Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch

Die meisten vergessen ihre Kindheit wie einen Schirm und lassen

sie irgendwo in der Vergangenheit stehen.

Die vier archimedischen Punkte

 

Dass wir wieder werden wie die Kinder, ist eine unerfüllbare und bleibt eine ideale Forderung. Aber wir können zu verhüten suchen, dass die Kinder werden wie wir.

Resignation ist kein Gesichtspunkt

Was befähigt einen guten Schriftsteller, auch ein guter Kinderbuchautor zu sein? Diese Frage hat Erich Kästner immer wieder beschäftigt, und daher stellte er sie auch, bei einer Begegnung in Zürich im Jahre 1953, seinen beiden Kolleginnen Astrid Lindgren und Pamela Travers, Verfasserin der Mary-Poppins-Bände. Einmütig befanden die drei: Täglicher Kontakt mit Kindern spiele zwar eine Rolle, entscheidend für den guten Kinderbuchautor sei jedoch, dass er »in unzerstörtem und unzerstörbarem Kontakt mit seiner eigenen Kindheit« stehe. Eine ihnen selbstverständliche, seltene Personalunion und ein Geschenk, mit dem das Geschick sichtlich sparsam umging. Nur die wahrhafte lebendige Erinnerung an die eigene Kindheit, so Kästner, befähigt den Kinderbuchautor dazu, wirklich für Kinder zu schreiben »und nicht für minderjährige Erwachsene«.

Wohl auch darum hat Kästner in seinen Romanen und Geschichten für Kinder so oft auf eigene Kindheitserlebnisse zurückgegriffen, sie vielfach variiert, in immer veränderten Kontext gestellt. Darum auch werden viele der hier erstmals wieder nachgedruckten Texte dem Leser vertraut vorkommen. Krieg in der Hechtstraße und Das Fräulein am Reck werden ihn an Das fliegende Klassenzimmer erinnern, die bezaubernde Geschichte Der vergessliche Christoph an Pünktchen und Anton, und bei Die sieben Sachen werden ihm die entsprechenden Episoden aus Als ich ein kleiner Junge war oder Mama bringt die Wäsche einfallen.

Wie gut Kästner sich in Kinder einfühlen konnte, zeigen Geschichten wie Zwei Mütter und ein Kind – ein kleines Mädchen und ihre Stiefmutter finden zueinander – oder Ein kleiner Junge unterwegs, in der ein Junge heimlich seine schwerkranke Mutter besucht. Dem zeitkritischen Kästner begegnen wir in der beklemmenden Ballade vom Nachahmungstrieb, den Überlegungen Zur Entstehungsgeschichte des Lehrers oder der mitfühlenden Beobachtung in Der missglückte Milliardär. Als unverändert aktuell erweist sich sein Bericht Ein Kinderdorf entsteht.

Ein anderes, für Kästner ganz zentrales Engagement wird sichtbar in Die Musen als Erzieher. Da geht es um eine – vermutlich von ihm selbst beratene – Theatergruppe von Jugendlichen an der Internationalen Jugendbibliothek. Kästner nimmt den überbordenden Spieltrieb der Kinder wieder einmal zum Anlass, eindringlich darauf hinzuweisen, wie elementar wichtig Rollenspiele aller Art, sei es in der Familie, unter Freunden oder auf der Bühne, für die Persönlichkeitsbildung von Kindern sind. »Turnen und Sport dienen dem Körper. Der Unterricht pflegt den Verstand und bereichert das Wissen. Wie aber und wann bildet man den Trieb zur Anmut, die Launen der Phantasie und die musische Neigung?« Dem Spieltrieb müssten die notwendigen Entfaltungsmöglichkeiten gegeben werden, damit Kinder wie Jugendliche sich harmonisch entwickeln können. Denn einzig dem durch die musische Erziehung geförderten Spieltrieb »verdankt die Menschheit das Gedicht, das Drama, das Bild, die Statue, das Lied, die Symphonie und den Tanz«. So Kästners Resümee in seinem leidenschaftlichen Aufruf Schafft ständige Kindertheater!.

Dass das Rollenspiel zu seinen eigenen kindlichen Vergnügungen zählte, dürfen wir daraus schließen, dass er in seine frühen Gedichtbände immerhin fünf »renovierte« alte Kinderspiele aufnahm, von denen zwei hier abgedruckt sind: Der Doktor kommt und Pädagogik spaßeshalber. In seinem Premierenbericht für Klaus und Kläre packt Kästner dann die Gelegenheit beim Schopf, andere Kinder, hier die kindlichen Leser von Emil und die Detektive, für das Theater und das Theaterspielen zu begeistern. Folgerichtig für einen wie ihn, der von sich sagt: »Meine Liebe zum Theater war die Liebe auf den ersten Blick, und sie wird meine Liebe bis zum letzten Blick bleiben.«

Phantastisches, Übertreibungen, Slapstick, Zauberei – all das ist dem Theater nicht unverwandt und ist zugleich fester Bestandteil der kindlichen Welt. Wer Spaß an solcherlei Texten hat, findet hier Gedichte wie Die Sache mit den Klößen oder Arthur mit dem langen Arm, bekannte Geschichten wie Das Schwein beim Friseur und Der neugierige Friedrich und auch weniger bekannte wie Peter oder Kindernovelle, die beide schon Elemente aus Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee vorwegnehmen.

 

In Kästners Texten spürt man das tiefe Verständnis für Kinder, seine innere Nähe und seine Zuneigung zu ihnen. Und doch hat man ihm immer wieder, irgendwie verwundert, vorgeworfen, er könne mit Kindern nichts anfangen. Stimmt das so? Man sollte bedenken: Kästner war niemand, der spontan auf andere Menschen zuging, er war immer der stille Beobachter, der aufmerksame Zuhörer. Er taute erst auf, reagierte lebhafter nur dann, wenn er mit vertrauten Personen umging. Warum hätte er sich Kindern gegenüber anders verhalten sollen? Dazu respektierte er sie viel zu sehr als eigenständige Persönlichkeiten. Ihm unbekannten Kindern gegenüber war er befangen; irgendein Gespräch mit ihnen anzufangen hätte er vermutlich als Anbiederung und Aufdringlichkeit empfunden. Zu den Kindern aber, die ihn nicht nur als den berühmten Autor, sondern auch als Menschen wahrnahmen, entwickelte er eine enge und herzliche Beziehung – man denke an Franz, den Sohn seiner Cousine Dora, oder an Hans-Albrecht Löhr, der einer seiner ersten begeisterten Leser war und auf der Bühne wie im Film den kleinen Dienstag verkörperte.

 

So ist dieser Band wieder einmal zu einem jener kästnertypischen »Gebinde aus Gänseblümchen, Orchideen, sauren Gurken, Schwertlilien, Makkaroni, Schnürsenkeln und Bleistiften« geraten. Den Leser wird es hoffentlich gut unterhalten.

 

München, Sommer 2016    Sylvia List

Kleine Epistel

Wie war die Welt noch imposant,

als ich ein kleiner Junge war!

Da reichte einem das Gras

bis zur Nase,

falls man im Grase

stand!

 

Geschätzte Leser –

das waren noch Gräser!

Die Stühle war’n höher,

die Straßen breiter,

der Donner war lauter,

der Himmel weiter,

die Bäume war’n größer,

die Lehrer gescheiter!

Und noch ein Pfund Butter,

liebe Leute,

war drei- bis viermal schwerer

als heute!

Kein Mensch wird’s bestreiten –

das waren noch Zeiten!

 

Wie dem auch sei,

vorbei ist vorbei.

Nichts blieb beim alten.

Man wuchs ein bisschen.

Nichts ließ sich halten.

Der Strom ward zum Flüsschen,

der Riese zum Zwerg,

zum Hügel der Berg.

Die Tische und Stühle,

die Straßen und Räume,

das Gras und die Bäume,

die großen Gefühle,

die Lehrer, die Träume,

dein Wille und meiner,

der Mond und das übrige

Sternengewölbe –

alles ward kleiner,

nichts blieb dasselbe.

 

Man sah’s. Man ertrug’s.

Bloß weil man später

ein paar Zentimeter

wuchs.

Der vergessliche Christoph

Christoph kam aus der Schule und merkte gleich, dass die Mutter schlechter Laune war. Er erzählte ihr, wie schwierig das Diktat über ei und ai gewesen wäre und dass Naumanns Richard schon wieder kein Taschentuch mitgehabt habe – aber sie sagte nur »Hm« und »Soso«. Nach dem Essen ging sie einholen, und er setzte sich über die Schularbeiten. Doch es war wie verhext: Er brachte nichts zustande. Er malte kleine Häuser und komische Pferde aufs Löschblatt, anstatt zu rechnen, und rutschte unruhig hin und her. Er hatte Angst und wusste nicht, wovor.

Dann kam die Mutter zurück. Sie brachte Blumen mit, stellte sie in die blaue bauchige Vase und trat ans Fenster. Christoph folgte ihr besorgt mit den Blicken und sah, dass ihr plötzlich eine Träne über die Wangen lief. Er rannte zu ihr hin, packte sie am Arm, wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus und fühlte, dass er auch gleich weinen würde, wenn sie nicht endlich spräche.

Da sagte sie, ohne ihn anzusehen: »Welchen Tag haben wir heute?« – »Den neunten April.«

Aber noch während er das Datum aufsagte, wurde ihm unheimlich zumute. Er griff sich an den Mund, hatte ganz verzweifelte Augen und stürzte jammernd aus dem Zimmer, hinüber in seine Kammer, wo er sich über das Bett warf und weinte.

Nun wollt ihr natürlich wissen, warum Christoph weinte und warum seine Mutter traurig am Fenster stand. Was war mit dem neunten April los? Und warum hatte sie ihn so betrübt danach gefragt?

Die Mutter hatte Geburtstag. Und Christoph hatte ihn vergessen. Sie konnte es kaum glauben. Da ging sie ins Blumengeschäft, kaufte einen Strauß und trug ihn nach Hause, als wäre er für ein Begräbnis.

Nun stand sie am Fenster, dachte an die entsetzten Augen ihres Jungen, den sie doch so liebte, und hatte längst vergessen, dass er sie gekränkt hatte. Sie fühlte nur großes Mitleid mit ihm und ging leise bis vor seine Kammertür. Sie hörte ihn schluchzen und seufzen. Als sie endlich die Tür öffnete und auf den Zehenspitzen bis an sein Bett ging, sah sie, dass er schlief. Sein rotgeweintes Gesicht war ernst und sehr erstaunt. Er träumte.

Er träumte: Er nahm die fünfzig Pfennige, die er gespart hatte, rannte die Treppe hinunter, aus dem Hause, die Straße hinauf, ins Blumengeschäft. »Einen Veilchenstrauß, aber er muss duften!«, sagte er. Da drehte sich die Verkäuferin um – es war seine Mutter. Sie sah ihn vorwurfsvoll an und hatte Tränen in den Augen.

Da lief er ins Schokoladengeschäft. »Ein Viertelpfund Pralinés!«, sagte er. Die Verkäuferin schüttelte den Kopf und sagte: »Aber Christel, ich ess doch gar keine Pralinés. Hast du das auch vergessen?« Es war wieder seine Mutter, und er rannte wieder auf und davon. Im Töpfereigeschäft, wo er eine kleine Vase kaufen wollte, stand die Mutter und weinte. In der Konditorei stand sie. In der Obsthandlung stand sie. Er rannte von einem Geschäft ins andere, aber überall war die Mutter und weinte.

Plötzlich sah er, dass sein Haus keine Wände mehr hatte. Er konnte in alle Zimmer schauen, auch ins Wohnzimmer, wo die Mutter stand. Die Mutter kam langsam auf den Rand des Zimmers zu, dem Abgrund näher und näher. Noch einen Schritt – und sie würde hinunterstürzen …

Da schrie Christoph ganz laut: »Mutter!«, und breitete die Arme aus, als wolle er sie auffangen.

Dabei wachte er auf. Denn die Mutter hatte ihn in die Arme genommen, weil er so laut schrie, und presste ihn eng an sich. Er sah ihr ängstlich ins Gesicht und merkte, dass sie ihn anlächelte.

»Ich hab dich doch so lieb!«, sagte er.

Sie gab ihm einen Kuss und flüsterte: »Ich weiß es ja, mein Junge!«

Der kleine Erich und seine Freunde

Der Weg zum Heller, wo wir im Sommer spielten, war nicht weit, und doch war es, aus dem Wirrwarr der Straßen heraus, der Weg in eine andere Welt. Wir pflückten Blaubeeren. Das Heidekraut duftete. Die Wipfel der Kiefern bewegten sich lautlos. Der müde Wind trug, aus der Militärbäckerei, den Geruch von frischem, noch warmem Kommissbrot zu uns herüber. Manchmal ratterte der Bummelzug nach Klotzsche über die Gleise. Oder zwei bewaffnete Soldaten brachten einen Trupp verdrossener Häftlinge vom Arbeitskommando ins Militärgefängnis zurück. Sie trugen Drillich, hatten an der Mütze keine Kokarden, und unter ihren Knobelbechern knirschte der Sand.

Wir sahen, wie sie die Bahnüberführung kreuzten und im Gefängnis verschwanden. Manche Zellenfenster waren vergittert, andre mit dunkelbraunem Bretterholz so vernagelt, dass nur von oben ein bisschen Tageslicht in die Zellen sickern konnte. Hinter den verschalten Fenstern, hatten wir gehört, hockten die Schwerverbrecher. Sie sahen die Sonne nicht, die Kiefern nicht und auch uns nicht, die vom Indianerspiel ermüdeten Kinder im blühenden Heidekraut. Aber sie hörten es wie wir, wenn am Bahnwärterhäuschen das Zugsignal läutete. Was mochten sie verbrochen haben? Wir wussten es nicht.

Die Glöckchen der Erikablüten und das Kommissbrot dufteten. Das Zugsignal läutete. Der Bahnwärter, der seine Blumen gegossen hatte, setzte die Dienstmütze auf und erwartete, in strammer Haltung, den nächsten Zug. Der Zug schnaufte vorbei. Wir winkten, bis er in der Kurve verschwand. Dann gingen wir nach Hause. Zurück in unsre Mietskasernen. Die Eltern, die Königsbrücker Straße und das Abendbrot warteten schon.

 

Sonst spielten wir in den Hinterhöfen, turnten an den Teppichstangen und ließen uns, aus den Küchenfenstern, die Vesperbrote herunterwerfen. Es war wie im Märchen, wenn sie, in Papier gewickelt, durch die Luft trudelten und auf dem Hofpflaster aufklatschten. Es war, als fiele Manna vom Himmel, obwohl es Brote mit Leberwurst und Schweineschmalz waren. Ach, wie sie schmeckten! Nie im Leben hab ich etwas Besseres gegessen, nicht im Baur au Lac in Zürich und nicht im Hotel Ritz in London. Und es hülfe wohl auch nichts, wenn ich künftig den Chefkoch bäte, mir die getrüffelte Gänseleberpastete aus dem Fenster auf die Hotelterrasse zu werfen. Denn sogar wenn er es, gegen ein beträchtliches Trinkgeld, täte – Brote mit Schweineschmalz wären es deshalb noch lange nicht.

Bei Regen spielten wir im Hausflur oder, über Fleischer Kießlings Pferdestall, auf dem Futterboden, wo es nach Häcksel, Heu und Kleie roch. Oder wir enterten den Lieferwagen, knallten mit der Peitsche und jagten ratternd und rumpelnd über die Prärie. Oder wir plauderten mit dem stampfenden Pferd im Stall. Manchmal besuchten wir auch Gustavs Vater, den Herrn Fleischermeister, im Schlachthaus, wo er mit dem Gesellen zwischen hölzernen Mulden, Schweinsdärmen und Wurstkesseln hantierte. Wir bevorzugten die Freitage. Da wurde frische Blut- und Leberwurst gekocht, gerührt und abgefasst, und wir durften sachverständig kosten. Unser Sachverständnis war über jeden Zweifel erhaben. Auch auf dem Spezialgebiet »Warme Knoblauchwurst«.

Noch jetzt, an meiner Schreibmaschine, läuft mir das Wasser im Munde zusammen. Aber das hilft mir nichts. Es gibt keine warme Knoblauchwurst mehr. Sie ist ausgestorben. Auch in Sachsen. Vielleicht haben sich die Fleischermeister meiner Kindheit mit dem Rezept im Bratenrock begraben lassen? Das wäre ein schwerer Verlust für die Kulturwelt.

 

Eine Zeitlang frönte ich dem Billardspiel. Der Vater eines Schulkameraden hatte, in der Nähe des Johannstädter Ufers, eine Gastwirtschaft. Nachmittags war sie leer, der Vater machte oben in der Wohnung sein Schläfchen, und nur die Kellnerin passte auf, ob womöglich doch ein verirrter und durstiger Wanderer einträte. Sie spülte hinter der Theke Gläser, machte uns Zuckerbier oder einfaches Bier mit Himbeersaft zurecht, stiftete jedem von uns beiden einen langen Holzlöffel zum Umrühren, und dann zogen wir uns dezent ins Vereinszimmer zurück. Hier stand ein Billard!

Wir hängten unsre Jacken über Stühle, denn die Haken am Garderobenständer waren für uns zu hoch. Wir suchten uns an der Wand die kleinsten Billardstöcke aus und stellten uns beim Einkreiden auf die Zehenspitzen. Denn die Queues waren zu lang, und zu dick und zu schwer waren sie außerdem. Es war ein mühsames Geschäft. Das Billard war zu hoch und zu breit. Die Elfenbeinkugeln kamen nicht richtig in Fahrt. Bei raffinierten Effetstößen lagen wir mit dem Bauch auf dem Brett, und unsre Beine zappelten in der Luft. Wer das Resultat auf die Schiefertafel schreiben wollte, musste auf einen Stuhl steigen. Wir quälten uns wie Gulliver im Lande der Riesen ab, und eigentlich hätten wir über uns lachen sollen. Doch wir lachten keineswegs, sondern benahmen und bewegten uns ernst und gemessen, wie erwachsene Männer beim Turnier um die Mitteldeutsche Billardmeisterschaft. Dieser Ernst machte uns sehr viel Spaß.

Bis wir eines Tages ein Loch in das grüne Tuch stießen! Ich weiß nicht mehr, wer der Pechvogel war, ob er oder ich, doch dass ein großer dreieckiger Riss in dem kostbaren Tuche klaffte, das weiß ich noch. Ich schlich zerknirscht von dannen. Der Schulfreund erhielt, noch am gleichen Abend, von kundiger Vaterhand die erwarteten Prügel. Und mit unseren Billardturnieren samt Zuckerbier war es für alle Zeit vorbei. Den Namen der Gastwirtschaft und der Straße, sogar den des Schulfreundes hab ich vergessen. Er ist durch das große, grobe Sieb gefallen. Wohin? Ins Leere, das leer bleibt, so viel auch hineinfällt? Das Gedächtnis ist ungerecht.

 

Kinder spielen unbändig gerne Theater. Kleine Mädchen legen ihre Puppen trocken und zanken sie aus. Kleine Jungen stülpen sich Aluminiumtöpfe aufs Haupt, senken die Stimme und sind, mit einem Schlage, kühne Ritter und allmächtige Kaiser. Und auch die Erwachsenen verkleiden und verstellen sich gern. Besonders im Februar. Dann kaufen, leihen oder nähen sie sich Kostüme, tanzen als Odalisken, Marsmenschen, Neger, Apachen und Zigeunerinnen durch die Ballsäle und benehmen sich ganz, ganz anders, als sie in Wirklichkeit sind.

Dieses heitere Talent war und ist mir fremd. Ich kann, wie es heißt, nicht aus meiner Haut heraus. Ich kann Figuren erfinden, doch ich mag sie nicht darstellen. Ich liebe das Theaterspielen von Herzen, aber als Zuschauer. Und wenn ich mir zum Karneval, um nur ja niemandem den Spaß zu verderben, einen Bart klebe und als Kaiser Wilhelm mitgehe, stehe und sitze ich wie ein Ölgötze im Saal herum und spiele nicht mit, sondern schaue zu. Bin ich zu schüchtern? Bin ich zu nüchtern? Ich weiß es nicht genau.

Nun, es muss auch Zuschauer geben! Wenn niemand im Parkett säße, brauchten die Schauspieler ihre Perücken und Kronen gar nicht erst aufzusetzen. Sie müssten ihre Schminkschatullen ins Leihhaus tragen und einen Beruf ergreifen, der ohne Zuschauer auskommt. Ein wahres Glück also, dass es mich und meinesgleichen gibt!

 

Meine Laufbahn als Zuschauer begann sehr früh, und der Zeitpunkt war ein Zufall. Ich war sieben oder acht Jahre alt, als meine Mutter bei Frau Wähner, ihrer Putzmacherin, eine gewisse Frau Gans kennenlernte und sich mit ihr anfreundete. Frau Gans war eine imposante Dame. Sie wirkte, ihrem Namen zum Trotz, eher wie ein Schwan oder ein Pfau, war mit einem Theatermanne befreundet und hatte zwei kleine Töchter. Die ältere war sanft und bildschön, lag meist krank im Bett und starb, sanft und schön, schon als Kind. Die andere Tochter hieß Hilde und war weder schön noch sanft, sondern hatte, stattdessen, ein Temperament wie ein Gala-Riesenfeuerwerk. Dieses wilde Temperament platzte ihr aus allen Nähten, war unbezähmbar und stürmte, wie zwischen zwei hohen Mauern, auf ein einziges Ziel los: aufs Theaterspielen.

Die kleine Hilde Gans spielte Theater, wo sie ging und stand. Sie spielte ohne Publikum. Sie spielte mit Publikum. Und das Publikum bestand, wenn wir in der Kurfürstenstraße zu Besuch waren, aus vier Personen: aus ihrer und meiner Mutter, aus mir und ihrer bettlägerigen Schwester. Die Vorstellung begann damit, dass sie zunächst die Kassiererin spielte und uns Eintrittskarten verkaufte. Sie hockte, im Kopftuch, zwischen dem Schlaf- und Wohnzimmer in der offenen Tür und händigte uns, gegen angemessene Bezahlung, bekritzelte Papierschnitzel aus. Der Erste Platz kostete zwei Pfennige, der Zweite Platz einen Pfennig.

Der Preisunterschied wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen. Denn die Schwester blieb sowieso im Bett, und die restlichen drei Zuschauer hätten es sehr ungeschickt anstellen müssen, wenn sie einander die Aussicht hätten verderben wollen. Aber Ordnung musste sein, und Hilde schickte, als Platzanweiserin, jeden, der nur einen Pfennig gezahlt hatte, unnachsichtig in die zweite Stuhlreihe. Als Platzanweiserin trug sie übrigens kein Kopftuch, sondern eine weiße Haarschleife.

Sobald wir saßen, begann die Vorstellung. Das Ensemble bestand nur aus der Künstlerin Hilde Gans. Doch das machte nichts. Sie spielte alle Rollenfächer. Sie spielte Greise, Kinder, Helden, Hexen, Feen, Mörder und holde Jungfrauen. Sie verkleidete und verwandelte sich auf offener Bühne. Sie sang, sprang, tanzte, lachte, schrie und weinte, dass das Wohnzimmer zitterte. Die Eintrittspreise waren nicht zu hoch! Wir bekamen für unser teures Geld wahrhaftig allerlei geboten! Und aus dem Schlafzimmer hörten wir ab und zu das hüstelnde, dünne Lachen der sanften, kranken Schwester.

Der mit Frau Gans, der Mutter der jungen Künstlerin, befreundete Theaterfachmann, selber ein Künstler von ehemals hohen Graden, hatte mit der Verwaltung der beiden Bühnen des Dresdner »Volkswohls« zu tun. Die eine Bühne hieß das »Naturtheater« und lag, von einem hohen gebeizten Bretterzaun umschlossen, unter freiem Himmel mitten im Wald. Hier wurde an drei Nachmittagen der Woche gespielt. Man saß, im Halbrund, auf primitiven Holzbänken und erfreute sich an Märchen, handfesten Volksstücken, Lustspielen und Schwänken. Es roch nach Kiefernadeln. Ameisen krabbelten strumpfauf. Zaungäste steckten die Nase über die Palisaden. Der Sommer schnurrte in der Sonne wie eine Katze.