Der kleine Fürst 138 – Ein toller Typ

Der kleine Fürst –138–

Ein toller Typ

Oder ist Manuel nur ein Angeber?

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-607-7

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»Ist mein Opa nicht da?«, fragte Lena Carsten, als sie außer Atem die Küche der geräumigen Wohnung betrat.

Sie zog die Mütze vom Kopf, mit der sie sich gegen die strenge Kälte, die schon seit Wochen herrschte, zu schützen versucht hatte. Strubbelige kurze hellblonde Haare kamen zum Vorschein. Lenas Wangen waren gerötet, die schönen braunen Augen blickten besorgt. Lena war eine bildhübsche junge Frau von achtundzwanzig Jahren, aber in diesem Moment sah sie keinen Tag älter als zwanzig aus. »Ich kann ihn nirgends finden. Er wusste aber, dass ich kommen wollte.«

Oliver Brehme, der dabei war, sauberes Geschirr aus der Spülmaschine in die Schränke zu räumen, grinste breit. Er war ein massiger Mann in Jeans und kariertem Hemd, das ihm wie immer halb aus der Hose hing. In seinem Gesicht fielen zuerst die klugen blauen Augen auf, die meistens freundlich in die Welt blickten. Lena freute sich jedes Mal, wenn Oliver Dienst hatte. Von allen Pflegern, die die Seniorenwohngemeinschaft betreuten, in der ihr Großvater seit einiger Zeit lebte, mochte sie ihn am liebsten.

»Emil ist im Garten«, antwortete er. »Er hat was von frischer Luft erzählt, die er dringend braucht, und ich habe so getan, als glaubte ich ihm das. Er wäre nämlich sehr enttäuscht, wenn ich gesagt hätte: Qualm ruhig eine, Emil.«

»Er wird sich das Rauchen nicht mehr abgewöhnen, schätze ich«, seufzte Lena.

»Muss er auch nicht. Er ist fast achtzig Jahre alt geworden mit seiner Qualmerei, und er sitzt nicht deshalb im Rollstuhl, sondern weil ihn jemand angefahren hat. Lass ihn rauchen, er genießt es.«

»Aber es kann ihn krank machen.«

Oliver unterbrach seine Tätigkeit für einen Moment. »Es geht ihm gut, er sieht glücklich aus, wenn er raucht. Ich sage dir: Lass ihn.«

»Ich versuch’s, aber es fällt mir schwer. Soll ich dir was helfen, bis er wiederkommt?«

»Du kannst die Spülmaschine zu Ende ausräumen, dann sehe ich mal nach Ella, sie ist ziemlich durcheinander heute.«

»Okay«, sagte Lena, und Oliver verschwand.

Ella Hollmann, ebenfalls eine WG-Bewohnerin, war zwei Jahre älter als Lenas Großvater Emil Mannscheid. Eine liebe, zarte, kleine Frau, die meist in der Vergangenheit lebte und gerne sang. Obwohl sie schon über achtzig war, hatte sie sich ihre wunderschöne Stimme erhalten. Baten die anderen sie, etwas vorzusingen, freute sie sich und zierte sich nicht lange. Wenn Ella sang, verwandelte sie sich, die anderen konnten dann den Menschen sehen, der sie früher einmal gewesen war.

Lena räumte also die Spülmaschine aus. Damit war sie noch nicht ganz fertig, als ihr Großvater in die Wohnung zurückkehrte. Emil Mannscheid war, obwohl er seit gut anderthalb Jahren im Rollstuhl saß, weil er nach einem Verkehrsunfall querschnittgelähmt war, der Fitteste der Wohngemeinschaft, und er tat auch einiges dafür. Oliver hatte ihn davon überzeugt, dass man auch im Sitzen Gymnastik machen konnte, und seitdem war Emil mit eiserner Disziplin dabei. Er war weitgehend selbstständig und hatte eigentlich nach dem Unfall in seiner Wohnung bleiben wollen, doch Lena hatte ihn davon überzeugt, dass er in einer betreuten Wohngemeinschaft besser aufgehoben war. Nun war er froh darüber, hier zu sein. Er kam gut mit seinen vier Mitbewohnern aus, Ella liebte er geradezu, und in Oliver sah er so etwas wie seinen Enkel.

»Wie schön, dass du schon da bist, Lenchen«, sagte er erfreut.

Emil Mannscheid saß aufrecht in seinem Rollstuhl, er war noch immer ein kräftiger Mann, man sah ihm an, dass er früher gerne zugepackt hatte. Seine Arme waren stark, er schaffte es mit Leichtigkeit, den Rollstuhl mit eigener Kraft fortzubewegen, einen elektrischen hatte er abgelehnt. Seine weißen Haare waren erst vor ein paar Tagen von Oliver sorgfältig gestutzt worden, er war rasiert und duftete nach dem teuren Rasierwasser, das er sich als einzigen Luxus leistete. Er trug Jeans und ein weiches Flanellhemd und sah so gepflegt und gut gelaunt aus wie meistens. Früher war er ein ›schöner Mann‹ gewesen, wie Lena aus den Erzählungen ihrer Eltern wusste, groß, schlank, dunkelhaarig, mit klassischem Profil und fast schwarzen Augen. Lena fand, dass er auch jetzt noch sehr gut aussah.

Sie küsste ihn liebevoll zur Begrüßung. »Ich muss mit dir reden, Opa«, sagte sie.

»Das hast du am Telefon schon angekündigt. Etwas Ernstes?«

»Ja. Können wir in dein Zimmer gehen?«

»Was du mit mir bereden willst, soll unter uns bleiben?«

»Auf jeden Fall.«

Er nickte nur, wendete den Rollstuhl und verließ die Küche. Lena folgte ihm in sein Zimmer, das am Ende eines breiten, langen Flurs lag. Von den anderen Bewohnern war nichts zu sehen. Aus Ellas Zimmer klang leise Olivers Stimme. Boris Palmhorst, der ehemalige Barpianist, spielte Klavier. Der neunzigjährige Werner Baden war der Älteste der Wohngemeinschaft, er war früher Zahnarzt gewesen, jetzt saß er oft stundenlang vor seinem Aquarium und sah den Fischen zu. Und dann gab es noch Mona Kastenmeyer, die mit neunundsiebzig Jahren so alt war wie Emil. Sie hatte ein Familienunternehmen geleitet und spielte sich noch immer gern als Chefin auf. Da sie aber auch hilfsbereit und gutmütig war, nahm es ihr niemand übel.

Emil Mannscheids Zimmer war hell und gemütlich eingerichtet mit seinen alten Möbeln: einem breiten Sofa, zwei schweren Sesseln, mehreren kleinen Tischchen, einer Reihe Lampen und zahlreichen Bildern an den Wänden. Es war ein großes Zimmer, in dem er sich mit seinem Rollstuhl bewegen konnte, ohne ständig überall anzustoßen. »Hilf mir in den Sessel«, bat er seine Enkelin, während er die Fußstützen des Rollstuhls löste und zur Seite klappte, damit er seine Füße auf den Boden stellen konnte.

Lena hatte sich von Oliver zeigen lassen, wie sie ihren Opa aus dem Rollstuhl heben konnte, ohne ihrem Rücken zu schaden. Sie hatte das schon oft gemacht, es klappte problemlos.

»Herrlich!«, seufzte Emil, als er sich in seinem Lieblingssessel ausstreckte. Lena legte seine Beine auf einen gepolsterten Hocker, der vor dem Sessel stand, denn das konnte er nicht allein. »Nichts ist bequemer und gemütlicher als dieses alte Ding.«

Lena zog sich einen Stuhl heran, sie wollte dicht bei ihrem Großvater sitzen, wenn sie ihm erzählte, was ihr auf der Seele lag.

»Nun rede mal, Lenchen. Ich sehe dir ja an, dass dir etwas zu schaffen macht.«

»Hast du diese Sternberger ›Affäre‹ verfolgt, Opa?«, fragte Lena.

Sein Blick hätte erstaunter nicht sein können, es war offensichtlich, dass er mit einer anderen Eröffnung gerechnet hatte. »Nur am Rande. Man kann dem ja nicht völlig entgehen, weil die Medien voll davon sind, aber du weißt, dass ich mich für solche Geschichten nicht besonders interessiere.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Und ich dachte immer, dass es bei dir genauso ist.«

»Stimmt auch. Aber das hier ist ein Sonderfall.«

»Hast du etwas damit zu tun?«

»Nicht direkt.« Auf Lenas Stirn erschien eine steile Falte, wie immer, wenn sie sich konzentrierte. »Es ist wichtig, dass du die Geschichte in groben Zügen kennst, Opa.«

»Dann erzähl sie mir halt noch mal«, sagte er ergeben. »Wenn es für dich wichtig ist …«

»Ist es. Also: Eine Frau namens Corinna Roeder hat behauptet, vor ungefähr zwanzig Jahren eine Affäre mit Fürst Leopold von Sternberg gehabt zu haben.«

»Das weiß ich natürlich.«

»Fürst Leopold und seine Frau Elisabeth sind letztes Jahr tödlich verunglückt, also kann er sich zu dieser Behauptung nicht mehr äußern. Die beiden haben einen Sohn hinterlassen, Prinz Christian von Sternberg, besser bekannt als ›der kleine Fürst‹.«

Emil nickte, er zeigte erste Anzeichen von Ungeduld.

»Frau Roeder behauptet, dass auch sie einen Sohn von Fürst Leopold bekommen hat und zwar schon vor Fürstin Elisabeth. Für diesen jetzt siebzehnjährigen Sohn will sie Geld von der Familie des Fürsten haben. Sie behauptet, Leopold hätte ihr immer wieder Bargeld gegeben, größere Summen, die sie ausschließlich für ihren Sohn verwendet hat, der hochbegabt ist und besondere Förderung braucht. Die Sternberger behaupten, dass sie lügt. Sie hat ein paar Beweise vorgelegt, einen Brief, glaube ich, eine Sprachnachricht auf einem Anrufbeantworter und vor allem Fotos, auf denen nach ihrer Aussage der Fürst und sie zu sehen sind.«

»Ja, das hatte ich so ungefähr auch mitbekommen«, brummte Emil. »Aber ich weiß immer noch nicht, worauf du hinaus willst.«

»Diese sogenannten Beweise erkennen die Sternberger nicht an, es gibt widersprüchliche Gutachten dazu.«

»Das wusste ich nicht. Wer genau sind die Sternberger?«

»Die noch lebende Familie des kleinen Fürsten. Seine Tante Sofia war eine Schwester seiner Mutter und …«

Emil winkte ab. »Schon gut. Wieso interessiert dich das alles?«

»Dazu komme ich gleich. Ich lasse weitere Einzelheiten weg, die sind jetzt nicht so wichtig. Jedenfalls geht das schon eine Weile hin und her, mal sieht es so aus, als setzten sich die Sternberger durch, dann scheint wieder diese Frau Roe­der die Nase vorn zu haben. Die öffentliche Meinung ist jedenfalls mittlerweile eher auf ihrer Seite, die Leute glauben ihr mehr.«

»Na ja«, sagte Emil nachdenklich, »wenn ich das richtig in Erinnerung habe, wartete das frisch verheiratete Fürstenpaar damals jahrelang vergeblich auf Nachwuchs. Vielleicht brauchte Fürst Leopold Bestätigung …«

»Das ist genau Frau Roeders Argumentation«, fiel Lena ihrem Großvater ins Wort. »Und weil sie so nachvollziehbar ist, sind ihr viele Leute gefolgt.«

Emil nickte, und sie fuhr fort: »Vor Kurzem haben die Sternberger einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie nach einem Mann suchen, der Fürst Leopold ähnlich sah oder sieht. Nach einem Doppelgänger, wenn du so willst. Mit dem Aufruf wurde ein Foto veröffentlicht, auf dem Corinna Roeder zu sehen ist mit diesem Mann, der aussieht wie Fürst Leopold damals offenbar ausgesehen hat. Die Medien haben das überwiegend für einen Trick der Sternberger Anwälte gehalten, um die endgültige Kapitulation noch weiter hinauszuzögern. Der Mann sieht aus wie der Fürst, vielleicht war er der Fürst, das Gegenteil kann man nicht beweisen. So ungefähr konnte man es überall lesen.«

Emil beugte sich vor, den Blick forschend auf seine Enkelin gerichtet. »Nun bin ich aber wirklich gespannt, was du mit dieser Geschichte zu tun hast.«

»Ganz einfach«, sagte Lena, nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte. »Ich weiß, wer der Mann auf dem Foto ist, Opa.«

*

»Was tust du gerade?«, erkundigte sich Manuel Webers Mutter Elli.

»Ich telefoniere mit dir.«

»Stell dich nicht dumm!« Ellis Stimme klang ärgerlich. »Du weißt genau, was ich meine.«

»Ja, ich weiß genau, was du meinst«, erwiderte Manuel müde. »Ich habe nichts zu tun, immer noch nicht. Es kommt einfach niemand. Gestern war jemand da, der Ärger mit seinem Vermieter hat, er wollte mir heute ein paar Unterlagen vorbeibringen, aber er ist nicht wiedergekommen. Wenn das so weitergeht, kann ich den Laden gleich wieder zumachen.«

Manuel hatte vor Kurzem sein zweites juristisches Staatsexamen bestanden und sich den Traum einer eigenen ›Kanzlei‹ erfüllt. Sie bestand vorerst aus einem winzigen Appartement, das er in der Hoffnung gemietet hatte, die Mandanten würden ihm schon bald die Tür einrennen, wenn er draußen ein schönes großes Schild anbrachte, auf dem stand: Manuel Weber, Rechtsanwalt.