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Andrea stellt sich vor, auf dem Rücken eines Drachen über ihrem Dorf zu fliegen. Sie ist Anfang zwanzig, ihre Mutter hat die Familie vor zehn Jahren verlassen, der alkoholabhängige Vater bezieht Invalidenrente. Über solche Dinge wird zu Hause lieber geschwiegen, und Andrea erfährt am eigenen Leib: Wer über alte Geschichten nicht spricht, der wird sie auch nicht los.

Für ihren Bruder Michl, der lieber Rockmusiker als ein dorfbekannter Schulversager wäre, denkt Andrea sich eine Fluchtgeschichte aus. Als sie ihren Vater und seine Schwägerin bei einem Annäherungsversuch erwischt, merkt sie: Michls Fluchtgeschichte muss auch ihre eigene werden. Zwei Tage später sitzen die Geschwister im Pick-up des Onkels und suchen das Weite.

Andrea erzählt, erinnert, und sie erfindet. So auch eine kühnere Version ihrer selbst namens Ariane, die sie ermutigt, im wirklichen Leben über sich hinauszuwachsen – wenn sie sich, einmal in Basel, auf die Suche macht nach dem, was von ihrer Familie übrig ist. Und ein junger Mann namens Bastian auf dem Fahrrad um die Ecke kommt.

Klug, dialogstark und mit vergnüglicher Fantasie lässt Simon Deckert uns eine Reise miterleben, die die Vergangenheit einholt und die Zukunft mit Händen greift. Ein überraschendes Debüt!

Simon Deckert

Siebenmeilenstiefel

Roman

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Das Erscheinen dieses Buchs wurde gefördert durch die Kulturstiftung Liechtenstein, das Land Vorarlberg, den Kanton St. Gallen und die Stadt St. Gallen. Der Verlag bedankt sich dafür.

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Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2020 Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich

Lektorat: Daniela Koch

eISBN 978-3-85869-894-0

Inhalt

1Landkarte der Traurigkeit

2Auf dem Wasserturm

3Oberstübchen, Untergrund

4Die geflügelte Frau

5Geisterfahrt

1

Landkarte der
Traurigkeit

1

Der Mann mit dem Afro hat ein Geheimnis, so viel ist sicher. Fünfmal die Woche warte ich morgens vor dem Dorfladen auf den Pendlerbus, viermal beobachte ich genau dieselbe Szene. Ich lehne am Pfosten mit dem zerkratzten Haltestellenschild, hinter mir das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das Quietschen einer Tür. Der erste Bus, der ein paar Minuten vor meinem kommt, hält am Straßenrand und gibt ein ungeduldiges Schnauben von sich. Rechts von der Mitteltür sitzt der Mann mit dem Afro, am Gang, der Fensterplatz neben ihm leer – viermal die Woche auf demselben Platz. Ein paar verwahrloste Bartkrausen unter dem Ohr und am Kinn, die milchkaffeebraune Haut im Gesicht voller Muttermale, um den Hals die grünen Kopfhörer. Sein Haar ist am Hinterkopf von einem Gummiband zusammengenommen und quillt daraus hervor wie ein üppiger Blumenstrauß, wo bei anderen nur ein müder Pferdeschwanz baumelt.

Das Geheimnis könnte in der Regelmäßigkeit seines Auftauchens liegen, auch wenn es etwas geben muss, das ihn von den anderen Pendlern unterscheidet. So wäre es denkbar, dass er in einer Zeitschleife gefangen ist, in einem sich endlos wiederholenden Fluchtversuch. Jeden Morgen steigt er in den Pendlerbus und flieht so weit aus dem Dorf, wie er mit dem öffentlichen Verkehr an einem Tag kommt. Am Abend legt er sich hinter einem Heuschober schlafen oder auf der Bank von einem Haltestellenhäuschen, und wenn er am nächsten Morgen aufwacht, starrt er wieder an die Decke seines Zimmers im Dorf. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sein regelmäßiges Busfahren ein Ablenkungsmanöver darstellt, mit dem er sich hinter der Alltäglichkeit der Pendler versteckt. Das wäre einigermaßen raffiniert. Bleibt die Frage, was er zu verstecken hat. Er könnte etwa einen zweiten Kopf haben, der ihm aus dem Hinterkopf wächst und von seinem Haarschopf verdeckt wird. Wenn man das dunkle Kraushaar zur Seite schiebt, dann blickt man in ein kleines, runzliges Gesicht, das einen aus zwei wässrigen Augen etwas traurig ansieht, als wollte es sagen: Ja nun – mich überrascht nichts mehr.

Hinter mir das Geräusch eines Schlüssels im Schloss, das Quietschen einer Tür. Jeden Morgen kettet der dicke Tiroler, dem unser Dorfladen gehört, das Schild mit den Tagesschlagzeilen ans Treppengeländer. Montag, Dienstag, Mittwoch und Freitag: Der Mann mit dem Afro sitzt rechts von der Mitteltür. Würde sich an einem dieser Tage ein einziges Detail an der Szene verändern, etwa, wenn ich mit dem Rücken zur Straße stehen würde statt zum Laden, ich glaube, dann müsste alles im Chaos versinken. Die Kopfhörer wären blau statt grün, der zweite Pendlerbus würde vor dem ersten kommen, der dicke Tiroler würde über die Kette stolpern und sich auf den Stufen das Genick brechen.

Guten Morgen, schreit der dicke Tiroler.

Ich hebe die Hand, ohne mich umzudrehen. Erst, als ich die Tür ins Schloss fallen höre, werfe ich einen Blick auf das Schild. Heute ist Donnerstag.

Durch die Busfenster sehe ich mir die anderen Fahrgäste an. Hinter der Fahrerkabine sitzt die Witwe des Nachtklubbesitzers und kaut auf einer blonden Strähne, der Junkie mit der Wollmütze schläft auf dem Klappsitz neben der Gepäckablage, der Schlosserlehrling in der hintersten Reihe schiebt sich eine Zigarette hinters Ohr und spielt mit seinem Nagelknipser. Weil jeder Pendler seinen festen Platz hat, ist der Sitz rechts von der Mitteltür am Donnerstag leer. Am Donnerstag bin da nur ich, mein Spiegelbild im rechten Flügel der offenen Tür. Eine Laufmasche unter dem Knie, mein grauer Jeansrock ein wenig ausgefranst und unter dem Kapuzenpulli ein Paar Brüste, in die eines Tages ein Mann sein Gesicht vergraben wird, dem ich erzählt habe, mein Name sei Ariane. Ariane, wird er sagen, du bist eine Klippe, von der ich mich stürzen möchte.

Als der Bus hinter der Papeterie verschwunden ist, höre ich hinter mir den schlurfenden Gang meines Bruders. Ich hole den Klappspiegel aus meiner Handtasche und beobachte, wie er die Treppe zum Dorfladen hinaufsteigt und hinter der Glastür verschwindet. In der runden Scheibe des Spiegels kann ich die Szene zwischen meinem Bruder und dem dicken Tiroler verfolgen; ich höre ihre Stimmen durch das Gezwitscher der Spatzen und die vorbeifahrenden Autos, ich habe den Putzmittel- und Aufbackbrötchengeruch in der Nase, alles springt mich an aus dem kleinen Spiegelbild.

Guten Morgen, sagt Miko.

Wie bitte?

Der dicke Tiroler hat sich hinter der Ladentheke über einen Plastiksack gebeugt und kramt unter lautem Rascheln darin herum. Er richtet sich auf und stellt zwei orange Einmachgläser auf die Vitrine.

Wachauer Marille, sagt er, mehr zu den Gläsern. Dann fixiert er Miko und schaut ihn ein paar schnaufende Atemzüge lang an. Der Ludescher Michl. Finger weg von den Zigaretten. Ich weiß schon, mit solchen wie dir muss man aufpassen.

Ich habe nichts gemacht.

Probleme machst du, und dann für ein paar Tage verschwinden und sich hinterher an nichts erinnern können. Dein Onkel hat mir schon erklärt, wie das läuft.

Ich klappe den Spiegel zu, ab hier geht es sowieso weiter wie immer. Der Tiroler streicht über die borstigen Haare in seinem Ebernacken und setzt sich die Lesebrille auf. Dann zieht er einen Kugelschreiber aus seiner Gesäßtasche und beginnt etwas auf einen Block zu schreiben.

Was willst du?, fragt er irgendwann und schaut meinen Bruder über die Brillengläser hinweg an. Leberkässemmel und Cola?

Jawohl.

So, das Übliche, sagt der Tiroler. Er lacht ein anbiederndes Lachen, das an niemanden gerichtet sein kann als an ihn selbst. Man muss, sagt er, als guter Verkäufer auch seine schlechten Kunden kennen.

Er öffnet den Glaskasten, in dem die heißen Fleischlaibe liegen wie schwitzende, gehäutete Tiere, und schneidet mit einem langen Messer zwei Scheiben Leberkäse ab.

Heute schon wieder nichts zu tun?

Was geht Sie das an?

Wieder lacht der Tiroler.

Man wird ja noch fragen dürfen. Essiggurken dazu?

Ein Umzug steht an, sagt Miko und nickt.

Der Tiroler klappt die fertige Semmel zu und holt eine Dose Cola aus dem Kühlschrank.

Mit deinem Onkel, natürlich. Sag dem Ludescher Bruno, wir hätten ihn vermisst am Dienstag. Und er soll dir auf die Finger schauen. Er mustert Miko, bevor er die Sachen auf die Theke stellt. Dass du Zwerg überhaupt Möbel schleppen kannst. Drei Euro zwanzig macht das.

Die Glastür geht wieder auf, und ich drehe mich um. Mein Bruder kommt mit seiner Cola und einem braunen Papiersack auf mich zu. Er öffnet die Dose und nimmt einen Schluck.

Was trinkst du heute?, frage ich.

Cola.

Und gestern?

Auch Cola.

Und morgen?

Keine Ahnung.

Ich sehe ihn an.

Und was machst du heute?

Räumung bei den Albrechts. Der Sohn will die Mansarde vermieten.

Und gestern?

Gestern war Mittwoch. Vormittag im Büro, Nachmittag frei.

Und was hast du gemacht?

Er holt die Leberkässemmel aus dem Papiersack und beißt hinein.

Du bist komisch, sagt er mit vollem Mund.

Einen Moment lang schaue ich ihm beim Kauen zu. Als ich den zweiten Bus um die Ecke kommen höre, stecke ich den Spiegel zurück in die Handtasche und schüttle den Kopf.

Irgendwer muss anfangen, deine Geschichte auszumalen, sage ich.

Er nimmt noch einen Bissen von seiner Semmel und macht eine Kopfbewegung in Richtung Bus.

Bis dann, sagt er.

Als ich am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause komme, ist es noch hell, nur die Küche an der Ostseite des Hauses liegt schon im Dunkeln. Ich mache das Licht an und erschrecke kurz über die Gestalt, die so plötzlich vor mir sitzt, als ob sie erst durch das Drücken des Lichtschalters aufgetaucht wäre.

Astrid? Schon zurück? Ein Engel bist du.

Der Vater sitzt auf einem Hocker am Küchentisch, so nah an der Vase mit den Palmkätzchen, dass ihn die Zweige fast ins Gesicht stechen.

Nein, sage ich. Ich bin’s.

Sein Lachen klingt wie bei anderen Leuten das Husten, wenn sie etwas im Hals haben.

Natürlich. Keine Abendschule heute?

Heute ist Donnerstag, sage ich.

Ja.

Montag und Donnerstag haben wir frei.

Ja. Richtig.

Richtig.

Er räuspert sich.

Den ganzen Nachmittag über hat sich jemand vor dem Haus zu schaffen gemacht. Ein Scharren und Klopfen, als ob der Garten umgegraben würde. Ich habe mich nicht hinausgetraut.

Wahrscheinlich ein Hund, sage ich.

Ich öffne den Kühlschrank und nehme eine Apfelsaftflasche heraus, die Butterdose, ein rotes Ei aus einem halb leeren Karton, ein Stück Käse. Im untersten Regal steht die angeschnittene Geburtstagstorte von meinem Bruder. Jemand hat die obere Hälfte der weißen Marzipan-Acht abgebrochen, sodass es aussieht, als wäre er zehn geworden. Ich hole zwei Gläser aus der Kredenz und fülle sie mit Apfelsaft.

Hast du genug getrunken?

Er greift nach dem Glas und erwischt es im ersten Anlauf. Ich trinke meines in einem Zug leer, dann schmiere ich mir zwei Butterbrote und schneide das Ei in der Mitte durch.

Willst du nicht warten?, fragt der Vater. Die anderen kommen doch bald.

Ich habe Hunger, sage ich.

Wenn du jetzt isst, magst du später nichts mehr.

Ich kann jetzt ein bisschen essen und später noch was.

Er rutscht auf seinem Hocker herum.

Es ist doch schön, gemeinsam am Tisch zu sitzen. Zeit miteinander zu verbringen. Findest du das nicht schön?

Es ist doch schön, wiederhole ich in Gedanken, Zeit miteinander zu verbringen. Das rote Ei in meiner Hand ist plötzlich wieder ganz, und ich drehe mich um und werfe es nach ihm. Der Sekundenbruchteil, bevor es gegen seinen Kopf prallt, dehnt sich seltsam in die Länge, und gespannt frage ich mich, ob dabei das Ei zu Bruch gehen wird oder der Kopf.

Warum kümmert es dich nicht, ob wir es gut haben miteinander? Du tust immer so, als ob dir alles egal wäre.

Ich nehme einen hastigen Bissen von meinem Butterbrot und erwische dabei die halbe Brotscheibe.

Weißt du noch, wie alt ich bin?, frage ich kauend.

Einundzwanzig.

Zweiundzwanzig.

Wieder räuspert er sich. Mit der rechten Hand hält er sich an der Tischplatte fest, die linke liegt auf seinem Knie und zittert ein bisschen.

Ihr seid alles, was ich noch habe, sagt er. Ich bin nicht mehr viel. Wenn es euch nicht gäbe, wäre ich nichts mehr.

Ich schweige.

Jetzt, wo wir auch unser Haus nicht mehr haben.

In unserem Haus wohnen wir seit mehr als fünf Jahren nicht mehr, sage ich.

Unvermittelt haut er mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Ich zucke zusammen.

Herrgott, Andrea. Wen kümmert es, wie viele Jahre das sind. Jetzt sind wir hier. Der Michl und du. Wir sind jetzt alle erwachsen.

Volljährig, sage ich.

Findest du das lustig?

Und wenn man volljährig ist, kann einem nichts mehr passieren?

Der Michl kommt zurecht, sagt er. Außerdem hat er dich.

Das ist aber auch alles.

Ich nehme noch einen Bissen, und beim Kauen schäme ich mich plötzlich. Als würde ich mir selber eine Lüge erzählen, nur durch das Kauen des Butterbrots, in dieser Küche mit ihren bunt karierten Vorhängen, neben diesem Mann auf seinem Hocker.

Es ist nie zu spät, sagt er.

Ich verschlucke mich und unterdrücke einen Hustenanfall.

Du hast recht, sage ich krächzend und gehe zur Tür. Vielleicht ist es jetzt Zeit.

2

Weil ihm die Last seines zweiten Kopfes einmal in der Woche zu groß wird, steigt der Mann mit dem Afro donnerstags hinauf zu der moosbewachsenen Ruine, die auf einem Hügel etwas außerhalb des Dorfs liegt. Er setzt die hellgrünen Kopfhörer auf und hört eine schwebende, sonnige Musik. Von der Nordwand der Ruine aus hat man einen weiten Blick über das Tal, in dem der Fluss und die Dörfer liegen. Wenn es tagsüber geregnet hat und in der Dämmerung noch das mächtige Wolkengebirge wie eine Festung über dem Land steht, kann der Mann mit dem Afro in der Ferne manchmal einen riesenhaften, schwarzen Drachen sehen, der immer wieder für einige Augenblicke aus den Wolken bricht, dann wieder darin verschwindet und sich nur hier und da durch ein oranges Licht erkennen lässt, das wie ein Wetterleuchten durch das dichte Grau-Weiß scheint.

Im Märchen vom entlaufenen Rösslein löst sich eines Tages eine einzelne Schuppe vom Schwanz dieses Drachen und fällt in die Tiefe. Durch einige Luftströmungen wirbelt die Schuppe hier- und dorthin, bevor sie über jenem Wald zu Boden sinkt, der sich von den Ausläufern des Gebirges bis an den Fluss erstreckt, zu der Biegung, wo die südlichsten Dörfer des Tales liegen. Sie landet in einer Morastpfütze, in die zufällig gleich darauf ein entlaufenes Fohlen aus einem der Dörfer am Waldrand tritt. Die Schuppe bleibt an seinem Huf haften und schiebt sich mit dem nächsten Tritt in eine Ritze über dem Hufeisen.

Wenig später hatten der Ludescher Bruno und sein Neffe Miko dem Fohlen mit einem Strick die Läufe zusammengebunden und hievten es auf die Ladefläche von Ludeschers Pick-up, indem der Onkel auf der einen Seite des Wagens am Strick zog und Miko sich von der anderen Seite gegen den Körper des Fohlens stemmte. (Der Ludescher hatte früher bei Wettkämpfen in der Landeshauptstadt Kleinlastwagen gezogen.) Als das Tier verstaut war, hängte er die Ladeklappe ein und wischte sich mit dem Saum seines dunkelblauen Poloshirts den Schweiß von der Glatze.

Der Ludescher saß schon bei laufendem Motor im Wagen und drehte am Radio herum, da entdeckte Miko unter einem der Hufe des betäubten Fohlens einen kleinen, schimmernden Gegenstand. Er zog ihn zwischen dem Huf und dem Eisen hervor und ließ ihn sofort in seiner Hosentasche verschwinden; der Onkel rief seinen Namen und versuchte unter umständlichen Bewegungen des Oberkörpers, ihn im Rückspiegel zu sehen. Das, so kam es Miko vor, während er um den Pick-up ging, war sein Schicksal – nie anders als über einen Rückspiegel angeschaut zu werden und diesem Blick aus dem Rückspiegel auch niemals zu entkommen. Der Ludescher fuhr los und drehte das Radio lauter.

Nach dem Abendessen räumt der Michl den Tisch ab und geht hinauf in sein Zimmer, ich lasse Wasser für den Abwasch ins Spülbecken. Aus dem Wohnzimmer höre ich, wie der Bruno den Fernseher einschaltet und die Astrid den Korken aus einer Flasche dreht, der Vater sitzt am Küchentisch und atmet laut durch die Nase. Als ich anfange, die Teller zu schrubben, dringen das Rauschen und Knacksen des Gitarrenverstärkers durch die Decke, dann ein paar Akkorde, eine halbe Tonleiter. Ich stelle den letzten Teller auf das Abtropfgestell und ziehe den Stöpsel. Als ich mich umdrehe, steht die Astrid vor mir, ein kleines Glas Kräuterbitter in der Hand. Ich greife nach dem Geschirrtuch.

Geh, lass stehen, sagt sie. Mit dir hat man keine Sorgen.

Ich nicke und will an ihr vorbeigehen.

Sag, Andrea, sagt sie, und ich bleibe stehen. Wie läuft es mit dem Lernen?

Ich zucke die Schultern. Gut, sage ich.

Im Mai hast du die Prüfungen, richtig?

Im Juni.

Sie schaut in ihr Schnapsglas, als hätte sie in der braunen Flüssigkeit ein Wort verloren, dann kippt sie es in einem Satz herunter und sieht mich an.

Weißt du, was das Arztgeheimnis ist?

Was meinst du?

Du hast nicht zu wissen, dass der Herr Tscholl Patient bei uns ist. Ich werde dir auch nicht sagen, was er hat.

Plötzlich fallen mir ihre spitzen, lackierten Fingernägel auf und die streng nach hinten frisierten, blonden Haare.

Der Herr Tscholl, mein Lehrer?

Sie nickt.

Mein Lehrer in Vaduz?, frage ich, was eine ziemlich dumme Frage ist.

Du weißt doch, dass er hier im Tal wohnt. Er hat mir erzählt von deiner, sagen wir, Lustlosigkeit.

Als ich das Wort Tal höre, kommt es mir vor, als ob all meine Gedanken in eine lange, schmale Schwärze gezogen würden. Irgendwo darin funkelt, klein und entfernt, ein rotes Licht.

Woher weiß der Herr Tscholl, worauf ich Lust habe?

Andrea. Bitte. Keine zwei Monate mehr.

Und dann?

Dann hast du Möglichkeiten.

Ich schaue sie an.

Den Vater pflegen? Zuschauen, wie der Michl eingeht wie ein vergessener Stubenkaktus? Einen Beauty-Space eröffnen im Nachbardorf?

Der Blick, mit dem sie mich ansieht, ist nicht für mich. Für einen Teddybären könnte er sein oder ein sterbendes Kaninchen. Deinen Blick will ich nicht, denke ich.

Auch der Michl, sagt sie, wird nicht ewig hierbleiben.

Und du glaubst, woanders wird er zurechtkommen?

Sie seufzt.

Andrea. Ich weiß, der letzte Herbst war für uns alle ein Schreck. Aber weil jemand einmal ins Krisenzentrum muss, ist er noch kein Pflegefall. Der Michl wird lernen, dass man zurechtkommt, solange man sich nur beschäftigt.

Und wer soll ihn woanders beschäftigen?

Bitte. Denk an dich selber.

Sie tritt zur Seite, und ich schiebe mich an ihr vorbei aus der Küche und gehe nach oben.

Ich müsste etwas von Musik verstehen. Ich müsste mit seiner früheren Lehrerin telefonieren; ich glaube, sie hat Konzett geheißen. Ein einziges Mal waren wir alle zusammen an einem Vorspiel in der Musikschule. Das war Anfang Sommer vor zwei Jahren, ein paar Tage nachdem wir erfahren hatten, dass der Michl die letzte Klasse wiederholen muss. In dem niedrigen Saal hat man zwischen den Stücken die Schuhsohlen über den gelblichen Kunststoffboden rutschen gehört. Nach dem Michl haben die Leute lange geklatscht. Seine Lehrerin ist sogar aufgestanden, aber sie war die Einzige. Ich erinnere mich an ihre offenen, schwarzen Haare auf dem grünen Jackett. Was kann unser Neffe eigentlich?, hat die Astrid sie nach dem Konzert angesprochen. Vielleicht hätte ich die Frage nicht hören sollen. Die Antwort habe ich jedenfalls nicht gehört, weil im selben Moment der Bruno nach uns gerufen hat, ohne zu merken, dass ich direkt vor ihm gestanden bin. Am nächsten Morgen hat er beim Frühstück verkündet, auf der Bühne stehen sei ja gut und recht, wenn es einer nötig habe, aber der Michl dürfe erst wieder Gitarrenunterricht nehmen, wenn er mit der Schule fertig sei.

Ich klopfe fest an die Tür meines Bruders und warte. Als er nicht antwortet, drücke ich die Klinke.

Michl, sage ich.

Der Lärm tut mir in den Ohren weh.

Michl!

Er hört auf zu spielen und schaut mich an.

Du übst viel in letzter Zeit.

Ja.

Geht es gut?

Geht immer besser.

Ich meine, geht es dir gut?

Er sagt nichts.

Geht es dir gut? Kann ich mich zu dir setzen?

Ich spiele gerade. Es ist laut.

Ich schaue auf die Poster über seinem Bett, auf den Heizkörper und die Gummistiefel daneben, auf seine rechte Hand, die über den Saiten schwebt, als würde sie unmittelbar vor dem Einsatz stehen.

Du hast ein neues Plektrum, sage ich. Schwarz.

Rot, sagt er und hält es mir entgegen.

Schön.

Er schaut mich an.

Also, sage ich. Gute Nacht.

Bis dann.

Ich ziehe die Tür zu und bewege mich erst, als ich den Bruno die Treppe heraufkommen höre.

Wenn es mich nicht gäbe, gäbe es dich auch nicht mehr; so sagt der Ludescher Bruno im Märchen vom entlaufenen Rösslein oft zu seinem Neffen, wenn Leute dabei sind. Beim Feierabendbier im Gasthaus oder in den Zigarettenpausen, wenn die Angestellten rauchend vor dem Garagentor stehen.

Miko saß auf dem Beifahrersitz und wartete, während der Geruch von Pferdeäpfeln und Sägemehl durch das Fenster in den Wagen stieg. Der Onkel lehnte an einem Zaun vor dem Hauptgebäude des Pferdehofs und tippte mit der Lesebrille auf der Nase eine Nummer in sein Handy. Ein Glück, dass der Ludescher Bruno die Kinder von seinem Bruder zu sich genommen hat, die Arbeit im Umzugsgeschäft kann dem Michl nur guttun. So oder ähnlich redeten die Leute im Dorf. Wenn solche wie der sich langweilen, sind sie bald reif für die Klapsmühle, das hat man ja gesehen. Miko holte den kleinen, schimmernden Gegenstand aus seiner Hosentasche und drehte ihn im Licht. Fast schwarz sah er aus, so dunkel war das Rot. Flach und rundlich, wie die Schuppe von einem Fisch. Erst als er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand hielt, fiel ihm die Ähnlichkeit auf. Er testete das Material, es war gut, hart, aber biegsam. Als er den Onkel auf den Wagen zukommen sah, versteckte er das kleine Ding wieder in seiner Hosentasche und die Idee zum späteren Gebrauch in seinem Hinterkopf, wo sie ihm keiner nehmen konnte.

Im Spiegel an der Innenseite der Schranktür kann ich meine Kleider auf dem Korbsessel sehen, die weiße Plastiklampe auf dem Nachttisch, daneben den Radiowecker, dessen rote Ziffern 22:08 zeigen. Ich löse meinen Pferdeschwanz und schaue zu, wie sich die strähnigen braunen Haare über meine Schultern legen. Unter den Blusen und leeren Kleiderbügeln im Schrank liegt mein Koffer, der gleichzeitig mein Wäschekorb ist und dessen Deckel immer offen steht. Im Seitenfach stecken eine Tube Handwaschmittel, mein Reisepass und ein Umschlag. Ich mache das Deckenlicht aus und stelle mich wieder vor den Spiegel. Im Schein der Nachttischlampe untersuche ich meinen Körper auf kleine Merkmale, in die sich jener Mann verlieben könnte, dem ich erzählt haben werde, mein Name sei Ariane. Ariane, würde er sagen, ich bin verliebt in die Muttermale unter deinem Bauchnabel. Ich bin verliebt in die rötlichen Flecken zwischen deinen Brüsten. Ich bin verliebt in deine kleinen weißen Füße. Ich knie mich hin, öffne das Seitenfach des Koffers und nehme den Umschlag heraus, dann schlüpfe ich in mein Nachthemd und setze mich auf die Bettkante. Auch ihre Füße sind klein und weiß auf den Fotos, und die Zehennägel rot. Ein ganzer Film für einen Nachmittag am Baggersee: sie mit Sonnenbrille auf einem blauen Badetuch, der Michl in Windeln auf seinem Holzkarren, der Vater mit einem verkohlten Stück Fleisch neben einer Thermoskanne im Gras, ich mit besorgtem Blick und einem Stofftaschentuch. Ich schiebe die Fotos zurück, da klopft es. Schnell verstaue ich den Umschlag wieder im Koffer und öffne die Tür einen Spaltbreit.

Hallo, sagt der Michl. Kann ich reinkommen?

Es ist spät.

Er bleibt vor der Tür stehen. Eine Weile lang schauen wir uns schweigend an, dann senke ich den Blick, ziehe die Tür auf und mache ihm Platz.

Kann ich das Licht anschalten?

Was willst du?

Er schaut mich an, schiebt die Hände in die Hosentaschen, schaut in meinen Kleiderschrank.

Ist das dein Reisekoffer?

Du solltest dir auch einen zulegen.

Wieso?

Weiß nicht. Willst du für immer hierbleiben?

Er schüttelt den Kopf.

Wenn ich übe, fragt er, hört man das in der Küche?

Du könntest ein bisschen leiser drehen.

Kann ich dich was fragen?

Ich warte.

Glaubst du, ich bin gut?

Keine Ahnung, sage ich. Willst du nicht wieder Unterricht nehmen?

Er zuckt die Schultern.

Hier bei uns spielt niemand ein Instrument. Nur Hackbrett oder Blockflöte.

Der Sohn vom Organisten spielt Keyboard, sage ich.

Wir schweigen.

Die Musiker wohnen in der Stadt. Er schaut wieder auf meinen Koffer. Einer muss singen können. Und wir müssten jemanden kennen, der Schlagzeug spielt.

Noch mehr Krach, sage ich.

Der Bruno würde mich auf den Dachboden sperren, sagt er und lacht. Einen Moment lang schaue ich ihn an, dann lache ich auch.

Das neue Plektrum ist gut.

Seit wann hast du das?

Wieder zuckt er die Schultern.

Gute Nacht.

Gute Nacht.

In dieser Nacht träume ich, dass mein Bruder Besuch von dem Drachen bekommt, wobei der Drache gleichzeitig eine Fee ist. Der Michl ist mehrere Jahre älter geworden und hat ein weißes, rüschenverziertes Hemd an, deswegen weiß ich, dass er aus einer reichen Familie kommt und etwas erben wird. Die Fee stellt ihm drei Fragen, und wenn er keine davon beantworten kann, dann muss er ihr einen Wunsch erfüllen. Wo willst du leben?, fragt sie. Der Michl bleibt stumm, er sitzt jetzt in eine Decke gewickelt auf seinem Bett und schaut zum Fenster hinaus. Was willst du machen? Wieder gibt er keine Antwort, er dreht nur den Kopf und schaut mich an. Wer willst du sein?, fragt die Fee. Mein Bruder presst die Lippen zusammen und verzieht den Mund zu einem puppenhaften Grinsen, dass mir mulmig zumute wird. Die Fee lacht, ihre Haut ist fast schwarz, als hätte sie ein glattes, dunkles Fell. Jetzt musst du tun, was ich dir auftrage, sagt sie. Nimm meine Siebenmeilenstiefel und geh in die Stadt. Ich habe dort eine Schuppe verloren, die sollst du finden und mir zurückbringen. In diesem Moment weiß ich, dass der Drache im Bett meines Bruders schlafen wird, bis er zurückkommt. Er wird mit uns zu Abend essen und an der Kloschüssel seinen Panzer putzen. Das will ich nicht, schreie ich. Der Michl schaut mich an. Und was willst du?, fragt er, aber bevor ich antworten kann, fällt mir ein, dass ich die Fee bin und dem Michl die Stiefel anziehen muss. Dann wache ich auf.

3

Es ist letzten Oktober passiert. In den Schulferien wollten wir zum ersten Mal gemeinsam in Urlaub fahren, seit wir bei Bruno und Astrid wohnen. Davor haben wir gelebt wie in einem Haus, in dem immer eine Reparatur nach der nächsten anfällt. Aber plötzlich fängt es an, gut zu laufen, der Michl macht im Sommer den Abschluss und wird im freiwilligen zehnten Schuljahr aufgenommen, und der Vater bekommt seine Frühpension zugesprochen. Also hat der Bruno vorgeschlagen, dass wir in den Herbstferien alle zusammen nach Portugal ans Meer fahren, zu fünft, als Familie. Es war das erste Mal, dass ich uns das geglaubt hätte.

In der Vorfreude ist niemandem aufgefallen, dass der Michl die ganze Zeit kein einziges Wort zu unseren Urlaubsplänen gesagt hat. Zwei Tage vor der Abreise wird er krank und verpasst die letzten Schultage. Der Vater und der Bruno machen nur Witze, dass dem Dünnschiss zwei Tage schon reichen, um einen Magen durchzuputzen. Am Donnerstagabend sagt uns der Michl über einer Schüssel Hühnerbrühe mit Reis, dass er nicht mitkommen kann. Als wir versuchen, ihm das auszureden, wird er urplötzlich laut und schreit, wenn wir ihn zwingen, ersäuft er sich am ersten Tag im Meer. Die Astrid macht ihm einen Tee und bringt den Michl in sein Zimmer. Danach einigen wir uns darauf, abzuwarten, wie es ihm nach dem Aufwachen geht. Ich glaube nicht, dass ihn jemand ernst genommen hat, aber gut geschlafen haben wir in dieser Nacht wohl alle nicht. Am nächsten Morgen wache ich von einem Hustenanfall auf, der durch das gekippte Fenster in mein Zimmer dringt. Draußen im Gang stoße ich fast mit der Astrid zusammen. Im Badezimmer brennt das Licht, und ihre sämtlichen Kosmetiksachen sind über den Boden verstreut. Über dem Treppengeländer ist bis ins Erdgeschoss ein langer, roter Strich an die Wand gemalt. Erst als wir die Schrift auf dem Garderobenspiegel und dann auf allen anderen Spiegeln im Haus gesehen haben, fällt mir auf, dass auch der im Badezimmer beschmiert ist. Ich höre zu, steht überall geschrieben, mit rotem Lippenstift. Wir finden den Michl im Halbschlaf unter einem Strauch im Garten, die Hände mit den Fetzen eines weißen T-Shirts umwickelt. Die Haut darunter ist ohne einen Kratzer.

Nach drei Tagen ist er aus dem Krisenzentrum zurückgekommen; da waren unsere Hotelzimmer in Portugal storniert, und alle haben wir hinter jeder ausgebesserten Stelle den übersehenen Konstruktionsfehler vermutet, der das Haus zum Einsturz bringt, wenn man nur mit dem kleinen Finger dagegenstößt. Der Bruno hat die Anmeldung für das zehnte Schuljahr zurückgezogen, und eine Woche später war dem Michl sein erster Arbeitstag im Umzugsunternehmen Ludescher.

Am Samstag steige ich den alten Schlossweg hinauf auf den Hügel, wo die Ruine steht. Das Gras um die Mauern ist gelb und trocken, hinter einem schiefen Zaun liegt ein Spielplatz mit zwei Schaukeln und einem rostigen Karussell. Ich gehe um die Ruine herum und lehne mich mit dem Rücken gegen die furchige Nordwand, die Jacke zugezogen bis zum Kinn, sodass mir der Wind nur einzelne Haarsträhnen aus dem Kragen bläst. Von hier oben sieht das Dorf friedlich aus, wie eine harmlose Ansammlung von Häusern, als wären die Fenster blind oder die Häuser würden schlafen. Keine Gefahr scheint von ihnen auszugehen. Wenn das Dorf im Inneren so wäre, wie es von hier oben aussieht, dann könnte ich unbeschwert mit jemandem durch die Gassen schlendern, vielleicht mit dem Mann, der mich Ariane nennen wird. Wir könnten mit den Händen über den rauen Putz der Häuser fahren und an den Blumenkästen riechen, könnten in die leeren Stuben schauen, wo nur manchmal eine Katze auf den Dielenbrettern sitzen würde. Nie müssten wir den unsichtbaren Blick spüren, der in allen Fenstern seine Augen hat. So unbehelligt wären wir, dass wir bis zum Ortsrand spazieren könnten, wo dieser traurige Überrest von einem Haus über einer leeren, schwarzen Grube steht. Dann würde ich ihm erzählen, wie ein paar Monate nachdem der Michl, der Vater und ich dort ausgezogen waren, dem Vater seine Destillierkolben und die Schnapsflaschen im Keller in Flammen aufgegangen sind (wohl kaum von selber, wie die Polizei festgestellt hat; allerdings kann bis heute niemand sagen, ob das Kellerfenster eingeschlagen wurde oder durch eine Explosion zerbrochen ist). Meine Zeichenlehrerin hat damals die Astrid angerufen, nachdem ich über Wochen nichts anderes zeichnen wollte als den aufgeborstenen Holzboden im Erdgeschoss, die verkohlten Möbel, die schwarzen Fenster. In der nächsten Lektion habe ich sie gefragt, ob ich ihr das Haus einmal zeigen soll, aber sie hat gemeint, das gehe nicht, weil mein Onkel ja schon einen Käufer für das Grundstück gefunden habe.

Als ich nach Hause komme, fängt es gerade an zu regnen. Der Hof ist leer, im Kies sieht man die Reifenspuren von Brunos Pick-up, im Zimmer von meinem Bruder sind die Vorhänge gezogen. Ich schließe die Tür auf und hänge meine Jacke an die Garderobe. Die Küchentür am anderen Ende des Vorzimmers steht eine Handbreit offen; erst vom Treppenabsatz aus sehe ich den Vater und die Astrid am Esstisch. Ich will schon hinaufsteigen, da höre ich den Vater sagen:

Wenn ich dich nur einmal anfassen dürfte. Man kann nicht alles im Kopf lösen.

Ich bleibe stehen und halte die Luft an. Vorsichtig drücke ich mich neben dem Türrahmen gegen die Wand und bemühe mich, leise zu atmen. Der Vater sitzt auf seinem Hocker und scheint mir direkt in die Augen zu schauen, die Astrid steht neben ihm und hat mir halb den Rücken zugedreht.

Astrid, sagt der Vater. Er tastet neben ihr durch die Luft, findet erst das Knie und schließlich ihre Hand.

Bernhard, sagt sie.

Er legt seine Hand auf ihre Hüfte, dann streicht er den Oberschenkel entlang bis zum Rocksaum, schiebt die Hand unter den Stoff und fährt den Oberschenkel an der Innenseite wieder hinauf. Die Astrid macht ein Geräusch, als würde sie gleichzeitig seufzen und erschrecken.

Bernhard, sagt sie wieder. Sie streicht mit den Fingern über seine schwarzen Haare, dann über die unrasierte Wange. Wenn du nur, sagt sie. Ein paar Jahre früher.

Einen Moment lang bin ich sicher, dass sie diese Szene für mich vorbereitet haben. Ich sehe mich schon in die Küche treten und alles auflösen, unser Lachen, meinen freundlichen Applaus. Dann stelle ich mir ihre Gesichter vor, dem Vater sein schmeichelndes Lächeln und die bemühte Stimme, seinen linkischen Gang auf mich zu, unter dem ich mit jedem Schritt kleiner werden müsste, bis er zum Schluss über mich stolpern und sich an der Türklinke die Zähne ausschlagen würde. Ich bleibe stehen und sehe zu, wie er mit seinem Hocker ein Stück nach vorne rückt und die Stirn gegen ihren Bauch legt.

Es ist nie zu spät, sagt er – und ich denke, wenn ich auch das noch schlucke, wird es doch zu spät sein, und zwar für mich. Er zieht die Hand unter dem Rock hervor und stützt sich auf die Tischkante, dann steht er mit einem Ruck auf und greift nach der Astrid ihrer Schulter, aber die Astrid weicht zurück, sodass er fast das Gleichgewicht verliert. Ein paar Sekunden stehen sie so da, der Vater gebeugt und schnaufend wie ein Athlet nach dem 100-Meter-Lauf, die Astrid mit aufrechtem Rücken, die Finger in den Rock gekrallt.

Du hast eine Familie, sagt sie, dann dreht sie sich um, zieht die Küchentür auf und geht an mir vorbei, als hätte sie mich nicht gesehen. Erst auf der Treppe bleibt sie stehen.

Dein Vater ist ein sehr fescher Mann, sagt sie, ohne sich nach mir umzudrehen. Dann verschwindet sie im Obergeschoss. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer kracht zu, und es klingt, als würde damit etwas zu Ende gehen, das so lange angedauert hat, dass ich nicht mehr weiß, was es war.

Als ich aufwache, liege ich angezogen auf dem Bett. Die Nachttischlampe brennt, der Radiowecker zeigt 03:27. Ich setze mich auf und sehe mich im Zimmer um. Die Bettwäsche, der Schrank, die Fotos an den Wänden, alles sieht aus, als hätte es ein anderer eingerichtet. Mich fröstelt. Ich öffne den Kleiderschrank, da fällt mir auf, dass mein Reisekoffer weg ist. Nur noch die Schmutzwäsche liegt am Schrankboden. Ich mache die Zimmertür auf und lausche in den Gang hinaus, das Haus ist still. Dann höre ich durch das offene Fenster Schritte auf dem Kies, und in diesem Moment sehe ich alles, was in den nächsten Minuten passieren wird, bis ins kleinste Detail vor mir. Wie eine Schauspielerin in einem Film, die sich in allem, was sie sagt und tut, nur nach dem Drehbuch zu richten braucht, nehme ich mit sicheren Handgriffen ein paar Anziehsachen aus dem Schrank und stopfe sie zusammen mit meinem Necessaire in einen Rucksack; ich mache das Licht aus und schleiche aus meinem Zimmer und die Treppen hinunter bis zur Haustür. Als ich auf den Kies trete, macht der Michl ein Gesicht, als hätte er ein Gespenst gesehen.

Scheiße, flüstert er. Er atmet tief ein und wieder aus. Was machst du hier?

Du hast meinen Koffer.

Ich bringe ihn wieder zurück.

Ich schüttle den Kopf.

Du kommst nicht wieder zurück.

Und?

Ich komme mit.

Nein.

Ich kann auch schreien.

Er schaut mich an.

Und deine Matura?

Und deine Krankheit?

Ich bin nicht krank. Es geht mir besser.

Ich zucke die Schultern.

Wenn es hier geht, geht es überall.

Einen Moment lang schweigen wir.

Aber ich fahre, sagt der Michl.

Vor Jahren habe ich mir die Geschichte vom entlaufenen Rösslein anders vorgestellt. Ich war mir sicher, der Onkel würde bei nächster Gelegenheit einen Unfall haben; vielleicht wäre er derjenige, der über die Treppe vor dem Dorfladen stürzt. Aber jetzt hat sich niemand das Genick gebrochen. Wir haben die Futtersilos hinter uns gelassen, das Sägewerk und den Pferdehof. Ich zähle die letzten Straßenlampen des Dorfs, vor uns verschwindet die Landstraße in der Dunkelheit wie ein Seil in einem Brunnenschacht. Kurz vor dem Ortsschild stehen sie in einer Reihe am Straßenrand und sehen uns entgegen: der Drache, dessen schwarzer Panzer im Licht der Scheinwerfer rötlich schimmert, die Fee, ganz verdunkelt im Schatten seines mächtigen Körpers. Und hinter ihnen eine Frau mit roten Zehennägeln und einem Badetuch um die Schultern, die Augen hinter spiegelnden Brillengläsern.

4

Ich wünschte, ich könnte alles mit den Augen des Drachen sehen. Uns kann ich so sehen, ganz klein, wie wir in dem weißen Pick-up über irgendeine dunkle Landstraße in Vorarlberg fahren. Aber davon habe ich nichts, ich bin jetzt hier und möchte jetzt hier sein, mit den beschlagenen Seitenscheiben, dem Geräusch der Klimaanlage, dem kalten Geruch nach Ledersitzen und altem Duftbaum. Trotzdem gibt es einige Dinge zu klären, bevor wir diese Enge verlassen. Dazu wäre es hilfreich, mit dem Drachen zu fliegen, der jetzt ebenfalls das Dorf verlässt, aber nicht wie wir, auf der Ebene. Er ist von der Landstraße abgehoben und hat mit ein paar Flügelschlägen die Dächer der nächsten Häuser unter sich gehabt. Dann ist er in einer weiten Spirale immer höher gestiegen, hat erst einzelne Straßen und Ansammlungen von Häusern und schließlich die ganze Ortschaft überschauen können.

Wahrscheinlich wird er in den nächsten Tagen über dem Dorf und der umliegenden Gegend kreisen, um nach seiner Schuppe zu suchen. Ich sage er, aber ich könnte auch sie sagen. Der Drache ist die Fee, die Fee ist der Drache. Während er als listige Fee den Michl im Traum mit der Suche beauftragt hat, sichtet sie als Drache von oben die ganze Umgebung – zwei Wesen, die dasselbe Wesen sind, aber nicht immer weiß der eine, was der andere gerade treibt. Der Drache weiß nur, dass die Zeiten, in denen die Leute Reichtum in Form von goldenen Münzen und Diamantringen angehäuft haben, lange vorbei sind, und weil er nie verstanden hat, was danach gekommen ist, hütet er jede seiner glänzenden Schuppen wie ein Stück von einem kostbaren Schatz. Seine Traurigkeit über die verlorene Schuppe ist auch die Traurigkeit über den Verlust einer Welt, in der er sich ausgekannt hat. Viel früher, zu der Zeit, in der das Märchen vom fliegenden Landkartenzeichner spielt, war eine Schuppe noch eine Schuppe und ein Schatz war ein Schatz. Der Landkartenzeichner suchte den Drachen in seiner Höhle auf und schlug ihm einen Handel vor: Das Tier sollte den Zeichner auf seinem Rücken mitfliegen lassen, und dafür würde er ihm die Hälfte der Reichtümer abtreten, die der Herzog als Belohnung ausgeschrieben hatte für den Ersten, der eine Karte des ganzen Reichs anfertigen würde. Sie einigten sich, und natürlich war der Landkartenzeichner schneller als alle anderen mit seiner Karte fertig. Und natürlich wollte er seine Belohnung nicht teilen. Er kaufte sich ein teures Haus in der Stadt und versteckte das, was von seinen Reichtümern übrig war, an einem Ort, den er auf der Karte nicht eingezeichnet hatte. Was den Drachen anging, so lebte der Zeichner eine Weile friedlich in der Überzeugung, solange er sich nicht aufs offene Land begeben würde, könnte das Tier ihn nicht finden. Nur kann der Drache von so weit oben, dass ihn kein Mensch mehr sieht, überall noch eine Murmel finden. Er brannte schließlich rings um das Haus des Zeichners alles nieder und ließ den Mann noch das Versteck verraten, bevor er ihn verschluckte.

Vor so einer Strafe müsste ich mich nicht fürchten. Wir würden uns zusammentun, der Drache und ich. Gemeinsam hätten wir den Überblick. Mit seinen scharfen Augen würden wir die kleinsten Details sehen, und meine Aufgabe wäre es, die Lücken zu füllen, dort, wohin weder der Drache noch sonst jemand sieht, und mit Worten eine Karte zu zeichnen. Am Ende würden der Michl und ich ihm die Schuppe zurückgeben, und der Drache würde begreifen, dass auch er ein neues Bild gewonnen hätte von der Welt, in der wir leben.

Mit der Karte anfangen würden wir beim Ludescher Bruno, der erst bemerkte, dass es schneite, als die Ortsgrenze schon hinter ihm lag. Im Licht der übrigen Geschehnisse schien ihm der späte Schneefall jetzt an Merkwürdigkeit zu verlieren (als wäre die Merkwürdigkeit eine Strahlkraft), obwohl seit den Ostertagen zwei Wochen vergangen waren und es auf Ende April zuging. Gestern Nachmittag noch hatte er bei einem Glas Apfelmost in der Küche gesessen und seiner Frau vom Fenster aus zugeschaut, wie sie die Maiglöckchen im Garten umsetzte, und alles hatte seine Ordnung gehabt. Dann war eine Folge von sonderbaren Dingen passiert, mit einer scheinbaren Planmäßigkeit, die es ihm geradezu leicht machte, über die einzelnen Vorfälle nicht in Wut zu geraten. Erst die Entdeckung, dass Miko und ich mit seinem Pick-up durchgebrannt waren, dann das seltsame Verhalten seiner Frau, die ihm das Frühstück mit einem Getue serviert hatte, als wolle sie sich für etwas entschuldigen. Und jetzt der Schnee.

Das Rasseln von Kieselsteinen, die gegen den Kotflügel des Wagens sprangen, riss ihn aus seinen Gedanken. Fertig mit der Grübelei, murmelte er und schaute aus dem Fenster. Winzige Schneeflocken hingen wie die Teile eines riesigen Mobiles in der Luft. Auf den Feldern lag ein lichter, weißer Flaum; was vom Schnee auf die Straße gefallen war, hatte sich mittlerweile in bräunlichen Matsch verwandelt. Da und dort stand eine schmale Rauchfahne oder ein ferner Vogelschwarm wie aufgemalt am Himmel, der ansonsten die Farbe von verwässerter Milch hatte.

Wissen Sie noch alles, was im Wagen gelegen ist?

Mit einem Seufzen riss sich der Ludescher von der Welt hinter dem Fenster los; sie war ihm einen Moment lang wie ein magischer Ort vorgekommen, an dem niemand für irgendetwas Verantwortung zu übernehmen hatte. Der Kollege am Steuer war der Schäfle Dietmar, der seit über zehn Jahren die Fahrzeuge des Umzugsunternehmens Ludescher verwaltete und die Anliegen der Angestellten vertrat. Die beiden Männer waren seit einigen Jahren praktisch gleichberechtigte Geschäftspartner, was den Schäfle nicht davon abhielt, seinen Chef nach wie vor zu siezen.

Was soll ich wissen?

Wissen Sie noch alle Gegenstände, die sich zum Zeitpunkt des Diebstahls im Wagen befunden haben?

Ich will nur mein Auto zurück.

Und wenn außer dem Fahrzeug noch anderes entwendet worden ist?

Der Ludescher winkte ab.

Es ist überhaupt nichts entwendet worden, brummte er. Wenn ich Zeit totzuschlagen habe, brauche ich dafür nicht zur Polizei zu gehen. Oder würden Sie Ihren Sohn anzeigen, wenn er sich ohne Ihr Einverständnis den Familienwagen ausborgt?

Sein Kollege schwieg. Der Ludescher wusste natürlich: Dem Schäfle war bekannt, dass der Miko nicht sein Sohn war. Er setzte an, noch etwas zu sagen, ließ es aber bleiben und warf nur einen kurzen Blick auf den Schäfle, der zum Schutz gegen das blendende Schneelicht ein Paar dunkler Sonnengläser auf sein altmodisches Brillengestell geklemmt hatte. Seine schmalen, behaarten Hände hielten sich am Lenkrad fest wie die eines Fahrschülers, und unter seinem gestreiften Hemd wölbte sich ein beginnender Altersbauch.

Wir bleiben in einer Haltebucht stehen. Unter unseren Füßen knirscht es. Schwere weiße Flocken fallen durch die Luft, es ist still und mit dem Schnee und dem Mondlicht heller als unten im Dorf. Hin und wieder hört man eine Kuhglocke. Der Michl tritt gegen einen Zaunpfahl.

Du bist in die Berge gefahren, sage ich. Wenn wir hier einen Zug nehmen, kommen wir nicht weit.

Er dreht sich zu mir um.

Sollen wir nach Feldkirch?

Ich öffne die Wagentür und schaue ins Handschuhfach. Neben einer dicken grünen Mappe liegen eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug.

Rauchst du eine mit?, frage ich.

Er kommt zum Auto gestapft und streckt mir über das Dach die Hand entgegen. Wir setzen uns nebeneinander auf die Kühlerhaube, ich zünde die Zigaretten an, wir rauchen. Gegenüber liegen gestapelte Baumstämme unter einer braunen Abdeckung.

Ich frage mich, was sie zu Hause machen werden, wenn sie es bemerken, sage ich.

Der Michl hustet.

Was sollen sie schon machen?

Weiß nicht. Aber so oft sind wir noch nicht mitten in der Nacht verschwunden. Und dem Bruno sein Pick-up ist weg.

Der Bruno, sagt der Michl und lacht.

Was?

Er wird schauen, dass er sein Auto zurückbekommt und dass er am Abend den Blockbuster nicht verpasst. Und dann ist Montag.

Und was wird die Astrid denken? Oder der Vater?

Ein Eichhörnchen huscht hinter den gestapelten Baumstämmen hervor und reckt den Kopf in die Höhe. Als man aus einiger Entfernung einen ratternden Motor beschleunigen hört, verschwindet es unter der Plane.

Über dich?, fragt der Michl.

Was meinst du?

Er zuckt die Schultern.

Ich glaube, ich könnte genauso gut schon ein paar Jahre weg sein.

Wir schweigen. Kurz schaue ich den Michl an. Früher hat uns der Vater ab und zu einmal am Nachmittag aus der Schule genommen, wenn er wieder das ganze Wochenende in der Schreinerei geblieben ist oder allein vor seinem Fernseher im Werkzeugschuppen. Oft nur mich, manchmal uns beide. Ein Lichtstrahl biegt um die nächste Serpentine; erst jetzt nehme ich das Motorengeräusch wieder wahr. Es ist ein Moped, das talwärts auf uns zugefahren kommt. Zwei Gestalten mit Helmen sitzen darauf. Die vordere nimmt eine Hand von der Lenkstange und zeigt auf uns, ohne zu verlangsamen, die hintere dreht den Kopf. Als sie in die nächste Kurve einbiegen, meine ich, ein Wort hinten auf ihrer Jacke zu erkennen, etwas mit O und B, Obst, oder Obacht? Das Motorengeräusch wird leiser.

Fahren wir, sagt der Michl und schnippt die Zigarette in den Schnee.

Ich nicke.

Komme gleich.

Auf der anderen Straßenseite liegt ein Graben mit ein paar hohen Sträuchern. Ich laufe hinüber und gehe hinter den Büschen in die Hocke. Als ich wieder aufgestanden bin, sehe ich, dass ich keine zehn Zentimeter neben einen kleinen, rosaroten Schuhlöffel gepinkelt habe, der halb unter einem Strauch versteckt liegt. Er ist verdreckt und ein bisschen nass vom Schnee. Ich klopfe ihn gegen meinen Oberschenkel, stecke ihn in die Jackentasche und steige wieder zum Parkplatz hinauf. Der Michl sitzt schon im Auto und startet den Motor, als er mich kommen sieht.

die Frau