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Über dieses E-Book

Als Christopher T. Markham unerwartet Post aus Hawaii bekommt, rechnet er mit allem, nur nicht damit, dass sein Sommerflirt ihm mitteilt, ein Kind von ihm zu erwarten. Ich bin schwanger, mehr schreibt die Hawaiianerin, mit der er ein paar schöne Urlaubstage verbracht hat, nicht. Sofort fliegt Christopher nach O‘ahu, denn ein untergeschobenes Kind ist das letzte, was der erfolgreiche Anwalt im Moment braucht. Er ist sich sicher, dass er Opfer eines abgekarteten Spiels geworden ist, weil er unter keinen Umständen der Erzeuger des Babys sein kann. Oder etwa doch …?

Impressum

dp Verlag

Erstausgabe Februar 2022

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-791-5
Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-470-9
Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-306-1

Covergestaltung: Vivien Summer
Unter Verwendung von Motiven von
shutterstock.com: © G-Stock Studio, © thanakorn_pae, © KDdesignphoto
Lektorat: Stephanie Schilling

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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dp Verlag

Prolog

Chris

Oktober, vier Wochen zuvor

Urlaub zu Ende! Das denke ich, als der Handywecker mich aus meinen Träumen reißt. Verfluchter Mist! Niemand sollte zu dieser unchristlichen Uhrzeit aufstehen müssen. Was hat meinen Freund Pierce nur geritten, eine frühe Maschine wie diese zu buchen? Bestimmt hätte es spätere Abflugmöglichkeiten gegeben, um von Honolulu nach Chicago zu gelangen. Sollten wir es pünktlich zum Flughafen schaffen, werde ich ihn darauf hinweisen. Für die Zukunft. Falls wir erneut in eine unzumutbare Situation wie diese geraten.

Müde reibe ich mir über die Augen. Ich habe keine Lust aufzustehen und versuche es, so lange es geht, hinauszuzögern. Zwei Minuten habe ich noch. Mindestens.

Mit einem Seufzen drehe ich mich auf die Seite und betrachte die Schönheit, die neben mir liegt. Ihre schwarzen, langen Haare fächern sich in Wellen über das Kopfkissen und die geschlossenen Augenlider zucken leicht im Schlaf. Vielleicht träumt sie gerade – von mir. Bestimmt träumt sie von mir.

Auf Nikas schlankem Hals befindet sich ein roter Abdruck. Ein Knutschfleck, den ich dort hinterlassen habe. In voller Absicht als wäre ich ein Höhlenmensch, der eine Markierung setzen muss. Nika soll etwas haben, das sie in den nächsten Tagen an mich und unsere unglaubliche Zeit auf O‘ahu erinnert. Wer hätte gedacht, dass ich hier eine so wunderbare Bekanntschaft mache. Rein zufällig.

Ohne zu lügen, kann ich behaupten, dass ich die beste Zeit mit der besten Frau überhaupt hatte. Jemals. In meinem ganzen Leben. Einfach Wahnsinn – es ist kaum zu glauben! Im Stillen hoffe ich auf eine Wiederholung. Irgendwann. Mein Plan, in Zukunft regelmäßig Urlaub auf Hawaii zu machen, nimmt damit mehr und mehr Gestalt an.

Es war eindeutig Schicksal, dass ich vor gut zehn Tagen beschlossen habe, Pierce nachzureisen. Dieser spontane Entschluss, der aus einem Pflichtgefühl heraus entstanden ist, sollte eine Verstärkung an der Front symbolisieren. Jederzeit würde ich eine Reise wie diese wiederholen und das, obwohl ich meinem Freund bei seinen Problemen nicht wirklich hatte helfen können. Zum Glück ist er gut alleine klargekommen.

Mein Freund … Pierce.

Schreck! Es ist höchste Zeit.

Ich muss ihn anrufen. Am besten sofort. Wenn es mir schon schwer fällt aus dem Bett zu kommen, dann ist es nahezu unmöglich für Pierce Giffort Huxley jun. Der Mann ist ein notorischer Langschläfer und Morgenmuffel.

Da ich nicht vorhabe, den Flug zu verpassen, greife ich nach dem Haustelefon neben meinem Bett und lasse mich mit seiner Suite verbinden.

„Ja?“, begrüßt mich eine niedliche Stimme, die zu Pierce‘ Freundin Ana gehört. Sie wirkt überrascht, aber nicht verschlafen. Höchstwahrscheinlich hat sie gerade ihre liebe Mühe mit meinem komatösen Freund.

„Kippe ihm eine Ladung Wasser ins Gesicht, sonst steht er nie auf.“

„Kannst du durch Wände gucken?“, fragt Ana und fängt an zu lachen.

„Nein, aber ich kenne diesen faulen Hund schon mein ganzes Leben. Er ist nie gerne früh aufgestanden. Und mit einer nackten Frau an seiner Seite dürfte es ihm um ein Vielfaches schwerer fallen.“ Während ich das sage, lasse ich meinen Blick über die wunderbare Frau neben mir schweifen. Sie schläft tief und fest und bewegt sich nicht, obwohl ich nicht gerade flüstere.

Wie schwer Aufstehen sein kann, merke ich gerade selbst. Blöder verlockender Anblick.

Empörtes Luftschnappen ist zu hören. „Woher willst du wissen, dass ich nichts anhabe?“, fragt Ana mich herausfordernd.

Lügen ist zwecklos. Ich kenne meinen Freund und seine Vorlieben zu gut. Natürlich ist meine Gesprächspartnerin im Evakostüm. Da gibt es keine Zweifel.

„Wie ich schon sagte.“ Mir entschlüpft ein herzhaftes Gähnen. „Ich kenne meinen Freund. Außerdem würde ich das gleiche tun, wenn ich an seiner Stelle wäre.“ Dass ich ebenfalls neben einer nackten Frau aufgewacht bin, muss Ana nicht erfahren. Ein Geheimnis steht mir zu. „Ich glaube, Pierce wird diesen Urlaub niemals vergessen. Du bist wirklich toll, Ana. Wir haben uns in den paar Tagen nur flüchtig kennengelernt, aber ich sehe, wie Pierce auf dich reagiert. Er zeigt mir eine völlig neue Seite von sich.“ Wahre Worte.

„Ich werde ihn auch nicht vergessen.“ Ana stockt und ich vermute, dass sie mit den Tränen kämpft. „Wir sehen uns in fünfzehn Minuten in der Lobby.“ Bevor ich antworten kann, hat sie aufgelegt.

Hoffentlich konnte der Anruf etwas bewirken und Ana findet den Mumm, meinen Freund bei den Eiern zu packen. Anders wird sie ihn vermutlich nicht zum Aufstehen bewegen können. Was für ein verzückendes Kopfkino.

Ohne die Matratze großartig in Bewegung zu bringen, schleiche ich mich aus dem Bett und verschwinde ins Badezimmer. Eine Ladung kaltes Wasser wirkt bei mir besser als jede Tasse Kaffee.

Ich brauche fünf Minuten für eine eisige „Ruck-Zuck-Dusche“ und drei, um mich anzuziehen. Die Bartstoppeln dürfen bleiben, beschließe ich, weil die Zeit drängt. Gut, dass ich den Koffer gestern schon gepackt habe.

Im Schlafzimmer setze ich mich ein letztes Mal zu Nika aufs Bett. Ich streiche ihr mit dem Finger über die Wange und freue mich, dass sie die Augen aufschlägt und mich anlächelt.

„Guten Morgen“, flüstere ich, obwohl es nicht nötig ist. Wir sind allein. Außerdem ist es noch gar nicht Morgen. Es ist mitten in der Nacht.

„Musst du gehen?“ Ihre Stimme klingt verschlafen und ein wenig rau.

„Ja. Das Flugzeug wartet nicht. Ich muss los.“ Meine Lippen berühren ihre, bevor sie etwas sagen kann. Sanft küsse ich sie. Wenig später spüre ich ihren Körper, der sich gegen meinen lehnt. Dass ich weiß, dass sie unter dem dünnen Laken nichts anhat, macht es schwer, mich zu lösen. Ich streiche mit dem Finger über mein Abschiedsgeschenk – den Knutschfleck – danach bringe ich Abstand zwischen uns. Wann ist mir das letzte Mal etwas so verflucht schwergefallen? Keine Ahnung. Noch nie.

„Ich habe dir meine Visitenkarte dagelassen.“ Mit dem Finger deute ich auf das Kärtchen, welches ich auf den Nachttisch gelegt habe. „Solltest du etwas brauchen …“, ich stocke und komme mir plötzlich blöd vor, „oder Lust haben, meine Stimme zu hören, ruf mich an.“ Warum ich das sage und auf die Karte deute, ist mir schleierhaft. Wir haben in den letzten Tagen die Handynummern ausgetauscht. Nika kann sich jederzeit melden. Sie braucht meine Büroanschrift oder meine Festnetznummer in der Kanzlei nicht. „Schick mir gerne eine Ansichtskarte“, sage ich, um mich in irgendeiner Form für mein Gestammel zu rechtfertigen. Höchste Zeit, zu verschwinden.

„Du möchtest eine Ansichtskarte von mir?“ Die Überraschung ist herauszuhören. Nika kräuselt niedlich die Stirn und versucht, nicht den Kopf zu schütteln, während sie sich ein Schmunzeln verkneift.

„Ein Liebesbrief wäre auch okay.“ Mein Grinsen ist breit und frech und überspielt meine Verlegenheit. „Ich habe noch nie einen Liebesbrief bekommen. Jetzt hast du meine Adresse. Überrasch mich.“ Ein letztes Mal küsse ich sie, bevor ich mich endgültig losreiße. „Wir sehen uns wieder. Versprochen.“

1

Chris

Heute, Ende November

Ich bin schwanger, das ist alles was auf der Ansichtskarte steht, die heute mit der Hauspost in die Kanzlei geflattert ist. Eine Postkarte aus Hawaii, aus O’ahu, um genau zu sein. Was hat das zu bedeuten? Ist das ein Witz? Ich erinnere mich, dass ich Nika gebeten hatte, mich zu überraschen, aber das …?

Es muss ein Scherz sein – ein schlechter. Vermutlich möchte sie damit einen Rückruf meinerseits provozieren. Anders als ich es ihr versprochen habe, habe ich mich nämlich seit vier Wochen nicht gemeldet. Asche auf mein Haupt. Kaum hatte mich die Arbeit fest im Griff, waren der Urlaub und die wunderschöne Hawaiianerin, die ich dort getroffen habe, vergessen. Leider. Traurig aber wahr. Die Pflichten eines Strafverteidigers nehmen nie ein Ende. Freie Zeit ist permanent knapp bemessen.

Immer noch fassungslos, starre ich auf die drei Wörter: Ich bin schwanger.

Ist das überhaupt möglich? Ganz ehrlich?

Ich krame in meinem Gedächtnis, kann mich aber an keine Material- oder Nachschubprobleme erinnern. Wir haben jedes Mal ein Kondom benutzt. Ohne Ausnahme. Gummis an die Macht. Sogar bei unserer heimlichen Nacktbadeaktion habe ich darauf bestanden. Beim Thema Verhütung und Schutz mache ich keine Kompromisse. Ich habe ein aktives Sexleben und bin für Sicherheit auf ganzer Linie. In regelmäßigen Abständen lasse ich mich testen, weil es mir wichtig ist. Ich bin gesund. Und Nika ist ganz sicher nicht schwanger. Auf keinen Fall.

Das muss ein Irrtum sein.

Ein makabrer Spaß, der es schafft, mich von meinem hohen Arbeitspensum aufsehen zu lassen.

Wollte ich nicht einen Liebesbrief von ihr bekommen? Unter Umständen ist das ihre Art, Liebesbriefe zu schreiben. Haha. Ich konnte Liebeserklärungen noch nie etwas abgewinnen.

Zu kitschig.

Zu sentimental.

Zu viele Informationen zwischen den Zeilen.

Dass die Postkarte weder kitschig noch sentimental ist, noch versteckte Informationen enthält, ignoriere ich. Unverblümter als Ich bin schwanger geht es schließlich kaum.

Wieso habe ich Nika um einen Liebesbrief gebeten? An dem Morgen muss ich noch im Halbschlaf gewesen sein. Anders lässt sich das Dilemma nicht erklären. Für gewöhnlich verhalte ich mich anders.

Ein ziemliches Missverständnis. Ich muss völlig neben mir gestanden haben.

Fest entschlossen, Nika nach Feierabend anzurufen, lege ich die Postkarte mit der Schrift nach unten auf meinen Schreibtisch. Mir ist deutlich wohler, wenn ich nicht ständig das Wort schwanger vor Augen habe. Es verursacht mir eine Gänsehaut.

Der Plan, mit meiner Urlaubsliebelei erstmal zu telefonieren, ist gut, sogar grandios. Ich muss nicht Hals über Kopf in das nächste Flugzeug springen und nach Hawaii fliegen. Langsam an das Problem herantasten und nichts überstürzen, lautet meine Devise. Sollte Nika tatsächlich schwanger sein, wird sie mit mir am Telefon darüber reden. Und wenn sie es nicht von sich aus anspricht – aus welchen Gründen auch immer –, werde ich sie auf die wenig spaßige Liebesbriefpostkarte festnageln. Ich werde ganz sicher nicht Vater. Das ist unmöglich.

Ein Klopfen an der Tür holt meine Gedanken zurück ins Büro.

Argwöhnisch sehe ich auf die Uhr und rufe herein. Wer kann das sein? Termine habe ich heute keine mehr. Der Arbeitstag ist fast um.

„Hey.“ Mein Freund Pierce steckt den Kopf durch den Türschlitz. „Hast du Zeit oder bist du im Stress?“

„Komm rein.“ Da ich weiß, dass er aus dem Gericht kommt, wo gerade ein Fall verhandelt wird, bei dem sein Vater, eine nicht unerhebliche Rolle spielt, bin ich gerne bereit, meine kostbare Zeit mit ihm zu teilen. Dafür sind Freunde schließlich da. Pierce hat es gerade nicht leicht.

„Wie läuft es?“, frage ich, kaum dass mein Besucher sich gesetzt und lange ausgeatmet hat. Dem Anschein nach könnte es besser gehen.

„Mittelmäßig“, bestätigt Pierce meine Vermutung. „Der Staatsanwalt ist eine Ratte.“

Mehr sagt er nicht.

„Eine Ratte?“, frage ich nach.

„Yep. Eine fiese Irving-Ratte.“

„Du kannst Owen Irving also nicht ausstehen und das, obwohl er deinem Vater hilft, sich aus dem Drecksloch, in das er sich selbst befördert hat, zu befreien?“

„Richtig erkannt.“ Pierce fährt sich durch die Haare, die ungewöhnlich zerzaust aussehen. Zweifellos rauft er sich die nicht zum ersten Mal am heutigen Tag. „Die Art, wie dieser eingebildete Gockel durch den Gerichtssaal spaziert, macht mich wahnsinnig. Dieser …“ Mein Freund hält plötzlich inne – sein Blick ist argwöhnisch. „Warum liegt eine Ansichtskarte vom Diamant Head auf deinem Schreibtisch?“

Bravo und Tusch! Das hätte kaum schlechter laufen können. Mist!

„Äh …“

Natürlich ist es zu spät, die Post zu verstecken.

Der stets Wissbegierige schnappt sich die brisante Karte, bevor ich ihn aufhalten kann.

„NEIN!“, versuche ich es trotzdem.

Er runzelt die Stirn und sieht hoch, kaum dass er die wenigen Worte gelesen hat. „Wer ist schwanger?“

Noch mal Mist!

Nun verspüre ich einen Drang, mir die Haare zu raufen. Gleich nachdem ich meinem Freund die Karte aus der Hand gerissen und sie in meiner Schreibtischschublade verstaut habe.

„Niemand. Das ist ein Spaß.“ Ich schnappe mir die Karte, lasse sie verschwinden und fahre mir durch die Haare.

„Wer ist Wanika?“

Steht ein Name auf der Karte? Ist mir gar nicht aufgefallen. „Kennst du nicht. Du wolltest mir etwas über den Staatsanwalt erzählen. Was hat Irving gemacht, außer eingebildet zu stolzieren?“ Es ist ein schwacher Versuch, beim Thema zu bleiben.

Pierce mustert mich. Er wirkt perplex und verwirrt zugleich. „Wirst du tatsächlich Vater?“

Teufel! Bitte nicht!

„NEIN, zum Geier. Das ist ein Spaß. Ich werde Nika nachher anrufen und fragen, was dieser Quatsch zu bedeuten hat.“

Mit schüttelndem Kopf zeigt Pierce mir seine Fassungslosigkeit. „Erzähl mir bitte nicht, dass du in unserem Urlaub auf Kondome verzichtet hast. Wir sind keine Teenager mehr, Chris. Muss ich dir ernsthaft einen Vortrag über Verhütung halten?“

Gott bewahre. Was für eine grauenhafte Vorstellung.

„NEIN!“, kommt es zum dritten Mal lautstark über meine Lippen. Ich stehe auf, weil ich unmöglich sitzen bleiben kann. „Sex ohne Kondom kommt für mich nicht infrage“, stelle ich klar, damit mein Freund aufhört, mich anklagend anzustarren. Mich trifft keine Schuld.

„Gut.“ Erleichterung ist rauszuhören. „Aber Kondome können Materialfehler aufweisen. Winzig kleine Löcher … du verstehst. Gummis sind nicht hundertprozentig sicher.“

Grundgütiger. Der Mann kennt kein Erbarmen.

„Bist du bald fertig? Ich werde nicht Vater.“ Es auszusprechen, macht es irgendwie schlimmer. Ich muss dringend diese Unsicherheit loswerden. Was, wenn doch …?

„Möchtest du mir von deiner Wanika erzählen?“ Der Spaßvogel vor meinem Schreibtisch hebt eine Augenbraue. „Arbeitet sie zufällig im Lailani Beach Hotel?“

Ich habe verloren.

„Sie wird nur Nika gerufen. Außerdem geht dich das nichts an.“ Ich lasse mich zurück auf meinen Stuhl fallen. „Fliegst du am Wochenende zu Ana?“

Pierce beginnt zu strahlen. Mit dem ganzen Gesicht. Mit dem ganzen Körper. „Jaaaa.“

Wie ist es möglich, diese Verliebtheit mit nur einem Wort auszudrücken? Für einen knallharten Strafverteidiger benimmt sich Pierce unmöglich.

Dass seine Hand prompt und wie ferngesteuert zu dieser Hässlichkeit um seinen Hals wandert, ist beängstigend. Ich glaube, es ist ein Reflex, genau wie das dämliche Grinsen. Pierce bemerkt es nicht mal. Immer wenn ich ihn nach Ana frage, fasst er die Krawatte mit dem Ananasprint an. Sie ist scheußlich und passt farblich nur zur Hälfte seiner Anzüge. Dass sie unglaublich billig aussieht, können auch die teuren Maßanzüge, die er tagtäglich trägt, nicht wettmachen. Vermutlich ist das Ding aus Polyester.

Da lobe ich mir meinen Schneider. Bei mir stimmt alles farblich und qualitativ überein. Für jeden Anzug habe ich mindestens drei Krawatten zur Auswahl. Kein einziges Stück in meinem Kleiderschrank sieht billig aus. Wie auch? Nichts davon war billig. Nichts habe ich geschenkt bekommen.

Ich zwinge meinen Blick weg von der Krawatte. „Schön für dich“, kommentiere ich das Verhalten und gönne mir einen Seufzer.

„Möchtest du mitkommen?“, fragt er aus heiterem Himmel. „Ich könnte uns einen frühen Flug buchen.“ Mein Freund lacht über seinen eigenen Witz. Pierce hasst frühe Flüge, es sein denn, sie gehen von Chicago nach Honolulu. In dem Fall steht er auch mitten in der Nacht auf.

„Nein, danke“, antworte ich, kann aber den Gedanken nicht vollständig verbannen. Je nachdem wie das Telefongespräch mit Nika verläuft, überlege ich es mir möglicherweise noch anders. Die Sache ist äußerst merkwürdig.

Nika

Meine Handflächen sind feucht, mein Mund ist trocken und mein Herz schlägt schneller als üblich. So elendig habe ich mich noch nie gefühlt. Seit zwanzig Minuten laufe ich vor der Klinik auf und ab. Mein Termin ist in fünf Minuten. Viel Zeit habe ich nicht mehr, um die benötigte Kraft aufzubringen. Ich muss nur durch die Tür treten, mich an der Information melden und die Papiere, die mir vorher per E-Mail zugeschickt wurden, abgeben. Unterschrieben habe ich sie längst.

Und dann …

Was dann? Dann würde der Spuk ein Ende haben.

Ich sehe auf die Einwilligungserklärung in meiner Hand. Möchte ich die Abtreibung wirklich machen lassen und zum Mörder werden? Die Frage stelle ich mir, seit ich den Termin gemacht habe. Will ich wirklich einem kleinen unschuldigen Geschöpf verwehren das Licht der Welt zu erblicken, nur weil ich unachtsam war?

Oh Gott!

Stopp!

Der Gedanke, ein Leben, wenn auch noch nicht richtig begonnen, zu beenden jagt mir Angst ein, doch jede Frau hat ein Recht auf Selbstbestimmung. Eine Abtreibung macht eine Person nicht zu einem schlechten Menschen – oder?

Warum habe ich diese Gedanken? Es ist falsch – grundsätzlich falsch. Das Wirrwarr in meinem Kopf macht mich verrückt. Seit zwei Tagen habe ich nicht geschlafen und zu wenig gegessen.

Meine Füße tragen mich zu der Bank, die vor der Klinik steht und, den Kippen auf dem Boden zufolge, häufig für eine Zigarettenpause genutzt wird. Mit schwerem Herzen lasse ich mich auf der Sitzfläche nieder und lege meine freie Hand vor den Unterbauch. Die unbewusste Geste verwirrt mich … und das nicht zum ersten Mal. Als wollte ich mein Kind vor mir selbst beschützen. Vor dummen und überstürzten Entscheidungen.

Es ist zum Verzweifeln.

Verdammt!

Ich will nicht.

Ich kann nicht.

Tief in mir drin möchte ich nicht da reingehen und ein ungeborenes Leben beenden. Es geht nicht. Es wäre höchstwahrscheinlich eine vernünftige Entscheidung, aber es wäre nicht die richtige. Bestimmt gibt es Frauen, deren Zwangslage meiner ähnelt und für die eine Abtreibung die beste Entscheidung ist – mir steht ein Urteil darüber nicht zu, jede Situation ist anders – aber für mich möchte ich es nicht.

Nicht heute.

Niemals.

Obwohl ich das Gefühl verspüre, keine Wahl zu haben, stimmt das so nicht. Ich habe eine Wahl. Man hat immer eine Wahl. Der Leitspruch meiner Mutter hallt in mir nach, als hätte sie ihn in diesem Augenblick laut ausgesprochen. Warum muss ich ausgerechnet jetzt an sie denken?

Meine Mutter war gebürtige Hawaiianerin und eine unglaublich starke Frau. Eine der stärksten, die ich kennenlernen durfte. Inoa ‘Aulani hat mich allein großgezogen und dadurch auf vieles in ihrem Leben verzichten müssen. Genau wie ich, arbeitete sie jahrelang als Zimmermädchen in verschiedenen Hotels auf O‘ahu. Leider ist sie zu früh, mit achtundfünfzig Jahren, gestorben. Ich war gerade zwanzig geworden, als sie bei einem Verkehrsunfall starb und mich allein zurückließ. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. In meiner Kindheit habe ich meine Mutter oft nach ihm gefragt, aber sie hat sich stets geweigert über ihn zu sprechen. Er wäre nicht wichtig, lautete ihre Antwort meist. An einem melancholischen Tag, an dem zu viel Alkohol im Spiel war, verriet sie mir, dass er nicht auf Hawaii lebt und nie von mir erfahren hat.

Es ist erschreckend, wie das Leben sich in Dauerschleife wiederholt. Meine Mutter war ein alleinerziehendes Zimmermädchen ohne Perspektiven. Und ich?

Ich bin in neun Monaten ebenfalls ein alleinerziehendes Zimmermädchen ohne Perspektiven.

Repeat gedrückt. Alles auf Anfang gesetzt.

Mein Blick fällt auf die Einwilligungserklärung und schweift anschließend zur Eingangstür. Die Zeit rinnt. Die Ärzte warten nicht auf mich. Jetzt bin ich schon fünf Minuten über meinem Termin.

Bestimmt wird mir ein unverschämter Betrag in Rechnung gestellt, sollte ich den Eingriff, ohne abzusagen, sausen lassen. Aber das ist mir egal. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Gerade eben. Spontan und aus dem Bauch heraus.

Mein Baby wird zur Welt kommen.

Ja, das wird es.

Wanika ‘Aulani wird nicht kneifen und sich vor der Verantwortung drücken. Meine Mutter hat es auch nicht getan. Ohne ihren Schneit und den Mut, den es braucht, sich für ein Kind zu entscheiden, gäbe es mich nicht. Ich bin es meinem Baby schuldig, genauso zu handeln. Es gibt immer Möglichkeiten. Wenn ich es nicht behalten will oder kann, ist Adoption eine Lösung - eine von vielen. Mir wird schon etwas einfallen. Ich habe noch Monate lang Zeit, darüber nachzudenken. Genauer gesagt, knapp neun. Gut.

Einverstanden, schließe ich einen Vertrag mit mir selbst und streiche mir über den Bauch. Es wird klappen. Irgendwie.

Mein Herz schlägt augenblicklich ruhiger, seit ich den Entschluss gefasst habe, mein Baby zu behalten. Mit dem Gefühl, das Richtige zu tun, erhebe ich mich, drehe der Klinik den Rücken zu und atme tief durch. Ruhigen Schrittes mache ich mich auf den Weg.

Hoffentlich macht Paulo mir keinen Strich durch die Rechnung. Für alle Beteiligten wäre es am besten, wenn er niemals erführe, dass ich mich für das Baby entschieden habe.

 

Obwohl ich mir für die Abtreibung eine Woche frei genommen habe, mache ich mich schnurstracks auf den Weg ins Lailani Beach Hotel. In der Luxusunterkunft, in bester Lage zum Strand, arbeite ich als Zimmermädchen in Vollzeit.

Ich muss Bitsy umgehend von meinem Entschluss, das Baby zu behalten, berichten. Sofort. Elisabeth Sutcliff, Spitzname Bitsy, ist meine beste Freundin. Wir arbeiten seit zwei Jahren für das gleiche Hotel. Bitsy stammt ursprünglich aus Delaware und ist nach einem Backpackertrip in Hawaii geblieben. Sie hat keine besondere berufliche Ausbildung, liebt die Natur und das spontane Leben. Irgendwann kommt sicher der Punkt, an dem sie die Ruhelosigkeit überkommt und sie weiterzieht. Im Stillen hoffe ich, dass es noch ein wenig dauert bis das passiert. Denn ich habe die freche und sehr empathische Draufgängerin in den letzten Jahren liebgewonnen. Mit ihr kann ich über alles reden. Sie ist die Einzige, die von der ungewollten Schwangerschaft gewusst und mich zu nichts gedrängt hat. So wie es sich für eine echte Freundin gehört.

Verständlich, dass ich, kaum dass ich mich entschieden habe, das Bedürfnis verspüre, mit ihr zu reden. Im Stillen hoffe ich, dass Bitsy eine Lösung für mich parat hat. Sie ist kreativ, mutig und offen für alles. Wenn mir jemand helfen kann, den richtigen Weg samt Baby im Gepäck zu finden, dann ist das Bitsy. Hätte ich sie gelassen, wäre sie heute mit mir zur Abtreibungsklinik gefahren, um meine Hand zu halten. Aber das Hotel ist personaltechnisch unterbesetzt, weswegen das nicht möglich war.

Ich lasse mir von James-Dean Makaio, den Bagagist des Hotels, die Tür aufhalten und betrete die Lobby. Der kleine, aber gutgebaute Hawaiianer zwinkert mir zu und zaubert mir mit seiner charmanten Art ein Lächeln ins Gesicht. James-Dean ist ein lieber Junge. Mit seinen sechzehn Jahren macht er sich wirklich gut. Das Lailani Beach Hotel kann sich glücklich schätzen, ihn ausbilden zu dürfen.

Schnurstracks biege ich nach links, um die Räume für das Personal anzusteuern, da bleibe ich abrupt stehen. Hat da jemand meinen Namen gerufen? Oder habe ich mich verhört?

Argwöhnisch drehe ich mich um und blicke zur Anmeldung. Nein. Keiner da.

Bevor ich mich abwenden und endlich nach Bitsy suchen kann, höre ich erneut meinen Namen. Diesmal lauter und aufgebrachter.

Oh Gott, Nika, … es hört sich an wie …

„Chris?“, kommt es mir über die Lippen, während ich mich der Stimme hinter mir zuwende. Überrascht und fassungslos starre ich auf das Szenario am Eingang.

Der Mann mit dem ich vor Wochen einen Urlaubsflirt begonnen hatte, versucht mit einem Handgepäckkoffer durch die Drehtür zu gelangen. Dabei stellt er sich äußerst ungeschickt an und bleibt mit dem ausgefahrenen Bügel im Innenbereich hängen. Die Ungeduld, die er dabei an den Tag legt, macht es ihm noch schwieriger, vorwärtszukommen. Warum nimmt er nicht den breiteren Eingang neben der Drehtür, der für die Gäste mit Gepäck gedacht ist? Und … noch viel wichtiger … was macht Christopher T. Markham auf Hawaii?

Kaum gedacht, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Mit Mühe versuche ich ein wenig trockene Spucke hinunter zu schlucken. Schockstarre.

Die Postkarte.

Die Offenbarung, dass ich schwanger bin.

Ups.

Boden tu dich auf und verschlucke mich. Mit einem Happs. Kurz und schmerzlos, bitte. Mach schnell.

Was habe ich angerichtet? So war das nicht geplant.

Teufel auch!

Der Tag, an dem ich auf das Stäbchen des Schwangerschaftstests gepinkelt habe, war der furchtbarste meines Lebens. Ich war auf das Ergebnis nicht vorbereitet. Das Pluszeichen, welches mir die Schwangerschaft bestätigt hat, hat mich völlig aus dem Konzept gebracht. Durcheinander und nicht zurechnungsfähig beschreiben meinen Zustand an dem Tag nur unzureichend. Ich war völlig durch den Wind. Total überfordert mit mir und der Situation.

Chris ist vor vier Wochen zurück nach Chicago geflogen und hat sich, anders als es ausgemacht war, nicht gemeldet. Nicht mal eine kurze Textnachricht hat er mir geschickt. Nada. Kein Lebenszeichen. Der Schwindler hat mir das Gefühl vermittelt, ich wäre nicht mehr als ein Urlaubsspaß, Sex inklusive. Sein Verhalten, das ich so nicht vorhergesehen hatte, hat mich verletzt und zu dieser wenig durchdachten Tat verleitet. Das war falsch. Ein Fehler, wie ich in diesem Augenblick feststellen muss. Für gewöhnlich verhalte ich mich nicht so kindisch und verbittert.

Für gewöhnlich lasse ich mich nicht mit Touristen ein. Außerdem gehöre ich nicht zu den Frauen, die auf One-Night-Stands stehen.

Ich bin achtundzwanzig und führe ein eher bedeutungsloses Leben. Es gab bisher lediglich zwei feste Beziehungen, die beide nicht länger als ein paar Monate gehalten haben. Dass ich Chris eine Chance gegeben habe, war eine Entscheidung, die ich spontan und unüberlegt getroffen habe. Der Anwalt aus Chicago ist, anders als zu Anfang vermutet, ein sympathischer und unglaublich lustiger Typ. Wir haben uns sofort verstanden und auf derselben Wellenlänge kommuniziert. Obwohl ich nicht an Liebe auf den ersten Blick glaube, war es irgendwie so ähnlich. Genau kann ich es nicht beschreiben. Es hat gefunkt und sich richtig angefühlt.

Wieso habe ich Dummkopf ihm nur diese Postkarte geschickt? Dieser Schnitzer wird sich nicht so leicht wieder ausbügeln lassen. Pech für mich.

Es hat nie in meiner Absicht gelegen, ihn nach Hawaii zu locken. Eigentlich wollte ich nur einen Rückruf provozieren. Nach der Hiobsbotschaft habe ich mich allein und verlassen gefühlt. Ich konnte zwar mit Bitsy reden, aber das hat nicht gereicht. Chris‘ weiche und aufmunternde Stimme hatte ich hören wollen. Außerdem sehnte ich mich nach einer starken Schulter zum Anlehnen. Weil ich zu feige war, ihn anzurufen, habe ich vor einer Woche die Karte in den Briefkasten geworfen und jetzt … ist er tatsächlich da und versucht sich durch eine zu enge Drehtür zu quetschen.

Verrückt!

Wie auf Knopfdruck füllen meine Augen sich mit Tränen. Oh, nein! Wieso passiert das? Sind das etwa die Hormone? Im Normalfall heule ich nicht. Nie. Ich bin eine starke Frau.

Endlich hat er es geschafft und sich durch die zu kleine Öffnung gezwängt. Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck und raumgreifenden Schritten kommt mein Urlaubsflirt auf mich zu und zieht das Köfferchen, das so gar nicht zu dem großen und breitgebauten Mann passen mag, hinter sich her. Wie es für Chris üblich ist, trägt er einen Anzug. Natürlich steht er ihm ausgezeichnet, wie immer. Bei unserem ersten Aufeinandertreffen, hier im Hotel, hat er auch einen Anzug getragen. Mehr Tränen schießen mir in die Augen. Es fällt mir immer schwerer, sie zurückzuhalten.

Luftholen und ausatmen, Nika. Luftholen und ausatmen. Immer weiter.

Verdammtes Hormonchaos!

Ist Chris sauer? Auf mich?

Grund genug hätte er.

Reflexartig drücke ich die Einwilligungserklärung, die ich noch in den Händen halte, an meine Brust und ziehe die Nase hoch. Jetzt wird nicht geheult. Die Luft anhaltend, wappne ich mich für den Sturm, der mit hundert Sachen auf mich zugerast kommt.

2

Chris

„Nika!“ Ich komme völlig aus der Puste vor der Frau zum Stehen, die mich in den letzten achtundvierzig Stunden mit ihrer kryptischen Nachricht in den Wahnsinn getrieben hat. „Schaust du eigentlich jemals auf dein Handy? Hast du den Ton ausgestellt? Die Nummer gewechselt? Ist dein Akku leer? Oder ist das verfluchte Ding verloren gegangen?“, spreche ich in lautem Tonfall und registriere, dass die Gesuchte einen Schritt zurückweicht. „Verdammt! Nika! Ich habe mich bemüht, dich zu erreichen“, fahre ich sie schärfer als nötig an und nehme einen dringend benötigten Atemzug. „Mehr als einmal.“

„Ich …“

„Weinst du?“, unterbreche ich sie, bevor sie den Satz vollenden kann. Ich bin ein Idiot. Am liebsten würde ich mich selbst Ohrfeigen. Wie kann ich so aufbrausend über sie herfallen, kaum dass ich durch die Tür des Hotels getreten bin? Für gewöhnlich verhalte ich mich nicht so unsensibel wie ein Felsbrocken.

„Nein“, antwortet sie und wischt sich die Tränen ab, die nicht aufhören wollen zu laufen. Sie rollen immer wieder nach, obwohl Nika das sichtlich unangenehm ist.

Chris, du bist der größte Mistkerl auf dem Planeten.

Wir sehen uns einen Moment an, in dem wir schweigen. Einfach nur dastehen und abwarten. Nika wirkt verstört, aufgelöst und völlig durch den Wind. Ob von meinem Ausbruch oder aus einem anderen Grund, kann ich nicht sagen.

Vier Wochen ist es her, dass ich sie in O‘ahu zurückgelassen habe und in mein Leben nach Chicago zurückgekehrt bin. Vier Wochen lang habe ich mich nicht gemeldet, obwohl ich ihr ein Versprechen gegeben habe.

Mist! Ich bin ein Hornochse.

Ohne länger zu überlegen, lasse ich den verfluchten Handgepäckkoffer, der nur Ärger macht, los und nehme sie in die Arme. Kümmernd und ohne Worte halte ich sie. Mitten in der Lobby des Hotels schlinge ich die Arme um ihren zierlichen Körper. Ihr Kopf landet unter meinem Kinn und schmiegt sich an meine Brust. Nikas Schluchzen wird sogleich heftiger.

Ich streichele ihr über den Rücken und drücke sie an mich. Meine Erfahrung mit emotionalen Frauen ist quasi nicht vorhanden, trotzdem spüre ich, dass sie einen Moment braucht, um sich zu sammeln. Deshalb stehe ich nur da, warte und lasse sie in mein Hemd weinen. Die wenigen Hotelgäste um uns herum blende ich aus. Sie sind nicht wichtig. Sollen sie ruhig gucken.

Was habe ich nur angerichtet? Warum musste ich mich wie ein Berserker aufführen? Was bin ich für eine Niete?

Für mein Verhalten gibt es keine Entschuldigung.

Ich war überrascht und habe nicht damit gerechnet, Nika zu entdecken noch bevor ich das Hotel betreten habe. Die letzten achtundzwanzig Stunden habe ich ununterbrochen versucht, sie zu erreichen. Vergeblich. Zuerst habe ich es auf die Zeitverschiebung geschoben und vermutet, dass sie schläft und das Handy ausgeschaltet hat. Aber am nächsten Morgen blieb sie ebenfalls unerreichbar. Keine Mailbox und auch keine Antwort auf meine unzähligen Textnachrichten, die mit dem Verstreichen der Zeit an Unfreundlichkeit zugenommen haben.

Natürlich habe ich versucht, Nika über das Hotel zu erreichen. Zu dem Zeitpunkt war ich schon auf hundertachtzig. Leider habe ich lediglich die Auskunft bekommen, dass Wanika ’Aulani Urlaub genommen hat und erst nächste Woche wieder zur Arbeit erscheinen würde.

Da ich diese „mögliche Schwangerschaft“ nicht ungeklärt im Raum stehen lassen wollte, habe ich mich in das nächste Flugzeug gesetzt und bin nach Hawaii gerauscht. Zwei Tage nachdem mein Freund Pierce zu seiner Ana geflogen ist.

Und nun stehe ich hier an einem Montag, an dem ich eigentlich im Büro sein sollte, und halte die Frau in den Amen, mit der ich den schönsten Urlaub meines Lebens verbracht habe.

Was für ein Chaos.

Nika hat aufgehört zu schluchzen und atmet ruhiger. Gott sei Dank. Sie völlig aufgelöst zu sehen, gefällt mir überhaupt nicht.

„Nika?“, frage ich, mit deutlich sanfterer Stimme. Ich drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel und sauge ihren Duft ein. Sonne, Meer und Salz; danach riecht sie. Kein Mensch, der in einer Großstadt lebt, könnte so unglaublich gut riechen. Es ist ein ganz eigener Duft, den es nur hier auf Hawaii gibt. Ein weiteres Mal atme ich Nika ein, dann löse ich mich ein winziges Bisschen, sodass ich ihr in die Augen sehen kann. Sie sind groß, braun, verheult und wunderschön. „Geht es wieder?“

Sie nickt. „Ja, bitte entschuldige. Ich weiß auch nicht, warum ich so überreagiere. Du hast mich überrascht.“ Sie bemüht sich um ein Lächeln. „Überrumpelt trifft es wohl eher.“

„Nein. Ich muss mich entschuldigen.“ Nika will sich lösen, aber ich lasse sie nicht. Es fühlt sich gut an, sie zu halten. „Ich hätte nicht derart aufbrausen dürfen. Mein Verhalten war falsch.“ Gott, was habe ich sie vermisst. Wie kann ich das erst jetzt bemerken, wo ich sie im Arm halte? Warum ist mir diese Tatsache nicht schon in Chicago bewusst geworden? Weil ich durch die Arbeit, die nie ein Ende nimmt, abgelenkt war, beantworte ich mir die Frage selbst.

Obwohl es mir widerstrebt, lasse ich sie los, als sie erneut zurücktreten will. Mit verkrampfter Hand drückt sie ein Blatt Papier gegen ihre Brust und verknittert es dabei völlig. Ich lese das Wort Einwilligungserklärung in der Überschrift.

Sofort bin ich hellwach.

Was ist das?

„Können wir irgendwohin gehen und reden?“, frage ich sie, da die Lobby nicht der richtige Ort für ein Gespräch wie unseres ist. Alle meine Sinne sind in Alarmbereitschaft.

„Natürlich. Komm.“ Sie greift nach meiner Hand und ich lasse mich von ihr führen. Beinahe hätte ich den vermaledeiten Koffer vergessen. Hätte ich das Ding doch zu Hause gelassen. Ich bleibe eh nur eine Nacht. Morgen muss ich zurück im Büro sein.

Nika führt mich einen Gang hinunter, vorbei an den Personalräumen und durch einen Raum, indem die Koffer der wartenden Gäste deponiert sind. Bevor wir die Hintertür nach draußen ansteuern, lasse ich meinen Koffer im Gepäckraum. Was für ein Glück. Endlich bin ich das lästige Ding los.

Kaum im Freien, treten wir auf eine kleine Terrasse, die auf der Rückseite des Hotels liegt und dem Strand angeschlossen ist. Zwei Liegestühle stehen parat als würden sie auf uns warten. Der Ort ist idyllisch und der Blick aufs Meer grandios.

Nika lehnt sich an das hüfthohe Geländer der Terrasse und schaut aufs Meer hinaus. Ich sehe auf ihren Rücken und bin fasziniert. Die Frau und das Meer gleich vor meiner Nase – wunderschön. Sie trägt ein buntes Sommerkleid, das ihr bis zu den Waden reicht und hat die langen schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Zu gerne würde ich sie noch mal in den Arm nehmen und küssen. Ich will sie küssen. Wir haben uns noch nicht geküsst, stelle ich mit Erschrecken fest. Kein Begrüßungsküsschen. Nichts. Und alles wegen mir und meiner rüpelhaften Art hier aufzuschlagen.

Reiß dich zusammen, Chris! Ihr habt etwas zu bereden. Küssen hat keine Priorität.

Ich atme einmal tief durch, um mich zu fokussieren.

„Möchtest du mir erklären, was das für eine Einwilligungserklärung ist, die du mittlerweile völlig zerknittert hast?“, fange ich das Gespräch an. Besser ich taste mich langsam heran, als gleich nach der Schwangerschaft zu forschen. Sogar meine Stimme lasse ich fragend und nicht aufbrausend klingen. Ich bin ein Mann, der aus seinen Fehlern lernt.

Nika dreht sich um, sieht erst auf das Papier und anschließend zu mir. „Dies ist die Einwilligungserklärung für die Abtreibungsklinik.“ Sie seufzt, faltet das Blatt und steckt es anschließend weg. „Es gibt kein Baby mehr“, sagt sie und seufzt. „Entschuldige die Postkarte. Mein Handeln war unüberlegt und falsch. An dem Tag, an dem ich die Karte abgeschickt habe, ging es mir nicht gut. Es war eine Überreaktion auf den positiven Schwangerschaftstest. Bitte verzeih mir.“ Tränen füllen ihre Augen. „Du hättest deswegen nicht herkommen müssen.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe mein Handy in den letzten Tagen vernachlässigt und auf keinen Anruf reagiert. Das war verkehrt. Ich war durch den Wind und musste nachdenken. Du hättest nicht herkommen müssen“, wiederholt sie sich und zieht die Nase hoch.

Der Drang, sie in den Arm zu nehmen, ist wieder da. Sogar stärker als zuvor. Mit Mühe halte ich mich zurück. Wir müssen zuerst diese Unterhaltung beenden, es ist wichtig. Danach können wir uns umarmen so viel wir wollen.

„Du warst in einer Abtreibungsklinik?“, frage ich argwöhnisch. Meine Stimme halte ich neutral. Sie soll nicht denken, dass ich vorschnell urteile.

„Ja.“

„Ohne mit mir darüber zu reden?“ Dass ich zu 99,9% nicht der Vater ihres Kindes sein kann, lasse ich außen vor. Es ist später noch Zeit dieses Faktum zu klären.

„Ja.“

Langsam mache ich einen Schritt auf sie zu – pirsche mich heran. „Nika, du vergisst, dass ich Anwalt bin. Vielleicht warst du in einer Klinik, aber für gewöhnlich müssen Patienten ihre Einwilligungserklärung abgeben, bevor sie behandelt werden. Sie nehmen sie nicht wieder mit.“ Ich trete noch einen Schritt näher. „Es sei denn … sie überlegen es sich anders und verzichten auf den Eingriff.“

Treffer versenkt!

Nikas Blick verrät mir, dass ich richtig geraten habe. Sie hat keine Abtreibung machen lassen. Die wundervolle Frau, mit der ich meinen Urlaub verbracht habe, ist noch schwanger. Sie erwartet ein Baby.

Eine Träne rollt ihr über die Wange und ist mir Antwort genug.

Zur Hölle mit meinen Vorsätzen! Ich muss sie einfach in den Arm nehmen. Im Nu überwinde ich das letzte bisschen Abstand und umschlinge sie, wie eben in der Lobby. Erneut rutscht ihr Kopf an die Stelle unter meinem Kinn und erneut fängt sie an zu schluchzen. Ich bin verloren. Sowas von.

„Entschuldige. Ich weiß gar nicht, warum ich immer heule. Das ist nicht meine Absicht. Es passiert einfach.“

„Ist schon gut“, antworte ich und streiche ihr über den Rücken. Die sanfte Bewegung hat sie eben auch beruhigt. Wir stehen da und hören das Meer rauschen. An diesem Plätzchen hinter dem Hotel sind wir wunderbar ungestört.

„Du hast recht“, flüstert sie an meiner Brust und zieht die Nase hoch. „Ich wollte eine Abtreibung machen lassen. Aber … aber … ich konnte es nicht. In letzter Sekunde habe ich mich anders entschieden“, erklärt sie und lässt mich ihre emotionale Labilität spüren.

„Es tut mir leid, dass ich dich nicht erreichen konnte.“ Ich höre nicht auf, meine Hand über ihren Rücken zu bewegen.

Nika stößt ein kleines, wenig lustiges Lachen aus und löst sich. „Du kannst nichts dafür, wenn ich mein Handy ignoriere.“

„Stimmt.“ Ich lasse sie los, aber nicht aus den Augen. „Und jetzt?“ Irgendwie freue ich mich, dass sie sich für die Schwangerschaft entschieden hat. Nika habe ich als eine sehr empathische Frau kennengelernt. Die schwere und deprimierende Last einer Abtreibung hätte sie höchstwahrscheinlich nicht überwunden.

„Jetzt bekomme ich das Baby“, beantwortet sie meine Frage. „Ich werde in neun Monaten Mutter.“ Sogleich schlägt sie sich die Hand vor den Mund, als würde sie die Worte zum ersten Mal sagen. „Ausgesprochen hört sich das seltsam an. Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen.“ Die Hand wandert von ihrem Mund zu ihrem Unterbauch.

„Das verstehe ich.“ Der Gedanke, bald die volle Verantwortung für ein neues Leben zu tragen, würde mich ebenfalls beunruhigen. „Hast du schon einen Plan?“ Erneut umschiffe ich die Frage nach der Vaterschaft. Meine Angst, es könnte doch einen unentdeckten „Kondomunfall“ gegeben haben, ist größer als gedacht. Solange Nika mir nicht ins Gesicht sagt, dass ausschließlich ich als Vater infrage komme, kann ich denken, was ich will. Alles ist offen. Wie schön es doch ist, sich selbst zu betrügen.

Sie fängt an, herzhaft und völlig untypisch für die Situation, zu lachen. Ohne aufzuhören, lässt sie sich mit einem Plumps in einen der Liegestühle fallen. „Nein! Kein Plan! Kein Schimmer! Keine Zukunft!“, sagt sie, kaum dass sie sich ein wenig beruhigt hat. „Ich komme gerade von der Abtreibungsklinik und habe erst vor wenigen Minuten beschlossen, das Baby zu behalten. Meine Entscheidung ist sozusagen ganz frisch. Ich habe spontan gehandelt.“

Ohne eine Wertung abzugeben, halte ich inne.

Was soll ich davon halten?

Wenn Nika die Abtreibung gewollt hätte, wäre ich zu spät gekommen. Kein schöner Gedanke. Von der Situation erschöpft und ziemlich verwirrt, setze ich mich in den Liegestuhl neben sie.

„Es gibt immer eine Lösung“, sage ich nach ihrer Hand greifend.

Nika schüttelt den Kopf, lacht aber gleichzeitig. „Du bist wie meine Mutter. Die konnte auch ausgesprochen gut mit schlauen Sprüchen um sich werfen.“

„Konnte?“

„Ja, sie ist vor Jahren gestorben.“

„Und dein Vater?“, frage ich, weil wir während meines Urlaubs nicht über unsere Eltern geredet haben. Wir haben in den paar Tagen sowieso wenig geredet. Wir haben andere Sachen gemacht.

„Ich habe ihn nie kennengelernt. Mein Baby wird ohne Großeltern aufwachsen.“ Sie zögert und räuspert sich. „Das hast du durch die Fragen doch erfahren wollen, oder?“

Erwischt. „War das so deutlich?“ Ich kratze mich am Kopf und versuche, nicht verlegen drein zu schauen.

Nika zuckt mit den Schultern. „Ein bisschen. Sie müssen an ihren Fähigkeiten der Befragung arbeiten, Herr Anwalt.“

Frechheit.

Schmunzelnd beuge ich mich zu ihr und bringe mein Gesicht dicht vor ihres. „War das ein Witz, süße Nika?“

Die schlechteste Witzeerzählerin der Welt hält die Luft an. „Es war ein Versuch“, antwortet sie und bringt ihren Mund vor meinem in Position. „Mit meinem Humor ist es momentan nicht weit her.“

Ein unwesentlicher Fakt.

„Ich werde dich jetzt küssen“, informiere ich sie und spüre, wie die Spannung sich in mir aufbaut. Es kribbelt und knistert bereits zwischen unseren Köpfen. Da ich alle Zeit der Welt habe, diesen Augenblick zu genießen, schiebe ich meine Hand in ihren Nacken, unter ihre gebändigte schwarze Mähne.

„Chris …“ Mein Name klingt gepresst und atemlos.

Keine Unterbrechung, bitte!

„Erst küssen Nika, dann reden.“ Im nächsten Augenblick liegen meine Lippen auf ihren. Warm und feucht spüre ich ihre weiche Haut. Nika stößt einen wohlig klingenden Laut aus und öffnet ihren Mund für mich. Mehr Einladung brauche ich nicht. Meine Zunge schiebt sich vor und sucht ihre. Wow. Ungeahnte Emotionen überrollen mich.

Es fühlt sich an wie nach Hause kommen.

Wahnsinn! Ich möchte mehr.