Antonia hat früh und ohne Liebe geheiratet, in der bornierten bürgerlichen Gesellschaft Palermos fühlt sie sich fremd. Ihr kleiner Sohn, der einzige Hoffnungsschimmer, wird ihr immer mehr entzogen. Als nach dem Tod der Großmutter Familiendokumente in ihre Hände gelangen, verbringt sie ganze Tage und Nächte über alten Briefen, Zetteln und Fotos – und die Erinnerung spricht. Da waren der jüdische Großvater, Kunstsammler in Wien, der in den dreißiger Jahren nach Brasilien geflüchtet ist, und, auf der anderen Seite, Nonna und die Villa Clara, Sitz der englischen Familiendynastie in Sizilien. In ihrem Tagebuch rekonstruiert Antonia Stück für Stück die schwierige Kindheit und Jugend zwischen Nassau auf den Bahamas, Kitzbühel und London. Der frühe Tod des Vaters scheint wieder auf, die Mutter, die sich neu verheiratet und Antonia ins Internat schickt. Das Vergangene beginnt, ihren sizilianischen Alltag zu erfassen, und plötzlich liegt etwas in der Luft, das nicht mehr aufzuhalten ist.
Gabriella Zalapìs Roman in Tagebuchform verknüpft eine atemberaubende kosmopolitische Familiengeschichte mit dem Kampf einer jungen Frau um Selbstbehauptung. Einfühlsame, fein abgestimmte Einträge und eingestreute Fotos machen die Veränderung greifbar.
Tagebuch 1965–1966
Aus dem Französischen
von Claudia Steinitz
Edition Blau im Rotpunktverlag
Die Übersetzung dieses Buchs wurde von
Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung, gefördert.
Die Übersetzerin und der Verlag bedanken sich dafür.
Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit
einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016-2020 unterstützt.
Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel
Antonia. Journal 1965–1966 bei Zoé erschienen.
© 2019 Editions Zoé
© 2020 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich
(für die deutschsprachige Ausgabe)
Published by arrangement with Agence litteraire Astier-Pécher
www.rotpunktverlag.ch
www.editionblau.ch
Fotos: Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Daniela Koch
Umschlagbild: Clara Chichin
Umschlaggestaltung: Annina Meier
eISBN 978-3-85869-878-0
1. Auflage 2020
21. Februar 1965
3. März 1965
4. März 1965
12. April 1965
30. April 1965
5. Mai 1965
10. Mai 1965
28. Juni
3. Juli 1965
4. Juli 1965
5. Juli 1965
9. Juli
11. Juli 65
12. Juli
15. Juli
17. Juli
18. Juli
Genf, 30. Juli 1965
2. August 1965
3. August 1965
4. August 1965
5. August 1965
6. August 1965
7. August 1965
8. August
9. August 1965
14. August 1965
22. August 1965
Ein Uhr früh
23. August 1965
10. September 1965
15. September 1965
16. September 1965
17. September 1965
18. September
19. September 1965
21. September 1965
22. September 1965
25. September 1965
1. Oktober 1965
5. Oktober 1965
6. Oktober 1965
21. Oktober
6. November 1965
15. November 1965
21. November 1965
23. November
27. November 1965
29. November 1965
30. November 1965
7. Dezember 1965
8. Dezember 1965
25. Dezember 1965
27. Dezember 1965
15. Januar 1966
30. Januar 1966
2. Februar 1966
14. Februar 1966
1. März 1966
18. März 1966
19. April 1966
25. April 1966
1. Juni 1966
24. Juni 1966
26. Juni 1966
30. Juni 1966
5. Juli 1966
8. Juli 1966
9. Juli 1966
10. Juli 1966
29. Juli 1966
31. Juli 1966
5. August 1966
10. August 1966
12. August 1966
27. August 1966
10. September 1966
14. September 1966
3. November 1966
Als ich heute Morgen die Augen aufmachte, war ich nicht fähig, mich zu bewegen. Mein Körper schien sich in den Laken aufgelöst zu haben und schwamm in giftigem Schweiß. Erst als ich das Kindermädchen hörte, sprang ich aus dem Bett. Nurse, wie sie genannt werden möchte, stand mit Arturo an der Tür. Wohin gehen Sie? »Wir gehen zur Schule, of course«, antwortete sie mit ihrer ewig vorwurfsvollen Miene. Sie knallte mir buchstäblich die Tür vor der Nase zu. Dann ist mir eingefallen, dass ich meinem Sohn gestern beim Abendessen versprochen hatte, ihn heute in die Schule zu bringen, und ich habe mich geschämt.
Ich habe Haarausfall. Ich habe Migräne. Ich kann zusehen, wie ich dicker werde, und passe nicht mehr in meine Kleider. Meine neueste Angewohnheit: Sobald Franco aus dem Haus geht, hänge ich schwarze Laken über die Spiegel.
Gestern hat er mir vorgeworfen, ich wisse nicht, wie man den Hausangestellten Anweisungen gibt. Ich sei zu freundlich zu ihnen. Seine Stimme war verächtlich. Als er zu freundlich sagte, zog er die Silben auseinander, und an den Rändern seiner rollenden Zunge sammelten sich Speichelblasen. Er nennt Maria hartnäckig Magd.
Nurse in ihrer Krankenschwesterntracht tut ganz harmlos, aber sie belauert mich. Ich hätte sie gleich am Anfang wegschicken müssen. Sie hat mir verboten, Arturo zu stillen und ihn nachts bei mir zu behalten. Sie hat mit ihrem perfekten Dutt, ihrer glatten Haut, ihrem kleinen, dichten Schnurrbart, ihren Vorschriften und ihren eisblauen Augen zu viel Raum zwischen ihm und mir eingenommen.
Heute früh um neun Termin mit Onkel Ben beim Notar in der Via Cavour. Wir haben endlich die letzten kleinen Streitigkeiten wegen Nonnas Testament beigelegt.
Alles ist ganz ruhig vonstatten gegangen. Ich war wie betäubt. Ich habe geerbt, was Papa zugestanden hätte: viel Geld, die Hälfte der Möbel aus der Villa Clara (wo soll ich sie hinstellen?) und die sechs Wohnungen in Florenz (monatliche Einnahmen). Endlich ist diese Angelegenheit erledigt. Ich bin froh, dass ich niemals finanziell von Franco abhängig sein werde.
Beim Notar ist mir bewusst geworden, dass seit Nonnas Tod schon fünf Jahre vergangen sind. Trotzdem passiert es mir noch, dass ich beim Klingeln des Telefons, glaube, hoffe, ich werde ihre Stimme hören. Und dann die Erstarrung. Die Enttäuschung.
Wann ich Onkel Ben wohl wiedersehen werde? Auf dem Flughafen ist mir an seinem Schritt aufgefallen, wie alt er geworden ist. Ihn unbedingt in London besuchen.
Abendessen bei uns mit Valentina, Felice, Matilde und ihrem Mann.
Menü:
Makkaronitimbale mit Salbei
Seezungenfilet à la Diplomate
Crostini mit Leberpastete in Aspik
Salat Jockey-Club
Aprikosenmousse
Diese Gesellschaften sind eine willkommene Ablenkung von den endlosen Abenden mit Franco. Dann bin ich nicht allein mit diesem geräuschvoll kauenden Mund. Mit diesem Kopf, der sich so tief über den Teller beugt, dass er abfallen und im Gazpacho landen könnte. Heute Abend kein »Wie? Was hast du gesagt?«.
Ich habe Nonnas Kartons hierhergeholt. Franco hat das Gesicht verzogen, als er gesehen hat, dass ich dafür ein ganzes Zimmer in Beschlag genommen habe. Onkel Ben hatte mir vor seiner Abreise gesagt, ich würde nichts darin finden. »In den Kartons sind nur alte Briefe und alte Fotos.« Ich allerdings vermute, dass sie Schätze enthalten. Der Möbelträger, der mir glücklicherweise in der Diele über den Weg gelaufen ist, hat gesagt, dass der Rest der Möbel am Mittwoch gebracht wird. Um elf Uhr soll er zwei Bücherregale und einen Schreibtisch in Francos Kanzlei abliefern. Dann fahren sie zusammen zu Francos Eltern, um dort andere Möbel abzustellen (er konnte mir nicht genauer sagen, was). Erst ganz am Schluss kommen sie hierher. Diese Aufteilung ist unfassbar. Franco hat eine Plünderung organisiert.
Franco mit seinem Priesterrücken bringt mich zur Verzweiflung. Ich ertrage ihn nicht mehr:
seine kleinen, zwanghaften Gesten, wenn er seine Sachen zusammenlegt
seine Manie, sich laut zu schnäuzen, bevor er ins Bett geht
seine grauenvollen gestreiften Pyjamas, Geschenke seiner Mutter
sein geräuschvolles Ausspucken, wenn er sich die Zähne putzt
seinen weißen, schlaffen Körper
Um ihn zu meiden, suchte ich früher noch nach einer Entschuldigung und verzog mich aus dem Schlafzimmer, jetzt sage ich nichts mehr. Die Gewohnheit hat ein fast vertrautes Schweigen hervorgebracht. Ich gehe hinaus und setze mich an Arturos Bett, er schläft wie ein kleiner Engel. Sein Gesicht und sein Atem im Halbdunkel beruhigen mich. Wenn ich aus dem Zimmer komme, öffnet diese Hexe von Nurse unweigerlich die Tür und fragt leise, aber scharf: »Stimmt etwas nicht?«