Derartige Sticheleien waren zwischen ihnen üblich und beruhten je nach Gelegenheit auf Gegenseitigkeit.

»Nur dich! Wenn die Offiziere von der Kripo das Ruder übernehmen, dann sind wir Leichtmatrosen doch außen vor. Den Rest machst du.«

»Ja, schon klar. Bitte informier noch den zuständigen Bestatter. Du weißt doch, wie lange die immer brauchen, grad am Sonntag. Ansonsten wünsch ich dir einen schönen Feierabend, Fischkopf.«

»Danke, Seppl. Mach nicht so lang. Auch dir danach noch einen schönen Feierabend. Tschüss.«

Mit einem »Servus, du Pfeife« legte Charly auf. Er massierte sich die rechte Schulter und bewegte den angewinkelten Arm vorsichtig vor und zurück. Seit zwei Tagen spürte er ein Ziehen vom Nacken bis zum Oberarm, ohne dass er sich erklären konnte, was die Schmerzen verursachte. Dann riss er den Zettel mit seinen Notizen ab und machte sich auf den Weg quer durch die Dienststelle, denn sein Partner für diesen Bereitschaftsdienst war Kollege Nager vom Betrug. Charly war mit dieser Einteilung nicht glücklich. Nager war ein exzellenter Ermittler, wenn es um eine Insolvenz, einen Firmenbankrott oder einen Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz ging. Im Umgang mit Firmenchefs, Anwälten und Steuerberatern blühte er auf. Aber wenn es um Leichen oder um allgemeine polizeiliche Ermittlungen in den Niederungen des Lebens ging, dann legte er für gewöhnlich ein schon sprichwörtliches Desinteresse an den Tag.

 

15 Minuten nach dem Anruf der Einsatzzentrale öffnete sich wie von Geisterhand das schwere Eisentor, und sie verließen den Innenhof der Polizeidirektion. Nager hatte zunächst noch versucht, Charly zu überreden, alleine zu dem Selbstmord zu fahren, weil die Sache ja ohnehin klar und mit Sicherheit ohne Schwierigkeiten aufzunehmen wäre. Mit ein wenig Honig ums Maul hatte Charly ihn jedoch überzeugen können, dass seine Anwesenheit dringend erforderlich war. Das war nicht ungefährlich, denn Nager war kriminalpolizeiliches Urgestein, zweifellos mit den älteren Rechten und mit dem besseren Draht zum Chef. Charly hingegen gehörte erst seit sechs Jahren der Kripo an. Er war damals auf eigenen Wunsch aus dem Schichtdienst der Ingolstädter Inspektion zur Kripo versetzt worden und nach Stationen bei der Fahndungseinheit und beim Erkennungsdienst schließlich beim Kommissariat 1 gelandet, das für Morde und andere Todesfälle, Vergewaltigungen und dergleichen mehr zuständig war.

Einen großen Fall hatte Charly bis jetzt nicht bearbeitet. Nur einige in ihren Wohnungen aufgefundene Leichen, die an einem Sturz von der Leiter oder an langjährigem Alkoholmissbrauch gestorben waren, sowie einen Selbstmörder. Und dies hier schien sein zweiter Suizid zu werden.

Nager hatte schließlich akzeptiert, dass er Charly zum Tatort begleiten musste. Er rief seine Frau an und legte ihr nahe, den geplanten Besuch im Museum für Konkrete Kunst alleine zu genießen, und wirkte darüber gar nicht so besonders unglücklich.

Er steuerte den Dienst-Audi in den Südwesten der Stadt. Knoglersfreude gehörte zwar zur Stadt Ingolstadt, war jedoch vom eigentlichen Stadtgebiet durch Felder und Wiesen getrennt und hatte sich so den dörflichen Charakter bewahrt. Zielsicher bog Nager zweimal rechts ab. Unter den Zweigen einer Trauerweide rang ein verrostetes Verkehrsschild um Beachtung und versuchte, die Roßlettenstraße für alle Nichtanlieger zu sperren. Nachdem sie einige kleine Häuser passiert hatten, fuhren sie an mehreren Koppeln vorbei. Auf Höhe des dazugehörenden Pferdehofes endete die Asphaltdecke und die Straße wurde zu einem geschotterten Weg. 100 Meter weiter lag der gesuchte Bauernhof links von der Schotterstraße. Eine mit Dachziegeln belegte Mauer trennte das Anwesen vom Weg. Durch die breite, torlose Einfahrt fuhr Nager auf das Grundstück und brachte den Wagen knirschend auf dem Kies im Innenhof zum Stehen. Dort parkten bereits ein Streifen- und ein Rettungswagen. An keinem der beiden Fahrzeuge war das Blaulicht eingeschaltet.

Es war Viertel vor sieben und die Sonne war gerade untergegangen. Mit der Dämmerung zog leichter Nebel von der Donau herauf. Offensichtlich hatte sich die Neuigkeit schon herumgesprochen und hilfsbereite sowie wissbegierige Dorfbewohner und Spaziergänger wollten sich ein Bild vom Geschehen machen. Die Leute standen in Grüppchen zusammen und gepresst getuschelte Gesprächsfetzen wie »… kein Wunder …«
oder »… z’widerner Kerl …« und »… satte Erbschaft …«
waberten durch den Dunst. Ansonsten war es auffallend still. Als Charly und Nager ankamen, riefen die Kirchenglocken aus der Ortsmitte zum Abendgebet.

Beim Aussteigen wurde Charly schmerzhaft an die Löcher in den Sohlen seiner Cowboystiefel erinnert. Kieselsteine und noch etwas Spitzes drückten unangenehm gegen seine Fußsohle. Er bückte sich und hob einen gelben Plastiknagel auf. Aus Pietätsgründen verkniff er sich eine Bemerkung über schlampige Bauern und steckte den Fund gedankenverloren in die Tasche seiner Jeansjacke. Die Streifenkollegen hatten ihr Gespräch mit den Sanitätern beendet und kamen zu Charly und Nager herüber. Den Älteren der beiden kannte Charly. Es handelte sich um einen ruhigen, besonnenen Beamten, zuverlässig, pflichtbewusst und zufrieden mit seiner Stellung. Der andere war ein junger Kommissar und damit ranghöher als sein Streifenpartner. Ihn kannte Charly nicht, was aber aufgrund des schnellen Personalwechsels bei der Ingolstädter Inspektion nicht weiter verwunderlich war. Schon am Gang des Jüngeren erkannte man den nassforschen Typ, mit einem leichten Überschuss an Selbstbewusstsein und ohne die Einsicht, dass erst Erfahrung einen guten Polizisten ausmacht und deren Fehlen am besten durch Zurückhaltung kompensiert wird.

Ein wenig zu laut rief er bereits aus ein wenig zu großer Entfernung: »Ihr seid die Kollegen von der Kripo, oder?«

Mit einem leichten Nicken und einem gepressten »Servus« beantwortete Charly die Frage.

»Na endlich«, fuhr der Jungspund fort. »Also, das ist der Hof vom Josef Bichler. Der lebt hier allein. Witwer!« Er hatte Charly und Nager erreicht und beschrieb einen weiten Bogen mit dem linken Arm. »Wohnhaus, Hühnerstall, Scheune, Schweinestall, Kuhstall.«

Charly musterte der Reihe nach die Gebäude, die den Schotterplatz umschlossen. Alles in allem bot sich das Bild eines klassischen bayerischen Bauernhofes. Aber nicht nur das schwindende Tageslicht und der aufziehende Nebel waren schuld an dem trostlosen Eindruck, den das ganze Anwesen erweckte. Das Wohnhaus und die Holztore von Scheune und Stall sehnten sich seit längerer Zeit nach frischer Farbe, und an der hölzernen Konstruktion des Speichers über der Scheune hätte auf den ersten Blick mindestens ein Drittel der Bretter und Balken erneuert werden müssen.

»Hier sind die Personalien, wir haben soweit alles aufgeschrieben.« Der junge Kommissar streckte Charly ein Blatt entgegen. Charly nahm es und erkannte darauf Namen, Anschriften und Daten von zwei Personen. Er drehte das Blatt um, doch die Rückseite war leer. Charlys fragender Blick traf auf den des älteren Streifenkollegen. In Kombination mit leicht hochgezogenen Schultern und Augenbrauen schien dessen Gesichtsausdruck zu bestätigen, dass es sich um den eklatanten Fall eines hinweisresistenten Schulabgängers handelte, der seine Erfahrungen erst dadurch sammelte, dass er immer wieder aneckte und durch seine Selbstüberschätzung in Kollegenkreisen zuerst ein negatives Bild von sich zeichnete.

»Die Leiche liegt da drin«, sagte der Junge und deutete mit dem Daumen auf den Stall. Dann wies er wieder in Richtung des Blattes und sagte: »Unten steht der Name von der Frau, die ihn gefunden hat. Braucht ihr uns hier noch? Wahrscheinlich nicht. Also dann, servus.«

Als er sich umdrehte, stoppte ihn Charly. Es war absolut nicht seine Art, Kollegen zu belehren und sich den Kripoermittler raushängen zu lassen, aber dieser Frischling hatte es herausgefordert. »Wart amoi! Wo is’ denn die Frau jetzt? Wo is’ die Todesbescheinigung vom Notarzt? Wer war der Notarzt und wann war der da? Wer war da am Hof, als ihr gekommen seid? Was wurd’ an der Leiche verändert? Is’ der Tote schon identifiziert? Wissen wir was über Angehörige? Dann bitt ich drum, dass ihr jetzt alle, die mit der Sache nix zu tun haben, auf die Straße rausschickt und die Zufahrt zum Hof absperrt. Und ich hoff, dass ich einen sauberen Übergabebericht bekomme, bis ich nachher wieder auf der Dienststelle bin. Wenn du noch Fragen hast, fragst deinen Kollegen, der hat so was schon öfter g’macht und weiß, auf was es ankommt.«

Der junge Kommissar sah ein wenig verdattert aus. Er zeigte auf eine der Personengruppen und stammelte: »Da … das da … da ist die Frau Kornbach, …berg, …burg, die hat sie gefunden, … also ihn, die Leiche halt.«

»Na, dann werd ich mich mal um die Vernehmung der Frau Korn-Dings kümmern«, schaltete sich Nager in das Gespräch ein und ging, locker seinen Aktenkoffer schwingend, auf die gezeigte Personengruppe zu, bevor Charly etwas erwidern konnte. Es war eine willkommene Gelegenheit, sich nützlich zu machen, ohne mit der Leiche in Berührung zu kommen.

Die Streifenbeamten scheuchten die Schaulustigen wie Hühner vom Hof und wollten gerade ein rotweißes Absperrband quer über die Einfahrt spannen, als ein silberfarbener VW-Bus in das Anwesen einbog. Der junge Kommissar versuchte den Bus zu stoppen, denn immerhin handelte es sich hier um einen abgesperrten Tatort. Sein älterer Kollege kannte jedoch das Fahrzeug und dessen Fahrer und winkte ihn durch. Es war Bernd Fischer, der Bereitschaftler vom Erkennungsdienst.

Charly war überrascht: »Servus, Bernd. Was treibt denn dich da her?«

»Habe d’Ehre, Charly. Der Fischkopf hat mich angerufen, weil er am Plan geseh’n hat, dass du mit’m Nager z’ammg’spannt bist. Eure Ablösung ist schon unterwegs zu einem Wohnungsbrand mit Verletzten und kann euch nicht unterstützen. Und weil in meinem Wohnzimmer g’rad eine Tupper-Party läuft, hab ich mir gedacht, ich schau einfach mal her, ob ich dir irgendwie helfen kann.«

»Kollege Nager hat sich schon mit der Zeugin verzupft und die Kollegen von der PI haben jetzt andere Aufgaben. Schön, dass d’ da bist.«

Der Hof war nun leer. Den Streifenwagen hatten die Kollegen quer vor die Einfahrt gestellt. Die Dorfbewohner und Spaziergänger drängten sich hinter der Absperrung auf dem Weg, und der Rettungswagen war abgezogen. Nachdem Fischer aus dem Kombi Foto- und Spurensicherungskoffer geholt hatte, machte er sich zusammen mit Charly auf den Weg zum Stall.

In einem der großen Torflügel, an denen die hellblaue Farbe in großen Fetzen abblätterte, stand eine weitere, kleinere Tür offen. Durch diese betraten sie den Stall. Das Erste, was Charly beschäftigte, war der schwere, süßliche Geruch von Mist, vermischt mit den Ausdünstungen der Kühe. Dieser Mix traf seine empfindliche Nase wie eine Keule. Das Nächste war der Gedanke, wer sich jetzt wohl um die Tiere kümmerte, wenn das Opfer auf dem Hof allein gelebt hatte. Fiel das in den Zuständigkeitsbereich der Kripo? Wahrscheinlich nicht – hoffentlich! Er entschied, dass die Fragestellung nicht von primärer Bedeutung war, und verwarf den Gedanken. Stattdessen sah er sich im Stall um.

Die weißgetünchte Decke des großen, vier Meter hohen Raumes wurde von vier dicken Säulen getragen. Zwischen den Säulen führte ein breiter Gang auf ein weiteres hölzernes Flügeltor auf der Rückseite zu. Rechts vom Eingang war für die elektrischen Anschlüsse eine kleine Kammer abgemauert. Links stapelten sich zahlreiche Futtersäcke auf Paletten. Und gegenüber standen links und rechts des Mittelganges die Kühe in Boxen, die armdicke Alurohre voneinander trennten. Vor den Boxen verliefen Futtermulden, die jetzt frisch mit Heu und Trockenfutter gefüllt waren. Mehrere Kühe fraßen mit gesenkten Köpfen, andere starrten die Besucher aus dumpfen Augen wiederkäuend an.

Zwischen den Futterpaletten und den Kuhboxen lag die Leiche. Vielmehr saß sie, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Beine von sich gestreckt. Die Arme hingen schlaff herunter. Während die linke Hand auf dem Oberschenkel ruhte, lag die rechte mit dem Handrücken am Boden auf. Eine schwarze Pistole lag auf der Handfläche. Der Kopf war nach vorne gesackt und das Kinn ruhte auf der Brust. Es sah aus, als würde der Landwirt einen Schmollmund machen, weil er mit der Gesamtsituation überhaupt nicht zufrieden war.

Charly und Bernd waren nach Betreten des Stalles zunächst stehengeblieben, um sich einen Überblick zu verschaffen und den ersten Eindruck wirken zu lassen. Wenn ein Spurensicherer am Tatort die Hände in den Hosentaschen hat, dann ist er nicht faul, sondern er arbeitet bereits mit dem Kopf und verhindert, dass er durch unüberlegtes Herumgetappe Spuren vernichtet. Das war der erste Leitsatz, den Charly in seiner Zeit beim Erkennungsdienst gelernt hatte. Und nach diesem Grundsatz handelten sie im Augenblick.

Nur das leise Klirren von Metallketten und die Fressgeräusche der Kühe waren zu hören, während die Kriminaler das Bild in sich aufnahmen. Der Bauer war mit einer verwaschenen blauen Latzhose und einem karierten Hemd bekleidet, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte. Der linke Träger der Hose war mit dem Latz verknotet, da die Spange irgendwann verloren gegangen und nicht ersetzt worden war. Die Hosenbeine steckten in grünen Gummistiefeln. Ein paar wirre Strähnen klebten an der Stirn des Toten. Die restlichen Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab. Überraschenderweise waren sie bei einem geschätzten Alter von 60 bis 70 Jahren pechschwarz. Im Gegensatz dazu fanden sich in dem hageren Gesicht des Toten zahlreiche graue und weiße Bartstoppeln.

Von dort, wo sie standen, machte Bernd Fischer die ersten Übersichtsfotos. Charly brauchte unterdessen nichts anderes tun, als die Situation zu betrachten. Er würde am Ende von Fischer eine umfangreiche Bildtafel und einen detaillierten Tatortbefundbericht bekommen. Charly wusste um die Routinearbeit des Erkennungsdienstes, Sachverhalte bereits beim ersten Einschreiten beweissicher zu dokumentieren, so dass später Fragen beantwortet werden konnten, an die im ersten Moment noch niemand zu denken vermochte. Auch Fragen von Richtern, Staats- und Rechtsanwälten, die in bequemen Sesseln in geheizten Büros lange über einen Fall nachdenken konnten und dadurch unter Umständen auf utopische Theorien kamen.

Charly sah sich weiter im Stall um. Auch hier blätterte an mehreren Stellen der Putz von den Wänden. In zwei Reihen hingen einfache, angerostete Metalllampenschirme von der Decke, deren 100-Watt-Glühbirnen den Raum in grelles Licht tauchten. Nur die Stellplätze der Tiere machten einen durchaus gepflegten Eindruck. Die Futtermulden waren zwischenzeitlich frisch mit Heu gefüllt worden. Der Boden vor den Boxen war mit Heu bedeckt und das verstreute Heu mischte sich mit Trockenfutter, Staub und Dreck vom Hof. Wahrscheinlich ist das in einem Kuhstall ganz normal, dachte Charly und nahm sich vor, sich darüber zu erkundigen.

Durch den Tatorttourismus war das Streugut gleichmäßig über die ganze Fläche verteilt. Mit dem Auffinden von Spuren am Boden war also nicht zu rechnen. Auch über die Leiche waren zahlreiche trockene Grashalme verteilt und Charly schoss der Gedanke durch den Kopf, wer wohl die Tiere gefüttert hatte, während hier die Leiche lag. Und wer hat sie gemolken?

»Und, erster Eindruck? Was hältst davon?«, fragte Fischer.

»Bilderbuch-Selbstmord. Glasklarer Fall scheinbar. Also Vorsicht!«, fasste Charly seinen ersten Eindruck zusammen. Die Praxis hatte schon oft gezeigt, dass glasklare Fälle hie und da dunkle Geheimnisse bargen.

Dann begannen Fischer und Charly mit der Arbeit an der Leiche. Sie fotografierten und entkleideten den Toten, beschrieben und diktierten, maßen und skizzierten. Bei der Untersuchung des Leichnams entdeckten sie den vermeintlichen Einschuss, ein kleines Loch zwischen der Schläfe und dem rechten Ohr, ein wenig nach oben versetzt und großteils vom Haaransatz verdeckt. Ein etwas größeres Loch befand sich hinter dem linken Ohr. An dieser Verletzung war Blut ausgetreten, das am Hals nach unten gelaufen und von dem Baumwollhemd aufgesaugt worden war.

»Was hältst du von den Blutspuren an der Wand?«, fragte Fischer.

Charly nickte. »Ist mir auch aufgefallen: Es sind Wischer, keine Spritzer, wie’s bei einem solchen Schuss eigentlich entstehen müssten.«

Je länger sie mit Bichlers Leiche zu tun hatten, desto größer wurden die Zweifel, es hier tatsächlich mit einem Suizid zu tun zu haben. »Das war jedenfalls kein aufgesetzter Schuss. Das ist bei einem Selbstmord zwar nicht unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich«, zog Charly ein erstes Fazit.

Die Waffe war bereits verpackt. Nun sicherte Fischer mit speziellen Folien Schmauchspuren an der Schusshand. Und das gehörte nicht mehr zum Routineprogramm bei einem klaren Selbstmord.

»Die Pistole wirft die leere Hülse nach rechts aus. Ich kann aber nirgends diese dämliche Hülse finden. Natürlich kann die irgendwer bei dem ganzen Publikumsverkehr weggekickt haben. Aber irgendwo muss’ ja sei’.« Fischer plagten dieselben Zweifel wie Charly. »Außerdem müsst des Projektil hier irgendwo in d’Mauer gegangen sein.« Er deutete auf die Stallwand rechts von der Leiche. »Da is’ aber absolut nix.«

»Wenn er aber den Kopf beim Schuss nach rechts gedreht hat, dann ist der Winkel ganz ein anderer und dein Projektil liegt irgendwo da hinten zwischen den Kühen. Das findet kein Mensch.« Charly suchte nach Erklärungen, die das vorgefundene Spurenbild logisch zusammenfügten. Aber irgendwo hakte es immer.

Trotz aller Zweifel hatten sie irgendwann alles erledigt, was sie zu diesem Zeitpunkt vor Ort tun konnten.

»Und?«, fragte Fischer.

»Saublöd«, antwortete Charly und damit war im Moment alles gesagt.

Es waren zwei Stunden vergangen, als der Mercedes der Bestattungsfirma auf den Hof rollte und vor dem Stall stoppte. Die Leiche wurde in einen Zinksarg verladen und im Heck des dunkelvioletten Wagens verstaut.

Fischer und Charly verließen den Stall und trafen im Hof auf Nager, der bereits auf sie wartete.

»Na endlich, ich hab schon gedacht, ihr kommt gar nicht mehr raus. Ich steh hier schon beinah eine Stunde.« Er hatte es aber nicht für nötig befunden, in den Stall zu kommen und seine Unterstützung anzubieten.

Der Leichenwagen verließ den Hof. Auch die Beamten beschlossen nach einer kurzen Beratung, angesichts der fortgeschrittenen Stunde die weitere Tatortarbeit auf morgen zu verschieben. Fischer übernahm die Aufgabe, alle Gebäude zu versperren und zu versiegeln. Zuvor hatte er kurz die Wohnräume inspiziert, dabei aber nichts Auffälliges, auch keinen Abschiedsbrief, entdeckt.

Fischer verabschiedete sich bis zum nächsten Morgen nach Hause, obwohl er sich nicht sicher war, dass die Tupper-Party bereits zu Ende war. Nager und Charly kehrten zur Dienststelle zurück.

Während der Rückfahrt berichtete Nager, wie Frau Kornburg den Toten gefunden hatte. Sie war keine Nachbarin, wie es in der ersten Mitteilung geheißen hatte, sondern wohnte am anderen Ende des Dorfes. Beim Vorbeifahren sei ihr der Krawall aufgefallen, den die Tiere im Stall veranstaltet hatten. Das sei ungewöhnlich gewesen, denn wenn sich der Bichler auch um nichts etwas geschert hatte, auf seine Tiere hätte er nichts kommen lassen. Dass er ein besonders liebenswürdiger Mensch gewesen sei, könne man laut Frau Kornburg nicht sagen. Aber wer hatte denn keine Macken oder mal einen kleinen Streit mit den Nachbarn? Nein, sie wollte nichts Schlechtes über den Bichler-Bauern, Gott hab ihn selig, sagen.

Charly vermochte nicht zu erkennen, was an einer derartigen Vernehmung so lange hatte dauern können. Aber das würde vielleicht die Niederschrift der Anhörung noch zeigen.

Auf Charlys Schreibtisch lag bereits der Bericht des jungen Kommissars, den Charly am Tatort kennen gelernt hatte. Aus dem mehrseitigen, detaillierten Aktenvermerk ging hervor, dass die Streife über Funk zu dem Hof beordert worden und dort um 18.10 Uhr eingetroffen war. Außer der Anruferin, Frau Kornburg, waren noch sieben weitere Personen im Hof und zum Teil auch im Stall gestanden. Es handelte sich um vier Nachbarn und drei Spaziergänger. Im Folgenden listete der Bericht säuberlich und übersichtlich die Personalien und Adressen aller Personen auf. Kurz nach der Streifenbesatzung waren die Sanitäter und eine Notärztin eingetroffen. Nachdem die Ärztin an Handgelenken und Hals keinen Puls erfühlen konnte und die Pupillen des Patienten keine Reaktion auf ihre Taschenlampe gezeigt hatten, habe sie eine Todesbescheinigung ausgefüllt und darin die Option der ungeklärten Todesursache angekreuzt, weil sie die Krankengeschichte des Toten nicht kannte und nicht zu entscheiden gewagt hatte, ob tatsächlich ein Schuss in den Kopf zum Tode geführt oder der Bauer kurz zuvor einen lebensbedrohlichen Zuckerschock erlitten hatte oder ob ihn unmittelbar nach der ganzen Aufregung ein Herzinfarkt dahingerafft hatte.

Daraufhin hatten die Kollegen den Stall geräumt. An der Leiche, insbesondere an deren Lage, sei nichts weiter verändert worden.

Lediglich ein ortsansässiger Landwirt hätte den Stall noch betreten. Ihn hatte man auf den Rat von Frau Kornburg verständigt und darum gebeten, sich um das Vieh zu kümmern. Die Kühe wären nämlich sehr aufgeregt gewesen und hätten laut geschrien, was vermutlich weniger an einem Trauma aufgrund des vorausgegangenen Geschehens als an vollen Eutern und Hunger gelegen hatte.

Charly wunderte sich über die Beschreibung der schreienden Kühe und überlegte, wie es richtig heißen muss, wenn das Muhen von Rindviechern eine extreme Lautstärke erreichte. Er kam jedoch auf keine Lösung und konzentrierte sich wieder auf den Bericht. Der Nachbar hatte jedenfalls die Tiere gefüttert und gemolken, und dann war wieder Ruhe im Stall eingekehrt. Der Helfer hatte zugesagt, sich auch während der nächsten Tage der Tiere anzunehmen.

Nachdem die Streifenbeamten den Einsatzort verlassen konnten, hatte Nager sie beauftragt, eine Angehörigenverständigung durchzuführen. Von Frau Kornburg hatten sie erfahren, dass die Ehefrau schon vor Jahren verstorben war. Es gab jedoch zwei Söhne.

Charly ärgerte sich. Es war bekannt, dass Nager auch die Aufgabe, Angehörigen eine schlimme Nachricht zu überbringen, gerne auf andere abschob. Er ersparte sich die Szenen, wenn das Unfassbare von amtlicher Stelle und damit unumstößlich mitgeteilt wurde. Dass es zu den ersten Ermittlungsansätzen gehören konnte, die Reaktionen der Hinterbliebenen zu beobachten, interessierte Nager nicht. Er war froh, wenn er keinen der Angehörigen zu Gesicht bekam.

Jedenfalls informierte der Bericht darüber, dass die Streifenbeamten vom Bauernhof aus zu den angegebenen Adressen der Söhne gefahren waren. Der jüngere Sohn, Manfred Bichler, konnte zu Hause nicht angetroffen werden und war vorerst nicht erreichbar. Beim älteren Sohn, Christian Bichler, hatte dessen Ehefrau den Beamten geöffnet. Ihr hatte man die Nachricht vom Tod des Schwiegervaters überbracht. Der junge Kommissar schilderte, dass die Frau die Mitteilung unbewegt entgegengenommen hatte, so, als ob ihr der Diebstahl ihres alten, wertlosen Fahrrades eröffnet worden wäre. Sie hatte versichert, ihrem Mann Bescheid zu geben, sobald er nach Hause käme. Ansonsten hatte sie jedoch keinen Grund gesehen, heute noch irgendetwas zu unternehmen.

»Na also«, murmelte Charly und legte den Bericht zur Seite. Er war versucht, bei der Inspektion anzurufen, um dem Kommissar für die schnelle Arbeit zu danken und den Bericht zu loben. Nach kurzem Nachdenken kam ihm das aber zu schulmeisterlich vor und er verzichtete darauf. Es würde sich bestimmt noch eine Gelegenheit bieten, mit dem Kollegen zu sprechen.

Stattdessen griff Charly zum Telefonhörer und wählte die Handynummer des staatsanwaltschaftlichen Jourdienstes, um den diensthabenden Staatsanwalt von dem Todesfall zu unterrichten.

»Gambrini-Steinmetz«, meldete sich eine jugendliche Frauenstimme.

›Na bravo‹, dachte Charly. Frau Gambrini-Steinmetz war eine sehr nette Person, zugegebenermaßen auch hübsch. Aber als Staatsanwältin war sie noch sehr unerfahren. Mit Entscheidungen war da heute Abend nicht mehr zu rechnen. Die Juristin würde sich alles aufschreiben, um den Fall morgen früh ihrem Behördenleiter vorzutragen, der ihr dann sagen würde, was aus Sicht der Staatsanwaltschaft zu tun sei. Also begann Charly mit der Schilderung des Vorganges und ließ dabei auch die kleinen Indizien nicht aus, die Zweifel an dem Selbstmord in ihm weckten.

»Wie schreibt man denn den Namen?«, fragte Gambrini-Steinmetz nach und Charly buchstabierte.

»Na gut«, fuhr die Staatsanwältin fort. »Heute sind aus meiner Sicht keine Maßnahmen mehr angezeigt. Das Wichtigste haben Sie ja bereits erledigt. Wir können dann morgen früh noch mal telefonieren, wie es weitergeht. Aber bitte nicht vor 09.00 Uhr. Sind Sie einverstanden?«

Da Charly wusste, dass die Besprechung des Behördenleiters mit den Bereitschafts-Staatsanwälten vom Wochenende um 08.00 Uhr stattfand, wünschte er Frau Gambrini-Steinmetz eine ruhige Nacht und legte auf.

Nachdem er in verschiedenen Programmen und Dokumenten die Personalien des Toten und mehr oder weniger ausführliche Sachverhaltsschilderungen erfasst hatte, war der Aktualität des Lageberichts und dem Informationsbedürfnis der Dienststelle genüge getan und damit eigentlich alles erledigt, was er heute in dem Fall tun konnte. Also legte er zuletzt die zwei voll gequatschten Kassetten seines Diktiergerätes in die Kiste für die Schreibaufträge und verließ das Büro.

 

Um diese Zeit schaffte er die 13 Kilometer über die nächtlichen Straßen Richtung Süden in einer Viertelstunde und kurz nach Mitternacht schloss er die Tür seines Hauses in Ebenhausen auf. Das war immer der Moment, in dem er versuchte, die Geschehnisse des Dienstes abzuschütteln und auf andere Gedanken zu kommen. Natürlich gelang ihm das sehr selten, eigentlich fast nie. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er während des Fernsehens, unter der Dusche oder beim Essen über aktuelle Fälle nachdachte.

Petra war noch nicht im Bett, aber natürlich auch nicht mehr wach. Sie lag auf der Couch im Wohnzimmer und war bis zur Nasenspitze in eine Wolldecke und einen Berg Sofakissen gekuschelt, als hätte sich ein Bär zum Winterschlaf eingerollt.

Als er sich ächzend neben sie setzte, schlug sie die Augen auf. »Bist jetz’ da?«, nuschelte sie ihm aus dem Kissenberg entgegen.

Es war eine dieser Smalltalk-Fragen, die Charly nicht mochte. Trotzdem knurrte er ein »Ja, hat ein bisserl länger gedauert«. Er wollte noch fragen, ob die Kinder daheim sind. Ihm fiel aber auf, wie überflüssig auch diese Frage wäre. Julia, ihre 15-jährige Tochter, hatte sich den ganzen Sonntag im Pferdestall aufgehalten und war bestimmt abends todmüde ins Bett gefallen. Und der 17-jährige Ludwig war zwar ein Luftikus, aber doch pflichtbewusst und zuverlässig, wenn es darauf ankam. Da er am Morgen wieder an seinem Ausbildungsplatz in einem Hangar am Manchinger Militärflugplatz seinen Mann stehen musste, lag mit Sicherheit auch er in seinem Bett und schlief.

Charly schnupperte: »Mhm, hat’s zur Brotzeit Schaschlik gegeben?«

»Das riechst du natürlich, du Nasenbär«.

Das war nett gemeint. Schon öfter hatte er seine Frau mit seinem Geruchssinn verblüfft. Auch wenn diesmal keine außergewöhnlichen Fähigkeiten nötig waren, denn der Duft von Schaschlik und Curry hing deutlich in den Räumen.

»Es ist aber leider keins mehr da. Der Ludwig hat drei gegessen, bevor ich’s verhindern konnte. Dem ham’s echt geschmeckt.«

»Macht nix«, log Charly und ging in die Küche. Er belegte sich ein Wurstbrot und schenkte sich ein Weißbier ein. Das Wurstbrot diente lediglich der Bekämpfung des Hungers. Das Weißbier aber war ein Ritual. Auch wenn nur noch wenig Zeit blieb, bis er wieder aufstehen musste, wollte er darauf nicht verzichten. Wenn Charly den ersten Schluck dieses Feierabend-Weißbiers genoss, dann wusste er, dass er jetzt zu Hause war und dass vorerst Getötete, Selbstmörder, Mörder und Schläger, Spuren und Indizien, Zeugen und Opfer draußen bleiben mussten. Er wollte nicht mehr an die ganze Kriminalität denken und schon gar nicht darüber sprechen. Er freute sich auf diesen ersten Schluck und ging mit seinem Weißbier und seinem Wurstbrot zurück ins Wohnzimmer. Dabei registrierte er wieder das Ziehen in der rechten Schulter. Das hatte er während der ganzen Tatortarbeit vermutlich verdrängt. Jetzt schmerzte es dafür umso mehr.

»Was war denn los?«, fragte Petra, die sich zwischenzeitlich zum Wachsein gezwungen hatte und ihn aus verschlafenen Augen anblinzelte.

»Selbstmord – ein Bauer.«

»Und warum?«

»Keine Ahnung.«

An die Einsilbigkeit ihres Mannes nach Dienstende gewöhnt und daher mit dieser Antwort vorerst zufrieden, drehte Petra sich wieder in die Decke, und Charly nahm den zweiten Schluck. Eine halbe Stunde später gingen sie zu Bett.