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Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1.

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3.

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7.

8.

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Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Nr. 2772

 

Die Domänenwacht

 

Terraner überwinden den Repulsorwall – ein großer Gegner tritt in Erscheinung

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Längst sind die Terraner in ferne Sterneninseln vorgestoßen, wo sie auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte getroffen sind, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1517 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Milchstraße steht weitgehend unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Dessen Richter behaupten, nur sie könnten den Weltenbrand aufhalten, der sonst unweigerlich die Galaxis zerstören würde. Während auf diese Weise einerseits das Tribunal in der Milchstraße seinen Machtanspruch zementiert und andererseits der Widerstand massiv dagegen aufrüstet, werden aber auch die Unterstützer der Atopen immer stärker.

Perry Rhodan und die Besatzung des Fernraumschiffes RAS TSCHUBAI haben in der fernen Galaxis Larhatoon in Erfahrung gebracht, dass das eigentliche Reich der Richter die Jenzeitigen Lande seien. Um dorthin zu gelangen, braucht es aber Atlan als Piloten und ein Richterschiff als Transportmittel. Ein solches zu besorgen, ist die aktuelle Mission des Terraners. Dem entgegen steht DIE DOMÄNENWACHT ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Perry Rhodan – Der Terraner überwindet den Repulsorwall.

Patrick St. John – Der Kampfsportspezialist windet sich wie sein Team im Einsatz.

Farye Sepheroa – Die Pilotin ergreift eine Aufgabe.

Velleshy Pattoshar – Die Kommandantin der Domänenwacht greift ein.

»Je älter ich werde, desto mehr erfasse ich, wie unendlich wertvoll jedes einzelne Leben ist.«

(Perry Rhodan)

 

 

»Leben, das ist das Allerseltenste in der Welt. Die meisten Menschen existieren nur.«

(Oscar Wilde)

 

 

1.

Durchbruch

RAS TSCHUBAI,

5. März 1517 NGZ

 

Etwas stimmte nicht. Perry Rhodan stemmte sich hoch, spürte den weichen Belag der Suspensionsliegefläche unter sich. Er hörte einen Ton, der sich endlos wiederholte, ein Echo, das seinen Kopf zerfetzen wollte wie rissiges Papier.

»A-A-A-A!«

Kraftlos sank er zurück. Der Laut sprengte jedes Maß. Er tönte wie eine galaktische Fanfare, zerschmetterte den Suspensionsalkoven, das Deck, die Zentrale. Er hallte durch Flure und Gänge, zerriss die Ynkalkrit-Legierung der Außenhülle der RAS TSCHUBAI, als würden die 15,4 Milliarden Kubikmeter ihm nicht genügen. Draußen raste er weiter, durchdrang das All und ...

... blieb stecken.

Was für ein absurder Gedanke.

»AN-AN-AN-AN!«

Rhodan schlug sich die Hände vor die Ohren. Aber tat er das wirklich? War das mehr als ein Traum? Er konnte sich ebenso wenig die Hände vor die Ohren schlagen, wie sich von der Liegefläche stemmen.

Phantomhaptik, so hatte Chefmediker Matho Thoveno das Phänomen genannt, das häufig bei Entstofflichungen auftrat. Es prangte an zweiter Stelle des immer länger werdenden Katalogs über die Nebenwirkungen der Suspension. Die Nummer Eins war unbestritten die Traumsequenzflucht, die sowohl aus Halluzinationen als auch aus Erinnerungen bestehen konnte und oft eine Mischung aus beidem darstellte.

Vor Rhodan stand Sichu Dorksteiger. Goldene Muster schienen über die smaragdgrüne Gesichtshaut der Ator zu kriechen und rätselhafte Symbole zu bilden. Sie hielt eine zusammengerollte Folie in der Hand, mit der sie gleich einer Waffe auf Rhodan zielte.

Wie sie da vor ihm aufragte, so hoch, dass er den Kopf im Sitzen in den Nacken legen musste, war sie die sonderbarste Mischung aus Kriegerin und Chefwissenschaftlerin, die er je gesehen hatte. Ätherisch, grazil und unnachgiebig. Ein Gespinst aus Terkonit.

»Wir brauchen für den Flug zum Mond einen Piloten, der imstande ist, mit der Steuerung der STARDIVER geistig zu verschmelzen«, sagte die Chefwissenschaftlerin. »Und wir brauchen einen Piloten, der blitzschnell reagieren kann.«

Der Flug zum Mond. Sein zweiter Flug zum Mond am 19. Juni 1514 NGZ, der Rhodan gelehrt hatte, dass sich Geschichte nicht wiederholte. Er war wieder auf Terra in der Besprechung mit Sichu Dorksteiger, Fionn Kemeny und Cai Cheung. Aber das war Vergangenheit, eine Erinnerung – Illusion.

In Wirklichkeit lag Rhodan in der RAS TSCHUBAI, aufgelöst, des Körpers beraubt. Er befand sich in Larhatoon, der Galaxis der Laren, er stand im Begriff, in die verbotene Domäne Shyoricc einzudringen. Diese Wirklichkeit war es, um die er sich kümmern musste.

Er ruhte in einem Suspensionsalkoven, einer Abart des altbekannten Transmitters, mit einem entscheidenden Unterschied: Das Objekt, das sich in ein solches Gerät begab, wurde zwar entstofflicht, jedoch nicht zu einer Gegenstation abgestrahlt, sondern im immateriellen Zustand gehalten und gebunden.

Die Sayporaner hatten diese Technologie erfunden. Sie hatten sie vor allem für den Austausch von Körperorganen benutzt, aber auch, um sich mit erstaunlich kleinen Raumschiffen im immateriellen Zustand fortbewegen zu können – oder, wie Sayporaner es nannten, in Suspension. In diesem Zustand war man ausdehnungslos und bot damit keinerlei Angriffsfläche für schädliche Strahlung gleich welcher Art.

Dummerweise war man in Suspension weitgehend handlungsunfähig. Das Bewusstsein erlosch dabei nicht vollständig; vielmehr verwob es sich, genau wie der Körper, mit dem stationären Transmitterfeld, sodass man nicht mehr klar zwischen Realität und Traum zu unterscheiden vermochte.

Rhodan spürte die anderen, berührte Gucky auf eine für ihn unfassbare Weise. Von allen an Deck und in seiner Nähe zeigte Gucky die größte Anspannung. Es war das zweite Mal, dass der Ilt sich einem Repulsorwall stellte. Beim ersten Mal war er zurückgeprallt und hatte seine paramentalen Fähigkeiten dabei verloren. Jahrelang hatte er im Koma gelegen, ehe er erwachte, mit gänzlich neuen Gaben. Nun sprang Gucky erneut durch einen solchen Wall, dieses Mal an Bord eines Fernexpeditionsschiffs – und wieder ging etwas schief.

Nur was? Sorge stieg in Rhodan auf. Er musste herausfinden, was ihn störte.

Eine Zahl kam ihm in den Sinn. 300.000.

»300.000 Kilometer pro Sekunde.« Rhodan klammerte sich an diesen Wert. An die Lichtgeschwindigkeit. Sie waren weit schneller unterwegs. Dank des Hypertrans-Progressors konnte ANANSI die Zeit der Annäherung frei bestimmen, aber wenn er denken, träumen, in der Illusion seine Hände bewegen konnte, dann mussten sie deutlich langsamer fliegen als geplant und zwar über das subjektive Traumempfinden der Entstofflichung hinaus.

Das war es: Er dachte und träumte schon zu lange!

»ANAN-ANAN-ANAN!«

Rhodan stutzte. Es war seine mentale Stimme, die da rief. Seine Gedanken produzierten die Tonabfolgen. Ein Teil von ihm versuchte verzweifelt, Kontakt mit der Semitronik aufzunehmen.

»ANANSI!« Endlich war das Wort heraus.

Er musste mit dem Zentralcomputer sprechen, analysieren, warum er noch immer in Suspension war und es kein Erwachen gab.

Aber ANANSI zeigte keine Reaktion. Natürlich nicht. Sie steuerte das Schiff. Was interessierten sie die Rufe eines einzelnen Träumers, selbst wenn es der Prominenteste an Bord war?

Es ist der Repulsorwall. Rhodan zwang sich, ganz bei sich und der Logik zu bleiben. Er hatte die Puzzleteile in der Hand. Wenn er sich zusammenriss, und sich den Ablenkungen der Erinnerungen versagte, würde er allein darauf kommen.

Er war Perry Rhodan, und er lag noch immer in Suspension, weil etwas den Durchbruch der RAS TSCHUBAI verzögerte.

Der Repulsorwall. Sein vorheriger, absurder Gedanke, dass der Ton stecken bliebe, bekam plötzlich eine andere Bedeutung. Steckten sie etwa fest? Würde er für immer entstofflicht bleiben, gefangen in einem Feld des Gegners, das zu unfassbar war, um es gänzlich zu begreifen?

Nein. Ihr Durchbruch wurde abgebremst, das war alles. Er hatte etwas Ähnliches bereits mit einem Antlitzraumer der Rebellen Larhatoons erlebt. Am Ende ihres Versuchs waren sie zurückgedrängt worden – ein Phänomen, dem der Repulsorwall ursprünglich seinen Namen verdankte, denn der Wall um den Mond hatte auf gleiche Weise reagiert. Auch dieses Mal würden sie im schlimmsten Fall scheitern und an den Ausgangspunkt zurückkehren. Spekulationen, die ihn in Furcht und Panik versetzten, durfte Rhodan sich nicht leisten. Es wog schwer genug, für die über dreißigtausend Menschenleben und fünfzigtausend Posbiexistenzen an Bord verantwortlich zu sein.

Es gab eine Verzögerung, nichts weiter. Das Eindringen in die geschlossene Domäne würde gelingen. Rhodan musste ANANSI und ihren Fähigkeiten vertrauen. Er wollte nach Shyor, zum Kristallinen Richter – und der Bordrechner würde die RAS TSCHUBAI und alle an Bord sicher dorthin bringen.

 

*

 

»Ich bin-bin-bin-bin ... Patrick St. John-John-John ...!«

Der Klang meiner Gedankenstimme erschreckte mich. Etwas war anders als sonst. Ich lag in einem der unzähligen Mannschaftsalkoven, fern der Zentrale und nah beim Rest meines Teams. Mein Geist berührte Baucis Fender, Bruce Cattai, den Swoon Benner und den Oxtorner Tacitus Drake. Sie alle waren in Aufruhr.

Warum verstofflichten wir nicht?

Vor mir tauchte ein Bild auf. Baucis Fender blickte mich aus meergrünen Augen an. Ihre roten Haare flammten im künstlichen Licht des terranischen Trainingsraums. Sie roch nach Schweiß. Auf ihrem Gesicht lagen glänzende Tropfen, besonders auf der Stirn.

»Noch mal!«, forderte ich.

»Es ist genug.«

»Du wolltest diese Techniken lernen, schon vergessen?«

»Wir trainieren seit fünf Stunden!«

»Hast du etwas Besseres zu tun?«

Tacitus Drake glaubte, Baucis beschützen zu müssen. Ich trat ihr lieber in den Hintern. Ich wusste, was ich aus Schülern herausholen konnte, wenn ich sie forderte. Ebenso wie ich es liebte, schwierige Pferde zu zähmen. Wenn sie den Hals hin und her warfen, bockten, dann wollte ich sie reiten. Und wenn sie mich abwarfen, strich ich mir die Haare glatt und sprang einfach wieder auf. Was sonst?

»Ich kann nicht mehr!«

»Wie bist du mit so wenig Kampfgeist Pilotin und TLD-Agentin geworden? Hör auf zu heulen und mach weiter.«

»Du kannst echt ein Arsch sein, Pat!«

»Falls du gerade wütend wirst, lass es raus!« Ich öffnete grinsend die Deckung.

Wer mich kannte, hielt mich für überaus höflich und distinguiert – und das war ich auch. Meistens. Ich mochte es, mit den verschiedenen Seiten meines Charakters zu spielen, mich darzustellen und je nach Gelegenheit zu inszenieren. Im Grunde verstellte ich mich nicht, ich lebte aus, was in mir war und zwar dort, wo es passte. Ich hielt es mit dem altterranischen Schriftsteller Oscar Wilde: Versuchungen sollte man nachgeben, man wusste nie, ob sie wiederkamen.

Baucis hatte das Pech, eine andere Saite in mir zum Klingen zu bringen, und sie stand vor mir auf einem Kampfplatz. Da war die Versuchung übermächtig, sie herauszufordern und über ihre Grenzen zu treiben.

Mit Höflichkeit allein hatte noch niemand seinen Gegner besiegt. Wie im altterranischen Mittelalter gab es das höfische Ringen und das Kriegsringen, den geregelten Kampfsport und die Kampfkunst. Was Baucis brauchte, war eine Portion echtes Leben ohne Regeln. Ihre Ausbildung zur Soldatin war eine hilfreiche Grundlage, aber sie hielt nicht mit dem mit, was ich mir im Laufe der Jahre bei verschiedenen Meistern angeeignet hatte, während sie ihre entzückende Nase in Wissenschaftsholos und Flugsimulatoren gesteckt hatte.

Baucis griff nach einem Handtuch. »Du willst mich ärgern, oder? Du hast wieder deine fünf Minuten.«

»Willst du, dass ich nett zu dir bin, weil du kleiner und schwächer bist? So wie Cattai und Drake?«

»Vergiss es. Ich lasse mich von dir nicht provozieren. Nichts, was du sagst, kann mich wütend machen.«

»Nicht mal das Desaster auf der Venus bei unserem Neujahrsausflug?«

Das Tuch klatschte zu Boden. »Das war kein offizieller Einsatz!«

»Spielt das eine Rolle? Du hast dich von einem venusischen Blatt einfangen lassen wie ein Frischling und zu allem Überfluss deine Waffe verloren. Nicht mal ein TLD-Agent im ersten Ausbildungsjahr verliert die.«

»Meine Hand war in Säure getaucht!«

»Buhu!«

Sie verengte die meergrünen Augen und trat ansatzlos zu. Ihr Spann drosch auf mein Knie.

Ich wich zurück, ehe sie mir die Kniescheibe brechen konnte. Mein Grinsen wurde breiter. »Geht doch.«

Baucis setzte nach. Sie wusste, dass sie näher herankommen musste, wenn sie gegen mich eine Chance haben wollte. Sie war zu klein, mich sinnvoll auf Distanz zu halten. Erst aus der Nähe entwickelten ihre Tritte und Schläge die nötige Wucht.

Noch zwei vergebliche Angriffe startete sie. Beim dritten Mal gelang ihr die Attacke. Sie brachte mich aus dem Gleichgewicht. Ich konterte mit einer Gegentechnik, schmetterte sie mit den Schulterblättern voran auf den Mattengrund und trennte mich von ihr.

»Braves Mädchen. Jetzt darfst du Bananenscheiben essen gehen. Aber nicht zu viele auf einmal, sonst wirst du dick.«

Baucis presste die Lippen zusammen, sprang ansatzlos in den Stand – und trat erneut zu.

Stopp-stopp-stopp! Das ist nicht real! Ich begriff, warum ich mich an diese Szene erinnerte. Es war ein glücklicher Tag gewesen, kurz nach unserem Einsatz auf dem vermeintlichen Linguidenraumer.

Selten fühlte ich mich so lebendig wie im Kampftraining. Dort ging ich nach außen, suchte ich Kontakt, die Grenzen meiner körperlichen Leistungsfähigkeit, aber auch Freundschaft und Nähe. Es machte mich stolz, Baucis' Fortschritte zu sehen. Sie war schon vorher eine gute Kämpferin gewesen, doch seitdem ich sie in der Kampfkunst unterrichtete, während sie mir beibrachte, wie ...

Stopp! Ich wollte es schreien vor Frustration. Es gab kaum etwas, dass mich mehr ärgerte, als die Kontrolle über meine Gedanken zu verlieren.

Bisher war ich mit der Suspendierung gut zurechtgekommen, ohne mich allzu sehr in Vergangenes oder in Halluzinationen zu verrennen. Irgendetwas unterschied sich dieses Mal. Während ich noch darüber nachgrübelte, was es sein mochte, fühlte ich die erlösende Verstofflichung und erkannte die Decke des Alkovens. Gleichzeitig jaulte ein enervierender Laut über mir auf, wie von einer gefolterten Maschine: ein Angriffsalarm.

 

*

 

Rhodan setzte sich auf, kaum dass er verstofflicht war. Sein Körper fühlte sich seltsam fremd an, wie etwas, das ihm erst seit Kurzem gehörte, doch darauf nahm er keine Rücksicht. Unter dem heulenden Alarm verließ er den Alkoven, rannte durch die geöffneten Schotts zum Antigravlift, schwebte hinauf und erreichte den oberen Abschnitt des halbelliptischen Kommandostands. Als Erster stand er in der Galerieebene, schaute über die Arbeitsstationen hinweg auf das obere Drittel der Wände, die wie Fenster ins All wiesen.

Ein gedämpfter Lichtblitz zuckte über die Fläche links von ihm, verästelte sich und fiel in sich zusammen. ANANSI regelte die Helligkeit der Darstellung automatisch auf ein erträgliches Maß hinunter.

Ein Angriff!

Rhodan eilte auf den Kommandantensockel von Jawna Togoya zu, der das Herz des Schiffes bildete. »ANANSI! Bericht!«

Der schrille Ton setzte aus und machte einer geisterhaften Stille Raum. Der Haupthologlobus leuchtete auf. ANANSI hing als Projektion in der Luft. Das Bild zeigte einen Ausschnitt der acht Meter durchmessenden Kugel, die ANANSI als Hauptrechner der RAS TSCHUBAI diente. Die Posbis hatten sie mit Zellplasma, einem Bioponblock und einer hypertoyktischen Verzahnung ausgestattet. Die eigentliche Rechnertechnik befand sich jedoch außerhalb des Standarduniversums.

Einen Augenblick verlor sich Rhodan trotz seiner Anspannung in den Abertausenden feinster Spinnweben, an deren Fäden Millionen von Tautropfen glitzerten. Inmitten dieser Fäden saß die durchscheinende Gestalt ANANSIS, die Rhodan unvermittelt an die kleine Susan erinnerte, seine Tochter. Dabei war die einzige Gemeinsamkeit die, dass ANANSI ein vielleicht fünfjähriges Mädchen war – oder besser wie eines anmutete.

Die kindliche Stimme der Semitronik schien von überall zugleich zu kommen. »Ein Robotfort in achtzehntausend Kilometern Entfernung vom Eintrittspunkt hat unser Eindringen über Sonden geortet und angegriffen. Ich habe es umgehend vernichtet, ebenso wie die beiden Sonden.«

Rhodan beugte sich über die Arbeitsstation und rief Datenholos auf, die ihm die letzten Sekunden erschlossen. ANANSI hatte die Situation kompromisslos und kompetent gemeistert.

In die Zentrale kam Bewegung. Aus den Suspensionsalkoven der anschließenden Decks strömten über dreißig Besatzungsmitglieder. Jawna Togoya, die Posbi-Kommandantin, erreichte ihn in Begleitung Guckys. Dicht hinter ihr folgten Oberstleutnant Sergio Kakulkan.

Gucky zeigte seinen Nagezahn. »Oh Mann, ich wünschte, ich hätte mich zu dir teleportieren können!«

»Es ist alles in Ordnung, Kleiner. Zwei Robotsonden aus einem unbemannten Fort haben uns entdeckt, doch ANANSI konnte sie und die Station zerstören. Derzeit keine weitere Feindannäherung.«

»Das ist richtig«, meldete sich ANANSI zu Wort. »Dennoch nehme ich an, dass unser Durchbruch bemerkt wurde. Durch eine Überlastungsspitze beim Austritt aus dem Repulsorwall waren wir für einige Sekunden enttarnt. Wir fliegen in den Ortungsschutz einer nahen Sonne.«

Rhodan hob den Kopf und betrachtete die kosmische Umgebung. Satte Schwärze, in der Ferne einige helle Punkte, fremd und doch vertraut, die sich immer dichter zusammenschlossen. Ein Anblick, wie man ihn auch in der Milchstraße oder anderen Galaxien in Ballungszentren antraf. Das Besondere an dieser Sphäre blieb ohne entsprechende Messgeräte unsichtbar: der Repulsorwall. Sie hatten die gewaltige, gut 240.000 Kilometer dicke Barriere durchdrungen, die diese Domäne umgab und formte.

Sie waren drin.

Einen Moment erlaubte sich Rhodan ein Gefühl von Erleichterung.

Jawna Togoya setzte sich auf ihren Platz und schaute auf die Instrumente. Mit einer beiläufigen Geste strich sie die schwarzen Haare zurück und berührte ihren Brustkorb, den Sitz ihrer Biopositronik. Offensichtlich hatte sie nach der Verstofflichung eine andere Stimmsequenz gewählt, denn sie klang tiefer als sonst, fast schon männlich: »Liegen erste Sondierungen vor?«

Um sie herum normalisierte sich die Lage. Die Gespräche verstummten. Langsam kehrte konzentrierte Betriebsamkeit ein.

ANANSIS kindlicher Sopran hallte durch die Zentrale, er bildete einen harten Kontrast zu Togoyas Alt. »Der abgeschottete Zentrumsbereich durchmisst rund 6000 Lichtjahre. Ersten Hochrechnungen zufolge existieren hier etwa zehn bis fünfzehn Milliarden Sonnen.«

Rhodan trat neben die Kommandantin. »Gibt es Informationen über die Welt Shyor?«

»Keine direkten. Bekannt ist, dass sich der Kristalline Atope auf der Welt Shyor aufhält. Vermutlich ist das die Zentralwelt der Domäne, aber Koordinaten sind über den offenen Funk nicht auszufiltern. Sie werden nicht kommuniziert.«

Rhodan machte einen Schritt zur Seite, damit Togoya freier agieren konnte. Es war ohnehin an der Zeit, an seine Station als Einsatzleiter zu gehen. »Wir müssen uns die Koordinaten von Shyor irgendwie beschaffen. Wenn Avestry-Pasik recht hat, war Shyor die erste Welt, die sich der Atopischen Ordo angeschlossen hat.«

Er dachte an die Worte des Laren und Rebellenanführers zurück, als er ihn nach Shyoricc und den Keloskern gefragt hatte: »Sie haben von ihrer Welt in Larhatoon aus das Hetos abgewickelt. Dort wurde nach der Zerschlagung verhindert, dass die Galaxien des Hetos, allen voran Larhatoon, vollends ins Chaos stürzen. ? Die Welt der Kelosker war das erste Angriffsziel des Atopischen Tribunals. Das hatte ihm zumindest der Lare Avestry-Pasik erzählt. Ich denke, dass sie zum Atopischen Tribunal übergelaufen sind. Sie haben ihre Welt unter den Schutz der Atopen gestellt.«

»Mit den Koordinaten kann ich nicht dienen. Dafür habe ich etwas anderes gefunden.« ANANSI waren Neugierde und Aufregung anzuhören. Sie brannte darauf, Erfahrungen zu sammeln. »Umgerechnet wird am 15. März 1517 NGZ auf dem Planeten Vlaera Assaree Dymae aufgeschlagen – der Hafen der Zelte.«

»Der Hafen der Zelte?«, hakte Rhodan nach. »Was ist das? Und warum ist es für uns relevant?«

»Was genau es ist, versuche ich noch zu extrahieren. Das Relevante ist, dass in Assaree Dymae die Kristalline Wesenheit residiert.«

Jawna Togoya sog scharf die Luft ein, eine Geste, die für eine Posbi im Grunde überflüssig war, und zu dem weitläufigen Repertoire gehörte, mit dem die Kommandantin ihre Gefühle ausdrückte. »Das heißt ...«

»Der Kristalline Richter wird nach Vlaera kommen!«, fiel Gucky ihr ins Wort. »Vielleicht sogar mit seinem Schiff!«

Das waren gute Neuigkeiten. Wenn sie in die Jenzeitigen Lande wollten, um mehr über die Atopen und das Tribunal zu erfahren, brauchten sie ein Richterschiff. Deswegen waren sie nach Shyoricc aufgebrochen. Mit etwas Glück würde dieses Schiff bald in greifbare Nähe rücken – und damit ein Weg, die Ordo erfolgreich zu bekämpfen und die Freiheit der Milchstraße zurückzugewinnen. Das zumindest hoffte Rhodan.

Er legte Gucky die Hand auf die Schulter. »Werden die Koordinaten von Vlaera im Hyperfunk bekanntgegeben?«

»Ja.« ANANSIS Gestalt verblasste. Auf dem Haupthologlobus tauchten die entsprechenden Daten auf, dazu Informationen über Assaree Dymae. Offensichtlich kamen zu der Veranstaltung zahllose Wesen ganz verschiedener Welten. Mehrere Botschaften riefen in schreiend bunten Farben zur Zusammenkunft auf.

Blinzelnd hob Gucky eine bepelzte Hand vor die Augen und zog das Fell über der Nase kraus. »Was für ein Farbdesaster! Da lösen sich ja die Netzhäute ab!«

Rhodan grinste. »Es scheint eine Art Touristenattraktion zu sein. Eine Veranstaltung, für die sozusagen Werbung gemacht wird. Jeder soll es hören, deshalb wird es von den Onryonen derart hinausposaunt.«

Mit einer Handbewegung dämpfte Jawna Togoya die grelle Farbintensität. »Was schlägst du vor?«

Rhodans Grinsen wurde breiter. »Was wohl? Wir gehen dorthin.«

2.

Eindringlinge

Onryonischer Raumvater VOOTHOY

 

Velleshy Pattoshar beobachtete auf der Holodarstellung, wie ihr Verband das hohe Niveau des Transpositorischen Raums verließ und im Limitierten Raum materialisierte. Ein Raumvater nach dem anderen nahm seinen Platz in der Rudel-Formation ein, bis die fünfunddreißig Schiffe im perfekten Muster in einer weitläufigen Kreisbahn um das Ziel flogen, das den Alarm ausgelöst hatte. Die VOOTHOY stand dabei an der Spitze. Das Flaggschiff gab die Geschwindigkeit vor.

Pattoshars Finger tippten gegen die Ablage der Konsole. Warum dauerte die Datenauswertung derart lang? Träumte der zuständige Toloceste?

Sie war nach einer Warnmeldung vor einem Emotkräuseln angekommen und hatte auf den ersten Blick das Offensichtliche erkannt: Irgendetwas hatte das Robotfort 30-4-6-DS-10 vernichtet. An den knapp hundert Schritt durchmessenden Würfel erinnerten lediglich Trümmerstücke. Von einem Feind war nichts zu entdecken. Wer immer das Fort pulverisiert hatte, hatte sich blitzartig zurückgezogen und in irgendeinem Ortungsschatten verkrochen.

»Es muss ein Unfall gewesen sein«, sagte Clocc Otym neben ihr. Sein Unterarm verschwand in einer Einbuchtung des Steuerpults, während der Genifer nebenbei Informationen abrief. Das bunte Gewand in Pastellfarben machte das Lackschwarz seiner Gesichtshaut noch intensiver als es ohnehin war. »Vielleicht eine Fehlfunktion der Selbstzerstörung. Niemand gelangt ohne Strukturlücke durch den Repulsorwall.«