Cover

Über dieses Buch

Ganz Havanna staunt: In den extravagantesten Kostümen Kubas präsentieren sich Eva und Ricardo dem Straßenpublikum. Ob ein glitzernder Paillettenkimono oder ein Spenzer in Zickzackmaschen, alles ist handgemacht. Die beiden wollen auffallen, um jeden Preis. Ihr Exhibitionismus steigert sich zu einer Tournee durch ganz Kuba, auf der Jagd nach dem letzten Ignoranten … Ein Kubaner in New York begegnet seiner Traumfrau, bildschön, aber äußerst rätselhaft. Dass Elisa der Mona Lisa zum Verwechseln ähnlich sieht, ist nicht ihr einziges Geheimnis … Auf Drängen seiner Ehefrau und des inzwischen erwachsenen Sohnes kehrt der schwule Ismael geschenkbeladen nach Kuba zurück, doch die Heimkehr wird immer mehr zum Albtraum – mit versöhnlichem Erwachen. Reinaldo Arenas jongliert mit Spannung, Erotik und Gefühl und verblüfft mit überraschenden Wendungen.

»In allen drei Erzählungen erweist er sich als unbestechlicher Beobachter, geschickter Dramaturg und sprachlicher Meister.« (Christoph Links in »Freitag«)

Der Autor

Reinaldo Arenas, »einer der ergreifendsten kubanischen Romanschriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Jesús Díaz), 1943 im Osten Kubas geboren. Kind der Revolution, von ihr verfemt und verstoßen. 1980 Flucht in die USA, 1990 in New York gestorben. Seine furiosen Memoiren »Bevor es Nacht wird« – Schelmenroman, éducation sexuelle und politisches Manifest zugleich – wurden zu einem weltweiten Bestseller, der von Julian Schnabel mit Javier Bardem in der Hauptrolle 2000 verfilmt wurde. Sie gehören zu den großen Konfessionen unserer Zeit: eine hymnische Schamlosigkeit.

Der Übersetzer

Klaus Laabs, geboren 1953, lebt als Übersetzer und Herausgeber in Berlin. Vorrangig übersetzt er Werke hispanoamerikanischer, französischer sowie frankophoner Autoren aus der Karibik und Afrika (u. a. César Aira, Reinaldo Arenas, Aimé Césaire und José Lezama Lima).

Reinaldo Arenas
Reise nach Havanna

Roman in drei Reisen

Aus dem kubanischen Spanisch von Klaus Laabs

Edition diá

 

 

Inhalt

Erste Reise: Pech gehabt, Eva
Zweite Reise: Mona
Dritte Reise: Reise nach Havanna

Impressum

Erste Reise: Pech gehabt, Eva

Die erste Träne, die ich um dich weinte, fiel auf das Crochet mit vier Nadeln. Aber ich strickte weiter und kriegte es fast nicht mit. Erst jetzt, wo meine Hände pitschnass sind, merke ich richtig, dass ich heule. Deinetwegen, Ricardo (es fällt mir immer noch schwer, dich so zu nennen). Mein Gesicht muss von der schwarzen Chinawolle ganz verschmiert sein, weil die nichts taugt, es gibt bloß keine andere. Aber ich beruhige mich schon wieder. Ich bin schon beim Saum des Rocks. Ich komme zum Ende. Die Vierfadenmasche noch und die französischen Noppen; das Schwerste, ich weiß, aber es ist das letzte Stück. Danach der Abschluss, die Sperre und der letzte Schnitt mit der Rasierklinge (ganz rostig ist die). Und dann ist alles fertig. Wir werden ja sehen. Trotzdem, ich denke immerzu an dich. Obwohl ich gar nicht möchte, ach Ricardo (und ich sage deinen Namen fast schon ohne Probleme), ich denke immerzu an dich. Ich habe sogar vergessen, Notturno einzuschalten. Ist mir auch egal jetzt, ob Masiel bei der Hitparade unter den ersten zehn ist oder nicht. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre bei den schwierigsten Maschen durcheinandergekommen. Ich, die ich besser als irgendwer sonst das Geheimnis der Nadeln kenne. Und alles deinetwegen, Ricardo (inzwischen sage ich deinen Namen, als wenn nichts wäre); weil du es bist, für den ich in diesem Augenblick stricke; obwohl du diese Arbeit niemals sehen wirst, ich weiß es genau. Jedenfalls hoffe ich, es wird das Beste, was ich je gemacht habe, und das will schon was heißen … Ja, es ist ein Wunder, dass mir die Docken nicht zu einem dieser Knoten verheddern, die kein Mensch mehr auseinanderkriegt. Zumal jetzt, wo du nicht mehr da bist und mir beim Abwickeln hilfst. Ich sitze hier nämlich schon seit Tagen, allein, eingeschlossen, rund um die Uhr, ohne einen Fuß auf den Balkon zu setzen, ohne ans Telefon zu gehen, und stricke. Aber das stimmt so auch nicht, Ricardo. Weil ich dabei nicht nur hier gewesen bin. Während ich mit den Nadeln zugange bin und den Faden zupple, bin ich die ganze Zeit bei dir, überall. Und manchmal vergesse ich die Handarbeit, höre aber nicht auf damit. Meine geübten Hände lassen mich Gott sei Dank nicht im Stich … Wenigstens geweint habe ich, nach allem, und zum Glück ist mir eine Träne auf die Hand gefallen, so habe ich es gemerkt. Ich will mich jetzt zusammenreißen und aufpassen, was ich mache.

Was ich für dich mache, Ricardo. Für dich, oder vielleicht, um mich an dir zu rächen. Weil es Dinge gibt, die man niemals verzeihen kann. Vielleicht hat dir niemand so viel verziehen im Leben wie ich. Immer wolltest du bei offenem Fenster schlafen, immer hast du dich über Mamas Schmerzen aufgeregt (du meintest, sie würde sie sich nur einbilden); manchmal hat dir sogar das Lied gefallen, das ich unausstehlich fand. In allem habe ich mich nach dir gerichtet, Ricardo. Und selbst als du die Reise fortsetzen wolltest, die fast keinen Sinn mehr hatte, habe ich nachgegeben. Ich habe gemurrt, aber ich habe nachgegeben. Nur eine Sache konnte ich dir nicht verzeihen. Und ausgerechnet die hast du gemacht. Und zwar im letzten Moment, als wir fast schon, wir beide, Ricardo, die große Schlacht gewonnen hatten.

Als ich dich kennenlernte, warst du so bescheiden. Ich glaube, du warst gerade vom Land gekommen. Du standst hinter einem Mast, wie angelehnt. Ich sah auf deinen angehobenen Fuß und erblickte gestrickte Socken – sehr gut gestrickte allerdings, Ricardo –, und ich war entzückt. Du hobst das Bein noch höher und zogst die Hose ein Stück hoch, als ob du die Socke zeigen wolltest. Aber mit einer gewissen Schüchternheit. Damals warst du nämlich schüchtern, Ricardo. Und dann sahst du mich an, wie zufällig. Und ich sah dich an, als wollte ich es nicht … Ich erinnere mich an alles, Ricardo, ganz genau. Ich drehte noch eine Runde im Park, ging noch einmal an dir vorbei und tat völlig uninteressiert. Ich lief weiter und schlenkerte dabei die schiefergraue Handtasche mit den Absteppnähten aus Hawaiizwirn, der damals noch so einfach zu bekommen war. Ich lief weiter, und als ich mich umdrehte, hattest du mich eingeholt. Du kamst an meine Seite, als müsstest du mich beschützen. Und schon gingen wir zusammen. Du sagtest: »Du hast die schönsten Augen der Welt.« Und wir liefen weiter … Ich weiß noch genau, Ricardo, das war die Zeit, als Prinzessin Margaret in Mode war, wegen des Skandals mit dem Fotografen.

Und als es dann zu dem Krach Liz Taylor/Eddy Fisher/Debbie Reynolds kam, heirateten wir.

Ich mit langer Schleppe, ganz fein gearbeitet, aus Anker-Faden, beste Qualität, sechsmaschig gestrickt mit französischen Nadeln – solche, an die heute im Traum nicht mehr zu denken ist. Du in einem hautengen Frack, der dich noch dünner und jünger machte, als du warst. Was aber an deiner Garderobe am meisten auffiel, war die silberne Krawatte, die ich aus englischem Garn gestrickt hatte. »Ich komme mir vor, als hätte ich einen Zitteraal um den Hals«, sagtest du, als wir den ganzen Trubel hinter uns hatten. »Du siehst blendend aus«, sagte ich und wurde traurig bei dem Gedanken, dass Mama uns nicht sehen konnte (die Hochzeit war am Nachmittag, und sie vertrug die Sonne nicht). Aber dann habe ich mich gleich wieder gefreut. Und während wir uns in einem Regen aus Reiskörnern (womit man damals noch um sich schmeißen konnte) den Weg zum Auto bahnten, lachte ich allen zu und verabschiedete mich mit einem Gruß wie Queen Elizabeth. Du lächeltest diskret, als wäre es dir ein wenig gleichgültig. Du warst damals ziemlich beeinflusst von Clark Gable. Ich habe dich davon abgebracht, ihn zu imitieren, und du bist dann moderner geworden.

In unseren Flitterwochen entdeckte ich, dass es dir besser stand, wenn du die Haare nach hinten gekämmt und die Koteletten etwas länger trugst, du sahst so ein bisschen nach Ricky Nelson aus, was fabelhaft zu dir passte. Dann überzeugte ich dich, dir das Haar aufhellen zu lassen, und die Ähnlichkeit war kolossal. »Richard«, rief ich laut nach dir, vor allen Leuten. Du lächeltest, so mit auseinandergezogenen Mundwinkeln, ein bisschen geringschätzig oder widerwillig. Und in deinen Augen war zu sehen, wie dankbar du warst.

Aber noch waren wir gewöhnliche Leute, Ricardo, die kaum auffielen. Wir gingen an den Strand, ja, und obwohl ich diesen fabelhaften Bikini anhatte, ein Geschenk von Mama, erntete ich nur ein paar anerkennende Pfiffe und den einen oder anderen durchdringenden Blick – jetzt glaube ich, du warst froh darüber, und ich könnte die Wände hochgehen. Wir spazierten die Pinienallee entlang, ich mit einem fast durchsichtigen Slip wie in Plötzlich letzten Sommer, du in Sandalen mit Plexiglassohlen, die zwei großen Seeigeln ähnelten. Die Leute schauten uns natürlich an, aber so wie jeden anderen, vielleicht ein bisschen mehr, aber nicht allzu viel. Nicht, wie wir es verdient und uns gewünscht hätten, Ricardo … Ich habe immer davon geträumt, unter stürmischen Ovationen aus einem Raumschiff zu steigen. Aussteigen, die Arme ausbreiten und wieder zwischen den Wolken entschwinden. Plötzlich Alicia Alonso sein. Alicia im donnernden Applaus, nach vierundvierzig Pirouetten. Ja, Alicia, aber ohne dieses Hexengesicht, und fünfzig Jahre jünger … Aber nichts war, Ricardo, weder du noch ich hatten es geschafft aufzufallen. Nicht einmal, als wir in den Flitterwochen waren, an einem Ort, wo alle Welt hinkam, um sich zu amüsieren, wie ich doch annehme. Kleine Erfolge, ja, die hatten wir. Eine Alte von mindestens tausend Jahren fragte uns, nicht weit vom Meer entfernt, ob wir frisch verheiratet wären; bei anderer Gelegenheit, als im Kofferradio Luisito Aguilé gerade Ziehende Schwalbe sang und wir mitträllerten, kamen zwei Jungs zu uns und wollten wissen, ob das Radio neun oder sechs Transistoren hatte. Das war alles.

So vergingen die Tage. Ich war verzweifelt. Und du auch, Ricardo. Am Ende, als uns nur noch eine Nacht am Strand blieb, entschloss ich mich, dieses enorme purpurrote Blouson anzuziehen, das Mama aus Acht-Meter-Docken gestrickt hatte, mit portugiesischen Nadeln, wie man sie damals schon kaum noch zu sehen bekam. Dir sagte ich, du solltest in Badehosen gehen und mit einem Hemd, das bis zu den Knöcheln reichte. Wir standen schon in der Tür, da kam mir die Idee, dir diesen ellenlangen, sittichgrünen Wollschal um den Hals zu wickeln, den mir Mama noch in letzter Minute eingepackt hatte, weil es nachts am Strand immer recht kühl ist, wie sie sagte. So zogen wir los. Ich mit dem Kofferradio (die Strada sang) und ganz vorsichtig, damit ich dir nicht auf den Schal trat, wenn du vor mir herliefst. Wir überquerten die Straße mit den Pinien, wo das Meer wie gelangweilt klang, und gingen ins Restaurant. Wind, der du kommst aus weiter Ferne, sang die Strada gerade. Und plötzlich war da ein ohrenbetäubender Tumult, begleitet vom Scheppern des Bestecks, das auf die Teller fiel. Danach Totenstille, in der uns das Publikum wie gelähmt anstarrte, während wir durch den Saal schritten und mit der röhrenden Strada und unseren Schritten die Stille zerrissen. So kamen wir an einen der freien Tische am Ende des Saals. Hochfeierlich, mit einer wundervollen Geste, die sogar mich überraschte, nahmst du einen Stuhl und schobst ihn mir unter. Und ich, mit meinem königlichen Blouson, unter dem die Beine hervorguckten, nahm Platz wie Sophia Loren in Die Eingeschlossenen von Altona. Als du dann neben mir gesessen hast, schlangst du dir den Schal noch mal um den Hals, sodass nur noch die Augen zu sehen waren, und riefst den Kellner. Während wir darauf warteten, bedient zu werden, hörten wir das Gemurmel der Leute, das plötzlich anstieg wie die Flut an diesem aufgewühlten Strand. Manchmal tat ich so, als sagte ich etwas zu dir, und spitzte die Lippen zu einem kaiserlichen Lächeln. Du pflichtetest mir bei, indem du diskret den Kopf senktest. »Wo die wohl her sind?«, fragte eine Frau an einem Tisch in der Nähe. Und da der Kellner sich nicht blicken ließ, bückte ich mich, hob das Ende deines Schals vom Boden und fing an, darauf herumzubeißen. Lautes Lachen kam von einem Tisch, an dem ein paar junge Männer saßen, offenbar Sportler, die uns um jeden Preis übertrumpfen wollten. Ohne Erfolg übrigens. Ich nahm deinen Schal aus dem Mund, stand auf, kletterte auf den Stuhl und rief laut den Kellner, auf Englisch, Französisch und Italienisch; das hatte mir Mama beigebracht. Dann, als ich sah, dass der Kellner – zum Glück – noch immer nicht kam, stellte ich mich auf den Tisch und schrie Killnerrr, Killinerrr und noch ein paar Lautverbindungen, die ich im selben Moment erfand. Im Handumdrehen (das Murmeln schwoll jetzt immer mehr an) brachte der Kellner die Suppe. Ich kostete geschmäcklerisch und bestellte einen Teller vom feinsten Salz. »Vom feinsten!«, wiederholte ich, während uns der Mann entgeistert ansah. »Für mich dasselbe«, sagtest du, und der Mann notierte die Bestellung. »Jetzt bestellen sie Salz«, hörte ich eine alte Frau zu einer anderen sagen, die noch verschrumpelter war. Die Sportsfreunde begannen uns mit Respekt anzusehen. Das Salz kam, und bedachtsam nahm ich einen Löffel und fing an, es zu essen. Ich weiß noch, dass ich dich unterm Tisch mit dem Knie anstieß. »Iss«, sagte ich zu dir. Und du fingst auch an zu essen. Das Gemurmel der Leute wurde ruckartig noch lauter. Ich drehte am Radio und stellte Katina Ranieri ein. Die Leute hörten nicht auf, uns anzustarren. Als wir mit dem Dessert fertig waren, rückte ich näher an dich heran, wickelte meine Schultern in deinen Schal und küsste dich aufs Ohr. Die Rechnung verlangten wir vom Kellner in einem gebieterischen Sopranduett. Ich ergriff dann den Zipfel des Hemds, das dir bis zu den Knöcheln ging, und wir fingen an, zwischen den Tischen zu tanzen. Am Ende gab es Applaus und sogar ein paar Bravos. Als wir in den Bungalow zurückkamen, waren wir ganz erregt. »Richard!«, sagte ich zu dir und wickelte dich aus dem Schal. Wir gingen ins Bett. Und du hast deine Sache sehr gut gemacht in dieser Nacht, Ricardo.

Am nächsten Tag kehrten wir im Triumph nach Havanna zurück. Ich war kaum zu Hause, da durchwühlte ich die Kleiderschränke, die Wäschefächer in Mamas Zimmer und alle Schubladen und raffte die Wollknäuel zusammen, die noch irgendwo herumlagen. Du halfst mir bei diesem Beutezug. Danach gingst du in die Läden und kauftest die Garndocken, die noch auf dem Markt waren. Zum Glück bekam Mama von dem ganzen Aufstand nichts mit. Meine Tante hatte ihr den Antrag auf Familienzusammenführung geschickt, und nun wartete sie auf das Visum. Uns kam das sehr gelegen: Während Mama den Tag damit zubrachte, bei den Botschaften anzurufen und sich um irgendwelche Papiere zu kümmern, nahmen wir das Haus in Beschlag und machten uns in Ruhe ans Stricken. Abends, wenn du erschöpft nach Hause kamst (der Zwirn wurde schon knapp, und es ging mit den langen Schlangen los), erwartete ich dich immer, begraben unter einem Berg von bunten Fäden, beim fabelhaften Radau der Platten von Pat Boone, die ich seitdem nie wieder gehört habe. Schließlich hatten wir die ersten Sachen fertig. Das erste Stück war für dich, Ricardo. Eine mausgraue Hose mit Reißverschluss an den Beinen und posamentierten Taschen, eine Sensation. Für mich hatte ich ein Abendkleid in Schärpenmasche gestrickt, das über und über mit Strass besetzt war. Bevor wir das erste Mal ausgingen, probierten wir die Sachen vor Mama an, die in einem fort kreischte und mit nichts zufrieden war, weil das Visum auf sich warten ließ. Wir studierten auch ein paar exotische Tänze ein und erfanden fremdartige Schritte, die wir fantastisch hinkriegten. Endlich beschlossen wir, uns zum Architektenkongress auf der Rampa sehen zu lassen. Mama, die zu diesem Zeitpunkt ihr Visum schon hatte und jetzt auf einer langen Warteliste für das Flugzeug stand, zeigte uns ein paar Tänze aus ihrer Jugend, die wir gut gebrauchen konnten, mit ein paar Arrangements natürlich, und sie brachte uns sogar eine neue Masche bei, ein Patent von ihr. Fast in letzter Minute passierte eine Tragödie. Ohne dass du es merktest, wurdest du auf einmal dicker. Aber mit Mamas und meiner Hilfe – wir hielten uns an die Diät von Judy Garland und gönnten dir nur alle vierundzwanzig Stunden ein paar Salatblätter – kamst du wieder auf dein Normalgewicht, allerdings blieb eine gewisse Nervosität zurück. Als der Tag gekommen war, an dem wir ausgehen wollten, wirktest du ziemlich blass. Mama, die zum Glück noch ein bisschen Make-up von Max Factor übrig hatte, richtete dich aber wieder her.

Wir brachen auf zur Rampa.

Es war ein Wahnsinnsgedrängel. Die ganze Straße wurde von Polizisten bewacht, die mit Trillerpfeife und Gummiknüppel dafür sorgten, dass nur auf die Rampa kam, wer eine Einladung vorweisen konnte. »Besser, wir gehen wieder«, sagtest du. »Nie und nimmer«, antwortete ich. Hand in Hand, mit majestätischem Schritt und fast etwas pikiert, dass man uns an einen Ort eingeladen hatte, wo so viele Leute waren, liefen wir an den Polizisten vorbei und würdigten sie keines Blickes. In der ganzen Pracht unserer Garderobe betraten wir die Rampa. Vier Orchester spielten: La Aragón und noch schlechtere … Ohne Augen für irgendwen zu haben, steuerten wir den Kongresspavillon an, wo die ausländischen Architekten und die Bonzen waren, alle anderen mussten draußen bleiben. Man hörte nur, wie dort jemand auf dem Klavier klimperte. Entschlossen gingen wir auf den Eingang zu. Wohlerzogen gaben uns die Leute den Weg frei. Und wir gelangten bis in die Mitte des Saals, wo Bola de Nieve sang. Wir hatten schon bemerkt, dass die Leute nicht mehr zu Bola hinsahen, sondern die Augen auf uns richteten. Wir gingen nach vorn und postierten uns hinter dem Sänger. Ich mit leicht herausgestelltem Bein, in die Hüfte gestemmten Armen und silberner Stola, die von meinen Schultern bis auf den Boden fiel (der Luftzug wehte sie manchmal hoch und verdeckte dabei den Kopf des Sängers). Du neben mir, eine Hand am Kinn, die andere auf meiner Schulter, und wenn kein Wind wehte, halfst du der Stola beim Wehen unauffällig nach. Darin warst du genial, Ricardo. Und als Bola de Nieve mit Ach, Mama Inés fertig war und mit seinem Nilpferdgrinsen aufstand, erstarrte er, wie vom Donner gerührt, kreidebleich. Die Leute klatschten, das schon, aber dabei sahen und zeigten sie auch woandershin. Zu uns. »Der Lohnkutscher der Partei«, wie Mama ihn nannte, setzte sich noch einmal ans Klavier und spielte wütend in einem Ritt sein ganzes Repertoire herunter. Er hämmerte das Klavier zuschanden. Aber nichts. Wieder stand er auf, wieder entblößte er seine blitzenden Hauer. Die Leute klatschten und zeigten auf uns. Mit dem Gesicht einer beleidigten Wahrsagerin verbeugte sich Bola bis auf die Erde und verschwand. Ich glaube, es gab sogar Pfiffe.

Dann setztest du dich ans Klavier und klimpertest mit einem Finger die Tonleiter herunter. Währenddessen spazierte ich durch den Saal, hob die Stola empor, blieb auf einem Bein stehen und warf den Oberkörper zurück. Du standst auf, und zum Klang des fernen, von den unsäglichen Orchestern produzierten Getöses führten wir einen von uns kreierten Tanz vor, mit Schritten, die einfach sensationell waren. Die Leute applaudierten. Sie gerieten außer Rand und Band … Kaum sahen wir ein paar grüne Uniformen hereinkommen, machten wir einen Satz und landeten hinter einem großen Transparent. Wir überquerten die brodelnde Straße und schlüpften ins Kino La Rampa (an dem Abend war die Premiere von La dolce vita). Es wurde immer noch geklatscht.

Im Kino sorgten wir sogar im Dunkeln für Aufsehen. Die Leute sahen nicht mehr Anita Ekberg an, sondern uns. Und als wir auf dem Rückweg den Bus nahmen, kriegte selbst der Fahrer, der uns im Rückspiegel betrachtete, den Mund nicht mehr zu.

Wir krochen fast nach Hause, so müde waren wir. Mama stand halb nackt im Hauseingang und fächelte sich frische Luft zu. »Da ist es mitten im Winter, und wir kommen vor Hitze fast um«, sagte sie. »Noch ein Sommer, den ich hierbleiben muss, und ich nehme mir den Strick.« Wir beachteten sie nicht weiter. Während sie unablässig mit dem Fächer wedelte, nahmen wir grandiose Posen ein, tanzten und probierten immer neue Sachen an. Du, Ricardo, erfandst auch unglaubliche Schritte (sicher versuchtest du schon damals, mich auszustechen). Irgendwann hob Mama, nachdem sie uns eine Weile gleichgültig zugesehen hatte, den Fächer und bat um Ruhe. »Seid nicht albern«, sagte sie, »seht ihr nicht, dass diese ganzen Faxen überflüssig sind? Wenn ihr solches Aufsehen erregt habt, wie ihr sagt, dann liegt das daran, wie ihr angezogen seid. In diesem Land gibt es rein gar nichts mehr. Jeder ungewohnte Fetzen ist hier schon eine Sensation.« Das sagte sie. Und wir zwei standen regungslos da und starrten sie an. Sie machte eine Handbewegung, wie um uns fortzuwischen, und fing wieder an, sich zu fächeln. »Gute Nacht«, sagte ich zu ihr und gab ihr den gewohnten flüchtigen Kuss. »Ihr wisst genau«, ließ sie sich noch vernehmen – wir hatten ihr schon den Rücken zugewandt –, »dass es eure Sachen sind, womit ihr Aufsehen erregt; warum sonst habt ihr die ganzen Tage wie die Wilden daran gearbeitet?« Mehr sagte sie nicht. Wir gingen in unser Zimmer und legten eine Platte auf. An diesem Abend hörten wir Ein Haus auf dem Dach der Welt von Mona-Bell. Sehr spät, als wir schon den Plattenspieler ausgemacht hatten und im Bett lagen, sagtest du: »Ich glaube, die Alte hat recht.« – »Natürlich hat sie recht«, antwortete ich. »Aber was macht das schon? Garn haben wir mehr als genug.« Und ich machte die Augen zu. Doch gleich darauf fing ich an, mich mit dir zu zanken. »Hör mal, Richard«, sagte ich, »du weißt genau, dass mich das schon immer gestört hat, wenn du zu Mama Alte sagst; wenn mich nicht alles täuscht, ist sie noch keine sechzig.« Am nächsten Morgen waren wir aber schon wieder ruhiger. Wir hörten die alten Platten von Fabian, und das versöhnte uns; wir schmiedeten Pläne und überlegten uns, was wir anziehen würden bei der Massendemonstration auf dem Platz der Revolution »José Martí«, die, wie die Zeitungen bereits mit viel Trara ankündigten, in ein paar Wochen aus Anlass des Ersten Mai bevorstand. Die Tage vergingen. Wir waren so beschäftigt (ich strickte pausenlos; du standst in den Läden von Havanna Schlange), dass wir Mama vollkommen vergaßen. Eines Abends, als ich gerade an der äußerst schwierigen Netzmasche saß und du mit den Armen das Garn hieltest, hörten wir, wie sie im Wohnzimmer herumschrie und gegen die Stühle stieß. Wir ließen alles stehen und liegen und gingen nachsehen. Mama sprang kreuz und quer durch den Raum. »Ich kann nicht mehr«, schrie sie mit gellender Stimme und hielt sich die Hände vor die Brust. Nach einer Weile beruhigte sie sich, und wir führten sie in ihr Zimmer. »Schafft mich hier raus«, sagte sie. »Ihr seid auch schon verrückt. Ich will weg von dieser verdammten Insel.« Wir gaben ihr zwei Aspirin und ein Glas Wasser, deckten sie mit dem Laken zu, machten das Licht aus und gingen wieder an unsere Arbeit. Die Docken, die du gehalten hattest, waren verheddert, und wir brachten den Rest der Nacht damit zu, Knoten zu entwirren, Fäden glatt zu ziehen und das Garn aufzuwickeln. Es war schon Tag, als wir völlig erschöpft ins Bett fielen, wo wir bis zum Abend blieben. Wir standen erst am Abend wieder auf und arbeiteten sofort weiter.

Mama ging es immer schlechter. Sie war wirklich nahe daran, verrückt zu werden. »Die Alte dreht durch«, sagtest sogar du (der du nie an ihre Krankheiten glauben wolltest), als wir hörten, wie sie im Wohnzimmer hin und her lief und gegen die Möbel stieß. Um nicht zu streiten, antwortete ich erst gar nicht. Ich stellte mich taub, schob dir die Docke über die Arme und fing an zu stricken. Der Erste Mai stand vor der Tür, und bei diesem neuen Drama mit Mama fürchtete ich (wie auch du, Ricardo), unsere Garderobe würde bis zum Tag der Parade womöglich nicht fertig sein.

Zum Glück kam Ende April Mama in unser Zimmer gesprungen. Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, wie sie deinen Kopf zwischen die Hände nahm und dir auf die Wange küsste. »Meine Ausreise ist da«, juchzte sie und wedelte mit dem Telegramm. Ich wollte sie gleich überzeugen, auf der Reise eine Kreation von mir zu tragen: das Ganze aus kanariengelbem Kammgarn, mit Tressen an den Seiten, doppelreihigem Spitzenjabot, Überrock und gefälteltem Kragen. Aber sie weigerte sich. »Nichts da«, sagte sie, »ich bin doch kein Kannibale. Ich gehe als Dame.« Und sie holte ihre vorsintflutlichen Kostüme aus dem Schrank, von denen die Ärmste glaubte, sie seien noch modern. Am nächsten Tag brachten wir sie in aller Frühe zum Flugplatz. Du, Ricardo, trugst Rodelmütze (wir kamen vor Hitze zwar fast um, aber es war noch Winter), Pullover mit Schildkrötenkragen, Pantalons und einen Schal mit changierenden Karos sowie Stiefel, deren Futter in Stielmasche gestrickt war und in französischen Noppen auslief. Ich ging im wunderschönen blassrosa Raphiamantel mit Stehkragen, Hohlsaum und bezogenen Knöpfen, die wie fliegende Untertassen aussahen; der schwarze Rock plissiert und die Strümpfe grün auf grünem Imprimé (aus dem spanischen Garn, das du gerade noch rechtzeitig auf dem Schwarzmarkt ergattert hattest); als Schuhe Damenpantoffeln: goldener Atlas und Seidenblumen, die sich am Knöchel emporrankten. Wirklich, ein Modell, bei dem selbst Mary McCarthy der Göttlichen die Augen aus dem Kopf gefallen wären. Mama wurde von uns völlig überstrahlt. In diesem Fetzen aus Grège, der ihr bis zum Knöchel reichte, und mit einem Hut wie ein Fallschirm, den man nicht mal mehr im Albtraum zu Gesicht bekommt, sah sie wirklich aus wie ein Pilz. »Thank you«, sagte sie zum Fahrer, als wir aus dem Taxi stiegen – zum Glück zahlte sie die Fahrt –, und von da ab redete sie mit allen nur noch englisch, weshalb wir auch von dem, was sie uns zum Abschied sagte, kaum ein Wort verstanden. Zumal Mamas Englischkenntnisse ziemlich lückenhaft waren. Ich glaube, manchmal wusste sie selbst nicht, was sie sagte. »Ja ja, die Alte«, sagtest du jedes Mal, wenn sie den Mund aufmachte und ihr breites Kauderwelsch losließ. Mit ihrem Blick schien Mama dich umbringen zu wollen. Du meintest immer, ihr Englisch würde über yes nicht hinausreichen, aber ich glaube, das war übertrieben, Ricardo. Wir sahen noch, wie sie hinter den Glasscheiben der Zollabfertigung verschwand und an der Spitze der eskortierten Passagiere zum Flugzeug marschierte. Sie hob die Hände und schwenkte ein Tuch aus Popeline. In diesem für sie so aufregenden Moment wollte sie im Mittelpunkt stehen. Ich nehme an, sie wird sehr überrascht gewesen sein, als sie zur Terrasse hinübersah und merkte, dass von den vielen Verwandten und Freunden der Ausreisenden niemand zu den Passagieren auf der Piste blickte, schon gar nicht zu ihr. Alle hatten nur Augen für dich und für mich, Ricardo. Ich war selber überrascht, als wir kehrtmachten und alle uns folgten. Wir stiegen martialischen Schritts die Terrasse hinab und nahmen den Bus. Die ganze Fahrt sprach ich kein Wort mit dir. Ich war böse auf dich, Ricardo. Du hattest Mama nicht einmal Lebwohl gesagt, und der Ärmsten flogen auf der Gangway beim Winken fast die Hände weg. Aber ich machte dir keine Vorwürfe. Als wir zu Hause waren, drückte ich dir das Zuteilungsheft in die Hand und bat dich, schnell den bulgarischen Zwirn zu kaufen, den ich vom Bus aus in einer Auslage vom Río Verde gesehen hatte. Und ich machte mich unverzüglich ans Nähen.

Der Erste Mai kam. Die Hymnen schmetterten durch alle Straßen. Wer seinen Kopf zur Tür hinausstreckte, verblitzte sich von den grellbunten Fahnen die Augen. Das Radio brachte immerzu nur Losungen und anderes Schnätterätäng. An diesem Tag konnte ich das Programm von Los Cinco Latinos, die damals der letzte Schrei waren, natürlich abschreiben. Zum Glück hatten wir noch ein paar Platten von ihnen, und während wir uns mit den Vorbereitungen fast zu Tode rackerten, hören wir den ganzen Vormittag Oh, Carol und Eine Frühlingsnacht.

Unsere Garderobe war umwerfend. Egal wie schwierig es damals war, an Material zu kommen, du fandst immer eine Lösung, Ricardo. Du warst groß im »Lockermachen«, wie du es nanntest, und stöbertest in den Läden noch den letzten Rest Garn auf. Da konnte ich mich nie beklagen über dich. Das stimmt. Ob du damals schon angefangen hast, Intrigen gegen mich zu spinnen? Ach, nach allem hätte ich doch lieber auf Mama hören sollen. »Nimm dich vor den Dörflern in Acht«, sagte sie immer, »eine Bande von Betrügern ist das …« Ja, die Garderobe, die wir an diesem Tag vorführen wollten, war wirklich königlich. Für mich hatte ich, und zwar mit großen Stahlnadeln, an die heute im Traum nicht mehr zu denken ist, rabenschwarze Slacks aus englischem Garn gestrickt, den du für Mamas alte Sachen eingetauscht hattest; für die Handtasche nahm ich Manilahanf, und mit blauer Methylenfarbe eingefärbt, war sie einfach grandios. Ich schneiderte mir noch ein scharlachrotes Blouson, kombiniert mit einer knallroten Ballonmütze, in Spinnentrikot gestrickt, mit den unvergleichlichen französischen Nadeln N° 6, wie es sie längst nicht mehr gibt; dazu durchbrochene Handschuhe aus Bärchen-Faden und als krönenden Abschluss aus chinesischem Zwirn und spanischem Garn ein Schultertuch, das aussah wie die kubanische Flagge. Um mich vor der Sonne zu schützen (die Parade, das mussten Verrückte sein, fing um eins an), überzog ich den Sonnenschirm mit feinster Georgette, und für die Thermosflasche (wer kein Wasser mitnahm, würde unweigerlich verdursten) strickte ich ein Futteral aus kaimangrünem Garn, das ihr eine göttliche Eleganz verlieh. Um meine Ausstattung komplett zu machen, häkelte ich mir schließlich einen großen Fächer in zarter Popcornmasche, eine Erfindung von mir. Für dich, Ricardo, nähte ich eine Milizionärsuniform, die man wirklich gesehen haben musste – mit der Acht-Meter-Docke, die du, wie du sagtest, bei den »Schmugglerkönigen« gekauft hattest. Die olivgrüne Hose hatte ich mit vier Nadeln direkt an deinem Körper gestrickt und mit Noppen verziert, die wie aufbrechende Knospen geformt waren; die überhohen, lackschwarzen Stiefel hatten eine gehohlnädelte Rosette an der Seite, eine vielfarbige Illustration des Sturms auf die Moncada-Kaserne aus chinesischem, bulgarischem und portugiesischem Zwirn, kopiert vom Titelblatt der letzen Ausgabe der Bohemia; das Hemd, marineblau, war mit gebogenen Nadeln in Zwergmasche gestrickt und die flaschengrüne Baskenmütze in doppelter Kettenspitze gehäkelt, oben mit einer großen Troddel aus bunten Fransen. Aus dem Rest der Docke wollte ich eine große Fahne machen, die wir gemeinsam tragen würden. Aber du weigertest dich. Und ich verzichtete. Die Hymnen wurden inzwischen immer unerträglicher, und auf den Straßen war ein dichtes Gewühl. Die Parade würde jeden Moment losgehen. In unserer unvergleichlichen Garderobe machten wir uns auf den Weg zum Platz der Revolution.

In allen Straßen erregten wir Aufsehen, ein bombastischer Tumult begleitete uns. Die Parade begann. Du fasstest mich an der Hand. Damit mein Handschuh nicht übersehen wurde, nahm ich von dir nur einen Finger. Als Erstes marschierten eine Million Bauern vorbei. In ihrer archaischen Kluft machten sie tausend Faxen wie die Affen und irgend so ein gymnastisches Bild, das sich letzten Endes in Buchstaben verwandelte und eine große Losung ergab. Das Geschmetter der Hymnen ging weiter. Es war wirklich zum Davonlaufen. Die Armee zog vorüber und das offizielle Blasorchester mit vielen Pfeifen und vielen Hörnern und viel Rumtata. Die Leute sahen uns an und sprachen über uns. Wir versuchten, uns in dem Gewühl einen Weg zu bahnen und die Avenida zu erreichen, wo »die grandiose Parade« stattfand, wie eine heisere Frau aus den scheppernden Lautsprechern schrie. Bei den kreischenden Leuten und der drückenden Hitze glaubte ich manchmal schon, ich müsste ersticken. Du holtest deshalb die Thermosflasche aus ihrem genialen Futteral und gabst mir einen Schluck zu trinken. Danach boxten wir uns weiter durch, zwischen Transparenten, halb toten Kindern und alten Leuten, die sich nur durch ein pures Wunder noch auf den Beinen hielten. Die Menschenmenge, die hinter uns herzog, vermischte sich mit der Demonstration, und alles war eine einzige, kompakte Masse. Eine Mauer. »Platz da, Platz da«, schriest du, und ich schlug mit meinem Fächer und dem Sonnenschirm um mich, bis wir an die Kette von Milizionären kamen, die die Parade absperrten. Ich weiß noch, in diesem Moment kamen die Studenten vorbei und quakten irgendwelche Morddrohungen gegen den Feind. Dahinter, mit herrischem Tritt, marschierte das Bataillon der Frauenmiliz. Die Kette der Milizionäre schien unüberwindbar. Aber du, Ricardo, schlugst ihnen ein Schnippchen. »Platz da, Platz da für Prensa Latina«, riefst du. Du packtest mich am Arm, und schon waren wir beide mitten auf der Avenida, an der Spitze der »grandiosen Parade«. Die Trillerpfeifen der Polizei und die Sirenen der Streifenwagen ertönten. Zu spät. Genau in der Mitte der Straße schritten wir majestätisch voran. Dahinter kamen die Studenten und das Frauenbataillon, und dann das Meer der von den Gewerkschaften geschickten Arbeiter mit riesigen Fahnen und Spruchbändern, die so riesig waren, dass ihre Träger alle Kraft aufbieten mussten, um nicht von ihnen zu Boden gerissen und erschlagen zu werden. In der Ferne erklang noch das Tschingdarassabum der Militärkapelle. Und je weiter wir liefen, Ricardo, desto mehr galten die Blicke und Beifallsstürme uns. Die Studenten waren außer Rand und Band. Sie vergaßen die Losungen, die sie voller Enthusiasmus nachplappern sollten, und schwenkten jetzt die Arme, klatschten und schienen uns sogar den Hof zu machen. Ja, Ricardo, mit ihren Gesten und erregten Stimmen schienen sie mir und dir den Hof zu machen. Das Frauenbataillon marschierte, ohne aus dem Tritt zu kommen, aber es sah nur zu uns, und als die Kommandeurin, als Salut zur Tribüne, mit Weltuntergangsstimme schrie: »Augen rechts!«, scherte sich niemand darum. Weiter hinten hörten wir den stürmischen Jubel der Werktätigen und dazu das Geschrei der zahllosen zur Demonstration erschienenen Zuschauer. Fast wäre unter der Obrigkeit, die sich einen Moment lang ebenfalls von der Begeisterung hinreißen ließ, Panik ausgebrochen, und unter den orkanartigen Beifallsstürmen, den Hurrarufen und dem fernen Lärm der unerträglichen Hymnen überquerten wir die große zentrale Avenida. Als wir in die Avenida de Rancho Boyeros einbogen, drehten wir uns zu dem großen Aufmarsch um, schwenkten die Arme zum Zeichen des Dankes und des Abschieds und verschwanden im Durcheinander des allgemeinen Taumels … Ich weiß, dass die Obrigkeit, nachdem sie wieder zu sich gekommen war, versuchte, uns ausfindig zu machen. Aber es war schon zu spät.

Triumphierend und erschöpft – die Kleider hingen in Fetzen – kamen wir nach Hause. Wir legten Los Cinco Latinos auf und machten die ganze Nacht nichts anderes, als uns zu gratulieren und im Erfolg zu schwelgen.

Und du warst es, Ricardo, der im Morgengrauen – Los Cinco Latinos, ich weiß es noch genau, sangen gerade Don Quijote