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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michaela Link


© Shelly Laurenston 2018
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Hot and Badgered« bei Kensington, New York 2018
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München
Umschlagabbildung: Guter Punkt, unter Verwendung von Shutterstock und Istock


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Für meine kalifornische Familie,
die mich die wahre Bedeutung von Schwestern gelehrt hat.
Ich hab euch lieb.

Prolog

Charles Taylor war bis zu diesem Moment nicht klar gewesen, wie schnell das Leben eines Mannes auf den Kopf gestellt werden konnte.

In der einen Sekunde hatte er zwei verrückten Frauen zugehört, die er seit Jahren kannte und die versuchten, ihn dazu zu überreden, das Rudel eines jungen, arroganten Wolfs zu übernehmen, den sie alle hassten. In der nächsten klingelte es an der Tür … und alles veränderte sich. Für immer.

Er hatte die Tür des Haupthauses des Rudels geöffnet und seine zwölfjährige Enkelin mit ihren beiden Halbschwestern davor stehen sehen.

Die anderen beiden waren nicht seine Enkelinnen. Seine Tochter hatte den Nachwuchs ihres nutzlosen Exfreunds aufgenommen, weil sie eben so war, seine Carlie. Sie hatte diese Mädchen zu sich genommen und sie großgezogen, als seien es ihre eigenen Kinder. Ohne zu fragen. Ohne Vorbehalte. Und weil es in Carlies Augen das Richtige war.

Als Charles also die Tür öffnete und diese drei Mädchen davor stehen sah, schmutzig, voller blauer Flecke und mit einem verletzten Ausdruck in den Augen … wusste er Bescheid. Er wusste, dass sein kleines Mädchen tot war. Er wusste es und war am Boden zerstört.

Aber was sollte er machen? Er musste tun, was seine Tochter gewollt hätte: die drei Mädchen aufnehmen. Sie großziehen, auch die beiden, die nicht nur nicht von seinem Blut, sondern nicht einmal zu einem Bruchteil Wolf waren. Die Mittlere war ein reinblütiger Honigdachs, wie ihr idiotischer Vater und ihre kriminelle Mutter, die nach einem schiefgegangenen Juwelenraub eine langjährige Haftstrafe in einem bulgarischen Gefängnis absaß.

Die zweite war halb Honigdachs und halb Tiger. Charles’ Rudel hielt nichts von Katzen. Nicht einmal ein ganz klein wenig. Sie tolerierten schon die Hauskatzen nicht, die durch ihr Viertel in Wisconsin stromerten. Was also würden sie mit diesem kleinen Mädchen mit den großen Augen machen, das den Gestank von Katze verströmte?

Die Mädchen hatten jedoch eins, das für sie sprach: Sie waren jung. Die Älteste zwölf, die Mittlere elf und die Kleinste noch keine acht.

Als die beiden Wölfinnen, vor denen Charles sich gerade gerettet hatte, die Mädchen sahen, schnappten sie nach Luft und führten die Kinder sofort ins Wohnzimmer.

»Was ist passiert?«, fragte Lotti Charles’ Enkelin. »Wo ist eure Mama?«

Seine Enkelin schaute zu ihm hoch, und wieder sah er die Antwort in ihren Augen. Die Antwort, die ihm schon in dem Moment, als er die Haustür geöffnet hatte, klar geworden war.

»Meine Tochter ist tot«, sagte er ausdruckslos und versuchte dabei immer noch zu verarbeiten, was genau das bedeutete.

Lotti und Jane verstummten, und ihre Hände verharrten auf den leichten Mänteln, die die Mädchen für den Marsch von Connecticut nach Wisconsin getragen hatten, um das Rudel ihrer Mutter zu erreichen. Mitten im Winter.

Entsetzt sahen die beiden Wölfinnen zuerst Charles und dann einander an.

»Besorgen wir … besorgen wir euch Mädchen etwas zu Essen«, stotterte Jane. »Ihr müsst halb verhungert sein.«

Lotti stand auf und sagte leise zu Charles: »Wir haben vielleicht ein Problem … mit zwei von ihnen.«

»Wenn ich hier das Feld räumen muss, werde ich das tun.« Er dachte an seine Tochter und daran, wie sie so eine Situation gehandhabt hätte. »Doch ich werde sie nicht voneinander trennen.«

Lotti legte Charles eine Hand auf die Brust. »Ich gehe und rede mit ihm.«

Er nickte und hockte sich vor seine Enkeltochter, um ihr aus dem Mantel zu helfen, aber bevor er eine Chance dazu bekam, war Lotti schon wieder zurück. »Er will mit ihnen reden. Allein.«

Stirnrunzelnd schaute Charles über seine Schulter zu seiner alten Freundin hinüber. »Was?«

Sie zuckte die Achseln.

»Das kannst du vergessen«, sagte er. Er würde seine traumatisierte Enkelin und ihre Schwestern nicht dem Bullshit dieses Idioten aussetzen.

»Wir werden mit ihm reden«, verkündete seine Enkelin plötzlich und klang dabei sehr … erwachsen. Sie sah vielleicht aus wie ein kleines Mädchen, aber das war sie nie wirklich gewesen. Carlie hatte zu sagen gepflegt: »Meine Tochter war schon bei der Geburt vierzig.« Und als Charles jetzt den entschlossenen Ausdruck auf dem niedlichen Kindergesicht sah, glaubte er jedes Wort davon.

Seine Enkelin stand auf und gab ihren Schwestern ein Zeichen.

»Wo ist er?«, fragte sie die verblüffte Lotti.

»Hinterm Haus. Im Garten. Ich zeige euch …«

»Wir werden ihn schon finden.«

Während das mittlere Mädchen die Hand der Jüngsten hielt, schob Charles’ Enkelin die beiden sanft vor sich her, und die drei gingen ganz allein durchs Haus.

Das war der Moment, in dem Jane knurrte: »Das gefällt mir nicht.«

Charles gefiel es auch nicht. Es gefiel ihm ganz und gar nicht.

 

Betsey lag der Länge nach auf einem der hohen Äste des großen Baums im Garten des Rudels und tat ihr Bestes, leise zu sein.

Sie kam hier heraus, um in Ruhe gelassen zu werden. Sie war zu alt, um mit den anderen Welpen herumzuhängen, und zu jung, um ihre Zeit mit den Erwachsenen zu verbringen. Mit sechzehn zählte sie die Tage, bis sie aufs College gehen und von hier verschwinden konnte.

Sie liebte ihre Mom, die für ihr einziges Kind getan hatte, was sie konnte. Aber Betsey hatte nie ganz zum Rudel gehört, weil sie keine reinblütige Wölfin war, sondern halb Wölfin, halb Schwarzbärin. Ihr Vater war ein One-Night-Stand gewesen, über den ihre Mutter immer noch nicht hinweg war. Aber ein Bär unter Wölfen zu sein, stellte eine Herausforderung dar.

Als Betsey noch klein gewesen war, war die Situation zumindest erträglich gewesen – bis Billy Lewis das Rudel als Anführer übernommen hatte. Jetzt betete Betsey, dass sich nichts zwischen sie und die Stipendien stellen würde, die es ihr ermöglichen sollten, auf ein College in einem anderen Bundesstaat zu gehen und sich ein neues Leben aufzubauen.

Bis dahin würde sie, wenn sie nicht gerade in der Schule war, in Bäumen sitzen und hoffen, dass niemand sie bemerkte.

Wie zum Beispiel Billy Lewis, der auf einer der Bänke im Garten des Rudels saß und wie Richard der Dritte über sein Reich schaute. Aber ein so schwacher Wolf würde nicht bemerken, dass Betsey auf einem Baum saß und ihn beobachtete, es sei denn, der Wind drehte plötzlich und er witterte sie.

Sie sah zu, wie drei kleine Mädchen in den Garten kamen. Nach allem, was sie mit angehört hatte, als Lotti herausgekommen war und mit Billy geredet hatte, war die Mutter dieser Kinder getötet worden. Irgendwie hatten die Mädchen es dann durch das halbe Land bis ins Haus des Rudels geschafft. Wirklich bemerkenswert. In diesem Alter hätte Betsey keine fünf Sekunden ohne ihre Mutter überstanden. Doch diese Mädchen …

Billy hatte auf ein »Gespräch unter vier Augen« mit den Welpen bestanden, und das verhieß nichts Gutes. Billy mochte Leute, die er »Halbblüter« nannte, nicht. Ein beleidigender Ausdruck von einem beleidigenden Idioten.

Leider hatte auch Betsey so ein »Gespräch unter vier Augen« mit Billy über sich ergehen lassen müssen. Es war zwar nicht annähernd so unheimlich, wie es klang, aber es war definitiv grausam. Billy hatte ihr erklärt, dass sie an ihrem achtzehnten Geburtstag verschwinden musste, ganz gleich, was in ihrem Leben oder im Leben ihrer Mutter geschah. Wenn ihre Mutter nicht glücklich darüber war, konnte sie ja mit ihrem Kind gehen, aber das wäre dann Betseys Sache.

Es war ein Furcht einflößender Gedanke, da Betsey wusste, wie sehr ihre Mutter ihr Rudel liebte. Es zu verlassen, und sei es für ihre einzige Tochter, wäre zu schwer für sie. Betsey würde das niemals von ihr verlangen. Also hatte sie nach diesem »Gespräch unter vier Augen« ihre Anstrengungen in der Schule verdoppelt und angefangen, Kurse auf College-Niveau zu belegen. Sie hatte vor, mit siebzehn ihren Abschluss zu machen. Glücklicherweise war sie schlau genug, um das zu schaffen.

Aber sie wusste nichts über die kleinen Mädchen, die gerade in den Garten kamen und dort mit Billy allein gelassen wurden. Sie wusste nur, dass ihr Schicksal Betsey das Herz brach, denn ganz gleich, in was für einer Situation die Mädchen sich befanden, Billy Lewis würde das alles egal sein. Selbst der Tod ihrer Mutter, die ein ehemaliges Rudelmitglied (und die Tochter des Betamännchens) war, würde ihn kaltlassen. Außerdem sah er im Auftauchen der Mädchen vielleicht die Chance, auf die er gewartet hatte, um Charles Taylor loszuwerden. Charles war ein Wolf der alten Schule, den sich die Erwachsenen im Rudel dringend als Alphatier wünschten, ob er den Job nun haben wollte oder nicht.

Doch Betsey wusste, dass Charles seine Enkelin niemals dem grausamen System von Pflegefamilien und staatlichen Heimen überlassen würde. Das war schon für irgendein Durchschnittskind nicht unbedingt gut und erst recht nicht für einen Gestaltwandler. Und für einen Gestaltwandler-Hybriden … aus dem Stoff, wie übel solche Situationen enden konnten, bestanden Albträume.

Trotzdem, zwei der Mädchen wegzuschicken, nur weil sie keine Blutsverwandten und keine Wölfe waren … Konnte Billy wirklich so grausam sein?

Wem machte Betsey etwas vor? Natürlich konnte er so grausam sein!

Die drei Mädchen standen jetzt vor Billy und er schaute sie selbstgefällig an, die Mundwinkel leicht hochgezogen, einen herzlosen Ausdruck in den Augen.

Wenn Betsey geglaubt hätte, dass sie sich davonschleichen konnte, ohne entdeckt zu werden, hätte sie es getan. Sie wollte das nicht mitansehen.

»Ich höre, ihr Mädchen habt eine schlimme Zeit hinter euch, was?«

Die Mädchen starrten Billy an, sagten jedoch nichts. Aber die Mittlere winkte ihm plötzlich zu. Wie zur Begrüßung. Überraschenderweise – und daher umso ärgerlicher – antwortete Billy mit einem Augenzwinkern und deutete mit dem Finger auf das Mädchen. Eine Geste, die er »sexy« fand.

Igitt.

Er sprach weiter: »Hört mal, das mit Carlie tut mir leid. Ich habe sie immer gemocht. Eine seltsame Wölfin, aber unterhaltsam. Versteht ihr?«

Natürlich verstanden sie das nicht! Das waren Kinder! Idiot!

Billy beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und faltete die Hände vor dem Bauch.

Sein »aufrichtiger« Gesichtsausdruck.

»Ich weiß, das wird für euch schwer zu verstehen sein, aber … du darfst bleiben«, sagte er zu der Ältesten, einem entzückenden braunhäutigen Mädchen mit Unmengen gelocktem Haar und einem hübschen Gesicht. »Aber ihr zwei nicht. Ich weiß«, fuhr er fort, »ich weiß, dass das hart zu hören ist. Aber ihr könnt genauso gut gleich lernen, wie die reale Welt funktioniert.«

Irgendetwas sagte Betsey, dass diese Mädchen bereits wussten, wie die reale Welt funktionierte.

Während Billy weiterschwafelte, drückte das mittlere Mädchen seine jüngere Halbschwester neben Billy auf die Bank und ging unvermittelt weg.

Sie näherte sich den Büschen und Blumen, die an die Gartenmauer gepflanzt worden waren, den Kopf gesenkt, als suche sie nach etwas.

Während sie suchte, redete Billy mit Charles’ Enkelin. Genau wie bei ihrem Großvater gab das Gesicht des Mädchens nichts preis. Es war leer. Teilnahmslos.

Die mittlere Schwester, eine sehr kleine Asiatin mit schwarzem Haar und einer weißen Strähne darin, hob etwas hoch und kehrte zu ihren Schwestern zurück. Gemeinsam sahen sie Billy an, bis er bemerkte, dass das mittlere Mädchen etwas in der Hand hielt.

Sein Grinsen verwandelte sich in ein breites Lächeln. Betsey war noch nie jemandem begegnet, der es so genoss wie Billy, das Schlimmste in anderen zu Vorschein zu bringen. Das galt sogar für verzweifelte Kinder, die gerade ihre Mutter verloren hatten. »Ist der für mich, Schätzchen? Du willst den großen, bösen Wolf mit diesem kleinen Stein schlagen?« Er beugte sich vor, und seine Stimme wurde sehr hart. Härter, als Betsey sie je zuvor gehört hatte. »Wenn du dieses Ding nach mir wirfst, Kleine, wirst du mit dem ersten Bus bei der nächsten Pflegeeltern-Vermittlungsstelle landen. Vielleicht wirst du dich ja nach einigen Jahren mit deiner Loser-Mom im Gefängnis treffen. Ihr könnt dann ein Mutter-Tochter-Wiedersehen hinter Gittern feiern.«

Wenn Billy gehofft hatte, die Kleine zum Weinen zu bringen, scheiterte er damit. Sie weinte nicht. Sie blinzelte nur ganz langsam und starrte ihn weiter an.

Dann drehten die beiden älteren Mädchen sich ohne ein Wort zueinander.

Charles’ Enkelin nickte knapp. Die mittlere Schwester holte aus und schwang mit einer für ein Kind gewaltigen Kraft die Faust mit dem Stein darin.

Ihre Knöchel trafen ihr Ziel und Betsey blinzelte erschrocken, als sie etwas in dem Gesicht des ältesten Mädchens brechen hörte, kurz bevor es zu Boden ging.

Die Jüngste schaute bei dem Geräusch auf, aber ihr Gesichtsausdruck blieb immer noch passiv. Billy dagegen fuhr erschrocken zurück.

»Was um alles in der …?«

Während er herauszufinden versuchte, was los war, packte das mittlere Mädchen seine linke Hand – und jetzt verstand Betsey das seltsam getimte Winken von vorhin – und legte sie auf die Bank. Sie hob den Stein und ließ ihn fest herunterkrachen – auf Billys Knöchel.

Als Billy vor Schmerz aufheulte, warf die mittlere Schwester den Stein in den Garten. Dann brachen sie und die Jüngste wie auf ein unhörbares Stichwort hin in eine Flut von dramatischen Tränen aus. Es war die Sorte Schluchzen, die die Aufmerksamkeit jeder Wölfin in einem Zwanzig-Meilen-Radius erregen musste.

Alle Erwachsenen aus dem Haus erschienen im Garten. Und was sahen sie?

Zwei kleine Mädchen, die hysterisch schluchzten. Ein anderes kleines Mädchen, das sich den blutenden, gebrochenen Kiefer hielt, während es tapfer versuchte, nicht zu weinen, und Billy … mit aufgeschlagenen Knöcheln.

Die Knöchel des mittleren Mädchens waren ebenfalls zerschrammt und blutig, aber es drückte seine kleine Schwester dicht an sich und hatte die Hand zur Faust geballt und an die Seite des Kindes gepresst, sodass keiner der Erwachsenen es sah.

Charles ging durch die Erwachsenen hindurch, bis er in der Mitte vor ihnen stand. Betsey hatte den älteren Wolf noch nie so erlebt. Er war immer der Gelassene gewesen. Der Vernünftige. Er war der große Friedensstifter des Rudels und sorgte dafür, dass die kleine Gruppe sich in keine Streitereien gegen größere und gemeinere Rudel verstrickte, die sie unmöglich gewinnen konnte.

Aber jetzt war Charles fuchsteufelswild. Seine braunen Augen verengten sich, er atmete schwer und sein ganzer Körper versteifte sich, während ihn alle paar Sekunden ein kleines Beben durchlief. Und während der ganzen Zeit schaute er auf Billy hinab.

Billy, der mit den Augen die Gruppe der vor ihm Stehenden absuchte und keine Freunde sah, schüttelte den Kopf und hob die Hände, die Innenflächen nach außen gedreht.

»Einen Moment mal, ich habe nicht … das war ich nicht!«

Aber da er die Hände auf diese Weise erhoben hatte, sahen alle nur das Blut, das zwischen seinen Fingern hervorquoll und langsam an seinem Handgelenk herunterlief.

Verzweifelt zeigte Billy auf das mittlere Mädchen. »Sie war das!«

Wie ein Mann sahen die Erwachsenen alle die kleine Asiatin an, die ihre Schwester im Arm hielt. Und für einen Sekundenbruchteil sah Betsey, wie sich das Gesicht des mittleren Mädchens auf eine Weise verhärtete, die ein wenig zu erwachsen war für ein so kleines Kind. Doch die Erwachsenen bemerkten es nicht, denn das jüngste Mädchen, das immer noch herzzerreißend schluchzte, behielt ihr Gesicht direkt vor dem ihrer Schwester. Mit Absicht? Betsey glaubte das eigentlich nicht. Sie schien zu jung zu sein, aber nach allem, was passiert war …

»Ich war das nicht!«, beharrte Billy. »Sie war es! Ich würde niemals ein Kind schlagen! Nie und nimmer!«

Mit einem abscheulichen Knurren, das aus tiefster Kehle kam, beugte Charles sich vor, packte Billy an seiner Lederjacke und riss ihn von der Bank.

Die Erwachsenen zerrten Billy weg und ließen die Mädchen allein.

Die Älteste zog das jüngste Mädchen auf ihren Schoß, die Arme locker um ihre Taille gelegt. Das mittlere Mädchen kam näher und bettete den Kopf an den Arm seiner Schwester. Für einen kurzen Moment sahen die Mädchen so jung aus, wie sie waren, aber sie wirkten auch ziemlich mitgenommen. Das Leben war bereits hart zu ihnen gewesen, dabei sah die Älteste so aus, als sei sie noch keine dreizehn.

Charles kam in den Garten zurück. Er runzelte die Stirn und hatte Blut an den Händen. Er ging zu den Mädchen und funkelte auf sie herab, wie es so seine Art war. Betsey war sich sicher, dass er keine Ahnung hatte, wie er auf Leute wirkte, die nicht wussten, was in seinem Kopf vorging. Aber die drei Schwestern erwiderten seinen Blick, ohne zu blinzeln.

Seufzend wandte er sich ab. Betsey wusste, dass er versuchte, herauszufinden, was er als Nächstes tun sollte. Was er mit den beiden Mädchen machen sollte, die nicht von seinem Blut waren. Die in keiner anderen Weise mit ihm verwandt waren als der, dass seine Tochter sie als ihre eigenen Kinder angenommen hatte. Aber bevor er weggehen konnte, beugte das jüngste Mädchen sich vor und ergriff seinen Zeigefinger, den sie mit ihren kleinen Fingern fest drückte.

Und so hatte Charles plötzlich drei Enkelinnen statt nur einer.

Er bückte sich und nahm die Kleinste auf den Arm.

»Kommt, beschaffen wir euch ein Zimmer und etwas zu essen«, schlug er vor, obwohl es klang wie der Befehl eines Feldwebels.

Die Älteste legte ihrem Großvater eine Hand auf den Unterarm und das mittlere Mädchen, das noch nicht so groß war wie seine ältere Schwester, klammerte sich an die Kette, mit der er sein Portemonnaie an seiner Jeans befestigte.

Gemeinsam und schweigend gingen sie zurück ins Haus.

Betsey wartete ein paar Minuten, bevor sie den Baumstamm herunterrutschte und sich in einen Menschen verwandelte. Sie zog ihre Sachen an und ging um das Gebäude herum, um durch die Vordertür ins Haus zu gelangen.

Als sie um die Garage herumkam, wartete das mittlere Mädchen auf sie. Betsey wusste, dass sie auf sie wartete.

Betsey erstarrte mitten im Schritt und schaute mit leicht geöffnetem Mund auf das Kind. Eine Zeitspanne, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, sah das Mädchen zu ihr hoch, dann legte es mit einem kaum merklichen Lächeln den Zeigefinger an die Lippen und machte: »Pst.«

Ohne ein weiteres Wort drehte es sich um und ging weg. Daraufhin nahm Betsey sich vor, ein paar weitere Kurse auf College-Niveau zu belegen, damit sie noch früher als geplant aufs College gehen konnte. Zum Beispiel nächste Woche …

Kapitel 1

Sechzehn Jahre später

Was hatte sie sich nur dabei gedacht, den »Ritt der Walküren« als Klingelton zu nehmen? Wenn dieser Mist einen um sechs Uhr morgens weckte, war das einfach nur grausam. Richtig grausam.

Und wie immer hatte sie sich das selbst zuzuschreiben. Sie hatte auf ihr Beruhigungsmittel verzichtet, damit sie sich mit zwei süßen Italienern betrinken konnte, die sie dann jedoch in den Wind geschossen hatte, sobald der erste mit dem Kopf auf den Tisch geknallt war.

Charlie Taylor-MacKilligan schlug mit der Hand gegen den Nachttisch neben ihrem Bett und suchte blind nach ihrem verdammten Telefon. Als sie es fand, war sie erleichtert. Sie hatte nicht vor, in absehbarer Zeit das Bett zu verlassen. Nicht so verkatert, wie sie gerade war. Aber dieser verdammte Klingelton musste einfach aufhören.

Irgendwie schaffte Charlie es, die richtige Stelle auf ihrem Telefondisplay zu berühren, sodass sie den Anruf tatsächlich entgegennahm, ohne auch nur den Kopf vom Kissen zu heben, in dem sie das Gesicht vergraben hatte, oder die Augen zu öffnen.

»Was?«, knurrte sie.

»Raus«, kam die Antwort. »Du musst sofort rauskommen.«

Ihren Kater vergessend, hatte Charlie das Zimmer schon halb durchquert, als die Tür eingetreten wurde. Charlie drehte sich um und rannte zu den Schiebetüren aus Glas, die sie in der Nacht zuvor offen gelassen hatte. Gerade hatte sie es auf den Balkon geschafft, als etwas Heißes sich in ihre Schulter bohrte, Fleisch und Muskeln durchtrennte und sich in ihren Knochen grub. Die Wucht des Hiebs ließ sie mit dem Kopf voraus über das Geländer fliegen.

 

»Was denkst du?«, fragte der Gestaltwandler-Schakal.

Berg Dunn, der in einem Clubsessel in seiner Hotelsuite in Mailand saß, betrachtete den Mann, der ein schwarzes Jackett hochhielt.

»Was denke ich worüber?«, fragte Berg.

»Das Jackett. Für meine Show heute Abend.«

Berg zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.«

»Du musst doch eine Meinung haben.«

»Habe ich nicht. Ich habe glücklicherweise keine Meinung dazu, was ein erwachsener Mann, der nicht ich bin, anziehen sollte.«

Der Schakal seufzte. »Du bist zu nichts zu gebrauchen.«

»Ich habe die Aufgabe, deine verrückten Fans daran zu hindern, dich aufzuspüren und dir das Fleisch von den Knochen zu reißen. Das war’s. Das ist alles, was ich tun soll. Ich habe nie gesagt, dass ich dir in Sachen Mode weiterhelfen würde.«

Der Schakal verdrehte die Augen, legte das Jackett aufs Bett und starrte es an. Als erwarte er, dass es tatsächlich zu ihm sprechen würde.

Berg hätte sich gerne über diesen lächerlichen Job beklagt, aber wie konnte er das, wenn es der beste war, den er seit Jahren gehabt hatte? Einem sehr reichen, sehr höflichen Schakal auf Schritt und Tritt zu folgen, damit dieser für schreiende Fans in fremden Ländern Klavier spielte, war die coolste Nummer aller Zeiten.

Von allem nur das Beste: Jets. Essen. Frauen. Nicht dass Berg die Sache mit den Frauen allzu oft ausgenutzt hätte. Er wusste, dass die meisten nur versuchten, über ihn an Cooper Jean-Louis Parker heranzukommen. Coop war derjenige, der jeden Abend rausging, auf die Steinway-Klaviere einhämmerte, Dinge mit den Fingern tat, die selbst Berg faszinierend fand, und all diese entzückenden weiblichen Wesen mit seinem attraktiven Schakal-Aussehen betörte.

Berg war nur der Mann, an dem sie vorbeimussten, damit sie an das Musikgenie herankamen. Und im Gegensatz zu einigen seiner Freunde gehörte es nicht zu Bergs Lieblingsbeschäftigungen, sich von schönen Frauen benutzen zu lassen.

Es war erträglich, aber nicht seine Lieblingsbeschäftigung.

»Ich kann mich nicht entscheiden«, gestand der Schakal schließlich.

»Ich weiß, wie schwer es ist, zwischen einem schwarzen Jackett und einem anderen schwarzen Jackett zu wählen. Welches passt denn zu deinem schwarzen Rollkragenpullover?«

»Es ist nicht einfach ein anderes schwarzes Jackett, du Bauer. Es ist der Unterschied zwischen reinem Schwarz und Anthrazit.«

»Wir müssen einen Zug erwischen«, rief Berg Coop ins Gedächtnis. »Also, könntest du das beschleunigen …?«

Beide Gestaltwandler fuhren zusammen und richteten den Blick auf den Balkon vor dem Zimmer, durch dessen offene Türen die frische Morgenluft hereinwehte.

Wieder mal ein verrückter weiblicher Fan, der versuchte, in Coops Zimmer einzudringen? Einige dieser Frauen, alles Vollmenschen, waren zu jeder Verrücktheit bereit, nur auf die Chance hin, im Bett des »Maestro« zu landen.

Seufzend erhob sich Berg und ging durch das große Zimmer auf die Glasschiebetüren zu. Es sah aus, als würde er schon wieder einer bedauernswerten Frau das Herz brechen müssen.

Aber er blieb stehen, als er sie sah. Eine braunhäutige Frau, splitternackt. Was an und für sich nichts Ungewöhnliches war. Die Frauen, die versuchten, sich in Coops Zimmer zu schleichen – ganz gleich, in welchem Land sie sich befanden –, waren häufig nackt.

Was Berg wie angewurzelt stehen bleiben ließ, war die Tatsache, dass dieser Frau Blut aus der Schulter lief. Blut von einer Schussverletzung.

Berg bedeutete Coop, zurückzutreten. »Geh ins Badezimmer«, befahl er.

»Oh, ich bitte dich. Ich will sehen, was …«

»Es ist mir egal, was du willst. Geh ins …«

Sie hörten auf, sich zu streiten, als sie den Mann in schwarzer Militärmontur sahen, der mit einem Gewehr, einer Handfeuerwaffe und mehreren Messern bewaffnet war. Er rutschte in großer Geschwindigkeit an einem Seil herunter und landete auf dem Geländer ihres Balkons.

Berg legte eine Hand auf die Waffe, die er in einem Holster an seiner Seite trug, und stellte sich vor Coop.

»Geh ins Badezimmer, Coop«, befahl er mit leiser Stimme.

»Wir müssen ihr helfen.«

»Tu, was ich dir sage, und ich werde ihr helfen.«

Der Mann in Schwarz ließ sich auf den Balkon fallen, packte die bewusstlose Frau am Arm und rollte ihren schlaffen Körper herum.

»Jetzt, Coop. Los.«

Berg trat vor, die Waffe bereits in der Hand. Der Mann auf dem Balkon zog seine Pistole und drückte den Lauf an den Kopf der Frau.

Berg zielte mit seiner 45er und brüllte: »Hey!«

Der Mann schaute hoch und hob die Waffe. Ihre Blicke trafen sich, die Finger auf den Abzügen ihrer Pistolen. Beide Männer musterten sich gegenseitig. Und das war der Moment, in dem die Frau sich bewegte. Schnell. So schnell, dass Berg wusste, dass sie kein Vollmensch war, was sofort alles veränderte.

Die Frau packte die Hand mit der Pistole ihres Angreifers und drückte sie zur Seite, damit er seine Aufgabe nicht zu Ende bringen konnte. Mit ihrer freien Hand boxte sie dem Mann wiederholt ins Gesicht.

Blut quoll aus seiner zerschmetterten Nase über seine Lippen. Seine Augen wurden glasig.

Ohne das Handgelenk des Mannes loszulassen, stand die Frau auf. Sie war groß. Vielleicht eins achtzig, eins fünfundachtzig. Mit breiten, starken Schultern, Armen und insbesondere Beinen. Wie eine viel zu groß geratene Turnerin.

Sie packte ihren Angreifer mit einer Hand an der Kehle und hob ihn ohne große Anstrengung über das Balkongeländer. Dann ließ sie ihn los und fuhr aus ihrer rechten Hand die längsten Krallen aus, die Berg je gesehen hatte.

Nachdem sie sich von dem Angreifer abgewandt hatte, schlug sie mit den Krallen nach dem Seil, an das der Mann sich noch klammerte. Berg wand sich ein wenig angesichts der verzweifelten Schreie des Mannes, während er in die Tiefe stürzte.

Das war der Moment, in dem die Frau Berg sah. Ihre Krallen – die aus überraschend kleinen Händen kamen – waren immer noch ausgefahren. Ihr Blick konzentrierte sich auf ihn und sie zog ein ganz klein wenig die Schultern hoch. Sie machte sich für einen Angriff bereit. Um den Mann zu töten, der sie als Gestaltwandler outen konnte, vermutete Berg. Sie hatte noch nicht die Zeit gehabt, um zu verarbeiten, dass er selbst auch einer war. Außerdem trug er eine Waffe, was keine guten Absichten vermuten ließ.

»Alles okay«, sagte Berg schnell und steckte seine Waffe wieder ins Holster. »Alles okay. Ich tue Ihnen nichts.«

»Ja«, meldete Coop sich hinter ihm zu Wort. »Wir wollen nur helfen.«

Berg stieß frustriert den Atem aus. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass du ins Badezimmer gehen sollst.«

»Ich wollte sehen, was passiert.« Coop trat neben Berg. »Wir sind auch Gestaltwandler«, erklärte er und ließ sein gottverdammtes betörendes Lächeln sehen. Als sei das hier der richtige Zeitpunkt für so etwas!

Aber die Frau verdrehte nur in stummem Ärger die Augen und trat vollends in den Raum. Sie ging direkt an Berg und Coop vorbei zur Zimmertür.

»Warten Sie«, rief Berg. Als sie sich zu ihm umdrehte und fragend eine Augenbraue hochzog, rief er ihr ins Gedächtnis: »Sie sind nackt.«

Er ging zu seiner bereits gepackten Reisetasche und zog ein schwarzes T-Shirt heraus.

»Hier«, sagte er und reichte es ihr.

Sie warf sich das T-Shirt über und er sah, dass er ihr eins seiner liebsten Band-T-Shirts von einem Fishbone-Konzert gegeben hatte, bei dem er vor Jahren zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern gewesen war.

»Ihre Schulter«, erinnerte Berg die Frau und beschloss, kein Theater wegen des T-Shirts zu machen. Vor allem, da sie darin so süß aussah.

Sie schüttelte den Kopf und machte noch einen Schritt in Richtung Tür. Doch ein Krachen aus dem Wohnzimmer der Suite veranlasste Berg, mit einer Hand den Arm der Frau zu packen und mit der anderen Coop quer durchs Schlafzimmer ins Bad zu schieben.

Berg stellte sich dem neuen Eindringling entgegen und zog die Frau hinter sich.

Zwei Pistolenschüsse trafen Berg im unteren Bereich seiner Brust – der Mann hatte abgedrückt, ohne Berg ganz zu sehen, und er hatte einen Menschen von normalerer Größe erwartet.

Was Berg einiges verriet. Offensichtlich hatte er es mit einem Vollmenschen zu tun. Mit einem bestens ausgebildeten Vollmenschen. Einem Exsoldaten wahrscheinlich.

Einem Exsoldaten mit dem Befehl, zu töten.

Wenn der Mann die Frau hätte entführen wollen, hätte er verdammt noch mal dafür gesorgt, dass er wusste, wen oder was er vor sich hatte, bevor er abdrückte. Aber er wusste es nicht. Er schaute nicht nach, weil es ihm egal war. Alle im Raum sollten sterben.

Dieses Wissen – diese Einsicht – tat nichts anderes, als Berg zu ärgern.

Wer lief herum und versuchte, eine nackte, unbewaffnete Frau zu töten?, wollte die analytische Seite in ihm wissen.

Doch der Grizzly-Anteil von ihm scherte sich darum kein bisschen. Er wusste nur, dass er angeschossen worden war. Und auf einen Grizzly zu schießen, ohne ihn sofort zu töten … das war immer eine außerordentlich schlechte Idee.

Ein Knurren kroch aus Bergs Kehle und die Muskeln zwischen seinen Schultern wuchsen zu einem gesunden Grizzlybuckel. Er schaffe es nur noch mit knapper Not, sich nicht ganz zu verwandeln, aber sein Grizzlybärenzorn brach aus ihm heraus und sein Brüllen ließ die Fenster klirren. Die Badezimmertür hinter ihm schlug zu. Jetzt war der Schakal vernünftig genug, sich zu verstecken.

Der Eindringling wich rasch zurück, weil er begriff, dass irgendetwas nicht stimmte, ohne es ganz zu verstehen. Und deshalb rannte er nicht weg.

Er hätte es lieber tun sollen.

Mit einem einzigen Schritt war Berg direkt vor ihm, riss ihm die Waffe aus der Hand und wirbelte den Mann herum, sodass er ihn an der Kehle zu fassen bekam. Er tat das, weil gerade zwei weitere Männer in Kampfausrüstung durch die Eingangstür, die sie nur Sekunden zuvor eingetreten hatten, in die Suite eindrangen.

Mit der Waffe des Mannes schoss Berg jedem der beiden Neuankömmlinge zweimal in die Brust. Sie trugen Schutzwesten, sodass er sich keine Sorgen machte, dass er sie getötet haben könnte.

Nachdem er beide Angreifer unschädlich gemacht hatte, konzentrierte Berg sich wieder auf den Mann, den er immer noch festhielt. Er wirbelte ihn herum, weil er ihn fragen wollte, was zur Hölle hier vor sich ging. Er war jetzt gelassener. Er konnte vernünftig sein.

Aber als der Mann sich wieder zu ihm umdrehte, verspürte Berg ein kleines Zwicken in der Seite. Er schaute langsam nach unten … und entdeckte ein Kampfmesser, das aus seinem Fleisch ragte.

Zuerst war er angeschossen, jetzt mit einem Messer verletzt worden.

Sein Grizzlyzorn kochte wieder hoch. Als der Eindringling – der seinen Fehler schnell erkannte – versuchte, sich aus Bergs Umklammerung freizukämpfen, während er verzweifelt um sein Leben bettelte, umfasste Berg mit beiden Händen das Gesicht seines Angreifers und drückte zu … bis der Kopf des Mannes wie ein Pickel aufplatzte.

Es waren das Blut und die Knochen, die ihm ins Gesicht flogen, die Berg wieder ins Hier und Jetzt zurückholten. Er schaute auf seine Hände voller Hirnmasse herunter.

»Oh, Scheiße«, murmelte er. »Scheiße, Scheiße, Scheiße.«

Die anderen Eindringlinge, die den Schmerz von den Schüssen ignorierten, rappelten sich hoch und rannten aus der Suite. So weit weg von Berg, wie sie nur konnten.

Jemand berührte ihn am Arm. Er drehte sich ein Stück weit und sah die Frau. Sie hob die Hände und belohnte ihn mit einem sanften Lächeln.

Da beruhigte er sich endlich. »Scheiße«, sagte er noch einmal und streckte ihr die Hände entgegen.

Sie trat näher, umfasste seine Handgelenke und sah sich die Klinge genau an, die immer noch aus seiner Seite ragte. Dann untersuchte sie die Wunden an seiner Brust. Anders als die Eindringlinge hatte er keine Schutzweste angehabt. Die Kugeln hatten ihn zwar getroffen und waren in seinen Körper eingedrungen, doch er war ein Grizzly. Selbst wenn er seine menschliche Gestalt hatte, musste man schon größere Waffen mitbringen, wenn man ihn mit ein oder zwei Schüssen niederstrecken wollte.

Berg genügte ein Blick auf die Frau, um zu wissen, dass sie ihm helfen wollte. Sie würde es versuchen. Doch war sie in größerer Gefahr als er und sie musste weg von hier.

»Gehen Sie«, sagte er zu ihr und sie runzelte die Stirn. »Im Ernst. Gehen Sie.«

Er löste sich von ihr, trat zu seiner Reisetasche, hielt inne, um sich an einem Handtuch das Blut von den Händen zu wischen, holte eine 45er Ruger heraus und reichte sie ihr. »Nehmen Sie die hier.«

Ihre Augen verengten sich wieder und sie schaute zu ihm hoch.

»Ich habe das Gefühl, dass Sie die Waffe dringender brauchen als ich«, drängte er. »Aber gehen Sie.«

Sie nahm die Waffe, zog das Magazin heraus, vergewisserte sich mit einer Hand, dass die Waffe ungeladen war, bevor sie das Magazin wieder hineinsteckte und eine Patrone in die Kammer schob.

Ja. Die Frau wusste, wie sie mit seiner 45er umgehen musste. Vielleicht besser als er selbst.

Sie drückte mit ihrer freien Hand seinen Unterarm, dann schlüpfte sie mit einem Nicken zur Tür hinaus und verließ die Suite.

»Kann ich jetzt rauskommen?«, fragte Coop aus dem Badezimmer. Bevor Berg verneinen konnte, stand der Schakal auch schon hinter ihm.

»Nun …«, murmelte Coop, »das war interessant.«

»Das kannst du laut sagen.«

»Du blutest.«

»Ja. Und bitte hör auf, an dem Messer herumzuspielen.«

Coop nahm die Hand vom Griff der Klinge und versuchte, zerknirscht zu wirken. »Entschuldige. Tut es weh?«

Berg musterte ihn stirnrunzelnd und Coop nickte. »Ich werte diesen funkelnden Blick mal als ein Ja. Vielleicht sollte ich an der Rezeption anrufen.« Er ging zum Telefon auf dem Nachttisch neben dem Bett. »Glaubst du, wir erwischen unseren Zug noch?«, fragte der Schakal.

Langsam drehte Berg sich zu Coop um und bemerkte: »Du bist an das reale Leben nicht gewöhnt, nicht wahr?«

»Nicht wirklich. Warum?«

»Das hier wird hohe Wellen schlagen.« Als Coop den Kopf schief legte wie ein verwirrter Schnauzer, fügte Berg hinzu: »Jemand ist gewaltsam in das Hotelzimmer eines großen Penis eingedrungen.«

»Das heißt Pianist

»Ja. Habe ich doch gesagt.« Nein. Hatte er nicht. »Wie dem auch sei, wir müssen unsere Geschichten absprechen. Und wir sollten das Mädchen da heraushalten.«

»Oh.« Coop dachte einen Moment lang nach, den Hörer lose in der Hand. Schließlich sagte er: »Ich rufe zuerst meine Schwester an.«

»Warum?«

»Wenn irgendjemand das regeln kann, dann ist es Toni.« Coop ächzte. »Aber sie wird böse auf dich sein. Du weißt schon, weil du es zugelassen hast.«

»Du bist am Leben, oder nicht?«

»Ja, und ich bin dir ziemlich dankbar. Ich mache dich auch überhaupt nicht für die Sache hier verantwortlich. Aber meine Schwester ist nicht so … aufgeschlossen. Darauf solltest du dich innerlich einstellen.«

»Ich bin mir sicher, ich werde mit einer Schakalin fertig.«

Coop nahm sein Handy, um seine Schwester anzurufen, und kicherte: »Ja, klar. Natürlich wirst du das.«

Berg schaute zu der offenen Schlafzimmertür und fragte: »Glaubst du, ich werde sie je wiedersehen?«

»Das Mädchen, das nie hier war?«, fragte Coop zurück. Er zuckte die Achseln, während er darauf wartete, dass am anderen Ende der Leitung jemand an den Apparat ging. »Wenn du die Liste der ›meistgesuchten Personen‹ des FBI im Auge behältst … sicher! Denn sehen wir den Tatsachen ins Auge: Das ist eine Frau, der der Ärger zu folgen scheint wie ein hilfloser Welpe.«

 

Charlie ignorierte den Aufzug und suchte die Treppe. Sie lief nach unten zur Tiefgarage. Während sie weiter die Waffe des freundlichen Riesen hielt, öffnete sie vorsichtig die Tür. Sie spähte durch den Spalt, sah niemanden und lief daraufhin auf den Ausgang zu.

Sie fädelte sich durch die teuren Autos hindurch, hielt sich geduckt und bewegte sich schnell. An einem Parkdiener vorbei flitzte sie hinaus aus der Tiefgarage. Charlie ging die Straße entlang und wich einer überraschenden Anzahl von Leuten aus, die so früh schon unterwegs waren. Sie hatte gerade die Ecke erreicht, als ein Mann in schwarzer Militärausrüstung und schusssicherer Weste vor sie trat. Sie hoben beide gleichzeitig ihre Waffen und Charlie war bereits dabei, abzudrücken, als ein Lamborghini auf den Bordstein zuschoss und den Mann rammte. Die Kugeln beider Waffen verfehlten ihr Ziel, aber jetzt lag ihr Angreifer auf dem Boden und schrie vor Schmerz, während das Beifahrerfenster heruntergelassen wurde und Charlie das vertraute – und, wenn man die Umstände bedachte, schockierend beiläufige – »Hey, Arschgesicht« hörte.

Die zierliche Asiatin mit dem blau gefärbten Kurzhaarschnitt grinste sie an. Sie waren Schwestern, aber das würde man nie erraten, wenn man sie anschaute.

Max MacKilligan fragte: »Hast du mich vermisst?«

»Kannst du einfach losfahren?« Charlie setzte sich auf den Beifahrersitz. »Aber sei vorsichtig. An deinem Kühlergrill klebt noch ein Mensch

»Hätte ich ihn dich erschießen lassen sollen? Was für eine Schwester wäre ich denn dann?«

»Eine, die ich nicht in einem italienischen Gefängnis besuchen muss.«

Kichernd legte Max den Rückwärtsgang ein und Charlie versuchte, das kurzlebige Betteln und das langgezogene Knirschen zu ignorieren, das unter dem Wagen zu hören war, als sie abfuhren. Charlie wusste, dass ihre Schwester sich absichtlich die Zeit nahm, um noch einmal rückwärts über den Schützen zu fahren. Max »Kill it Again« MacKilligan war für ihre Rachsucht bekannt.

Als sie endlich durch den frühmorgendlichen Mailänder Verkehr fuhren, zeigte Max nach unten. »Schau neben deine Füße.«

Charlie tat es und fand ein Kästchen. Sie öffnete es und stieß einen erleichterten Seufzer aus.

»Danke«, sagte sie und setzte die Sonnenbrille auf. Plötzlich konnte sie wieder scharf sehen. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich ihre normale Brille vom Nachttisch zu nehmen, bevor sie flüchten musste, und sie hatte sich schon seit einigen Monaten nicht mehr ihr Rezept für die Kontaktlinsen abgeholt. Sie vergaß es immer wieder. Also war während der letzten fünfzehn Minuten alles verschwommen gewesen. Selbst der hilfreiche Riese war nur ein großer, verschwommener Fleck gewesen. Sie hätte ganz dicht an sein Gesicht gehen müssen, um ihn identifizieren zu können. Aber er hatte sich süß angehört. Und so nett!

»Besser?«, fragte Max sie.

»Viel besser. Ich kann jetzt sehen, wer versucht, mich umzubringen.« Sie schaute zu Max hinüber und wand sich sofort bei dem Anblick, der sich ihr bot. »Oh, wow. Sie haben dich wirklich windelweich geschlagen.«

»Entschuldige mal«, erwiderte Max entrüstet. »Diese Schnittwunden und Blutergüsse habe ich nicht wegen der Männer, die da waren, um mich zu töten. Um diese Säcke habe ich mich mit meinem üblichen Elan gekümmert.«

»Aha. Wie ist es denn dann passiert?«

»Warum müssen wir darüber reden? Unser Leben ist in Gefahr.«

Charlie betrachtete ihre Schwester ein paar Sekunden lang, bevor sie drauflos riet: »Wieder Eichhörnchen?«

»Die haben angefangen!«

»Es ist doch schön zu sehen, dass sich nichts geändert hat, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.« Charlie sah aus dem Fenster, aber sie musste den Blick abwenden. Ihre Schwester fuhr so schnell, dass ihr davon irgendwie übel wurde. »Was ist mit Stevie?«

»Ich warte auf Neuigkeiten von ihrem Boss.«

»Von ihrem Boss?«

»Sie geht nicht an ihr Handy und ihre Assistenten haben keine Ahnung, wo sie ist.«

»Befindet sie sich immer noch in der Schweiz?«

Max zuckte die Achseln. »Vielleicht. Und hör auf, mich so anzufunkeln.«

»Wie schwer ist es, eine einzelne Frau im Auge zu behalten? Sechs Monate ich und sechs Monate du. Das war unsere Abmachung.«

»Warum sind wir immer noch für sie verantwortlich?«

»Weil sie unsere Schwester ist und wir sie lieben und wenn wir nicht auf sie aufpassen, lässt sie sich mit den falschen Leuten ein und zerstört die Welt. Willst du das?«

»Immer stellst du mir diese Frage und immer bist du enttäuscht von meiner Antwort.«

Charlie seufzte. »Nun, wir müssen sie finden.«

»Ich weiß.«

»Sie ist in genauso großer Gefahr wie wir.«

»Ich weiß.«

»Sie haben uns ausgebildetes Militär auf den Hals gehetzt.«

»Ich weiß.«

»Und ich weiß, dass dieses Auto gestohlen ist.«

»Natürlich ist es gestohlen.«

»Nun, das scheint ein Problem zu sein, da wir Cops hinter uns haben.«

»Schnall dich an.«

»Oh Gott.« Charlie legte den Sicherheitsgurt an. »Wir werden sterben, bevor wir überhaupt bei ihr sind.«

»Hör auf zu jammern. Du weißt doch, wie schwer es ist, uns zu töten.«

»Schwer zu töten bedeutet nicht, dass wir nicht bei tragischen Autounfällen Körperteile verlieren können. Und es wird uns wahrscheinlich nicht gelingen, unsere kleine Schwester zu retten, wenn wir beide im Gefängnis sitzen … ohne Beine.«

»Woher hast du nur diese Idee, dass wir die Beine verlieren könnten?«

»Es könnte passieren!«

Max schaltete einen Gang herunter und fuhr beim Abbiegen schwungvoll um einen Pick-up-Truck herum, wobei sie dessen vorderen Kotflügel nur knapp verfehlte.

»Ich verstehe nicht, warum du dir unbedingt über etwas Sorgen machen willst, das vielleicht passiert und vielleicht auch nicht«, bemerkte Maxie beiläufig, als eine Gruppe von Nonnen ihr aus dem Weg sprang. Ihre panischen Schreie entsetzten Charlie. »Wenn du deine Beine verlierst, werde ich dir einen Rollstuhl mit einem Ferrarimotor besorgen, der in vier Sekunden von null auf hundert beschleunigt. Wäre das nicht toll?«

Die Hände gegen das Armaturenbrett gepresst, gestand Charlie: »Ich hätte meine Beine lieber an meinem Körper befestigt.«

»Das ist so engstirnig. Was ist mit bionischen Beinen?«

»Schulkinder«, warnte Charlie.

»Bionische Beine wäre so cool.«

»Schulkinder!«

»Ich sehe sie. Beruhig dich.«

Der Wagen hielt an – irgendwie – und Max wartete geduldig, bis die Kinder und ihre Lehrer die Straße überquert hatten. Aus dem Nichts begann Max, ein Lied der Fernsehserie »H. R. Pufnstuf« zu pfeifen. Charlie hatte keine Ahnung, warum, aber sie gab ihrer Mutter die Schuld. Sie hatte diesen Scheiß geliebt und ihre Kinder gezwungen, sich die Wiederholungen anzusehen, als sie noch zu klein gewesen waren, um sich dagegen zu wehren.

Sobald die Kinder sicher aus dem Weg waren, trat Maxie wieder aufs Gaspedal und donnerte die Straße entlang. Immer noch vor sich hinpfeifend.

»Wir brauchen einen neuen Wagen«, eröffnete Charlie ihrer Schwester, als die Cops sie wieder eingeholt hatten.

»Was gibt es an diesem hier auszusetzen?«

»Eine Menge.«

Maxies Telefon klingelte und sie ließ es sich nicht nehmen, eine Hand vom Lenkrad zu nehmen, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Aha. Ja, klar. Okay. Vielen Dank, Sir.«

Sie beendete das Gespräch und sah Charlie an.

»Was ist?«, drängte Charlie, als ihre Schwester nichts sagte.

»Sie brauchte eine Pause.«

»Eine Pause? Sie brauchte eine Pause? Was bedeutet das?«

»Du weißt, was das bedeutet, Charlie.«

»Weiß ich das?« Charlie dachte einen Moment lang nach, dann verdrehte sie die Augen. »Oh, ich bitte dich! Schon wieder?«

»Du kennst sie doch. Aber hey! Zumindest ist sie noch in der Schweiz. Wir werden im Handumdrehen dort sein.«

»Aber sie ist in einer Nervenheilanstalt! Keiner Ferienanlage

»Für sie sind alle Nervenheilanstalten Ferienanlagen. Außerdem könnte es schlimmer sein«, erwiderte Max fröhlich. »Das alles könnte so viel schlimmer sein!«

Charlie schüttelte den Kopf. »Mann, ich wüsste wirklich nicht, wie.«

Kapitel 2

Der schwarze SUV, ein Mercedes-Benz AMG G63, bremste vor der Klinik für geistige Gesundheit und Rehabilitation.

Normalerweise kamen nur die wohlhabendsten europäischen Adligen hierher. Die meisten Amerikaner wussten nicht einmal von der Existenz der Klinik, aber Charlies kleine Schwester hatte eine Gabe – sie konnte hochkarätige Nervenheilanstalten überall auf der Welt aufspüren. Und sie alle schienen die gleichen Annehmlichkeiten zu bieten wie eine Kurklinik: Fünf-Sterne-Köche, die die Mahlzeiten zubereiteten, und Gruppentherapien, etwas, das Charlies Schwester offensichtlich gefiel.

Die erste Klinik, in die Stevie Stasiuk-MacKilligan sich in ihrem Leben hatte einliefern lassen, war irgendwo in Malibu und kostete einen Tausender am Tag. Doch sie bezahlte nie auch nur einen Cent. Darum kümmerte sich das Labor, in dem sie ein »Praktikum« machte. Das Labor war auch die Erklärung dafür, warum sich niemand bemühte zu fragen, warum eine damals noch Vierzehnjährige sich ohne ein Elternteil oder einen Vormund in Sichtweite in eine psychiatrische Klinik in Malibu einliefern konnte.

Und was entdeckten diese brillanten und kostspieligen Psychologen über die Jahre hinweg bei Stevie? Genau das, was Charlie bereits wusste: Dass ihre Schwester ein übernervöses Wunderkind war, das unter extremen Panikattacken litt, wie jedes verlassene Kind es tun würde.

Stevies Mutter, eine sibirische Tigerin aus einer sehr wohlhabenden Familie, war eines Tages vor Carlie Taylors Tür aufgetaucht und hatte sie gebeten, für »einige Stunden« auf die fünfjährige Stevie aufzupassen. Charlies Mom, eine Wölfin, die es nie gelernt hatte, zu irgendjemandem Nein zu sagen (außer zu Charlies Großvater), stimmte zu. Nach drei Tagen erklärte sie Charlie und Max, dass es so aussehe, als würde ihre kleine Schwester bleiben. Ob das nicht großartig sei?

Damals fand Charlie das überhaupt nicht großartig. Es war schlimm genug, dass sie bereits eine der ausrangierten Gören ihres Vaters aufgenommen hatten; jetzt hatten sie zwei. Aber Ersteres war zumindest nachvollziehbar gewesen, weil Max’ Mutter wegen eines bewaffneten Raubüberfalls in einem bulgarischen Gefängnis einsaß. Sie konnte sich nicht um ihr Kind kümmern. Aber die Tigerin … sie war einfach weggegangen und hatte ihre eigene Tochter zurückgelassen.

Natürlich ließ Stevie sich davon nicht beirren. Ihrer Meinung nach gab es so viele Dinge im Universum, um die sie sich Sorgen machen musste, dass die Tatsache, dass ihre Mutter sie zurückgelassen hatte, nicht wichtig genug schien, um einen Groll zu hegen.

Also tat Charlie das für sie. Sie war sehr gut im Grollhegen. Man brauchte nur ihren idiotischen Vater zu fragen.

Charlie traf sich mit ihrer Schwester vor dem SUV.

»In Ordnung«, begann Charlie. »Du weißt ja, wie das läuft.«

Max nickte und erwiderte tonlos: »Reingehen. Alle umbringen. Stevie rausholen.«

Charlie schloss kurz die Augen, nahm sich einen Moment Zeit, um durchzuatmen und zu versuchen, die Schultern zu entspannen. Als sie das Gefühl hatte, dass sie nicht herumbrüllen würde, sagte sie: »Nein, so läuft es nicht.«

»Könnte es aber.«

»Könnte, tut es aber nicht. Es läuft so, dass wir reingehen, ich das Reden übernehme und du nicht auf Stevie rumhackst.«

»Sie ist zu empfindlich.«

»Aber nur weil du das bereits weißt, wirst du nicht auf ihr herumhacken.«

Max lächelte. »Was ist, wenn ich es aber machen will?«

»Dann werde ich ihr diesmal erlauben, dir ein Auge auszukratzen. Und du wirst dann eine Augenklappe tragen … und wir können dich Einauge McGee nennen.«

Lachend ging Max zur Eingangstür, dicht gefolgt von Charlie.

Als sie eintraten, schauten sie einander an. Stevie hatte wirklich den Bogen raus, wenn es darum ging, wunderschöne Kliniken für psychisch Kranke zu finden.

Hier gab es weißen Marmor und wunderschöne weiße Möbel. Vor weißen Sofas lagen atemberaubende und teure orientalische Teppiche. Couch- und Beistelltische aus weißem Marmor standen darauf. Deckenhohe Fenster zeigten die bemerkenswerte Schönheit der Schweizer Landschaft, die das Gebäude umgab.

»Ihr macht Witze«, murmelte Max und starrte zu den kathedralenartigen Decken empor. »Ich glaube, ich fühle mich psychisch krank, denn ich könnte etwas Valium und eine Massage gebrauchen.«

»Hör auf damit.« Charlie packte Max am Arm und zog sie zur Anmeldung, die nicht weiß war, sondern aus durchsichtigem Glas bestand und tipptopp sauber war. Die atemberaubende Frau, die auf der anderen Seite in einem weißen Hemd und einem engen weißen Rock saß, entblößte perfekte weiße Zähne.

»Hallo. Sprechen Sie Englisch?«, fragte Charlie auf Deutsch.

»Ja«, antwortete sie sofort. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich würde gern meine Schwester besuchen. Stevie MacKilligan.«

»Nehmen Sie doch bitte Platz. Ich verständige ihren Arzt.«

»Danke.«