Rosalinde hat ein Loch im Socken.

Rosalinde hat einen Verband ums Knie.

Rosalinde hat einen Marienkäfer in der Hand.

Rosalinde hat eine Kette um den Hals.

Rosalinde hat Gedanken im Kopf.

 

Die Mama sieht das Loch im Socken.

Der Papa sieht den Verband ums Knie.

Die Katze sieht den Marienkäfer in der Hand.

Die Oma sieht die Kette um den Hals.

Die Gedanken im Kopf sieht niemand.

 

»Das ist sehr gut so!«, sagt Rosalinde.

 

 

 

 

 

Der Opa behauptet, er kennt Rosalindes Gedanken im Kopf trotzdem. »Wenn du denkst und dabei Nase bohrst«, sagt er, »dann hast du Ein-maleins-Gedanken im Kopf!«

»Wenn du denkst und dabei deine Zungenspitze aus dem Mund schaut, hast du Kleinschreib-Großschreib-stumme-H-Gedanken im Kopf«, sagt er.

»Und wenn du denkst und dabei die Augen zukneifst und ganz dünne Lippen bekommst, dann hast du Wut-auf-jemanden-Gedanken im Kopf«, sagt er.

»Und wenn du beim Denken runde Glitzeraugen und feuchte Lippen bekommst, dann hast du Schlagobers-Torte-möchte-ich-Gedanken im Kopf«, sagt er.

Der Opa sagt, er hat Rosalinde jahrelang genau beobachtet, er weiß Bescheid. Er kennt sich in Rosalindes Kopf so gut aus wie in seinem eigenen.

Rosalinde geht in ihr Zimmer und setzt sich vor den großen Spiegel und denkt und schaut die Rosalinde im Spiegel an. Eine ganze Stunde sitzt Rosalinde und denkt und schaut. Dann steht sie auf und sucht den Opa.

Der Opa ist in der Küche. Er repariert das Bügeleisen. Der Knopf, mit dem man die Temperatur einstellt, lässt sich nicht mehr drehen, wenn das Bügeleisen heiß ist.

Die Oma steht neben dem Opa und ist grantig.

Sie will nicht, dass der Opa das Bügeleisen repariert.

Sie will ein neues Bügeleisen kaufen.

»Immer nur laufen und kaufen«, schimpft der Opa. »Du hast nichts anderes als Kaufenlaufen im Kopf.«

Die Oma sagt: »Das Bügeleisen ist schon zehn Jahre alt. Bügeleisen repariert man heutzutage nimmer. Das hat mir der Elektriker gesagt.«

»So ein Bügeleisen kann hundert werden, wenn man gut drauf aufpasst«, sagt der Opa.

»So was von einem alten Geizer und Knicker wie dich gibt es auf der Welt kein zweites Mal …«, sagt die Oma und hört zu reden auf, weil Rosalinde in die Küche kommt und weil Erwachsene vor Kindern nicht streiten sollen.

Rosalinde geht zum Opa, verschränkt die Arme über der Brust und fragt: »Na?«

Der Opa legt den Knopf vom Bügeleisen, den er in der Hand gehalten hat, auf den Küchentisch, schaut Rosalinde an und fragt: »Was, na

»Na, was hab ich jetzt für Gedanken im Kopf?«, fragt Rosalinde. »So sag es schon!«, verlangt sie.

Der Opa erklärt, da muss er zuerst die Brille putzen, damit er Rosalindes Gesicht genau sehen kann. Er nimmt die Brille von der Nase und das Taschentuch aus der Hosentasche.

Er spuckt auf die Brillengläser und reibt sie mit dem Taschentuch blank.

Die Oma ruft empört: »Wie willst du denn mein Bügeleisen reparieren, wenn deine Brille so dreckig ist, dass du nicht durchschauen kannst?«

Der Opa sagt der Oma, dass man die Gedanken im Kopf doch nicht mit dem Bügeleisen vergleichen kann. Bügeleisen sind groß und hart und fest. Gedanken sind zart und durchsichtig und fein. Für Gedanken braucht man eine erstklassig polierte Brille ohne ein einziges, winziges Staubkorn darauf. Das Bügeleisen, sagt der Opa, sieht er auch ohne Brille. Er ist ja nicht blind!

Der Opa setzt die Brille wieder auf.

»Und draufspucken gehört sich auch nicht!«, sagt die Oma. »Das ist ungezogen!«

Der Opa schaut Rosalinde an. Ganz genau schaut er sie durch die Brille an. Er sagt: »Rosalinde, deine Unterlippe zittert grämig, deine Augenlider sind gesenkt, traurige Schatten werfen deine Wimpern auf deine bleichen Wangen. Du denkst traurige Gedanken, sehr, sehr traurige Gedanken, mein Kind!« Rosalinde seufzt und macht die Augen noch ein bisschen mehr zu. Ihre Lippen zucken.

»Natürlich!«, ruft der Opa. »Aber natürlich! Jetzt habe ich es! Du denkst daran, dass du nächsten Mittwoch Geburtstag hast und dass dir kein Mensch den ferngesteuerten Bagger schenken wird, weil du leider ein Mädchen bist!«

Rosalinde lacht. Sie schreit: »Verkehrt, verkehrt! Total falsch! Reingefallen und auf den Leim gegangen!« Rosalinde hüpft auf einem Bein um den Küchentisch und den Opa herum. »Ich habe wunderschöne Gedanken im Kopf gehabt«, sagt sie. »Ich habe daran gedacht, dass ich nächsten Mittwoch zum Geburtstag unter Garantie den ferngesteuerten Bagger von dir bekomme. Und dann habe ich daran gedacht, wie wir zwei zusammen mit dem Bagger spielen werden!«

Rosalinde ist ganz sicher, dass ihr der Opa zum Geburtstag den Bagger schenken wird. Gestern nämlich ist der Opa mit einer großen Tragtasche nach Hause gekommen. Die Ecke von einer roten Schachtel hat aus der Tasche herausgeschaut. Der Bagger, den sich Rosalinde wünscht, wird in genau so einer roten Schachtel verkauft. SPIEL & SPORT MEIER, hat auf der Tragtasche gestanden. Der Bagger, den sich Rosalinde wünscht, steht in der Auslage von SPIEL & SPORT MEIER.

Der Opa ist gestern mit der großen Tragtasche blitzschnell in sein Zimmer hinein und hat sie in den Schrank getan und den Schrank zugesperrt. Sonst versperrt der Opa seinen Schrank nie.

Rosalinde hat den Opa hinterher gefragt, was er denn in der Tragtasche nach Hause gebracht hat. Da hat der Opa behauptet, neue Angelhaken für seine Angel seien in der Tasche gewesen.

Aber seit wann verpackt man winzige Angelhaken in riesige, rote Schachteln und versperrt sie im Schrank?

Nein, nein, ein Bagger war in der Tragtasche! Ein erstklassiger, ferngesteuerter Bagger!

 

Der Opa schüttelt den Kopf. Er sucht im Werkzeugkasten nach einer kleinen Schraube und sagt: »Erstens, liebes Kind, kriegst du von mir keinen Bagger, weil Bagger nur ein Spielzeug für Buben sind …«

»Und zweitens«, unterbricht ihn die Oma, »kriegst du keinen Bagger von ihm, weil Bagger sehr teuer sind, liebes Kind. Ein Mann, der seiner Frau nicht einmal alle zehn Jahre ein neues Bügeleisen gönnt, kauft doch seiner Enkeltochter keinen Bagger. Der kauft ihr zum Geburtstag einen Zuckerschlecker im Sonderangebot!«

»Und drittens«, sagt der Opa, »möchte ich wissen, wieso du ein Trauergesicht machst, wenn du an den Bagger denkst? Willst du ihn nicht mehr? Willst du launenhaftes Weib jetzt vielleicht schon wieder etwas anderes?«

Rosalinde grinst. Sie sagt: »Das Trauergesicht war nur Tarnung. Ich habe ein Trauergesicht zu Freudengedanken gemacht. Ich kann aber auch an etwas Trauriges denken und dabei lachen!«

»Nie im Leben!«, sagt der Opa.

»Doch!«, sagt Rosalinde.

»Dann denk daran, dass die Katze die Masern bekommt und stirbt! Und lach dazu«, verlangt der Opa.

»An so etwas denke ich doch nicht!«, ruft Rosalinde entrüstet.

»Recht hat das Kind«, sagt die Oma. »Solche Gedanken hat man gar nicht zu haben!«

 

»Dann denk daran, dass es heute zum Nachtmahl grasgrünen Spinat gibt, und lach dazu«, verlangt der Opa.

Die Oma flüstert: »Zum Nachtmahl koche ich heute Kaiserschmarrn!«

Kaiserschmarrn mag Rosalinde fast so gern wie Schlagobers-Torte.

Rosalinde denkt an SPINAT und lacht dazu.

»Denk daran, dass du morgen eine Rechenarbeit schreibst, und lach dazu«, verlangt der Opa.