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Irena Brežná

Wie ich auf
die Welt kam

In der Sprache zu Hause

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Dieses Buch erscheint mit freundlicher Unterstützung durch den Fachausschuss Literatur Basel-Stadt/Basel-Landschaft.

Der Verlag bedankt sich dafür.

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Im gedruckten Buch finden sich zusätzlich zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos.

© 2018 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

Umschlagbild: Irena Brežná am Rheinufer in Basel neben der Skulptur »Helvetia auf der Reise« von Bettina Eichin, Foto: Jan Geerk

eISBN 978-3-85869-807-0

1. Auflage 2018

Inhalt

Weichenstellung 1968

Prager Frühling in Bratislava

Mein Besatzer

Blick auf Halbmast

Emigrantenexistenz

Panoramablick

Schreiben und Handeln

Meine Helden und Heldinnen

Samtene oder sanfte Revolution

Doktor und Raucher

Wege der Frauen

Bibliothek für Mamou

Kommersanty und bisnesmeny

Von der Hand in den Mund

Schreiben im Krieg

Der Leibwächter

Versöhnlicher Tod

Esoterischer Schmetterling

Aufrecht im Wachkoma

Bei den nüchternen Slawen

Einwanderungsgesellschaft

Ein Herz für Pappeln

Smörgåsbord am Archipel

Zimmerwaldmanifest

Europafans

Slowakischer Frühling 2018

»Wir sind die, auf die wir gewartet haben«

Weichenstellung 1968

Prager Frühling in Bratislava

Kreischend und stampfend auf dem Bild unseres Präsidenten wurde ich als Bürgerin geboren. Für die Achtzehnjährige, die in einem Gymnasium in Bratislava Tag für Tag langweilige Stunden unter dem Porträt Antonín Novotnýs zugebracht hatte, war der Frühling 1968 eine wilde Freude: In der Pause rissen Mitschüler das strenge Dutzendgesicht mit schmalen Lippen und einer ordentlich gebundenen Krawatte herunter. Genug lang hatten wir stumpf den Pflichtwortmüll geschluckt, dass wir das Glück hätten, in einem gerechten sozialistischen System zu leben, und dank der Sowjetunion, unserem allerbesten Freund, seien wir auf dem Weg zu der besten Gesellschaftsform – dem Kommunismus. Nach der erfolgten Befreiung der proletarischen Massen durfte es keinen Aufstand mehr geben. Eigene abweichende gesellschaftliche Initiative, in welcher Richtung auch immer, wäre Sabotage gewesen.

Täglich überschritt ich die scharfe Grenze zwischen der Außenwelt und dem Zuhause, wo mir Mutter ihre Grundsätze des Überlebens beizubringen versuchte:

»Denke, was du willst, aber sag es nicht.«

Das mütterliche Verbot hat – entgegen ihrer Absicht – aus mir eine Schreibende gemacht. Jeder meiner Texte ist immer noch ein Aufbäumen gegen das Gebot des Schweigens und des Nichthandelns.

Der kläglich am Boden zerstörte Präsident hat mir die Entdeckung geschenkt, dass die Politik auch Teenagern unbändige Freude bereiten kann. Die Zeit war reif dafür. Noch im Winter hätte man für solch eine Tat mit dem Schulausschluss rechnen müssen und davor wohl mit der Einweisung in eine Besserungsanstalt. Im Frühlingswind, der über die Donauebene wehte, ordnete der herbeigeeilte Schulrektor an, die Splitter zusammenzukehren, und murmelte:

»Das ist strafbar, Genosse Novotný ist immer noch Präsident.«

Seine Stimme war dünn und bestätigte, was wir schon wussten: Dem rigiden System ging allmählich die Luft aus. Auf dem Heimweg schmierten wir an die Mauern vulgär-naive Sprüche wie »Der Präsident ist ein Schwein« und lachten entfesselt. Der Anfang der Polis war da, wir benannten Unrecht und Blödheit so, wie wir sie fühlten – emotional und ungeübt in der politischen Wortwahl.

Die verbrecherische Biederkeit, mit der die Gesichter der Funktionäre vom Zentralkomitee der KP geschlagen waren, als kämen sie vom Fließband, stand für repressive Lüge und abtötende Langweile, die meiner Generation aufgezwungen wurden. Novotnýs Gesicht herunterzureißen, hieß die Autorität der Väter zu stürzen, die uns die Beatles, das Tragen von langen Haaren und Miniröcken und damit den Anschluss an die Welt am liebsten verbieten wollten. Was wäre geschehen, wenn der in jedem Klassenzimmer und in jedem Büro hängende Präsident attraktiv und jung gewesen wäre wie Che Guevara auf dem berühmten Plakat, das ich später in den WGs der westlichen Linken hängen sah? Der bärtige Revolutionär mit schickem Barett hat zur westlichen Illusion vom Sozialismus gepasst und nicht in unsere hässliche Wirklichkeit. Unsere glattrasierten Weltverbesserer redeten monoton, ihre Reden an KP-Versammlungen über eine bessere Zukunft, die sie für uns vorbereiteten, wurden im KP-Parteiorgan Pravda (Wahrheit) und im Gewerkschaftsorgan Práca (Arbeit) in voller Länge abgedruckt. Wie hätte ich da Journalistin werden wollen? Auf den Geschmack dieses Berufes kam ich in jenen Monaten, die so kurz wie ein Traum waren und mich doch nachhaltig verwandelt haben.

Novotnýs Inventargesicht war im Januar 1968 durch das weiche, zwar nicht außergewöhnliche, doch menschlich anmutende Gesicht von Alexander Dubček ersetzt worden, der Parteichef geworden war. Mit diesem Gesicht, das nicht in Klassenzimmern aufgehängt wurde, sondern lebendig blieb, kam eine neue Definition der anzustrebenden Gesellschaftsordnung auf – der »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Es war nicht zu überhören, was die neue Ausrichtung implizierte: Der vorherige Sozialismus hatte ein Monstergesicht gehabt. Einer neuen Zukunftsutopie gegenüber war ich misstrauisch, allzu viele Utopien waren bereits strapaziert worden und so könnte auch diese wieder eine Täuschung sein. Konkret und revolutionär bot sich an, dem Monster nun ins Gesicht schauen zu dürfen, und darin lag die Menschlichkeit des Tauwetters.

Bei den westlichen Linken wurde der Prager Frühling zukunftsorientiert als dritter Weg oder als demokratischer Sozialismus gepriesen, als Verheißung einer gerechten Gesellschaft, als eine revolutionäre Volkserhebung. Dabei kamen die Reformen von oben, von der kommunistischen Parteispitze, und wurden dann von der Bevölkerung mitgetragen. Ob der Sozialismus reformierbar sei oder nicht, war nicht vorrangig, die Euphorie, die die Gesellschaft erfasste, konnte sich durch die Erweiterung des politischen Korsetts als eigene, sich steigernde Dynamik entfalten, als Ausbruch aus einem kriminellen, muffigen System.

Pravda und Práca wurden zu Zeitungen. Ich fing an, sie zu lesen, und erfuhr von politischen Prozessen und Arbeitslagern aus den Fünfzigerjahren sowie von absurden und vertuschten Missgriffen der Planwirtschaft. Das war noch längst keine Pressefreiheit, wie ich sie später im Westen kennenlernen sollte, aber die Lockerung der Zensur machte die Blätter zu einer aufregenden Lektüre.

Das Demütigende, das Unerträgliche der Nachkriegszeit in der sozialistisch gewordenen Tschechoslowakei bestand in der institutionalisierten Lüge – manch ein Verbrechen wurde als Wohltat für die Menschheit angepriesen, die Geschichte und die Gegenwart waren verfälscht worden, und das, was uns Eltern und Großeltern erzählten, falls sie es überhaupt wagten, war ganz anders als die Schullektüre. Erst später wurde mir bewusst, wie sich das Aufwachsen in der permanenten Lüge nachhaltig auf das Vertrauen in staatliche Strukturen und auf den Bürgersinn auswirkt hatten.

Der Begriff der politischen Freiheit leitet sich für die erwachende Bürgerin von diesem Frühling ab, der so licht war, da er die Dunkelheit als dunkel erscheinen ließ. Das Private ist mit dem Politischen aufs Engste verwoben – das war die Lektion des Lebens in der ČSSR. Aber dass wir, die einfachen Bürger und Bürgerinnen, das Recht haben, den Knäuel zu entwirren, das erfuhr ich erst jetzt. Das Vermächtnis von 1968 bleibt: Wenn ich das Vergangene und das Jetzige klar beim Namen nenne, wird die Zukunft ein aufrichtiges Antlitz haben. Doch bis zur endgültigen Befreiung dauerte es noch erzwungene 21 Jahre Rückfall in die Diktatur, euphemistisch normalizácia genannt. Denn nach dem Frühling kam der Sommer.

Mein Besatzer

Am 21. August um drei Uhr nachts brach eine sowjetische Panzerdivision unter Leitung des Generals Bondarenko von der ungarischen Grenze nach Bratislava auf. Man sagte den Soldaten, dass sie den Sozialismus gegen tschechoslowakische Konterrevolutionäre und die bundesdeutsche Okkupationsarmee, die ins Land eingefallen sei, verteidigen würden. Sie waren Teil von einer halben Million Soldaten aus den Ländern des Warschauer Paktes mit Ausnahme Rumäniens – überwiegend aus der Sowjetunion. Mit dabei war auch Muchammad Salich. Im Rahmen von groß angelegten Manövern des Warschauer Paktes hatte er die letzten zweieinhalb Monate in Ungarn verbracht. Er war achtzehn Jahre alt und zum ersten Mal länger weg aus seinem usbekischen Städtchen. Am Vortag hatte man die alten Kalaschnikows durch das neuste Modell ausgetauscht, und jeder Soldat hatte 120 Patronen, zwei Granaten und eine neue Uniform samt Helm erhalten. Die Essensration wurde erhöht, und es gab sogar Sahne und Schokolade – ein Fest für sowjetische Soldaten. Nun saß Muchammad Salich auf dem Panzer, beflügelt von einem abenteuerlichen Gefühl, und hielt sich für bedeutend und kühn.

Während seine Einheit über die Donaubrücke auf die slowakische Metropole zufuhr, wartete er furchtlos darauf, dass die Konterrevolutionäre den Konvoi in die Luft sprengen würden, und malte sich aus, wie er sich mit einem Sprung in die Donau retten würde. Aber die Nacht war still. Als sie in die dunklen Straßen eindrangen, sehnte er sich danach, die gemeinen kontry zu bekämpfen. Doch aus den Fenstern lehnten sich bloß verschlafene Menschen, die in einer slawischen Sprache fragten, wer um Gottes willen sie denn seien. Rote Armee, antworteten sie stolz, aber die aus dem Schlaf Gerissenen wollten es nicht glauben. Bratislava wurde für Salich eine Stadt mit fassungslosen Gesichtern.

Alles erschien ihm wie im Märchen: Er war überwältigt, in einer europäischen Stadt mit einer richtigen mittelalterlichen Burg zu sein – darunter lag eine Wiese mit hohem Gras in einer warmen Sommernacht. Er war schon damals Dichter. Den ersten Schmerz und die erste Scham, denen dann weitere folgten, empfand er, als die Soldaten das Gras zertrampelten und sich spuckend darauf einrichteten. Noch wusste er nicht, dass er ein Besatzer und kein Befreier war, doch nach der Entweihung der Ruhe auf der Wiese fing er an, es zu erahnen. Die nächsten Tage sah er zum ersten Mal junge Frauen in Miniröcken, deren lange Beine er nie mehr vergessen sollte. Diese wunderschönen Wesen überbrachten ihm Flugblätter und versuchten, ihn ohne Bosheit, doch unermüdlich davon zu überzeugen, dass er ein Unrecht beging.

Jahrzehnte später erzählt mir Muchammad Salich, inzwischen der bekannteste usbekische Oppositionspolitiker und Vorsitzender der Exilpartei Erk, wie ihn dieser ruhige, würdevolle und zähe Widerstand beeindruckt habe. Ich treffe ihn in seinem Frankfurter Exil, und als Erstes bittet er die Bevölkerung der Tschechoslowakei und mich mit sanfter Stimme um Verzeihung. Ich hätte ihm damals unter der Burg begegnen können. Doch kurz vor der Okkupation war ich unterwegs in ein Studentensommerlager bei Bordeaux. Im Zug redeten zwei französische Arbeiter auf mich ein:

»Attention, les Russes.«

Sie wurden nicht müde, mir ihre Warnung nachzurufen, auch als ich schon ausgestiegen war. Ich lachte unbekümmert, genoss die neue Freiheit des Reisens und war zuversichtlich, dass der Kuss, den der sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew seinem Parteikollegen Alexander Dubček auf den Mund gepresst hatte, verbindlich sei. Breschnew hatte den tschechoslowakischen Reformkurs in der slowakischen Stadt Čierna nad Tisou ein paar Wochen vor dem Einmarsch gutgeheißen, und wir hatten im Fernsehen gesehen, wie er die unverbrüchliche Bruderschaft mit einem Kuss besiegelt hatte. Wieso wussten französische Arbeiter über feuchte Küsse aus dem Kreml besser Bescheid als wir?

Am Morgen des 21. August bin ich in Frankreich aufgewacht. Ich will mit meinem Volk zusammen sein, aus Millionen Mündern rufen:

»Ivan, idi domoi, Iwan, gehe nach Hause.«

In meinem ersten in deutscher Sprache verfassten Text beschrieb ich den Schock über den hinterlistigen Gewaltakt:

»Ich begann zu begreifen. Es war wie das Hauen auf eine leere Konservenbüchse, ein hoher, stumpfer Ton. Mein Körper war hohl und in ein Frostkorsett gezwängt. Das französische Radio meldete ununterbrochen ›L’occupation de la Tchécoslovaquie‹. Da überfielen mich unbarmherzige Weinkrämpfe. Die Hülle war abgefallen. Übrig geblieben war ein winziges, gehäutetes Wesen. Und da spürte ich ein leises Kribbeln beim Bewusstsein des historischen Augenblicks. Meine Heimat zog mich an wie ein bodenloser Abgrund, ich hätte mich gerne blind hineingestürzt. Ich ahnte, dass nicht die Panzer, die vor meinen ungläubigen Augen auftauchten, zum Verzweifeln waren. Das Gefährliche und Lähmende war die Gewissheit, dass es auf dieser von den Panzern gewalzten Erde wieder ein plattes Leben in gegenseitigem Misstrauen und Angst geben würde.«

In Bratislava verstand Salich, dass er kein Russe und dass Usbekistan mit seinen Baumwollplantagen eine typische sowjetische Kolonie war. Paradoxe Gefühle hatte der Besatzer, er pflückte süße Pflaumen und wäre hier gerne länger geblieben, aber es schauderte ihn zu sehen, wie sein Vorgesetzter während einer Protestdemonstration in Bratislava ein Mädchen erschoss. Der Gedanke an die Menschen, die an diesem Ort ständig frische Blumen niederlegten, verfolgte ihn. Zum Auslöser für den endgültigen Bruch mit der Sowjetunion wurde für den Usbeken der Sturm auf das slowakische Rundfunkstudio. Sein Spähtrupp drang mit entsicherten Gewehren in die verlassenen Korridore ein, wo sich eine einsame Angestellte mit erhobenen Armen sofort ergab. Da lachte er über sich selbst, sah ein, wie lächerlich er war. Und als sich ein Soldat oben aufs Klavier setzte und mit den Füßen auf der Klaviatur herumtrampelte, war es für Muchammad Salich, als habe sich durch diese Untat die große russische Kultur, die er so bewundert hatte, selbst entwertet.

Bald darauf verließ er die Tschechoslowakei als usbekischer Nationalist. Später wanderte er ruhelos durch die Welt, allerdings nicht mehr als Nationalist. Er hat den Islam neu und leidenschaftlich entdeckt. Als wir am Mainufer in Frankfurt spazierten, horchte er und sagte leicht beschämt, ihm scheine es, die Wellen flüsterten den Namen Allah. Da war er schon gejagter Feind Nummer eins des in Usbekistan herrschenden Präsidenten Islam Karimow, der ihn selbst mit einem internationalen Haftbefehl suchen und seinen Bruder aus Vergeltung verhaften ließ. Mein ehemaliger Besatzer träumte davon, Karimows grausames Regime zu stürzen und den politischen Frühling nach Taschkent zu bringen. Eine Rückkehr blieb ihm allerdings auch nach Karimows Tod nicht vergönnt, er zog es vor, in Istanbul zu leben.

Blick auf Halbmast

Da sitze ich in einem Minirock aus »echtem Kunstleder« in einer Villa oberhalb des Städtchens La Chaux-de-Fonds meinem ersten Kapitalisten gegenüber und denke, dass mein Leben zu Ende sei. Es ist aber bloß das Ende meines längsten, aufregendsten und tragischsten Sommers. Bis heute ist keine Jahreszahl für mich so bedeutend wie 1968. In der Schule haben wir gelernt, dass dicke Kapitalisten dicke Zigarren rauchen. Der leibhaftige Kapitalist im Sessel aus echtem Leder ist schlank und raucht eine Marlboro nach der anderen. Seiner Gesundheit zuliebe raucht er sie nur zur Hälfte, er kann es sich leisten, er sitzt im Vorstand von Philip Morris. Dem Geist des sozialistischen Asketismus bestätigt das Spektakel, dass wir in einer Welt von ungeheuer luxuriösen Lastern gelandet sind.

Mein Vater gibt dem Kapitalisten Ratschläge, wie er einen Prozess gewinnen könnte, um seinen Reichtum noch zu vergrößern. Vor lauter Anstrengung, sich in der Fremde nützlich zu machen, färbt sich Vaters Hals rot. Was weiß mein Vater schon davon, wie Schweizer Fabrikanten auf dem Rücken des Proletariats ihre Gewinne am besten einstreichen? Er weiß nur, wie die Kommunisten ihm das Rückgrat brechen wollten. Sie haben 1950 seine frisch gegründete Anwaltskanzlei in Bratislava konfisziert und ihn als Hilfsarbeiter in den Steinbruch abkommandiert. Wir mussten ins Städtchen Trenčín umsiedeln, wo ich aufgewachsen bin. Am Samstag kam der Vater erst abends nach Hause, und sonntags fuhr er wieder zur Schicht. Weit weg von der Familie sollte er das richtige proletarische Bewusstsein erlangen. Das ist ihnen nicht gelungen. Er kann es immer noch nicht lassen, juristische Ratschläge zu erteilen. In dieser Villa ist er ein Niemand, aber er will unbedingt jemand sein. Die Peinlichkeit nimmt kein Ende, der Kapitalist raucht und raucht, er wirkt wie ein hilfloser süchtiger Junge, und mein Vater redet laut auf ihn ein.

Die Ehefrau des Philip-Morris-Kapitalisten schweigt. Sie war einmal die Geliebte des Vaters, noch vor dem Krieg, als er in Österreich und in Italien studierte, als bürgerlicher Sohn eines Arztes aus der kapitalistischen Tschechoslowakei. Jetzt wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Eine Flüchtlingsfamilie samt zwei Koffern sitzt in ihrem Salon. Das hätte der Vater nie tun sollen, sich selbst und uns so zu erniedrigen. Ich nehme aus der Umgebung ein neues Gefühl wahr – Mitleid. Früher war das Mitleid für die armen Opfer der kapitalistischen Ausbeutung reserviert. Alles ist auf den Kopf gestellt. Meinen Minirock aus braunem Kunstleder, diese Trophäe, die ich auf einem Pariser Flohmarkt erstanden habe, streift im blauen Dunst ein nachsichtiger Blick. Ich will nichts als dorthin zurück, wo mein Minirock Anerkennung fände.

Ich war noch im französischen Studentenlager, als mir meine Mutter am Telefon aus Bratislava sagte, die Panzerrohre seien auf unsere Fenster im achten Stock gerichtet, ich solle nach Paris fahren, der Graf würde mir weiterhelfen. In einer Seitenstraße der Champs-Élysées wohnt der ehemalige Geliebte meiner Mutter, ein ungarischer Graf, mit dem sie unserem Vater vor dem Ungarnaufstand 1956 untreu war. Nach dessen Niederschlagung wollte der Graf Mama ins Exil mitnehmen. Aber sie war noch nicht bereit für die Republikflucht. Jetzt will sie nur noch weg aus Bratislava. Zum Glück gab es den Flirt in Budapest. Die alte Liebe ist ein Anker in der großen Welt.

Wir sind ein paar Slowakinnen und Tschechen, wir haben das Sommerlager in Richtung Paris verlassen und wissen nicht, was nun aus uns werden soll. Wer wird zurückgehen, und wer bleibt im Westen? Wir vereinbaren, dass wir uns in einem Jahr, am 21. August 1969, entweder in Prag auf dem Wenzelsplatz oder unter dem Arc de Triomphe treffen. In Paris klingle ich beim Grafen, er öffnet, ich sage den Namen meiner Mutter, es ist auch mein Name. Der Graf schaut mich aufmerksam an und legt seine Zimmer für uns alle mit Matratzen aus. Der Aristokrat ist weder reich noch überheblich und legt Wert auf Bildung. Er schickt die aus der Geschichte Hinausgeworfenen weltfremd auf einen Ausflug nach Versailles und drückt uns Reisegeld in die Hand. Was soll ein Königsschloss den Zöglingen einer sozialistischen Schule schon sagen? Natürlich fahren wir nicht zum bürgerlichen Touristenziel, sondern zum Flohmarkt. Für das Reisegeld des Grafen kaufe ich mir jenen Minirock, der mich auf meiner Odyssee begleiten wird.

Der Philip-Morris-Kapitalist gibt uns ein Zimmer in seinem Wochenendhaus im Grünen. Ich streife melancholisch durch die Gegend, sehne mich nach Kampf und Engagement für mein besetztes Land, nach Frauenvorbildern, die keine schweigsamen Kapitalistengattinnen sind. Ich senke den Blick auf Halbmast.

Wie bin ich hier gelandet? Als ich von Paris nach Wien kam, wartete dort die Mutter auf mich, wir klapperten zusammen ein paar Botschaften auf der Suche nach einem Visum ab. Überall war Andrang, die kanadische war besonders begehrt, unsere Landsleute kampierten davor. Als jemand sagte: »Die Schweiz nimmt Flüchtlinge ohne Visum auf«, fuhren wir gleich los. Von der Schweiz wussten wir lediglich, dass sie politisch neutral war, und genau das strebte der »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« an und meinte damit die Loslösung aus dem sowjetischen Bannkreis.

Im Kopf hatte ich die Heimwehbriefe slowakischer Auswanderer aus den Fabriken in Chicago Ende des 19. Jahrhunderts. Die Emigration erschien mir ein Fluch zu sein. Die Autofahrer auf der österreichischen Autobahn winkten uns, damit wir anhielten, sie fragten, wohin wir fuhren und wie sie uns helfen könnten. Wir waren also zu Flüchtlingen geworden, denen zufällige Menschen Hilfe anboten. Einerseits verstörend, andererseits berührend.

Gleich nach der österreichisch-schweizerischen Grenze kamen uns zwei junge Männer entgegen, einer steckte den Kopf durchs Wagenfenster und fragte in singendem Tschechisch: »Mädels, sucht ihr das Lager?«

Also emigrieren die Tschechen zusammen mit uns, dachte ich erleichtert, und das Flüchtlingsschicksal wurde für eine Weile leicht wie ein tschechischer Witz.

Über dem Tor des provisorischen Lagers in Buchs stand:

»Willkommen Helden!«

Schweizer Soldaten behandelten uns ausgesucht schonend, was mich nur darin bestärkte, dass hier ein gut gemeintes Missverständnis vorlag – weder bei meinen Landsleuten noch bei mir konnte ich heroische Eigenschaften entdecken.

Bei der Registrierung verhörte mich ein junger Soldat:

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Das wird nicht lange dauern«, meinte er ernsthaft.

Das war also mein erster Schweizer Flirt, auf eine währschafte Art.

Wir fuhren aufs Geratewohl weiter westwärts, gegen Abend erreichten wir Basel, und die Mutter sagte müde:

»Wir emigrieren keinen Meter weiter.«

Seitdem lebe ich hier.

Emigrantenexistenz

An der Philosophischen Fakultät der Basler Universität entdecke ich eine linke Szene aus feurigen Kapitalismuskritikern. Hier könnte ich Freunde finden. Doch ich habe nicht vor, Verrat an meinem politischen Gedächtnis zu begehen, nur um hier heimisch zu werden. In den Zimmern hängen Marx- und Lenin-Porträts, die Langhaarigen schwärmen von Mao und rufen »Ho Ho Ho Chi Minh«. Ich finde eine Schweiz vor, gespalten in zwei politische Lager. Die Rechten fragen mich begierig nach dem Leiden im Realsozialismus aus, meine Worte brauchen sie als Bestätigung ihres antikommunistischen Reflexes und erwarten, dass ich die hier etablierte Gesellschaftsordnung vorbehaltlos begrüße. Nein, mit ihnen kann ich die Sehnsucht nach sozialen Veränderungen nicht teilen.

Ich hoffe, die Linken, die die verkrusteten Strukturen so ablehnen, würden offener sein. Doch ich stoße bei ihnen auf eine anders strukturierte Strenge: Wer nicht auf die Rettung der Menschheit durch eine marxistische Revolution hinwirkt, gehört nicht dazu. Jemand, der vor dem Sozialismus geflohen ist, gilt von vornherein als rechtslastig. Mein Akzent, der Name, das ist verdächtig genug. Ich suche Humor, Freundschaft, Liebe und gerate stattdessen in dogmatisch politisierte Kreise. Wenn jemand die Haltung vertritt: »Solange die Sowjetunion da ist, kommen die Amerikaner nicht«, empört es mich, dass die Völker in Mittel- und Osteuropa geopfert werden, um ein Bollwerk gegen den Kapitalismus für die westlichen Linken aufrechtzuerhalten.

Der intellektuelle Trend der frühen Siebzigerjahre in Basel sind die Vorlesungen des Philosophieprofessors Arnold Künzli. Sein marxistisches Vokabular ist abstrakt, doch für mich ist es konkret und zum Gespött verkommen. Lieber besuche ich Seminare der klassischen und deutschen Philosophie, die nicht das verhöhnt, was hinter dem Eisernen Vorhang geschieht.

Die ersten Exiljahre bleiben mir in Erinnerung als eine finstere Zeit – sie wäre wohl finster, egal, in welchem Exilland. Manchmal fährt ein Fahrrad an mir vorbei, daran klebt ein tschechoslowakischer Wimpel als Zeichen der Anteilnahme mit unserer Tragödie. Und es gibt Menschen, die Achtung für den Prager Frühling haben, umso mehr, da er im Keim erstickt worden ist. Ich muss mich für meine Abstammung nicht schämen.

Etwa 13 000 tschechoslowakische Staatsangehörige erhalten per Beschluss des Bundesrats kollektiv Asyl, sie müssen keine konkreten Beweise für politische Verfolgung vorbringen wie zum Beispiel chilenische Flüchtlinge. Hätten sie es tun müssen, wären die meisten wieder zurückgeschickt worden. Es ist Hochkonjunktur, die Wirtschaft begrüßt die technisch gut ausgebildeten Arbeitskräfte. Meine Eltern finden innerhalb von ein paar Wochen Anstellung in der Pharmaindustrie. Chemikerinnen, Physikerinnen, Ärztinnen rufen in der männerdominierten Schweizer Arbeitswelt nicht nur Staunen, sondern auch Zweifel an ihren Kompetenzen hervor. Eine Bauingenieurin? Will die auf dem Baugerüst etwa im Rock und in Stöckelschuhen herumklettern?

Der ungarisch-schweizerische Psychiater Emil Pintér beschreibt in seiner 1969 erschienenen sozialpsychiatrischen Untersuchung über ungarische Flüchtlinge in der Schweiz unter dem Titel »Wohlstandsflüchtlinge«, wie die von der ungarischen Revolution von 1956 begeisterte Schweizer Bevölkerung mit Spannung auf dunkeläugige, vom Kampf erschöpfte, von Hunger geplagte Helden mit dem Charme aus der Puszta wartete, für die eine heiße Kraftbrühe gerade das Richtige sei. Zu ihrer Enttäuschung erschienen meist apolitische, wohlgenährte und verunsicherte Bürger und Bürgerinnen. Ebenso wenig können die Schweizer Achtundsechziger ihr Idol eines neuen sozialistischen Menschen bei den tschechoslowakischen Flüchtlingen finden. Schließlich zeichnet sich die Mehrheit jedes Volkes nicht gerade durch revolutionäre Beseeltheit aus. Ein Schweizer Journalist und Kommunist sagte mir später mit Neid, ich hätte das Glück gehabt, unter progressiven Kräften aufzuwachsen. Da konnte ich nur ungläubig lachen.

Tatsächlich war in den Ländern des Realsozialismus ein Menschentypus entstanden, der, gewohnt an autoritäre Behandlung im Totalitarismus, Stärke schätzte und eine zum Überleben nötige Durchtriebenheit entwickelte. Diesem homo sovieticus fehlte ein globales Verantwortungsgefühl, vor der ermüdenden Propaganda rettete er sich ins Privatleben und in einen bescheidenen Konsumismus. Ich gestehe, in der ganzen Irrealität der Anfangszeit stelle auch ich mir vor, wie ich einen Sportwagen geschenkt bekomme, und in meiner Vision fehlt, wie ich mich dafür überwältigt bedanke, da ein rasendes Vehikel mir doch zusteht, um damit dem Emigrantenschicksal zu entkommen. Aber wohin?