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MICHAEL BOLTEN

PAUL JANES

UND DIE FLIEGE

AM TORPFOSTEN

EINE DEUTSCHE FUSSBALLER-BIOGRAFIE

VERLAG DIE WERKSTATT

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen

www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau

INHALT

PROLOG: Sein schönstes Spiel

Kindheit und Jugend in Küppersteg

Der Weg zum Nationalspieler

Meisterschaft und WM-Teilnahme

Olympische Spiele ohne Janes

Ein Fußballer zwischen Sport und Politik

Der beste Janes aller Zeiten

Schonposten am Jadebusen

Militärischer Einsatz in Brunsbüttel

Karriereende in Düsseldorf

Trainer in der Provinz

Gastronom in Leverkusen

Die letzten Jahre als Privatier

Nachruhm

ANHANG

Paul Janes – Sein Leben in Zahlen

Länderspiele

Anmerkungen

Literatur und Quellen

Dank / Fotonachweis

Zum Autor

„Wat man werden kann?

Werden kann man nischt.

Athlet kannste werden!“

(Berliner „Bollejunge“ zu Beginn der 1930er Jahre)

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Paul Janes im Repräsentativtrikot der Fortuna, Ende der 1930er Jahre.

PROLOG

SEIN SCHÖNSTES SPIEL

Im April des Jahre 1942 reiste der Fußballnationalspieler und Befehlsübermittler bei der Marineflakabteilung 212, Paul Janes, von seinem Standort Wilhelmshaven ins schwäbische Ludwigsburg. Er sollte sich gemeinsam mit seinen Nationalmannschaftskameraden auf das Länderspiel am 3. Mai 1942 in Budapest vorbereiten. Trainer Sepp Herberger hatte es geschafft, seine Spieler zu einem zweiwöchigen Vorbereitungslehrgang einzuladen und sie für diese Zeit von ihren militärischen Pflichten zu entbinden. Edmund Conen, Stürmer bei den Stuttgarter Kickers, blieb der Aufenthalt in Ludwigsburg in sehr guter Erinnerung. Er lobte die hervorragende Unterbringung und gute Verpflegung. Nach 14-tägigem harten Training fühlten sich die deutschen Spieler in großer Form. Dermaßen gestärkt ging es über Stuttgart mit dem Schnellzug nach Budapest.1 Beinahe zeitgleich, am 26. April 1942, wurden vom Stuttgarter Nordbahnhof rund 280 württembergische und badische Juden zunächst in das Durchgangsghetto Izbica und anschließend in die Vernichtungslager Belzec und Lublin-Majdanek deportiert.2

Im Deutschen Reich stellte man sich die Frage, ob es nach acht sieglosen Spielen endlich zu einem ersten Erfolg auf ungarischem Boden kommen könnte. Die in zwei Vorbereitungsspielen gezeigten Leistungen waren vielversprechend. Auf die deutsche Auswahl wartete eine starke und gut vorbereitete ungarische Mannschaft, die eine Mischung aus erfahrenen und jungen Spielern bildete. Außerdem wollten die Ungarn Revanche nehmen für die vor gut einem Jahr erlittene 0:7-Pleite in Köln.

Das ausverkaufte Ferencváros-Stadion in Budapest war mit Fahnen festlich geschmückt. Ein Musikkorps spielte vor Spielbeginn „Lili Marleen“. Beim Abspielen der Hymnen hoben die deutschen Spieler den rechten Arm zum „Deutschen Gruß“. Kapitän Janes verlor die Platzwahl gegen den Ungarn Bíró. Das Spiel begann vor den über 40.000 Zuschauern für die deutsche Elf wenig verheißungsvoll. Gleich zu Beginn unterlief dem rechten Verteidiger Paul Janes in seinem 65. Länderspiel ein schwerer Fehler, doch Torhüter Helmut Jahn konnte rettend eingreifen und ein frühes Gegentor verhindern. Überhaupt kam Janes zu Beginn der Begegnung gegen den ungarischen Linksaußen Gyetvai nicht zurecht und musste seinen Gegner mehrfach an sich vorbeiziehen lassen. Die Ungarn bestürmten das deutsche Tor, doch den ersten Treffer erzielte in der 15. Minute Fritz Walter für Deutschland. Dies konnte die Ungarn in ihrem Vorwärtsgang allerdings nicht beirren. Nagymarosi per Elfmeter, Hans Rohde hatte den Ball zuvor mit der Hand berührt, Zsengellér und Tihanyi sorgten vor der Pause für eine verdiente 3:1-Führung. Der „Kicker“ sprach in seinem Spielbericht von einem Feuerwerk, das die Ungarn den begeisterten Zuschauern präsentierten.

Trotz des fast aussichtslos erscheinenden Rückstands begannen die deutschen Fußballer die zweite Halbzeit mit stürmischen Angriffen. Sie wollten das Unmögliche möglich machen und den Sieg holen. 13 Minuten nach dem Seitenwechsel wurde Conen von einem Ungarn kurz vor dem Strafraum gefoult, und der italienische Schiedsrichter Barlassina entschied auf Freistoß für Deutschland: „Die Ungarn bilden eine dichte Mauer. Nur mühsam kann sie Barlassina zurückdrängen, damit sie den notwendigen Abstand hat. Janes steht entschlossen und gelassen wie immer zum Einsatz bereit. Er sieht tatsächlich wieder die wenigen Zentimeter, die ihm für seinen Schuss offen bleiben. Mit verblüffender Präzision durch diese winzige Lücke neben der ungarischen Mauer schlägt sein scharfer satter Schuss in der äußersten Ecke des ungarischen Tores ein. Janes ist wieder ein Meisterschuss geglückt“, lobte der „Kicker“ den Torschützen. Der Anschlusstreffer zum 2:3 war der Wendepunkt des Spiels. Die deutsche Mannschaft wurde zunehmend stärker und drückte die Ungarn immer weiter zurück. Janes hatte jetzt seinen Gegner gut im Griff und ließ nichts mehr zu. Nach einer schönen Kombination zwischen Conen und Walter fiel in der 65. Minute der Ausgleich. Es folgten Treffer von Friedrich Dörfel und Albert Sing zum 5:3-Endstand. Nach 90 Minuten gingen die deutschen Fußballer erschöpft, aber siegreich vom Platz. Vielmehr wurden sie getragen, denn die im Stadion anwesenden deutschen Soldaten trugen sie auf ihren Schultern vom Platz.

Für den „Kicker“ waren Torwart Helmut Jahn und Hans Rohde die beiden besten deutschen Spieler auf dem Platz gewesen. In der Kritik zu Paul Janes hieß es: „Janes gab uns große Rätsel auf. Vor der Pause schien er oft von allen guten Geistern verlassen. Er selbst bekannte uns, dass es ihm schwergefallen sei, auf das unerhört schnelle und variantenreiche Spiel des linken ungarischen Flügels Einstellung zu finden. Sein schwerer Fehler in der ersten Minute mag ihm auch die innere Sicherheit genommen haben. Nach der Pause war er wie umgewandelt. Da spielte wieder der alte Janes in unübertrefflicher Klasse, unüberwindlich im Nahkampf und großartig vor allem im Abspiel.“3

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Paul Janes bei der Platzwahl vor seinem schönsten Spiel. Ungarn - Deutschland 3:5 am 3. Mai 1942 in Budapest.

Im Alter von 20 Jahren, im Oktober 1932, hatte der in Küppersteg geborene und für Fortuna Düsseldorf spielende Paul Janes seine Länderspielkarriere mit einer 1:2-Niederlage in Budapest begonnen. Bei dieser Premiere konnte er seine Kritiker nicht von sich überzeugen, so dass er auf seinen nächsten Länderspieleinsatz ziemlich genau ein Jahr warten musste. Fortan lief er regelmäßig im Nationaldress auf und brachte es schließlich auf 71 Länderspieleinsätze.

Für sein im Jahr 1955 veröffentlichtes Buch „Spiele, die ich nie vergessen werde“ bat Fritz Walter namhafte Spieler und Trainer um kurze Gastbeiträge. Die kurzen Statements präsentierte Walter als Prolog unter der Überschrift „Spiele, die sie nie vergessen“. Nachgekommen waren dieser Bitte unter anderem der Schweizer Alfred Bickel, Juan Schiaffino, der für Uruguay und Italien international aktiv war, und Zlatko „Tschik“ Cajkovski. Neben Sepp Herberger war als einziger deutscher Fußballer Paul Janes in Walters Ehrengalerie vertreten. Er war zu diesem Zeitpunkt Deutschlands Rekordnationalspieler. Die Frage nach seinem unvergesslichsten Spiel beantwortete Janes folgendermaßen: „Das war der Länderkampf Deutschland – Ungarn am 3. Mai 1942 in Budapest. Noch nie war dort eine deutsche Mannschaft siegreich gewesen. Auch ich hatte mehrere Male in Budapest gespielt, aber nie reichte es zu einem Sieg. Auch in diesem Spiel sah es in der Halbzeit nicht danach aus, denn wir mussten mit einem Rückstand von 1:3 in die Kabinen gehen. Nach der Pause kam der große Umschwung. Ein von mir verwandelter Freistoß gab der Mannschaft neuen Auftrieb. Uns gelang nicht nur der Ausgleich, sondern auch noch der Sieg. So wurde meine fünfte Fahrt nach Budapest, der Stadt, in der ich einst als Nationalspieler begann, meine unvergesslichste.“4

Nur wenige Monate später, genauer gesagt am 22. November 1942, gastierte die deutsche Mannschaft in Bratislava zur Partie gegen die Slowakei. Bis zu diesem Tag waren allein im Jahr 1942 knapp 58.000 Juden aus der Slowakei in Vernichtungslager der Nazis deportiert worden. Von den ursprünglich 89.000 Menschen jüdischen Glaubens, die in der Slowakei lebten, überlebten noch nicht einmal 10.000 den Holocaust.5

Vor diesem Hintergrund absolvierte Paul Janes sein 71. und gleichzeitig letztes Länderspiel. Die deutsche Mannschaft siegte mit 5:2 und holte damit den 100. Sieg ihrer Länderspielgeschichte. Die Lust zu feiern war den Spielern allerdings schon während des Spiels vergangen. Die slowakischen Zuschauer beschimpften die deutschen Spieler während der gesamten 90 Minuten. Sie hatten genug von den Deutschen, selbst wenn sie in kurzen Hosen daherkamen. Paul Janes kommentierte das Geschehen auf seine unnachahmliche Art mit den Worten: „Schön ist anders.“6

Für genau acht Jahre, nämlich bis zum 22. November 1950, gab es kein weiteres Fußballländerspiel mit deutscher Beteiligung mehr. Der Propagandafeldzug der deutschen Fußballer durch Europa war im November 1942 endgültig beendet. Die für 1943 bereits vereinbarten Länderspiele fanden nicht mehr statt. Am 22. November 1942 endete im Übrigen auch der Vormarsch der deutschen Wehrmacht im Osten, denn exakt an diesem Tag wurde Generalmajor Friedrich Paulus zusammen mit rund 280.000 Soldaten vollständig von sowjetischen Truppen eingekesselt. Der inzwischen zum Marineartillerieobergefreiten der Reserve beförderte Janes machte sich nach dem Länderspiel wieder auf den Weg von Bratislava zu seiner Marineflakabteilung bei Brunsbüttel. Er überlebte den Zweiten Weltkrieg unverletzt und wurde Anfang August 1945 aus englischer Gefangenschaft entlassen. Zu weiteren Länderspielen langte seine Form nicht mehr. Mit seinen 71 internationalen Einsätzen blieb er über Jahrzehnte Rekordhalter im deutschen Fußball. Erst 1970 wurde er von Uwe Seeler abgelöst. Am 11. März 2012 wäre Paul Janes 100 Jahre alt geworden.

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Der Ball – Mittelpunkt seines Lebens.

KINDHEIT UND JUGEND IN KÜPPERSTEG

KINDHEIT IM „SCHAFSTALL“

Als Paul Hubert Janes am 11. März 1912 zur Welt kam, hatte er sieben ältere Geschwister. Da waren zunächst Wilhelm, genannt Willi (geboren 1897), Johann (1898), Peter (1900), Josef (1903) und Hubert (1904), die allesamt in Hitdorf geboren wurden. Es folgten der Umzug nach Küppersteg und die Kinder sechs bis acht, nämlich Heinrich (1907), Maria (1908) und Paul. Heute gehören die Gemeinden Hitdorf und Küppersteg zur Stadt Leverkusen, damals aber war die Region noch ganz durch ihre ländliche Struktur geprägt. Bei Hitdorf handelte es sich um eine kleine selbstständige Gemeinde mit rund 2.000 Einwohnern und bei Küppersteg in erster Linie um eine Bahnstation gleichen Namens. In der Umgebung waren mehr Schafe als Menschen anzutreffen.

Bereits seit Dezember 1845 gab es einen Bahnhof an der Strecke der Cöln-Mindener Eisenbahn mit der Bezeichnung Küppersteg, der nach der gleichnamigen Poststation benannt wurde. Für 22 Jahre war Küppersteg damit in der näheren Umgebung konkurrenzlos. Dennoch kam es erst im Jahre 1889 zur Bildung der Bürgermeisterei Küppersteg durch die beiden Gemeinden Wiesdorf und Bürrig. Die ersten amtierenden Bürgermeister besaßen keinen guten Ruf und galten als inkompetent.7 Erst 1906 mit dem Amtsantritt von Franz Pauly setzte eine positive Entwicklung der Gemeinde ein. 1930 verschmolz Küppersteg mit Hitdorf und weiteren Gemeinden zur Stadt Leverkusen.

Schon Paul Janes’ Großeltern kamen aus dieser Gegend. Die Eltern seines Vaters Anton, Wilhelm und Anna Katharina Janes, wurden 1843 in Hitdorf (Wilhelm) bzw. 1833 in Worringen (Anna Katharina) geboren; Worringen gehört seit 1922 zu Köln. Seine Großeltern mütterlicherseits, Peter und Elisabeth Greis, stammten beide aus Hitdorf, wo sie im Jahre 1834 auf die Welt kamen. Alle vier waren römisch-katholischen Glaubens, und die beiden Großväter verdienten ihr Geld jeweils als Tagelöhner. Sie wiesen damit eine für die Gegend typische Biografie und Religionszugehörigkeit aus. Der Rheinhafen in Hitdorf als hauptsächliche Beschäftigungsmöglichkeit konnte für keine dauerhaft bezahlte Arbeit sorgen, so dass sich viele Männer als Tagelöhner, z.B. in der Produktion von Zündhölzchen, verdingten. Nicht selten arbeiteten die Familienangehörigen mit, damit der Lebensunterhalt gesichert werden konnte. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erlebten Küppersteg und Umgebung einen kleinen wirtschaftlichen Aufstieg: Es entstanden etliche Ziegeleien und Produktionsstätten für Schwefel- und Salpetersäure. Außerdem entwickelte sich eine fabrikmäßige Zündholzproduktion, und es entstand auf der Bürriger Heide die „Rheinische Dynamitfabrik Opladen“. Die Fabrikarbeit war oft gefährlich, aber auch verhältnismäßig gut bezahlt. Im Jahre 1891 wurde in Wiesdorf die spätere Bayer AG gegründet.

Auch Janes’ Eltern wurden in Hitdorf geboren, Anton im Jahre 1871 und Katharina zwei Jahre später, und waren ebenfalls katholisch. Sie heirateten am 2. Mai 1896. Anton Janes war Fabrikarbeiter und versorgte so die wachsende Familie. Zwischen September 1904 und Mai 1907 wagte die in Hitdorf ansässige Familie mit ihrem Umzug in den Nachbarort Küppersteg den Schritt in eine neue Zukunft. Dabei hatte Küppersteg nach wie vor wenig mehr zu bieten als einen regional wichtigen Personen- und Güterbahnhof. Bis zum späteren Bayerwerk in Wiesdorf betrug die Entfernung rund fünf Kilometer, eine Distanz, die selbst in jenen Jahren recht gut zurückzulegen war. Am 1. Dezember 1900 wies die Gemeinde Bürrig, zu der Küppersteg gehörte, eine Einwohnerzahl von 2.337 aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte in der Umgebung des Küppersteger Bahnhofs eine rege Bautätigkeit ein, und es kam zur Erweiterung der Siedlung „Schafstall“ nebst Errichtung einer Schule. Hier, auf dem ehemaligen Grund und Boden eines Schäfers, fand die Familie Janes in einem kleinen zweistöckigen Haus mit der Adresse Bahnhofstraße 36 (seit 1975 Küppersteger Straße) ihr neues Domizil. Heute erinnert noch die Straße „Am alten Schafstall“ in Leverkusen-Küppersteg an die alte Arbeitersiedlung.

Paul Janes wurde also im März 1912 in bescheidene, aber anscheinend stabile ländliche und sehr sportbegeisterte Verhältnisse geboren, denn alle Brüder spielten Fußball. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges verbesserte sich kurzfristig die allgemeine Situation in den Gemeinden rund um den Bahnhof Küppersteg. Die Arbeitslosigkeit war gering, und der harte „Steckrübenwinter“ 1916/17 konnte vergleichsweise gut überstanden werden. Doch gegen Ende des Krieges kam es auch rund um Küppersteg zu erheblichen Versorgungsengpässen, Unterernährung und Todesfällen. Die nach Kriegsende gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte verbreiteten wenig revolutionären Elan, und es blieb in Küppersteg und Umgebung verhältnismäßig ruhig. Auch die sich kurz darauf anschließende Besatzung durch alliierte Soldaten (zunächst überwiegend Schotten und Neuseeländer, später Engländer) verlief ohne großes Aufsehen. Vereinzelte Probleme gab es im Laufe der Besatzungszeit, wenn die Alliierten Wohnungen für ihre Offiziere requirierten. Negativ für die lokale Wirtschaft wirkten sich in der Nachkriegszeit Handelsbeschränkungen, die Kappung wichtiger ökonomischer Verbindungen mit den linksrheinischen Gebieten und Wiedergutmachungsbestimmungen aus.

ERSTE SPORTLICHE ERFOLGE UND EIN MÄSSIGER SCHULABSCHLUSS

Vor diesem Hintergrund begann im Jahre 1918 Paul Janes’ Schulzeit an der „Katholischen Schule zu Küppersteg“ an der Düsseldorfer Straße (die heute in diesem Bereich Hardenbergstraße heißt). Die Rahmenbedingungen, unter denen der junge Paul aufwuchs, spielten keine nennenswerte Rolle in der von Janes verfassten Autobiografie, so dass über sein Leben in jener Zeit kaum etwas bekannt ist. Laut eigener Aussage bestand damals das größte Problem seiner Eltern darin, die von allen Jungen benötigte Sportkleidung und vor allem Sportschuhe zu beschaffen. Das klappte schon aus ökonomischen Gründen nicht immer, so dass der spätere Rekordnationalspieler Janes wie so viele Fußballer seiner Generation „die ersten ‚Gehversuche‘ als Fußballer (…) nicht in richtigen Fußballschuhen“ unternehmen konnte. Es mussten ersatzweise „Holzpantinen oder Zellstoffschuhe her“, oder es wurde zum Leidwesen seiner Mutter gleich in Straßenschuhen gekickt. Weil sich die Familie für Fußball begeisterte, was in jenen Jahren eher ungewöhnlich war, wurde er frühzeitig beim Sportverein Jahn Küppersteg in der Schülermannschaft angemeldet. In dem 1914 gegründeten Verein (er fusionierte 1950 mit dem TuS Manfort 1904 zum VfL Leverkusen) kickten seine Brüder, und Willi Janes gehörte zu den Gründungsmitgliedern und ersten Fußballern des Vereins. Er war es auch, der seinem jüngsten Bruder zu Weihnachten ein paar Fußballschuhe schenkte und Paul nach eigener Aussage somit zum glücklichsten Jungen der Welt machte.

Als ob damit ein Schalter bei ihm umgelegt worden sei, widmete sich Paul Janes von da an voll und ganz dem Fußballspiel. Er spricht in seiner Biografie von einer „seltenen Spielleidenschaft“, die ihn packte.8 Dieser Leidenschaft ging er in jeder freien Minute nach. Dies wirkte sich allerdings zum Bedauern seiner Mutter nachteilig auf seine schulischen Leistungen aus. Letztendlich absolvierte er bis zu seinem 14. Lebensjahr insgesamt acht Schuljahre. Ostern 1926 endete mit dem Abschluss des 6. Schuljahres seine Schulzeit. Paul Janes erhielt in seinem Abschlusszeugnis folgende Noten:

„Betragen – gut

Aufmerksamkeit und Fleiß – befriedigend

Religion (a. Biblische Geschichte, b. Katechismus, c. Kirchenlied) – gd.

[genügend, M.B.]

Deutsch (a. Lesen, b. Sprachl., c. Aufsatz einschl. Rechtschreiben) – gd.

a. Rechnen, b. Raumlehre, c. Geschichte – gd.

a. Erdkunde, b. Naturbeschreibung, c. Naturlehre – gd.

a. Schönschreiben, b. Zeichnen, c. Gesang – gd.

Turnen bzw. weibliche Handarbeit – recht gut

Schulbesuch – r. [regelmäßig, M.B.]“9

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Turnen: Recht gut.

Bei der Note „genügend“ handelte es sich um eine relativ häufig vergebene Note, die in etwa dem Durchschnitt der Schülerleistungen entsprach. Die Benotung seiner turnerischen Fähigkeiten entspricht ungefähr einer Note von Eins minus. Grundsätzlich handelte es sich um ein befriedigendes Abschlusszeugnis, wobei davon ausgegangen werden kann, dass der Schüler Paul Janes während seiner acht Schuljahre zwei Ehrenrunden drehte.

DER LOHN DES TRAININGS

Ganz anders verlief die sportliche Entwicklung des jungen Paul Janes. Im Jahresbericht von Jahn Küppersteg über das Jahr 1926, das als „Schandfleck“ in die Vereinsannalen einging, tauchte sein Name erstmalig auf. Fußballerisch verlief das Jahr für den Küppersteger Klub völlig frustrierend. Zunächst wurden der Gewinn der Gruppenmeisterschaft und der damit verbundene Aufstieg in die erste Bezirksklasse vom Westdeutschen Spiel-Verband (WSV) am „grünen Tisch“ aberkannt. In der als nachträgliche Aufstiegschance zu absolvierenden Trostrunde „konnte unsere Mannschaft nicht mehr bestellen, da sie durch die obige Entscheidung vollständig deprimiert war. Wir erlitten einen starken Rückschlag, der durch die Interessenlosigkeit [sic] der Spieler sich auch auf unser Vereinsleben auswirkte“, hieß es im Jahresbericht. Nur wenige Zeilen darunter, unter der Rubrik Leichtathletik, wurden die Ergebnisse des Kreisjugendfestes bekannt gegeben. Demnach wurde Paul Janes „3. Sieger im Dreikampf d. III.Kl.“. Außerdem nahm Paul am Gaujugendfest teil und erzielte im Ballweitwurf den ersten Platz, im Weitsprung den zweiten, und im 100-m-Lauf wurde er dritter Sieger. Die 135 aktiven Mitglieder, davon 60 Jugendliche, mussten aufgrund der finanziellen Lage des Vereins im Jahre 1926 zwar auf ihr Stiftungsfest verzichten, doch erstmals trat ein 14-jähriger Junge ein wenig in den Vordergrund, auf den der Verein noch Jahrzehnte später sehr stolz war.10

Die wirtschaftliche Situation im Jahre 1926 war angespannt, doch noch verhältnismäßig gut. Ein Jahr zuvor waren unter anderem die Farbenwerke in Wiesdorf unter das Dach der I.G. Farbenindustrie AG geschlüpft. So galt Wiesdorf und Umgebung Mitte der 1920er Jahre als „wirtschaftlich attraktive Stadt“ mit vielen Arbeitsplätzen in der Region.11 Paul Janes landete nach dem Schulabschluss allerdings nicht bei den Farbenwerken, sondern absolvierte bei der in Küppersteg ansässigen Firma Hermann Munkel eine Maurerlehre. Dass die Ausbildung unmittelbar nach Schulabschluss begann, ist wahrscheinlich, jedoch nicht ganz sicher. Dies gilt im Übrigen für viele Angaben zu Janes’ Berufsleben, da er sich selbst wiederholt widersprach. Ziemlich sicher ist, dass er nach Ausbildungsabschluss bei der Firma Munkel bis ins Jahr 1931 arbeitete.

Beinahe ähnlich nebulös, wie seine berufliche Laufbahn sich heute darstellt, verhält es sich mit seiner sportlichen bei Jahn Küppersteg. Der junge Paul begann seine Karriere in der Jahn-Schülermannschaft, als bereits vier ältere Brüder in der ersten Elf des Küppersteger Klubs kickten. Aus den Jahresberichten der zweiten Hälfte der 1920er Jahre geht hervor, dass die Situation der Fußballer sehr unbefriedigend war. Jahr für Jahr wurde vom Aufstieg in die 1. Bezirksklasse geträumt, der Traum ließ sich aber nicht realisieren. So hieß es beispielsweise im Bericht für das Jahr 1928: „Die Hoffnungen, die wir in das vergangene Geschäftsjahr gesetzt haben, blieben leider auch diesmal unerfüllt. In der Meisterschafts-Serie 1927/28 konnte unsere 1. Mannschaft nur den 3. Tabellenplatz erringen, wodurch wir mit dem Aufstieg auf ein weiteres Jahr vertröstet wurden.“12 Zu jenem Zeitpunkt wurde der 16-jährige Paul Janes nach eigener Aussage bereits in der ersten Mannschaft eingesetzt. Allerdings irrte er sich, was die Ligazugehörigkeit (Jahn spielte während der Saison 1927/28 nicht in der 1. Bezirksklasse) und den Tabellenabschlussplatz anging.13

DAS ERSTE LÄNDERSPIEL ALS ZUSCHAUER

Der Jugendliche Paul Janes war sowohl ein begeisterter aktiver Fußballer als auch ein ebensolcher Zuschauer. Er besuchte Spiele und Training der ersten Mannschaft. Das ließ sich gut einrichten, denn die Wege in Küppersteg zwischen heimatlicher Wohnung, Ausbildungsstelle und Sportplatz (der in den 1950er Jahren einem Neubauvorhaben namens Aquilasiedlung weichen musste) waren kurz. Im Juni 1929 hatte der inzwischen 17 Jahre alte Paul die Gelegenheit, sogar ein ganz besonderes Spiel zu besuchen: Im Müngersdorfer Stadion in Köln traf die deutsche auf eine schwedische Auswahl. Es war eines von insgesamt fünf Länderspielen, die in jenem Jahr absolviert wurden. Deutschland spielte mit Kreß im Tor, Schütz und Weber als Verteidiger, Geiger, Leinberger und Knöpfle als Läufer, und im Sturm setzte Trainer Otto Nerz Albrecht, Sobek, Horn, Richard und Ludwig Hofmann ein. 52.000 Zuschauer kamen zum Spiel und sahen einen ungefährdeten 3:0-Erfolg der Deutschen. Alle Tore schoss der Dresdner Richard Hofmann, der zudem noch drei weitere Treffer erzielte, die aber vom österreichischen Schiedsrichter Braun nicht anerkannt wurden. Nach dem Schlusspfiff nahmen die Zuschauer die siegreichen Spieler auf ihre Schultern, und „im Triumphzug“ ging es in die Kabinen, berichtete der Hofmann-Biograf.14 Janes erlebte dieses Spiel und dessen spektakuläres Ende „vom billigen Stehplatz aus fiebernden Herzens“.15 Vielleicht ist ihm bereits zu dem Zeitpunkt in den Sinn gekommen, wie es wäre, selbst einmal auf den Schultern der Zuschauer vom Platz getragen zu werden.

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Abmeldung aus Küppersteg.

ABSCHIED AUS KÜPPERSTEG

Der Aufstieg in die 1. Bezirksklasse gelang Jahn Küppersteg zur Saison 1930/31, als Janes schon nicht mehr die grün-weißen Farben Jahns, sondern die rot-weißen der Fortuna trug. Denn Anfang November 1930 meldete sich Paul Janes bei seinem alten Verein mit folgenden Worten ab: „Unterzeichneter meldet sich mit dem heutigen Tage, dem 5.11.30, vom Turn- u. Spielverein ‚Jahn‘ Küppersteg ab. Grund: Wirtschaftliche Notlage.“16

Damit „ging der Stolz und die Seele unserer Mannschaft“, heißt es zum Abschied des gerade einmal 18-jährigen Paul Janes in der Jahn-Chronik aus dem Jahre 1939.17 Leider liegt der Jahresbericht über das Jahr 1930 nicht vor, so dass die konkrete damalige Situation mitten in den Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise nicht bekannt ist. Für Paul Janes spielte der Börsenkrach aus dem Jahr 1929 und dessen Folgen keine Rolle – wenigstens nicht in seiner Biografie. Im Vereinsbericht über das Folgejahr, das Aufstiegsjahr, ist die Rede von „einer Zeit größter Not. Wie jede Bewegung, so blieb auch unser Verein nicht ganz von den vielen Krisen verschont, und viele unserer Mitglieder sind heute ohne Arbeit.“18 Der Bericht wurde im Januar 1932 verfasst und verdeutlicht, welche Auswirkungen die Wirtschaftskrise in einer ehemals prosperierenden Region hatte.

Da Paul Janes zum Zeitpunkt seiner Vereinsabmeldung nach wie vor in Lohn und Brot stand und er bei Munkel auch noch im Jahre 1931 beschäftigt war, erscheint die Begründung für den Vereinswechsel nicht schlüssig. Es ist davon auszugehen, dass Janes mit gewissen, damals zwar verbotenen, jedoch üblichen Zusatzleistungen nach Düsseldorf zur Fortuna geholt wurde. Denkbar ist auch, dass seitens der Fortuna Leistungen gegenüber dem abgebenden Verein versprochen wurden. Denn Jahre später, nämlich 1934, wurde die Fortuna von Jahn Küppersteg beim WSV angeklagt, um sie zu einem Privatspiel gegen den kleinen Verein aus Leverkusen zu verpflichten. Die Entscheidung des Gaurechtswarts zitierte das WSV-Organ „Fußball und Leichtathletik“ („FuL“) ausführlich: „Der Antrag stützt sich auf eine Abmachung aus März 1931. Nach eigenem Vortrag Jahns sollte die Austragung des Privatspiels die Gegenleistung sein für die Freigabe des damals von Jahn nach Fortuna abgewanderten Spielers Janes. Eine derartige Abmachung ist nichts anderes als ein getarnter Spielerkauf und daher nichtig. Ansprüche irgendwelcher Art können daher aus dieser Abmachung nicht hergeleitet werden.“19 Erst im Mai 1935 kam es zu einer freundschaftlichen Begegnung zwischen Jahn Küppersteg und Fortuna Düsseldorf. Die Düsseldorfer, die mit all ihren Stars antraten, siegten mit 4:1. Dieses Spiel und das damit verbundene Frühlingsfest mit Tanz bildeten laut Jahresbericht „das größte Ereignis des Jahres 1935“. Da der Vertragsabschluss mit dem Meister des Jahres 1933 laut Aussage der Küppersteger Funktionäre zu akzeptablen Bedingungen erfolgte, ergab sich „ein finanzieller Gewinn für den Verein.“20 So zahlten die Düsseldorfer doch noch eine Art Ablösesumme für Paul Janes, der weiterhin engen Kontakt zu seiner alten Heimatstadt unterhielt.

DER WEG ZUM NATIONALSPIELER

HOLPRIGER START IN DÜSSELDORF

An einem nasskalten Tag im Herbst des Jahres 1930 fand ein Fußball-spiel auf dem alten Fortunaplatz im Düsseldorfer Stadtteil Flingern statt. Ein Spiel, bei dem das Ergebnis zweitrangig war, wie ein Sportredakteur der „Düsseldorfer Nachrichten“ („DN“) in einem Janes-Portrait aus dem Jahre 1937 feststellte.21 An jenem Tag trat eine Shell-Betriebsmannschaft aus Monheim zu einem Gastspiel bei den Düsseldorfer Kollegen an. Der Begriff Kollegen ist in diesem Fall recht weit gefasst, denn auf beiden Seiten kamen Gastspieler zum Einsatz – eine damals häufig angewandte Methode mit Vorteilen für beide Seiten: Die prominenten Gastspieler erhielten ein Handgeld oder eine vergleichbare Leistung. Im Gegenzug steigerten sie durch ihre Teilnahme die Attraktivität einer ansonsten nahezu bedeutungslosen Begegnung. Im Monheimer Dress spielte Paul Janes, bei den Düsseldorfern wirkten unter anderem zwei Fortunen mit, nämlich Torwart Willy Pesch und der Halblinke Heinrich „Heini“ Köhler. Außerdem verstärkte der spätere Fortune und Nationalspieler Stanislaus „Tau“ Kobierski, damals noch bei Turu Düsseldorf aktiv, das gastgebende Shell-Team.

Die Spielweise des als Mittelläufer eingesetzten Janes’ fand Beachtung bei den Kiebitzen am Spielfeldrand – trotz der 0:3-Niederlage der Monheimer. Beim gemütlichen Beisammensein im Anschluss an die Partie begann sogleich das Werben um das 18-jährige Talent aus Küppersteg, so Janes in seiner Biografie: „Die Fortunaten fragten mich während des Essens, ob ich nicht geneigt sei, bei ihnen Fußball zu spielen. Ich könnte mir zunächst jedenfalls einmal den Trainingsbetrieb bei ihnen anschauen und an diesen für mich vielbedeutenden Trainingsstunden auch teilnehmen. Ich vermochte ihnen nichts anderes zu sagen, als zunächst einmal mit meinen Eltern zu sprechen. Denn bisher hatte ich meinen Heimatort Küppersteg nie verlassen. Es sei denn, dass wir Fußballspiele in Köln und Umgebung ausgetragen hatten.“22

Selbstverständlich fiel Janes’ Talent auch weiteren Vereinen auf, und es gab den einen oder anderen Abwerbeversuch, doch der Küppersteger entschied sich für einen Wechsel rheinabwärts nach Düsseldorf. Wem die Fortuna dies letztendlich zu verdanken hat, ist nicht mehr herauszufinden. In Janes’ Biografie aus dem Jahre 1947 heißt es, dass Fortunas Trainer Heinz Körner bei seinen Eltern erschien und ihre Zustimmung zum Wechsel zur Fortuna erwirkte. Der Wiener Körner war zwar früher und auch in späteren Jahren als Coach bei der Fortuna tätig, nur von der Saison 1929/30 bis zum Abschluss der Saison 1930/31 hieß der Düsseldorfer Übungsleiter Otto Keßler. Wer auch immer die erfolgreiche Überzeugungsarbeit vollbrachte, ist letztendlich egal, denn das Ergebnis stimmte. Janes meldete sich noch im November 1930 polizeilich in Leverkusen ab und in Düsseldorf an. Dort zog er zunächst in die Mettmanner Straße 65. Seine Wohnung lag im Stadtteil Flingern, einem vorwiegend von Arbeitern, Handwerkern und kleinen Angestellten bewohnten Bezirk, und hatte einige Vorteile: Sie lag fußläufig zum Fortunaplatz und genauso günstig zum Hauptbahnhof.

Janes absolvierte zunächst einige Spiele mit der zweiten und dritten Mannschaft und gehörte Weihnachten 1930 zum ersten Mal zur ersten Mannschaft.23 Es ging zur Turu, dem Lokalrivalen aus Düsseldorf-Oberbilk, und Keßler ließ den jungen Janes als Halbrechten spielen, der später dazu anmerkte: „Trotz der ungewohnten Position fand ich mich dennoch gut zurecht und schoss auf Vorlage des neben mir stürmenden Angriffsführers Georg Hochgesang das zweite Tor. Mit 2:0 gewannen wir auch. Dieses zweite Tor verschaffte mir zwar kein Dauerabonnement in der Mannschaft. Aber immerhin: Ich hatte mich bewährt und wurde jetzt häufiger herangezogen.“24 Außenstehende trafen eher zurückhaltende Bewertungen seiner Leistung an jenem Weihnachtstag. Janes zeigte zwar einige „Kabinettstückchen“ und erzielte ein „Bombentor“, doch das zusammenfassende Urteil des „DN“-Reporters lautete: „zu kalt, zu temperamentlos, nicht beweglich genug für den Sturm“.25

Als Paul Janes an Weihnachten 1930 zum ersten Mal die rot-weißen Farben von Fortunas erster Mannschaft trug, spielte er drei Klassen höher als zuletzt in Küppersteg. Fortuna Düsseldorf gehörte seit der Saison 1922/23 ununterbrochen der höchsten Spielklasse an – ob sie nun Gauliga, Bezirksklasse oder Bezirksliga genannt wurde. Der Aufschwung der Mannschaft ab Mitte der 1920er Jahre war eng mit dem Wirken ihres 1924 verpflichteten Trainers Heinz „Krczal“ Körner verbunden. Der 1893 geborene Wiener hatte keine Trainererfahrung, als er in Düsseldorf mit seiner Arbeit begann. Er konnte aber auf eine erfolgreiche Karriere als Vereinsspieler (siebenfacher Meister mit Rapid Wien) und Nationalspieler (sieben Einsätze in der österreichischen Nationalelf) zurückblicken. Neben der Verpflichtung des Wieners sorgten eine gute Jugendarbeit und gelungene Transfers für den sportlichen Aufstieg des Vereins. Bei der Verpflichtung neuer Spieler halfen mitunter Einkaufsgutscheine des Bekleidungshauses P&C, mit denen Fortunas langjähriger Präsident und P&C-Abteilungsleiter Matthias Bakkers Spieler zum Vereinsübertritt locken konnte. Zu denen, die diesen Lockungen vermutlich nicht widerstehen konnten, gehörten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre Fortunas Torwart Willy Pesch, August Götzinger, Georg „Schorsch“ Hochgesang, der bereits mit dem 1. FC Nürnberg dreimal Deutscher Meister wurde, „Tau“ Kobierski und eben Paul „Dä Bur“ (Der Bauer) Janes. Seinen Spitznamen bekam er recht schnell verpasst, weil er für die Städter als absolutes Landei galt und auch so sprach.

DIE ERSTEN TITEL

Der Aufstieg der Fortuna und damit auch die Karriere des Paul Janes waren nicht nur eng mit den veränderten Rahmenbedingungen nach dem Ersten Weltkrieg verbunden, sondern auch mit dem Bedeutungswandel des Fußballs in Deutschland. Im November 1918 wurde in Deutschland per Reichsverordnung der Achtstundentag eingeführt. Diese wesentliche Arbeitszeitverkürzung ermöglichte vielen Menschen erst die Teilnahme an regelmäßigen sportlichen Aktivitäten. Dies bedeutete nicht unbedingt, dass sie diese Aktivitäten im Vereinsrahmen absolvierten. Dafür fanden viel zu selten, oftmals nur einmal wöchentlich, Trainingsabende statt. Aber die neu gewonnene Freizeit konnte dazu genutzt werden, alleine zu trainieren oder mit Gleichgesinnten zu kicken, beispielsweise im Rahmen einer Straßenmannschaft. Viele Nationalspieler der 1930er und 1940er Jahre, so zum Beispiel Hans Jakob (Jahrgang 1908), Ernst Lehner (1912) und Edmund Conen (1914) berichteten davon, dass sie in ihrer Kindheit begeisterte Straßenfußballer waren.26 Dies gilt im Übrigen auch für viele Fortunen, beispielsweise Jakob Bender (Jahrgang 1910) und Felix Zwolanowski (1912), die damals in der ersten Mannschaft kickten und ebenfalls zu Nationalspielern avancierten.27 Die Verantwortlichen der Fortuna – neben Körner und Bakkers ist hier in erster Linie Fortunas langjähriger Obmann, Mäzen und Manager Toni Rudolph zu nennen – wussten die geänderten Rahmenbedingungen zum Vorteil des Vereins zu nutzen.

Hinzu kam ein wesentlich verbessertes Auswahlverfahren der Nationalspieler durch den seit 1926 angestellten Reichstrainer Otto Nerz. Zum Ende der 1920er Jahre galt die Fortuna neben Schalke 04 zu den „mehr oder weniger offen professionalisierten westdeutschen Klubs“, deren Arbeit von Nerz durch die Einberufung vieler junger Nationalspieler anerkannt wurde.28 Außerdem verfügte die Fortuna seit September 1930 über einen eigenen Rasenplatz. Die in Flingern liegende Anlage am Flinger Broich, die seit 1990 „Paul Janes Stadion“ heißt, verfügte zwar noch nicht über ausreichende Tribünen, doch ein weiterer Schritt in Richtung Professionalisierung war gemacht.

Zu seinem ersten Pflichtspiel mit der Bezirksligaelf kam Paul Janes am 22. Februar 1931. Er profitierte dabei von einer Verletzung des rechten Läufers Karl Gottschall, für den ihn Trainer Keßler am letzten Spieltag der Bezirksliga Berg/Mark, Gruppe 1 (Düsseldorf) einsetzte.29 Der Tabellenführer aus Flingern musste sich mit dem Viertplatzierten aus Ratingen auseinandersetzen. Ein Sieg der Fortunen garantierte ihnen die Tabellenführung vor dem Verfolger aus Benrath und den Einzug ins Endspiel um die Bezirksmeisterschaft. Mit einem 4:0-Erfolg gelang dies souverän. Fortuna beendete die Saison mit drei Punkten Vorsprung vor den Benrathern und wurde nach Einschätzung der lokalen Presse verdientermaßen Gruppenmeister. Janes und der ebenfalls erstmals in der ersten Elf eingesetzte „Tau“ Kobierski erhielten gute Kritiken für die gezeigten Leistungen. Über den als Läufer eingesetzten Ex-Küppersteger hieß es, dass er eine „fast fehlerfreie Arbeit“ geleistet habe. „Er hat ein vorzügliches Stellungsspiel, erfasst stets genau, wohin der Ball gespielt werden muss, und seine Körper- und Ballbeherrschung lassen großes Talent erkennen“, lautete das wohlwollende Fazit eines Sportredakteurs. Er traute Janes ohne Weiteres zu, einen Stammplatz in der Mannschaft zu erringen.30

Dennoch war Fortunas Gruppenmeisterschaft nicht unumstritten. Ratingen legte Protest gegen die Wertung des Spieles ein. Der Zweitplatzierte aus Benrath schloss sich diesem Protest an. Für sie stand fest, dass Janes nur ein „Pseudo-Düsseldorfer und ebenso nur ein Semi-Küppersteger“ sei, der zwar über eine Monatskarte der Reichsbahn verfüge, aber eigentlich gar nicht nach Düsseldorf gewechselt sei.31 Doch Paul Janes war zu jenem Zeitpunkt zumindest in Düsseldorf polizeilich gemeldet, daher wies der WSV nur wenige Tage später den Protest als „nicht stichhaltig“ ab.32

Fortuna blieb somit Gruppenmeister der Saison 1930/31 und konnte in die Endspiele um die Bezirksmeisterschaft gehen. Diese absolvierten die Rot-Weißen gegen den Sieger der Gruppe 2, Schwarz-Weiß Barmen, mit zwei klaren Siegen. Damit standen sie als Meister der Liga Berg/Mark erneut (nach 1926, 1927, 1928 und 1929) in der Endrunde um die Westdeutsche Meisterschaft. Nach weiteren sechs Spielen, davon fünf Siege und ein Unentschieden, hieß der Westdeutsche Meister erstmals Fortuna Düsseldorf, und Paul Janes konnte sich über den zweiten Titel nach seinem Wechsel freuen. Allerdings hatte dieser Titelgewinn einen faden Beigeschmack, weil Fortunas damals größter westdeutscher Konkurrent, der FC Schalke 04, in seiner Staffel nur den siebten Platz erreichte. Die „Knappen“ aus Gelsenkirchen konnten sich deshalb nicht für die Endrunde qualifizieren und den in den beiden vorherigen Jahren gewonnenen Titel nicht verteidigen. Denn die Schalker hatten ihre besten Spieler nicht einsetzen dürfen.

DAS DEUTSCHE AMATEURIDEAL

Fußball zur Zeit der Weimarer Republik erlebte einen erheblichen Bedeutungsschub. Dies zeigte sich nicht nur in ansteigenden Zuschauerzahlen, sondern auch an neuen Geschäftsmodellen, wie der Werbung mit Spielern beispielsweise für Kaffee und Zigaretten oder dem Verkauf von Sammelbildern und Abzeichen. Hinzu kam ein weiterer wesentlicher Punkt: Fußball avancierte zum Mediensport. Tageszeitungen bauten Sportredaktionen auf und räumten dem Fußball immer mehr Platz ein. Außerdem stieg die Anzahl der Sport- und Fußballzeitschriften in jenen Jahren rapide an, und der Rundfunk entdeckte den Fußball für Live-Übertragungen.33 Die größere wirtschaftliche und publizistische Bedeutung des Fußballsports ging allerdings nicht einher mit besseren Leistungen. Das Niveau des deutschen Fußballs in der ersten Hälfte der 1920er Jahre galt im internationalen Vergleich als eher dürftig, was zu wiederholter Kritik in den Medien führte. Diese machten als Grundübel des deutschen Fußballs die fehlende Professionalisierung und das Festhalten am Amateurideal aus. Dabei gab es nicht nur auf der britischen Insel seit Jahren Profifußball; in den 1920er Jahren wurde der Fußball als mögliche Berufsausübung auch in Österreich, Ungarn, der Tschechoslowakei, Spanien und Frankreich offiziell erlaubt. Doch in Deutschland kam Fußball als legaler Broterwerb überhaupt nicht infrage. Die Verbandsoffiziellen lehnten jedes diesbezügliche Ansinnen kategorisch ab. Im Wesentlichen trafen zwei Argumentationslinien aufeinander: Bei den Blockierern standen ideologische Gründe im Vordergrund, bei den Befürwortern ökonomische.34 Unabhängig davon, welches Argumentationsmuster letztendlich ausschlaggebend war: Im Deutschen Reich blieb Berufsfußball offiziell verboten, inoffiziell aber meist geduldet.

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Die Fortunaelf im Frühjahr 1932. Von links Bender, NN, Köhler, Janes, Hochgesang, Kobierski, Pesch, Breuer, Trautwein, NN, Bornefeld, Albrecht, Gottschall (?).

Und das führte dazu, dass Paul Janes gemeinsam mit der Düsseldorfer Fortuna im Jahre 1931 unbedrängt von den Schalkern die einzige Westdeutsche Meisterschaft der Vereinsgeschichte erringen konnte. Denn im August 1930 traf die WSV-Spruchkammer die Entscheidung, dass aufgrund von Verstößen gegen die Amateurbestimmungen 14 Schalker Spieler zu Profis erklärt und für den Ligabetrieb gesperrt wurden. Darüber hinaus schloss der WSV etliche Schalker Vorstandsmitglieder aus dem Spielverband aus und verhängte eine Geldstrafe gegen den Verein. Damit waren die Schalker ihrer ersten Mannschaft beraubt. Es war nicht die erste Sperre, die gegen angebliche Profifußballer verhängt wurde, selbst der spätere Nationaltrainer Sepp Herberger gehörte in den 1920er Jahren zu den Opfern, aber es war die bis dahin spektakulärste. Den Schalker Spielern – unter ihnen befanden sich so beliebte Kicker wie Ernst Kuzorra, Fritz Szepan und Hans Tibulksi – wurde konkret vorgeworfen, erhöhte Spesen bis hin zu einer regelrechten Entlohnung, Darlehen und Geschenke erhalten zu haben. Offiziell erlaubt war zur Zeit der Verurteilung der Schalker ein Spesensatz von 5,00 RM pro Spiel und Trainingstag.35 Wenig später, auf dem DFB-Bundestag im September 1930, wurde der Satz auf 7,50 RM pro Spiel erhöht.36

Nicht zuletzt aufgrund des gestiegenen Medieninteresses waren DFB und WSV massiver Kritik ausgesetzt. „Die gesamte Medienöffentlichkeit und die übrigen Vereine protestierten lautstark und anhaltend gegen die drastischen Urteile“, fasste Autor Hartmut Hering die damalige Reaktion zusammen.37 Der Druck sorgte dafür, dass das Strafmaß im Jahre 1931 erheblich reduziert und die Sperren aufgehoben wurden. Die Schalker feierten dieses Ergebnis am 1. Juni 1931 mit rund 70.000 Zuschauern in der überfüllten Glückauf-Kampfbahn mit einem Freundschaftsspiel gegen den amtierenden Westdeutschen Meister aus Düsseldorf. Die Blau-Weißen besiegten an jenem Nachmittag die Rot-Weißen mit 1:0. Die Fortunen kratzte diese Niederlage genauso wenig wie die vom 14. Mai 1931, als sie mit 2:3 n.V. gegen die Eintracht aus Frankfurt in der ersten Runde im Kampf um die Deutsche Meisterschaft ausschieden. Sie besaßen schließlich das grün-weiße Meisterband des WSV, und das feierten sie am 6. Juni mit Operettenmelodien, Vorträgen, einer Siegerehrung und einem abschließenden großen Festball.

EIN AMATEUR AUF JOBSUCHE

Wovon lebte der Fußballamateur Janes im Jahre 1931 eigentlich? Die Aussagen hierzu, sogar seine eigenen, gehen auseinander, so dass seine Berufsbiografie lückenhaft bleibt. In seinem 1980 veröffentlichten Fortuna-Buch schrieb Wolfgang Niersbach, dass der Verein seinem neuen Spieler einen sicheren Arbeitsplatz garantierte. Den konkreten Nachweis blieb der inzwischen in Diensten des DFB tätige Niersbach schuldig.38 Laut Autor Ralf J. Schoppe arbeitete Janes nach seinem Wechsel zur Fortuna zunächst in seinem erlernten Beruf als „Maurer, baute seinerzeit das Apollo-Theater mit um, erhielt einen Job bei den Stadt- und Wasserwerken Düsseldorf und wurde später 1934 Angestellter beim Stadtsportamt“.39 Es ist durchaus möglich, dass die Verantwortlichen der Fortuna ihrem jungen Spieler aus Küppersteg einen sicheren Job versprachen. Es ist auch möglich, dass Janes beim Umbau des Apollo-Theaters mitarbeitete, schließlich ließ Anfang der 1930er Jahre die UFA Berlin als neue Eigentümerin umfangreiche Umbaumaßnahmen durchführen.40 Nachweisbar ist das alles jedoch nicht.

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