image

Krause & Winckelkopf

HOLZMARKT

Ein Friedrichshain Krimi

 

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CDROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2015

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2015

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlaggestaltung: Ansichtssache, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von fotolia

ISBN 978-3-8393-6149-8 (epub)

ISBN 978-3-89809-541-9 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

I.

Wie betäubt laufe ich weg, fassungslos und blind vor Schreck. Lange Zeit spüre ich nichts und denke nichts, renne nur wie im Traum im unwirklichen Licht der Straßenbeleuchtung, bis die Bilder mich einholen und ich nichts anderes mehr sehe als die immer gleichen furchtbaren Szenen. Sie laufen vor meinen Augen ab wie ein Film, weit entfernt und der Realität entrückt. Ich projiziere sie aus der Erinnerung, während ich ungeduldig darauf warte, aufzuwachen. Mit der Zeit nimmt die Unruhe zu und das Bewusstsein kehrt langsam zurück. Die dramatischen Szenen rücken immer näher, wie Wände in einem engen, dunklen Raum. Ich habe nicht geträumt, es ist die Realität. Mein Herz und meine Gedanken beginnen zu rasen. Ich laufe eilig die Straße entlang, ohne zu wissen, wohin, spüre Stiche im Körper, Angst und Scham. Die Erinnerungen überlagern sich, kurze, zerrissene Szenen, ein Puzzle, das ich mühsam zusammensetze. Ich sehe sein Gesicht im Profil. Er dreht den Kopf und schaut mich mit ernstem Blick an. Ich sehe ihn streiten, seinen aufgerissenen Mund, höre seine scharfe Stimme. Aber schon im nächsten Bild liegt er reglos am Boden und scheint an die Decke zu starren.

Sind diese Augen wirklich tot? Kam es mir vielleicht nur so vor? Wie lange habe ich da gestanden und ihn angesehen? Die Zeit vergeht langsamer in solchen Situationen. Kann es sein, dass es zu kurz war, um beurteilen zu können, ob er tatsächlich tot ist? Vielleicht war er nur ohnmächtig, schwer verletzt und hat sich nach einer Weile wieder geregt. Vielleicht ist er gar nicht tot.

Hoffnung durchströmt mich. Ja, es könnte doch so sein? Ich gehe noch schneller und denke, dass ich eigentlich zurück müsste, um mich zu vergewissern, ob er tatsächlich noch lebt. Ich hebe den Blick vom Pflaster des Gehwegs, blicke zu den Fassaden der Häuser auf und bemerke plötzlich, wo ich bin. Ich kenne die Straße, sie ist mir gut vertraut. Die Modersohnstraße. Kindheitserinnerungen schießen mir durch den Kopf. Die gute alte Zeit. Aber schon kehrt der Alptraum zurück und ich bin wieder konfrontiert mit dem, was sich gerade ereignet hat. Was ist da eben passiert? Wie konnte das geschehen?

Du hättest einen Krankenwagen rufen müssen, denke ich. Wie lange ist es her? Ich greife in die Jackentasche und hole mein Smartphone hervor. Vielleicht kann ich ihm jetzt noch helfen. Ich muss den Notruf wählen … Aber nicht auf meinem Smartphone. Ich werde panisch. Er darf nicht tot sein! Nein, sage ich immer wieder, nein, nein. Nein! Gibt es denn nirgendwo mehr eine Telefonzelle? Es muss doch irgendwo eine Telefonzelle geben!

Aber was ist mit dem Blut? Bleib ruhig und erinnere dich: das Blut, das aus seinem zuckenden Körper pulsierte. Die Lache, in der er danach lag? Du hast doch an ihm gerüttelt, du hast doch gespürt, dass in diesem Körper kein Leben mehr war. Er ist tot. Tot.

Ich laufe um den Rudolfplatz, grübelnd und aufgewühlt. Oder hast du das alles überzeichnet wahrgenommen? War da wirklich so viel Blut? Versuch dich zu erinnern, vielleicht hast du etwas übersehen. Wieder drehe und wende ich die Bilder in meinem Kopf, aber da ist nichts, was mich entlasten könnte, nichts, was mir Ruhe schenkt. Ich spüre die Wucht der Messerstiche. Er ist tot. Er muss tot sein. Was habe ich getan?

Ich höre den Laut, den er von sich gab, als er zusammensackte, spüre das Zucken der Muskeln, das seinen Körper durchfuhr, bevor er schlaff wurde und schwer wie Blei. Trotzdem suche ich in meiner Erinnerung noch immer nach den Anzeichen einer Illusion, nach einer Bestätigung, dass es nicht wahr ist. Aber die Bilder sind real. Eine Erinnerung, die jede Hoffnung und jeden Trost auslöscht. Minuten, die ich nicht zurückdrehen kann und die alles verändern. Eine Szene, die ich nicht fassen kann und doch akzeptieren muss. Es gibt keinen Zweifel, es ist geschehen. Es gibt kein Zurück mehr. Mit grimmiger Entschlossenheit verlasse ich den Platz und laufe wieder auf die Straße.

Auf der Brücke bleibe ich stehen. Im dunklen Gleisbett nähert sich eine S-Bahn. Erst sehe ich nur ihre runden Lichter, dann höre ich sie kommen. Ich umfasse den metallenen Lauf des Brückengeländers so fest, als würde ich mich gleich mit einem Ruck hinüberhieven, da rattern schon die Wagons unter mir hindurch.

Du hast keine Zukunft mehr, denke ich. Tu es, mach ein Ende. Du wirst mit dieser Schuld nicht leben können. Er ist tot.

Auf den Gleisen links zieht dröhnend ein Güterzug vorbei. Ich beobachte die unzähligen Waggons und fühle mich abwesend, als hätten sie mich mitgenommen. Aber das Dröhnen und Rattern verstummt und ich stehe immer noch auf der Brücke. Mein Blick wandert über die hell erleuchtete neue Glashalle des Bahnhofs Ostkreuz zu den Sternen, die funkelnd am klaren Himmel stehen, und einen kurzen Moment lang atme ich die kühle Luft einer ganz normalen Nacht im späten Winter, auf den in Kürze ein Frühling folgen wird. Doch schon im nächsten Augenblick weiß ich, dass nichts mehr vor mir liegt, auf das ich mich freuen kann. Für mich wird es keinen Frühling und keine lauen Sommernächte mehr geben, in denen man sich erwartungsvoll fragt, was wohl noch kommen mag. Es wird nie wieder sein wie vorher. Ich hab es selbst versaut. Wie soll ich je wieder meinen Eltern und Freunden begegnen? Ich hasse mich. Warum kann ich nicht an seiner Stelle sein?

Die grellen Scheinwerfer eines Autos erleuchten die Modersohnbrücke. Ich drehe mich um und gehe ein paar Schritte, um nicht auf mich aufmerksam zu machen. Unter den Laternen zwischen den kahlen Bäumen hinter der Brücke kommen mir Fußgänger entgegen. Ich gehe auf sie zu, drei Männer, in ein Gespräch vertieft, eingepackt in dicke Jacken, Mützen und Schals. Ich schnappe ein paar italienische Wortfetzen auf, aber die Männer nehmen keine Notiz von mir. Ich laufe weiter die Straße hinunter, dann drehe ich wieder um und gehe zurück auf die Brücke, warte auf die nächste S-Bahn.

Als ich die Lichter sehe, schließe ich für einen Moment die Augen. Ich öffne sie wieder, die Lichter rücken näher. Jetzt, denke ich, bevor sie unter der Brücke verschwinden, und habe es wieder nicht getan.

Meine Beine geben nach, der Wind schlägt mir ins Gesicht. Denk nicht, denke ich, hör auf zu denken, tu es einfach. Ich atme schnell und flach, beobachte die Gleise, aber es ist keine Bahn in Sicht. Du wirst nichts davon merken, es geht ganz schnell und all deine Gedanken sind wie weggefegt. Lösch sie aus, denke ich und höre die Luft beim Atmen in meinen Nasenflügeln. Ein Blick über die Schulter, dem nächsten Scheinwerferlicht hinterher, das mir greller erscheint als das zuvor, und durch die Stäbe des Stahlbogens der Brücke sehe ich die S-Bahn aus der anderen Richtung kommen. Ich laufe los, über die Straße, auf das gegenüberliegende Brückengeländer zu, schnell und gedankenlos. Die Lichter der S-Bahn sind ganz nah. Meine Hände berühren das Geländer, umgreifen es … aber ich bleibe kerzengerade stehen, bis die Bahn verschwunden ist.

Mit der Faust schlage ich auf den Lauf des Geländers. Wieder huscht ein Scheinwerferlicht an mir vorbei, und ich stecke die Hände in die Jackentaschen, gehe ein paar Schritte. Lösch sie aus, denke ich, lösch diese Gedanken endlich aus. Ich blicke mich nach links und rechts um, sehe niemanden. Ich hebe ein Bein über das Geländer. Halte mich am Lauf fest und blicke hinab auf die Gleise, sehe schon die nächste S-Bahn kommen. Ich versuche mich ganz vom Boden zu lösen, um auf dem Brückengeländer zu sitzen wie auf einem Barren. Mehr ist es nicht, du musst nur den zweiten Fuß vom Boden heben und hinabschauen. Mach es, jetzt! Schon schwebt mein Fuß über dem Asphalt. Die S-Bahn rollt heran. Ich hole tief Luft, senke den Blick. Mir wird schwindelig, ich erschrecke und springe zurück auf die Brücke, zittrig vor Angst. Das schaffst du nicht, denke ich, du bist zu schwach und zu feige, um es zu tun.

II.

Die beiden Hochhausblöcke stehen dicht beieinander, fast so, als lehnte sich der eine gegen den anderen. Ich drehe mich um und bemerke hoch oben auf dem gegenüberliegenden kahlen Plattenbau, der offenbar leer steht, einen Schriftzug. Unbeleuchtet kann man die Buchstaben auch für Menschen halten, die bewegungslos da oben verharren. Ich weiß, dass der Schriftzug der Name einer Zeitung ist. »Neues Deutschland«.

Früh um halb vier ist es still. So still wie zu keiner anderen Zeit des Tages hier im Friedrichshain. Obwohl wir erst März haben, weht ein zwar frischer, aber schon deutlich milderer Wind. Gerade so, als hätte der Frühling schon Besitz ergriffen von der Stadt, die so lange in Kälte, Regen und Nebel gefangen schien.

Ich brauche etwas Zeit, um den richtigen Eingang zu Haus 2 zu finden. Im Gebäude selbst treffe ich auf eine verwaiste gläserne Empfangsloge und kühle blaue und graue Farben. Keine Hinweise auf den Weg hinauf in die achte Etage. Ein verspiegelter Gang, der durch einen gleichfalls verspiegelten Vorbau halb verdeckt ist und mir mein Spiegelbild zeigt, führt mich an verschlossenen Türen vorbei bis zu einer Nische mit zwei Fahrstuhltüren. Der Aufzug bringt mich nach oben. Noch weiß ich nicht, was mich erwartet. Ich habe eine Polizeistreife angefordert und mich gewundert, dass ich scheinbar doch der Erste sein werde. Ich tippe noch eine SMS in mein Handy ein. Sie sollen mir gefälligst Verstärkung schicken.

Als die Fahrstuhltür sich leise rauschend öffnet, herrscht auch hier oben unerwartete Stille. Die Leuchtstoffröhren werfen ihr kaltes Licht auf die gelb und orangefarben angestrichenen Wände. Links und rechts gehen Gänge ab. Unzählige Türen. Manche mit großen Ziffern versehen, manche mit Aufschriften oder Piktogrammen. Ich gehe einen Gang entlang und stoße ganz am Ende auf eine winzige Küche. Licht flackert auf. Hier ist alles clean und der matte Glanz von Metall vermittelt ein Gefühl von Kühle. Nur eine grüngelbe Tüte mit der Aufschrift »Porreecremesuppe« auf dem Tisch zeugt davon, dass hier irgendwer gewesen sein muss. Die Küche erinnert mich an den Kellerraum einer Bank mit diversen Schließfächern. Jede noch so kleine Tür hat ein glänzendes Schloss. Und es gibt unzählige Türen, quadratische und rechteckige, winzige und größere.

Ich laufe den Gang zurück in die andere Richtung. Plötzlich geht das Licht aus, und das erweist sich als glücklicher Umstand. Eine der Türen hier ist nur angelehnt und das Licht aus dem Zimmer fällt durch einen schmalen Spalt auf den Boden. Ich gehe langsam auf den Lichtkegel zu, schiebe die Tür auf und höre eine ruhige Stimme und leises Weinen. Vor mir liegt ein enger Korridor, so wie man ihn von den typischen Neubauwohnungen der Siebzigerjahre kennt. Durch die niedrige Decke wirkt er beinahe wie ein Tunnel. Er führt direkt in das Zimmer.

Auf dem Boden liegt ein Mensch. Ein Mann, noch sehr jung, schmal und groß. Man sieht sofort, dass er tot ist. Schräg neben dem Toten an einem Tisch sitzt ein Mann mit roter Warnweste und der Aufschrift ARZT. An seiner Seite eine Kollegin, sie scheint im gleichen Alter zu sein wie der Tote. Sie schaut mich an, als wüsste sie schon, wer ich bin. Weiter hinten steht ein Mann und hält eine Frau mit seinen Armen umfangen. Die Frau weint leise.

Ich stelle mich vor. Ruhig, fast flüsternd, als würde diese bedrückende Szene auch mich bekümmern, als könnte auch ich gegen die Stille nicht an.

»Max Martaler, Kriminaloberkommissar, Mordkommission.«

Der Arzt dreht sich um. »Das ging schnell.« Er erklärt, dass er selbst erst vor fünfzehn Minuten eingetroffen sei. Die beiden da hätten zuerst die Feuerwehr gerufen, dann die Polizei. Sie haben den Mann gefunden, er war bereits tot. Wahrscheinlich ist er vor drei oder vier Stunden gestorben. Es gibt sieben Einstiche im Oberbauch. Die Stiche wurden von unten nach oben ausgeführt, die inneren Verletzungen müssen erheblich sein.

Ich gebe zu bedenken, dass noch zu klären wäre, ob der Fundort des Toten auch der Tatort ist. Der Arzt nickt. Natürlich. Aber es gibt keine Schleifspuren. Nun ja. Ich beuge mich hinunter, um unter die Möbelstücke im Raum zu schauen, blicke rasch in die Schränke. Der Arzt sieht mir mit wachsendem Interesse zu. »Suchen Sie etwas?«

»Die Tatwaffe«, sage ich.

»Natürlich! Die Stichverletzungen, ein Messer.« Er schüttelt den Kopf. »Ich habe nicht darauf geachtet, aber jetzt, wo Sie es sagen – hier ist kein Messer. Aber die Verletzungen sind eindeutig.«

Er gibt mir einen Durchschlag des Arztberichts. Ich falte ihn zusammen und stecke ihn in meine Jacke. Der Mann steht auf. Ist schon an der Tür, wendet sich noch einmal um und sagt: »Schon seltsam, ich hab hier auch gewohnt, in diesem Studentenwohnheim, sogar in diesem Block. Dritte Etage. Und nun bin ich zum ersten Mal wieder hier und dann das. Tja.« Dann geht er, gefolgt von seiner jungen Assistentin.

Ich wende mich an die anderen beiden im Raum. Ganz für sich stehen sie, als hätten sie keine Verbindung zu dem Geschehen im Zimmer, als hingen sie in der Luft wie Figuren auf den Gemälden von Chagall. Die Frau löst sich aus den Armen des Mannes. Erst jetzt sehe ich, dass sie trotz ihrer verweinten Augen ein wunderschönes Gesicht hat.

»Sie haben den Toten gefunden? Haben Sie uns angerufen?«

Der junge Mann nickt. »Ja. Ich habe ihn gefunden. Johanna kam dazu. Ich habe gleich gesehen, dass Jakub tot ist.«

Wenig später weiß ich, dass es sich bei der Frau um die Freundin des Ermordeten handelt. Sie heißt Johanna Bäumer und wohnt wie der Tote, Jakub Lelek, und Niklas Grossarth, der andere junge Mann, hier im Studentenheim. Sie fünf Etagen höher, Niklas Grossarth auf derselben. Sie ist groß gewachsen, schlank und hat mittellanges, welliges, schwarzes Haar. Niklas Grossarth, ein durchtrainierter, kräftiger Kerl mit dann doch eher weichen Gesichtszügen, hellem, längerem Haar und klaren, graugrünen Augen, sagt, dass er ein Freund des Toten war. Ein enger Freund, sein Kommilitone an der Hochschule für Schauspielkunst. Frau Bäumer studiert Philosophie an der Humboldtuni.

»Sind Sie Schauspieler?«, frage ich. Ich will mit den beiden reden, sie nicht zum Weinen bringen.

»Ja, auch. Aber wir studieren Puppenspiel, Jakub und ich. Ich bin zwei Semester unter ihm.«

»Puppenspiel?« Das überrascht mich nun doch. »Man kann Puppenspiel studieren?«

»Ja, natürlich. Es ist … eine Kunst. Und Jakub … er war ein Künstler … ein Zauberer.«

Über sein Gesicht laufen nun doch Tränen. Johanna Bäumer versucht, ihn zu trösten, indem sie seinen Oberarm streichelt. Von draußen sind Schritte zu hören. Wenige Sekunden später wird die Tür weit geöffnet. Der Kollege von der Spurensicherung kommt herein, gefolgt von zwei Polizisten in Uniform, die eigentlich als Erste am Tatort hätten sein müssen. Der eine will etwas sagen, aber ich winke ab.

»Sichern Sie den Ausgang. Keiner darf hier raus, ohne dass ich ihn befragt habe! Und fordern Sie noch mindestens zwölf Leute an, kann sein, dass wir alle hier in dem Block befragen müssen. Ach, und besorgen Sie mir unbedingt einen Verantwortlichen. Einen Verwalter oder Betreiber oder so«, sage ich rasch, und die beiden in Uniform verschwinden wieder.

Der Kollege von der Spurensicherung gibt mir wortlos die Hand. Wahrscheinlich misst er schon mit Blicken ab, wie weit wir von dem Toten entfernt stehen und wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass mögliche Spuren durch mich oder die Kollegen unbrauchbar gemacht worden sind. Schon packt er die entsprechenden Utensilien aus. Der Kreidestrich, den er jetzt zieht, trennt sein Untersuchungsgebiet von dem ab, in dem wir uns noch bewegen dürfen. Eine Grenzmarkierung, über die er mit Sicherheit nicht mehr bereit ist zu diskutieren.

»Können wir in einen anderen Raum gehen«, frage ich die beiden.

Grossarth nickt. »Ich hab das Zimmer am anderen Ende des Flurs.«

In Niklas Grossarths Bude sieht es so aus, wie ich mir die Unterkunft eines Studenten vorstelle. Vollgestellt mit nützlichen und unnützen Sachen, ein Rennrad, Berge von Trainingsklamotten, an der Wand ein Saxophon, Fotos, Plakate, Bücherstapel, zwei vor sich hin summende Computer, beide mit eingeschalteten Monitoren mit grell aufblinkenden Fotos als Bildschirmschoner: auf dem einen bizarre Landschaften, auf dem anderen Puppenspielszenen. Drei grasgrüne Wollknäuel mit Gesichtern, zwei bizarr geformte hellgelbe Plastiktüten mit großen blauen Augen. Ein Mann, der mit einer Krokodilpuppe auf seinem Arm spricht.

Ich versuche die beiden dazu zu drängen, sich hinzusetzen. Aber sie wollen nicht. Fast scheint es, als würden sie angespannt darauf warten, dass ich sie endlich befrage. Als ich die erste Frage stelle, fängt Johanna Bäumer an zu reden. Sie sagt, dass Jakub mit ihr auf einer Party war. Einer der Hochschulprofessoren lädt einmal im Monat zu einem sogenannten Kreativgespräch ein, mehr ein geselliges Beisammensein, Musik, etwas zu trinken. Jedenfalls waren sie und Jakub da. Jakub ist studentische Hilfskraft bei Professor Panzlaff, deshalb ist er immer ein bisschen verantwortlich für den Abend, für Getränke und so weiter. Gegen halb elf sei es zu einem Streit gekommen. Jakub ist eigentlich ein Geduldsmensch, aber wenn jemand eine Grenze übertritt, wird er rasch wütend und kompromisslos.

»Und was war das gestern für eine Grenze?«, frage ich rasch.

»Es ging um einen Auftritt, den Jakub vorziehen sollte. Aber er sagt immer, er sei noch nicht so weit, er arbeite noch an der Aufführung. In solchen Fragen ist er sehr eigen. Darüber hat sich jemand lustig gemacht. So nach dem Motto, wahrscheinlich habe er gar kein Stück.«

»Und mit wem hat sich Herr Lelek gestritten?«

»Mit Randolf Kramp. Er ist im gleichen Semester. Aber sie haben nie zusammengearbeitet, immer gegeneinander. Es war so was wie ein Wettbewerb.«

»Und wo wohnt dieser Herr Kramp?«

»Er hat eine kleine Bude irgendwo im Friedrichshain. Aber ich weiß nicht, wo.«

Jakub habe plötzlich gehen wollen, erzählt Johanna Bäumer, und sie sollte mit. Aber sie wollte noch nicht. Zunächst dachte sie, Jakub hätte sich doch noch beruhigt und wäre irgendwo unter den Leuten in der großen Wohnung von Panzlaff, aber als sie ihn dann suchte, war er verschwunden. Einfach weg. Das war gegen zwölf. Sie sei dann noch mit einigen Studenten in eine Bar gegangen. Sie wollte nicht einfach klein beigeben, zumal sie sich ja gar nicht mit Jakub gestritten und er sie einfach sitzen gelassen hatte. Gegen halb drei habe Niklas sie dann angerufen, sie solle schnell herkommen.

Niklas Grossarth erzählt, dass er auch auf der Party gewesen sei, aber schon kurz nach zehn gegangen wäre, zunächst mit zwei Kommilitonen noch in einen Club. Um kurz nach eins sei er hier gewesen. Hätte dann in seinem Zimmer gesessen und Musik gehört. Etwas an den Texten gearbeitet, die als Hausarbeit in einer Woche abzugeben wären. Dann habe er sich einen Kaffee machen wollen und sei in die Küche gegangen. Na ja, er habe auch vorgehabt, nach Jakub zu schauen. Und da habe er gesehen, dass die Tür zu dessen Zimmer einen winzigen Spalt offen stand. Er habe die Tür aufgeschoben und Jakub auf dem Boden liegen sehen. Das war so um halb drei.

Er schaut auf sein Telefon. »Um zwei Uhr achtunddreißig hab ich dann Johanna erreicht. Sie war fünfzehn Minuten später hier.«

»Und warum nicht als Erstes einen Arzt?«

»Jakub war tot. Ich habe ein soziales Jahr in einem Pflegeheim gemacht. Sehr alte, sehr kranke Leute. Da weiß man, wie der Tod aussieht. Außerdem konnte ich es absolut nicht fassen. Ich sitze da keine fünfzehn Meter entfernt, und hier liegt mein Freund und ist tot! Oder er lebte vielleicht sogar noch und ich habe nichts gehört! Nichts gesehen und nichts gehört! Verstehen Sie?!«

»Schon gut«, versuche ich ihn zu beruhigen. Der junge Mann tut mir leid. Weder bei ihm noch bei dieser Johanna Bäumer scheint angekommen zu sein, was hier passiert ist. Sie wissen noch nicht wirklich, dass ihr Freund tot ist. Sie nehmen das alles wahr wie in einem dicken Nebel, der ihnen vorgaukelt, es könnte auch anders sein. Ich nicke Grossarth zu. »Das heißt, Sie haben nichts wahrgenommen?«

»Ich habe ja nicht mal ihn wahrgenommen, nicht mal Jakub.«

»Wahrscheinlich, weil er schon tot war, als Sie zurückkamen. Deshalb ist es wichtig, herauszufinden, ob sonst irgendwer hier im Haus Jakub oder andere Personen hat kommen sehen. Wenn er wirklich von dieser Party direkt hierher gegangen ist, müsste das so zwischen, sagen wir, Viertel nach elf und zwölf gewesen sein. Wir werden also alle Bewohner befragen müssen.«

Die beiden nicken nur. Zucken mit den Schultern und nicken.

»Und natürlich brauche ich die Namen der beiden Freunde, mit denen Sie nach der Party noch in diesem Club waren.«

Niklas Grossarth schaut kurz zu Johanna Bäumer, als würde er von ihr eine Reaktion erwarten, und sagt dann: »Carlo Neff und Gottlieb Jakobsen.«

»Noch etwas. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Ihr Freund mit einem Messer umgebracht wurde. Aber wir haben die Tatwaffe nicht gefunden. Können Sie sich erinnern, ob hier ein Messer gelegen hat? Oder haben Sie sich aus dem Zimmer entfernt, sodass jemand das Messer hätte wegnehmen können?«

»Ein Messer?« Der junge Mann wirkt ratlos, er ringt die Hände. »Nein, ich habe … Ich weiß nicht. Ich habe nicht darauf geachtet. Ein Messer … Nein, ich hab kein Messer gesehen.«

»Und haben Sie das Zimmer noch einmal verlassen?«

»Ja. Ja, ich bin rausgegangen, ich bin in mein Zimmer, ich … ich weiß nicht, es ist alles so furchtbar!«

Plötzlich hören wir laute Stimmen. Hohles Blech poltert gegen Wände. Jemand flucht. Der Kollege von der Spurensicherung ruft meinen Namen. Ich bitte die beiden, hier im Zimmer von Grossarth zu warten. Sie müssen nicht dabei sein, wenn ihr Freund in diesen Blechtrog gehievt wird. Unwillkürlich stelle ich mir die Frage, wie in aller Welt die Leiche in dem Blechding transportiert werden soll. Es wird mühsam sein, um die Ecken zu kommen. Ganz zu schweigen von dem viel zu engen Aufzug.

Als ich das Zimmer betrete, erwartet mich der Kollege von der Spurensicherung. »Ich bin so weit«, sagt er. »Hier ist nicht viel. Weißt du, was ich glaube? Hier hat jemand nach der Tat aufgeräumt. Hier sind Spuren verwischt worden. Na, jedenfalls könnte die Leiche jetzt zur Obduktion gebracht werden. Ich schaue mir dann noch die Küche an, denn der junge Mann muss sich wohl vor dem Geschehen einen Kaffee gemacht haben. Da, die Tasse. Ach, und das hier …« Er hebt eine obligate Plastiktüte hoch. »Dieser kleine Schlüssel, den hab ich unter dem Toten gefunden. Er lag direkt unter seinem Oberkörper, als habe er ihn verstecken wollen.«

Ich nicke den beiden Männern zu, die blass und verschwitzt neben dem Blechsarg stehen und nur auf das Zeichen gewartet haben. Der Sarg wird abgestellt und geöffnet. Plastikfolie wird ausgebreitet. Mit einem Ruck wird der Leichnam angehoben und dann vorsichtig in den Sarg gelegt. Der Deckel wird mit wenigen Handgriffen aufgesetzt und verriegelt. Dann verlassen die beiden Männer mit ihrer Last den Raum.

Und plötzlich ist das Zimmer ein völlig anderes. Es wirkt kahl. Ein dunkler Schrank, ein Bett, Stuhl und Tisch. An den Wänden hängen große Papiere, sämtlich bemalt mit Gesichtern und Figuren, mit Skizzen von Räumen, die wie Theater aussehen. Bühnen, Vorhänge, Scheinwerfer, Umrisse menschlicher Figuren. Die Zeichnungen sind in Blei- und Buntstift ausgeführt, rasche Striche, deutlich und dann doch wieder skizzenhaft, als wäre alles noch in unruhiger Bewegung. Mein Blick fällt auf eine große dunkelgrüne Holztruhe. Sie steht an der Wand, direkt neben dem Bett. Aus irgendeinem Grund zieht sie mein Interesse auf sich. Ich mache fünf Schritte auf den großen Holzkasten zu. Nun kann ich erkennen, dass die Truhe zwar grün ist, aber dass auch andere Farben zu sehen sind, Farben und Muster. Winzige Ketten von hellerem Grün, die den Deckel überziehen, beige- und rosafarbene zarte Blumen und dunkelblaue Sterne. Drei grau-weiße Pferde, winzig klein, und Monde. Naive Malerei oder Abbildungen, die vor hunderten von Jahren aufgebracht wurden. Ich versuche, den wuchtigen Deckel anzuheben, aber er lässt sich nicht bewegen. Die Truhe ist verschlossen.

»Sie ist immer zugeschlossen«, höre ich hinter mir Johanna Bäumer. Ich schaue mich um. Sie und Grossarth stehen im Türrahmen. Ich überlege, ob es pietätvoll ist, den Schlüssel aus der Plastiktüte zu nehmen und einfach aufzuschließen. »Und den Schlüssel trägt er immer bei sich«, fügt die junge Frau hinzu, während sie noch immer halb im Flur steht, als wage sie es nicht, den Raum zu betreten. Hinter ihr lehnt Grossarth an der Wand, sein Blick geht in die andere Richtung. Hat es noch Zeit, in die Truhe zu schauen? Ich frage mich, woher mein Interesse kommt, jetzt gerade diese Truhe in Augenschein zu nehmen. Vielleicht weil das Zimmer so einen kühlen, aufgeräumten, geradezu cleanen Eindruck macht und nur diese riesige Kiste einen Hinweis beinhalten könnte.

»Wissen Sie, was Herr Lelek in der Truhe aufbewahrt?«, frage ich die beiden.

»Seine Puppen, sein Heiligtum. Da darf niemand ran. Keiner«, erwidert Johanna Bäumer.

Ich versuche mir vorzustellen, wie diese Puppen aussehen mögen, verwerfe aber den Gedanken, sofort nachzusehen. »Also gut«, sage ich, »dann fangen wir mal ganz von vorne an. Ich brauche alle Namen der Menschen, die mit Jakub Lelek enger in Beziehung standen. Und ich brauche vor allem Informationen über Zusammenhänge … also, mit wem hatte er Streit, mit wem gab es Konflikte, hatte Lelek Schulden, was ist mit Ihnen, Frau Bäumer, entschuldigen Sie, dass ich das frage, aber gab es einen Rivalen? Oder hat ihm jemand gedroht? Gab es eine offene Rechnung, eine Feindschaft?«

Grossarth und Bäumer schweigen. Ich setze mich auf die Truhe. Ziehe mein Notizbuch aus der Tasche, hake nach: »Fühlen Sie sich in der Lage, mir auf meine Fragen zu antworten?«

Johanna Bäumer tritt nun doch einen Schritt in das Zimmer. Niklas Grossarth schaut mich an. »Es ist eh alles sinnlos«, sagt er, »alles sinnlos. Nichts macht Jakub wieder lebendig. Er ist tot, und wir reden hier herum, als könnten wir die Zeit zurückdrehen. Wenn ich das könnte, ich würde alles dafür geben, verstehen Sie! Ich würde Jakub keinen Augenblick aus den Augen lassen, würde ihm sagen, dass er sich verstecken, dass er sich verkriechen soll. Aber … es geht nicht.« Er atmet tief ein und lässt sich dann mit dem Rücken am Türpfosten hinuntergleiten. »Jakub hat sich mit vielen angelegt. Der war nicht einfach. Streit war etwas, das zu ihm gehörte wie das Puppenspiel. Und doch war er sehr beliebt, nein, nicht beliebt, er war anerkannt, alle achteten ihn, viele wollten sein Freund sein, aber er wählte sehr genau aus, wer in seiner Nähe sein durfte und wer nicht. Und es durften nicht viele. Und wer bei ihm in Ungnade fiel, verlor das Privileg, von ihm beachtet zu werden. So war Jakub. Deshalb ist es schwer, irgendwelche Namen zu nennen. Zumal es ja um jemanden gehen muss, der ihn so sehr hasst, dass er ihn ermordet. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht!« Niklas Grossarth schüttelt noch einmal den Kopf.

»Ich verstehe«, sage ich, um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, »aber es muss sein. Wir fangen mit den Wohnheimbewohnern an. Zu wem unterhielt Jakub Lelek engere Beziehungen?«

Johanna nennt ein paar Namen. Ich notiere sie. Stefan Große, Sybille Brachmann, Heide Betting, Matthias Krüger. Alle wohnen auf dieser Etage. Dann noch drei, vier weitere, die auf unterschiedlichen Stockwerken leben. Hier gibt es einige hundert Mieter, sagt sie, aber man kennt nur wenige. Es sei nicht unbedingt das große Glück, in solch einem Hochhaus zu wohnen, fügt sie hinzu, aber die Studentenbuden sind knapp, und hier bekommt man ein Zimmer noch für gut hundertfünfzig. Draußen legt man schnell das Doppelte hin.

Ich habe das Gefühl, dass meine Fragerei jetzt nichts bringt. Offenbar können die beiden derzeit keine Zusammenhänge zwischen der Tat und irgendwelchen Konflikten herstellen. Sie sehen müde aus und blass und völlig fertig. Ich verabschiede mich von ihnen, sage, dass ich mich im Laufe des Tages bei ihnen melden werde, und schicke sie nach Hause. Auf ihre Zimmer in diesem Wohnklotz. Ich werde die Polizeipsychologen bitten, sich um die jungen Leute zu kümmern.

Ich stehe auf und gehe zum Fenster hinüber. Ich schaue auf den Franz-Mehring-Platz hinunter. Der Werktagsverkehr hat schon begonnen. Wenn ich den Blick nach rechts wende, sehe ich ein Kaufhaus und den Ostbahnhof. Die Züge, die von hier fahren, sind weniger geworden, seit der Hauptbahnhof auch die Nord-Südtrasse bedient. Der Bahnhof ist eigentlich zu groß, ein Überbleibsel aus den Zeiten vor ’89, wie auch das Kaufhaus oder das Gebäude direkt gegenüber. Diese Zeitung, die heute kaum noch Bedeutung hat.

Ich kann nicht sagen, was mich drängt, in die Truhe zu schauen. Ich erwarte weder eine Spur noch irgendeinen Hinweis, der etwas mit dem Tod des Besitzers zu tun hat. Vielleicht erhoffe ich mir, etwas über den Toten selbst zu erfahren.

Der Schlüssel passt ohne Probleme ins Schloss. Dennoch ist er schwer zu bewegen, es muss sich um eine massive, schlecht gewartete Schließmechanik handeln. Mit einigem Kraftaufwand gelingt es jedoch, den Mechanismus zu betätigen. Ein lautes Knirschen, dann ein harter, metallener Ton. Das Schloss ist geöffnet. Ich hebe den schweren Deckel hoch und erschrecke. Aus der Truhe schauen mich drei Augenpaare an. Klar und leuchtend und angespannt. Und diese Augen sitzen in Gesichtern wie einem Traum entstiegen. Kantige, aggressive Gesichter, weiß und rosa, umrahmt von schwarzem, lockigem Haar. Gesichter von Puppen. Hölzerne Köpfe mit starrendem Blick. Aber wie können diese Augen so viel Energie ausstrahlen? Woher nehmen sie die Kraft, in mir das Gefühl auszulösen, dass da wirklich drei Wesen sind, die mich anstarren? Wie ist es möglich, dass ich den Eindruck habe, sie könnten aufspringen, heraussteigen aus der Truhe, sich mir nähern, mir etwas antun?

Vorsichtig greife ich hinein, berühre eine Puppe. Fühle den kühlen, derben Stoff. Ich nehme sie vorsichtig auf. Es ist eine Marionette. Die Fäden sind geradezu kunstvoll um einen dunkelbraunen Holzstab gewickelt. Unter der Puppe liegt eine weitere, nur teilweise verdeckt von hellem Seidenstoff. Ich schiebe den Stoff mit der freien Hand beiseite und erschrecke erneut. Ein ausgesprochen hässliches Frauengesicht. Und auch dieses Gesicht starrt mich an, als hätte ich es eben zum Leben erweckt.

Vorsichtig lege ich die Marionette zurück und schließe sorgsam den Deckel. Ich frage mich, wie die Persönlichkeit eines Menschen beschaffen sein mag, der solche Puppen besitzt, der mit ihnen Stücke aufführt, mit ihnen lebt. Sind diese Puppen so etwas wie eine Geige für einen Musiker, wie eine Gitarre, ein Schlagzeug? Ein Instrument, ein Werkzeug? Oder haben sie für ihren Besitzer eine Seele? Ein Eigenleben?

Mein Blick fällt auf das Fenster. Draußen wird es langsam hell. Ich reiße mich los von der Truhe und wische mir mit den Händen über das Gesicht. Was soll das mit diesen Puppen. Vielleicht ist der Mörder dieses Jakub Lelek noch in diesem Haus. Was, wenn man ihn eben doch überrascht hat? Wenn er nicht hinausgelangen konnte, warum auch immer. Außerdem muss geklärt werden, ob jemand etwas Verdächtiges bemerkt hat.

Ich fahre mit dem Aufzug nach unten. Ein Kollege in Uniform berichtet mir, dass sich soeben einer der Verwalter des Heims eingefunden habe. Er sei in seinem Büro. Und die ersten Bewohner, die das Haus verlassen, habe man in eine Art Cafeteria geschickt. Die jungen Leute hätten sich ziemlich unkooperativ gezeigt, weil sie irgendwelche Jobs neben dem Studium hätten und los müssten.

Ich rufe in der Dienststelle an. Ich kann den ganzen Laden hier unmöglich alleine schmeißen. Aber noch bevor ich jemanden erreiche, taucht plötzlich mein Kollege Franz auf. Franz sieht mal wieder völlig übernächtigt aus. Kein Wunder, er ist vor drei Monaten Vater geworden und hat, wie er sagt, ein sehr unruhiges Baby. Angeblich schreit es jede Nacht und er trägt es dann in der Wohnung herum. Das muss so sein, erklärt er gern und ausführlich. Er hat sich breit belesen und weiß alles, was die prägeburtliche Phase, die Geburt und die postgeburtliche Phase anbetrifft. So redet er, er strengt sich dabei nicht einmal an. Er ist überzeugt davon, dass man so reden muss, wenn es um Kinder geht. Keine Ahnung, warum. Jedenfalls meint er, dass dieses Herumtragen und leichte Schuckeln damit zu tun hat, dass das Kind im Mutterleib ja auch herumgetragen und geschuckelt wurde. Jedenfalls tagsüber. Das leuchtet sogar mir ein. Obwohl mir Franz’ Gerede über sein Kind und vor allem über sich als Vater bisweilen auf die Nerven geht. Andererseits kann ich auch verstehen, dass er so viel redet. Seine Frau hatte zuvor eine Fehlgeburt, und das hatte ihn sehr betroffen gemacht. Damals konnte er nicht reden. Da hat er geschwiegen und das war viel schlimmer. Jetzt jedenfalls bin ich froh, dass er hier ist.

Franz erklärt sich sofort bereit, die Befragung der Bewohner des Hauses zu übernehmen. Ich sage ihm, dass er gern damit beginnen kann, aber es werden schnell immer mehr Personen sein, die das Haus verlassen wollen, vielleicht hundert oder mehr. Noch wissen wir ja nicht einmal, wie viele Leute hier wohnen beziehungsweise hier übernachtet haben. Vielleicht ist es doch sinnvoller, wenn wir Kollegen an die Ausgänge stellen, die die Studenten einfach befragen, ob sie irgendetwas Besonderes bemerkt haben am Abend oder in der Nacht. Und sie sollen natürlich die Personalien aufnehmen, damit wir wissen, wer wirklich im Haus gewesen ist. Kollegen von der Hundestaffel müssen angefordert werden und versuchen, von der Küche aus eine Spur aufzunehmen und zu verfolgen.

Wir rufen die Kollegen zusammen und teilen uns auf. Vier Kollegen werden von Tür zu Tür gehen und die Bewohner befragen. Als Erstes die auf der gleichen Etage und die, die mir Johanna Bäumer genannt hat. Die anderen sollen sich am Eingang postieren. Die Beamten machen sich auf den Weg. Ich telefoniere und fordere einen Kollegen mit seinem Hund an. Er verspricht mir, in spätestens dreißig Minuten da zu sein.

Er trifft nach nicht mal einer Viertelstunde ein. Ich kenne den Mann, er heißt Hagen, Benno Hagen. Ein drahtiger, großer Enddreißiger mit seinem Schäferhund Betty. Betty ist ein ausgezeichneter Spürhund und hat uns schon mehrfach gute Dienste erwiesen.

Wir fahren mit dem Aufzug hoch in die achte Etage. Ich führe den Kollegen mit seinem Hund in die Küche. Erkläre ihm die Umstände. Hagen nickt. »Das ist kompliziert«, sagt er, »Gemeinschaftsräume, tausend Spuren, tausend Gerüche. Aber lass es uns probieren.«

Betty, die Schäferhündin, läuft unruhig hierhin und dorthin. Sie verlässt den Raum. Eilt zur Tür des Zimmers von Grossarth. Bleibt witternd vor einem weiteren Raum stehen. Dem des Toten. Läuft zurück und wieder zum Fahrstuhl. Dann ins Treppenhaus. Und plötzlich schlägt sie an. Sie steht vor einer schmalen Tür, die ich bislang nicht beachtet hatte. Ich schaue zu Hagen hinüber. Der zuckt mit den Schultern, was so viel heißt, wie dass er sich nicht erklären kann, um was es geht. Ich drücke die Klinke herunter. Die Tür geht auf.

Der Raum dahinter ist eine Art Abstellkammer: Reinigungsutensilien, Pappkartons, hohe Stapel Zeitschriften und Ordner, ein Staubsauger auf vielleicht zwei oder drei Quadratmetern Fläche. Kein Fenster. Es riecht nach Staub und muffigem Papier. Aber auch nach Schweiß. Nach kaltem, abgestandenem Schweiß. Der Hund betritt witternd den kleinen Raum. Kehrt dann aber wieder um und setzt sich artig vor sein Herrchen, so als würde er sagen wollen, dass er seinen Job gemacht hat.

Hat sich der, haben sich die Täter möglicherweise hier versteckt gehalten und auf ihr Opfer gewartet? Oder aber sich hier nach ihrer Tat verborgen vor jemandem, der die Wohnung betreten hat, also vor dem Freund von Jakub Lelek? Auf jeden Fall muss die Spurensicherung noch einmal her. Gut möglich, dass es sich bei dem Täter um jemanden handelt, der nicht zu den Bewohnern des Hauses gehört. Wozu hätte er sich sonst hier auf die Lauer legen müssen?

Hagen zuckt wieder mit den Schultern. »Tut mir leid, mehr können wir wahrscheinlich nicht machen. Es wäre was anderes, wenn wir irgendeinen persönlichen Gegenstand des Täters hätten, logisch, dann könnten wir seinen Weg wahrscheinlich ganz direkt verfolgen. Aber so …«

Als Hagen wieder geht, trifft der Polizeipsychologe ein. Ein junger Mann, der sich als Frank Anders vorstellt. Er fragt, um wen er sich kümmern soll, und hört mir ruhig zu. Erklärt mir, dass sie eigentlich zu zweit arbeiten, aber die Kollegin sei kurzfristig krank geworden. Er will sich der Sache natürlich dennoch annehmen, man könne Betroffene eines Gewaltverbrechens ja nicht hängen lassen. Der Satz macht irgendwie Eindruck auf mich. Ich habe schon oft mit Psychologen zu tun gehabt und meist strahlten sie für mich eine ziemliche Überheblichkeit aus. Dieser hier aber vermittelt eher etwas von Ruhe und Sorge, vielleicht sogar von solidarischer Haltung. Wir verabreden, dass er mir Bescheid geben wird, wenn die beiden in der Verfassung sind, dass mit ihnen ein intensives Gespräch mit verwertbaren Angaben geführt werden kann. Ich begleite ihn zum Zimmer von Niklas Grossarth, in dem die beiden eng beieinander sitzen. Sage ihnen, dass es besser ist, den Beistand des Kollegen anzunehmen. Bäumer und Grossarth nicken wortlos.

Ich gehe noch einmal in das Zimmer des Toten und ziehe meinen Fotoapparat aus der Tasche. Ich habe mir angewöhnt, Fotos zu machen von den Orten, die etwas mit der Tat zu tun haben. Aber noch bevor ich das Objektiv mit dem eingestellten Weitwinkel auf den Raum richte, habe ich das Gefühl, dass sich etwas in diesem Zimmer verändert hat. Irgendetwas, das ich nicht genau zuordnen kann. Ich fotografiere und ärgere mich, dass ich das nicht schon gemacht habe, als ich das Zimmer das erste Mal betreten habe. Dann hätte ich die Fotos miteinander vergleichen können. So bleibt mir nur, mich so genau wie möglich zu erinnern. Und dann sehe ich es: Aus der Truhe ragt ein Zipfel Stoff. Stoff von einer der Puppen. War ich so unachtsam, als ich die Truhe geschlossen habe?

Unten erwartet mich Franz mit einer Neuigkeit. Mehrere Bewohner haben ausgesagt, dass es seit einiger Zeit Einbrüche im Wohnheim gibt. Zimmer wurden aufgebrochen, Geldbeträge und technische Geräte sind verschwunden. Mit einer Personenbeschreibung halten sich alle zurück. Es seien immer mal Leute im Haus, die man nicht kenne, und wenn man dann frage, sind sie eben doch der Freund von dem und die Freundin von der. Aber dass es einen oder mehrere junge Männer gibt, die hier durch die Etagen geistern, das scheint klar zu sein. Vor allem in den späten Abendstunden, wenn viele Studenten unterwegs sind.

»Es wäre also denkbar«, sage ich zu Franz, »dass dieser Mann oder mehrere Männer am späten Abend auch in dem Zimmer des Toten waren. Lelek hat sie überrascht und sich ihnen in den Weg gestellt. Die Täter stachen zu.«

»Bleibt die Frage, weshalb sich dieser Lelek so in Gefahr gebracht haben soll.«

Die Puppen fallen mir ein. Diese Gesichter, die starr auf mich gerichteten Blicke. Ging es um die Puppen? Hatte Lelek Angst, dass man die Puppen stehlen könnte? Aber warum sollten es die Täter ausgerechnet auf die Puppen abgesehen haben?

Inzwischen sind auch die Kollegen zurück, die die unmittelbaren Nachbarn des Toten befragt haben.

»Matthias Krüger«, sagt ein Polizist, »ist angeblich schon seit vierzehn Tagen nicht mehr in seinem Zimmer aufgetaucht.«

»Heide Betting und Sybille Brachmann«, erklärt ein zweiter, »haben nichts bemerkt. Kein Geschrei, keinerlei Hinweise. Über Jakub Lelek sagen sie, dass er ein netter Kerl war. Aufgeschlossen, munter, klug. Aber sie sagen auch, dass sie keine engeren Beziehungen zu ihm hatten. Hier im Wohnheim treffe man sich halt ab und zu und gehe dann wieder auseinander.«

»Stefan Große sagt, er habe geschlafen, weil er am Abend in einem Restaurant jobbe und nicht vor zwölf nach Hause komme.«

»Welches Zimmer hat dieser Große?«, frage ich, denn immerhin kommt zwölf Uhr ja der Tatzeit nahe.

»Er wohnt eine Etage tiefer, aber in einer anderen Ecke, hinten links.«

»Nehmen Sie sich Stefan Große noch einmal vor. Vielleicht kann er sich an Personen vor dem Wohnheim oder an irgendwelche anderen Details erinnern. Sollte dabei etwas herauskommen, teilen Sie mir das bitte mit.«

Als ich vor den beiden Hochhäusern stehe, ist es heller Tag. Die Straße ist voller Fahrzeuge. Menschen eilen an mir vorbei. Ich sehe mich noch einmal um. Schaue die hohe Fassade hinauf. Zähle die Etagen, bis ich in der achten angekommen bin. Ich versuche herauszufinden, welches der Fenster zur Küche gehört und welches zum Zimmer von Jakub Lelek. Und während ich schaue, habe ich plötzlich den Eindruck, als wäre da oben jemand an genau diesem Fenster. Aber wer soll das sein? Einen Augenblick lang überlege ich, ob ich meine Kamera herausholen und das Fenster heranzoomen soll. Unsinn. Ich bin einfach nur müde. Da oben sind nichts als dunkle Fenster. Und hinter einem ist heute Nacht ein Verbrechen geschehen.

III.

Die Hitze lässt mich aufwachen. Ich liege in Jeans und Pullover unter der Bettdecke und das Tageslicht dringt schwach durch die Ritzen zwischen den Lamellen der Jalousie. Der Schlaf war kurz und tief. Ein zweistündiges Gedankenloch und mit einem Wimpernschlag ist alles zurück: die Scham, die Verzweiflung, die Angst.

Das ist nicht das Übliche: Kopfschmerzen und die Frage, was man in der Nacht zuvor erzählt und getan hat. Zweifel über den Eindruck, den man hinterlassen hat. Es gibt keine Zweifel mehr. Er ist tot und wird nie wieder lebendig sein. Sie werden dich jahrelang in eine Gefängniszelle sperren, denke ich, und du wirst das nicht ertragen können. Du musst eine Lösung finden. Du musst irgendetwas tun. Ich denke angestrengt nach, aber ich weiß nicht, was ich machen soll. Die Unruhe wird größer. Ich muss raus auf die Straße.

Draußen renne ich los und versuche weiter nachzudenken. Ich laufe den Gedanken eine halbe Stunde hinterher, bis ich wieder durch die vertrauten Straßenzüge meiner Kindheit gehe. Aber auch hier finde ich keine Lösung. Bevor du dich stellst, kannst du dich gleich umbringen, denke ich. Da gibt es einfachere Arten als die Variante des Brückensturzes. Ich laufe durch die Rotherstraße auf den Rudolfplatz zu. Natürlich wäre es gut, zu den anderen zu gehen, aber je näher ich der Lehnbachstraße komme, desto näher rückt auch die Erinnerung an den vergangenen Abend an mich heran: das Wortgefecht, die Aggression in seiner Stimme, die Wucht der Messerhiebe, das Blut. Mir wird übel, als ich nur an der Lehnbachstraße vorbeigehe. Es ist unmöglich, in die Straße einzubiegen. An der Ecke laufe ich an dem kleinen Lebensmittelladen gegenüber vom Royal vorbei, wo sich die Jungs manchmal Cheeseburger holen, aber beim Gedanken an Essen dreht sich mir der Magen um. Ich habe noch gar nichts essen können. Ein Kaffee, ein paar Schlucke aus dem Wasserhahn, mehr war heute nicht drin. Ich will Mirco auf keinen Fall zufällig begegnen. Auch meinen Eltern nicht, aber da besteht keine Gefahr, obwohl sie gleich um die Ecke wohnen. Mama sitzt um diese Zeit an der Kasse bei Netto, von jetzt an noch weitere hundertfünfundneunzig Minuten. Und Papa kriegt seinen Arsch sowieso nicht aus dem Sessel hoch. Muss er ja auch nicht, weil Mama ihm alles ranschafft, was er braucht.

Auf der matschigen Wiese spielen Kinder Fußball. Ich überquere den Platz. Gegenüber in der Freizeiteinrichtung Nische kreischen kleine Mädchen um die Wette. Als ich merke, dass ich doch wieder auf die Lehnbachstraße zu laufe, bleibe ich stehen. Ich frage mich, wozu es gut sein soll, jetzt in diese Wohnung zu gehen. Was willst du überhaupt mit Mirco besprechen? Geht es nur darum, dein Gewissen zu entlasten? Das wird nicht funktionieren. Und sonst? Welchen Sinn macht es, jetzt zu ihm zu gehen? Was soll schon dabei rauskommen? Mein Blick schweift die Danneckerstraße