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Buch

Elaines magische Gabe ist so gering, dass sie gerade ausreicht, um ihr eine Stellung in der Großen Bibliothek der Goldenden Stadt zu verschaffen. Als sie für die Tochter eines mächtigen Adligen ein seltenes Buch aus dem Magazin holen will, löst sie bei der Berührung des Folianten einen uralten Fluch aus. Plötzlich weiß Elaine alles, was in jedem Buch der Bibliothek steht. Auch die verbotenen Sprüche der schwarzen Magie haben sich in ihrem Kopf festgesetzt.

Mit einem Mal ist sie nicht mehr die einfache Hilfsbibliothekarin, und mächtige Magier und Adlige ringen um die Kontrolle über Elaines Wissen. Auch die Inquestio ist auf sie aufmerksam geworden und beobachtet sie misstrauisch. Da hilft es auch wenig, dass Elaine gar nicht über die magische Macht verfügt, um die schwarzmagischen Sprüche, die sie nun kennt, einzusetzen.

Doch es kommt noch schlimmer! Elaine erkennt, dass der Fluch, der sie getroffen hat, kein Unfall gewesen war. Finstere Mächte haben die Geschehnisse von langer Hand geplant, und Elaines einzige Hoffnung auf Hilfe ist der junge Inquestor, der ihr nicht mehr von der Seite weicht …

Autor

Christopher Nuttall wuchs in Edinburgh auf, wo er auch Geschichte studierte. Bereits während er noch an der Universität war, verdiente er sein Geld mit Schreiben. Chris lebt derzeit in Borneo mit seiner Frau, Muse und Kritikerin Aisha.

Weitere Titel in Planung

Christopher Nuttall

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Die Wissende

Aus dem Englischen
von Dr. Hans Link

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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Bookworm« bei Elsewhen Press, Dartford Kent 2013.

1. Auflage
Deutsche Erstausgabe Januar 2015
bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München.
Copyright © der Originalausgabe 2013 by Christopher Nuttall
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung und -illustration:
© Melanie Miklitza, Inkcraft
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-14382-4

www.blanvalet.de

Für meine Frau Aisha
in Liebe und Dankbarkeit

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Prolog

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Er wartete. Allein und in Dunkelheit.

An die Finsternis hatte er sich schon lange gewöhnt, auch wenn er sie mit jedem Atemzug durch seine verwüstete Kehle verfluchte. Die Macht, die ihn einst hoch erhoben und zu einem der stärksten Zauberer, zu einem der Herren der Welt, gemacht hatte, war alles, was ihn noch am Leben erhielt. Welch bittere Ironie, dass all seine Macht, all die Geheimnisse, die seine gefährliche Erforschung der Grenzen der Magie ihm eingetragen hatte, nun zu nichts anderem mehr zu gebrauchen waren. Ob er dies dem letzten Fluch seines Feindes oder der unerwarteten Gabe seiner Schutzherren verdankte, blieb ungewiss. Was zählte, war lediglich, dass er nicht sterben konnte.

Die Zeit verging schnell in der ewig gleichbleibenden Dunkelheit. Nach Rechnung der Sterblichen lag seine letzte katastrophale Niederlage bereits Jahre zurück, und doch lief sein Kampf um die Macht vor seinem inneren Auge zwanghaft immer wieder aufs Neue ab. Wenn er dies getan oder jenes gelassen hätte … Nur eine einzige Überlegung gestattete er sich nie: Was wäre geschehen, wenn er sich entschieden hätte, die Versuchungen, mit denen die Magie ihn verlockte, ganz zu meiden? Jemand zu sein, der zufrieden, aber unbedeutend war? Sich niemals mit dem Schicksal der ganzen Welt abzugeben? Das wäre ein Leben schlimmer als der Tod gewesen, übler als die Auseinandersetzung mit den zehn Millionen Teufeln, die nach seiner Seele lechzten. Er hätte seinen Griff nach der Macht nicht vermeiden können, selbst wenn er um sein mögliches Schicksal gewusst hätte. Macht war bereits seit sehr langer Zeit sein einziger Antrieb gewesen.

Sie hatte ihn in seinen Untergang getrieben. Schon vor langem hatte er die Stiche von Hunger und Durst hinter sich gelassen; seine Magie hielt ihn wider jede Vernunft am Leben. Seine Seele blieb an einen Körper gefesselt, der ständig dem Tod nahe war. Wahnsinn hatte ihn mehr als einmal heimgesucht, seinen Geist bestürmt und dauerhafte Erlösung von seinen Qualen versprochen, aber er weigerte sich, den letzten Schritt zu tun und in den Abgrund zu springen. Er wollte weder sterben noch sich aufgeben. Das war das Einzige, was ihn noch hielt.

Und er hatte einen Plan.

Anfangs war es nur eine Fantasie gewesen, einer der vielen Träume von Vergeltung, die ihn quälten, während er still und bewegungslos in der dunklen Halle lag. Wieder und wieder war er darauf zurückgekommen, bis sich schließlich in seinen Gedanken festsetzte, dass der Plan keine Fantasie war. Seine Fähigkeit, die Welt um sich herum zu beeinflussen, war begrenzt und winzig im Vergleich zu den Taten, die er vollbracht hatte, bevor er in Ungnade gefallen war, aber gleichwohl existent. Langsam und auf der Hut vor jedem Anzeichen, dass seine Feinde auf seine Offenbarung warteten, um ihn zu zerstören, griff er mit seinem Geist aus. Seine Schachfiguren ins Spiel zu bringen hatte großer Sorgfalt bedurft, und mehr als einmal war sein Plan dem Scheitern nahe gewesen, aber er hatte Geduld. Seine Unsterblichkeit, einst ein Fluch, erlaubte ihm, langsam vorzugehen, wo der Geist Sterblicher es eilig haben musste.

Ein Samen, der auf fruchtbaren Boden gesät wurde. Versprechen, die denjenigen gemacht wurden, die nicht fähig waren, die langfristigen Ziele zu erkennen. Die langsame Verderbnis jener, die sich allen Lastern gegenüber immun wähnten. Eine Spur von Macht hier, das Angebot von Reichtum dort … Stück für Stück schmiedete er sich seine Werkzeuge. Sein Einfluss reichte bis in die Heimstatt seiner Feinde und machte sich dort breit. Niemand sah ihn am Werk bei einer Reihe von Zufällen. Sie würden ohne einen Beweis nicht einmal glauben, dass es ihn noch gab, und seit Hunderten von Jahren hatte ihn kein Auge mehr erblickt.

Und langsam, aber sicher kam das Endspiel näher.

Es wurde Zeit, den ersten Dominostein umzustoßen …

Und dann würde ein mächtiges Reich zusammenstürzen.

Nutall_Rahmen.ai

Kapitel 1

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Die Sonne ging über dem Wachturm auf und warf ihre Lichtstrahlen über die glänzenden Tempel der Goldenen Stadt. Ein vielfältiger Chor der Priester begrüßte das Morgenlicht. Die Glocken erklangen, jede einzelne für einen anderen Gott. Ihre langanhaltenden Töne schienen in der Luft zu hängen und von den fünf Bergen widerzuhallen, die die Metropole umgaben, bevor sie langsam verklangen. In ihrem Nachhall wirkte der Lärm der zum Leben erwachenden Stadt dumpf und verwaschen. Nichts konnte mit dem Morgenchor konkurrieren.

Elaine Elternlos verwünschte den Morgen und versuchte, die Augen zu schließen und wieder einzuschlafen. Die winzige Wohnung hatte sich schon morgens furchtbar aufgeheizt, aber sie war eben alles, was sie sich leisten konnten. Sie wälzte sich im Bett herum, zog sich die Decke über den Kopf und wusste, dass es nichts nutzen würde. Es war bereits zu spät, um wieder einzuschlafen. Dass sie Daria aufstehen und in ihr Zimmer kommen hörte, bestätigte nur, dass sie selbst aufstehen musste.

»Hoch mit dir, du faules Stück«, rief Daria und zog an Elaines Bettdecke. »Du wirst doch wohl nicht schon wieder zu spät kommen wollen, oder?«

»Nein«, sagte Elaine. Sie war bereits zweimal wegen Verspätung getadelt worden, obwohl es eigentlich nicht ihre Schuld gewesen war. Aber niemand interessierte sich für Ausreden, nicht in der Goldenen Stadt. Es gab keinen Mangel an ausgebildeten, aber nicht besonders begabten Magiern. »Ich will auf gar keinen Fall zu spät kommen.«

Daria schnaubte, als Elaine die Decke zurückwarf. Sie stand bereits vor dem Spiegel und legte sich ihre verzauberten Ohrringe und die Kette an. Elaine verspürte einen Stich des Neids – ihre rothaarige Freundin konnte sich vor Bewunderern kaum retten –, bevor sie die Beine aus dem Bett schwang, aufstand und sich im Bad kaltes Wasser ins Gesicht spritzte, um den letzten Rest Schlaf wegzuwaschen. Es gab Zauber, mit denen man sich selbst ohne negative Folgen aufwecken konnte, aber sie war nie in der Lage gewesen, sie zu erlernen.

Und außerdem, flüsterte ihr die Stimme eines ihrer Lehrer ins Ohr, hat Magie ihren Preis …

Elaine schüttelte die Erinnerung ab, während sie vor den Spiegel trat und sich missmutig musterte. Sie sah ein unscheinbares Mädchen mit hellbraunem Haar, dunklen Augen und einer etwas zu großen Nase, die nahelegte, dass ein Elternteil von ihr – wer immer ihre Eltern gewesen sein mochten – adlig gewesen war. Auf jeden Fall hatten die anderen Kinder im Waisenhaus diese Theorie vertreten, wie auch später ihre Mitschüler in der Schule der Einzigartigen. Man hatte sie für ihre Mutterlosigkeit gehänselt, seit dem Tag, an dem klar war, dass niemand Interesse daran hatte, sie zu adoptieren. Elaine war sich nicht ganz sicher, warum sie in die Schule der Einzigartigen aufgenommen worden war. Ihre magische Befähigung war sehr begrenzt, kaum mehr als jede Kräuterhexe sie besaß. Eine Kräuterhexe würde wahrscheinlich jedem, der echte Magie brauchte, nützlicher sein als sie.

Sie zog ihr Nachthemd aus und griff nach ihrer Tunika und ihrem Hemd. Als Absolventin der Schule der Einzigartigen war sie berechtigt, Schwarz zu tragen, aber sie hatte noch nie den Drang verspürt, ihre sehr eingeschränkte Begabung zur Schau zu stellen. Stattdessen trug sie gedecktes Braun, das zu ihrem Haar passte. Es erfüllte einen rein praktischen Zweck. Sie hatte kein Geld, das sie für ihr Aussehen verschwenden konnte.

»Ich komme wahrscheinlich heute Abend erst spät nach Hause«, sagte Daria. »Jade hat davon gesprochen, in die Arena zu gehen und dann weiter zu einem seiner Lieblingsspeisehäuser. Und danach … wer weiß?«

Elaine wurde rot. Die Erziehung im Waisenhaus hatte sie nicht auf das Leben einer freien Frau in der Goldenen Stadt vorbereitet. Zwar verspürte sie wirklich den Wunsch, zum Tanzen auszugehen und sich mit jungen Männern zu amüsieren – oder versuchte sich das zumindest einzureden, denn sie war in dieser Sache mit sich selbst nicht ganz im Reinen. Insgeheim hätte sie das alles vielleicht liebend gern getan und all ihre Hemmungen einfach abgeschüttelt. Sie blickte zu Daria hinüber, die gerade in ein rotes Kleid schlüpfte, das genug von ihren Beinen und ihren Brüsten zeigte, um Elaine erneut erröten zu lassen. Ihre Freundin hatte die Gabe, leicht Menschen kennenzulernen und Freunde zu gewinnen, etwas, das Elaine fehlte.

»Viel Spaß«, sagte sie mechanisch. Daria bemerkte es nicht, aber das tat sie sowieso nie. Sie war eine gute Freundin, vielleicht die beste Freundin, die Elaine hatte, doch sie schien nie zu merken, wenn etwas nicht stimmte. »Versuch dir nichts einzufangen, was du dir nicht einfangen willst.«

Daria kicherte, als sie in die kleine Küche ging. »Ich pass schon auf mich auf«, versprach sie. »Und du machst dich besser auf den Weg. Miss Pingel wird dich in etwas Brauchbareres verwandeln lassen, wenn du wieder zu spät kommst.«

Elaine nickte, griff nach ihrem Zauberstab und schob ihn in das kleine Halfter, das in ihrem Ärmel versteckt war. Die meisten Magier verbargen ihre Zauberstäbe in dimensionalen Taschen, wo sie sie sofort griffbereit hatten, aber Elaine hatte nie die Begabung oder das Geschick für so komplizierte Zauber besessen. Außerdem war es manchmal ganz nützlich, keine Magie benutzen zu müssen, um an ihren Zauberstab heranzukommen. Ohne ihn war sie ohnehin kaum in der Lage, überhaupt irgendwelche Magie zu wirken.

»Viel Spaß«, wiederholte sie. Daria war schließlich ihre Freundin. »Ich werde versuchen, nicht auf dich zu warten.«

Der Zauber, der auf der Tür lag, zischte sie an, als sie die Hand auf die Klinke legte; er erkannte widerstrebend ihre Signatur und erlaubte ihr, die Wohnung zu verlassen. Nicht einmal mit vereinten finanziellen Mitteln hatten sie sich eine Wohnung in den besseren Vierteln der Stadt leisten können. Es war, als habe die gesamte Bevölkerung des Reiches sich entschlossen, in die Goldene Stadt zu ziehen. Der Vermieter verlangte eine unglaublich hohe Summe, zu hoch, um sie sich noch leisten zu können, sollte sie ihren Job verlieren. Im Stillen verfluchte sie den Mann, während sie die Treppe hinunterging und auf die Straße trat. Was immer er mit dem Geld machte, das er von seinen Mietern verlangte, eine Renovierung der Wohnungen gehörte nicht dazu. An der Haustür gab es noch nicht einmal einen Sicherheitszauber.

Wie immer wimmelte es auf der Straße von Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit waren oder lediglich durch die Stadt schlenderten, um sich die Hauptstadt des Reiches anzusehen. Elaine musste über den Ausdruck auf manchen Gesichtern lächeln – wenn wieder jemand mit offenem Mund zum Wachturm hinaufblickte oder hinüber zum Kaiserpalast. In der Goldenen Stadt war Geschichte geschrieben worden, vom Ersten Nekromantischen Krieg bis zum Verschwinden des Verlorenen Prinzen. An jeder Ecke sah die Statue eines Edelmanns aus den Kriegen oder eines besonders legendären Zauberers missbilligend auf die Touristen herab, die tagtäglich die Straßen überschwemmten. Zu ihren Zeiten, davon war Elaine überzeugt, war die Goldene Stadt wahrhaft golden gewesen.

Sie achtete darauf, den Pferden und Wagen der Adligen auszuweichen, die zum Kaiserpalast unterwegs waren, um dort zum Regentschaftsrat oder dem Erzhexer vorgelassen zu werden. Früher einmal hatte sie sich gefragt, ob ihre magische Begabung ausreichen würde, um ihr einen Platz unter den Reichen und Mächtigen zu sichern. Aber wie all ihre Träume hatte sich auch dieser in Luft aufgelöst. Ihre Fähigkeiten reichten nicht aus, um als Hofzauberer zu dienen und zu helfen, den zerbrechlichen Frieden im Reich zu erhalten, oder sich als Alchemistin der Mehrung des magischen Wissens zu widmen. Sie war eben nur … eine Bibliothekarin.

Es war wirklich keine schlechte Stellung. Bücher hatten sie immer fasziniert, schon als Kind. Das Waisenhaus hatte ziemlich viele Bücher gehabt, und ihren Betreuern war es wichtig gewesen, dass die Kinder dort lesen lernten, weil sie glaubten, das mache es vielleicht leichter, eine Familie dazu zu bringen, sie zu adoptieren. Das war nie passiert, auch nicht, als sie älter wurde, aber sie hatte niemals ihre Begeisterung für Bücher verloren. Und wenn sie sich auch keine eigene Sammlung leisten konnte – selbst die neumodischen gedruckten Bücher waren teuer –, konnte sie zumindest in der Großen Bibliothek mit ihnen arbeiten. Es war ein Posten mit großer Verantwortung. Miss Pingel hatte ihr das wiederholt eingeschärft.

»Extrablatt!«, rief einer der Zeitungsjungen und unterbrach damit ihren Gedankengang »Der Herzog von Tara kommt in die Goldene Stadt! Mögliche Verlobung mit Prinzessin Lorraine! Extrablatt!«

Elaine ignorierte die ihr angebotene Zeitung und ging an dem Ausrufer vorbei. Sie war nicht ganz sicher, ob sie es gutheißen konnte, wenn die Druckpresse mit Geschichten über die Reichen und Berühmten entwürdigt wurde. Aber sie musste zugeben, dass es die Menschen immerhin ermutigte zu lesen. Nicht dass die Zeitungen etwa immer die Wahrheit schrieben. Selbst sie kannte den eigentlichen Grund, warum der Herzog von Tara in die Goldene Stadt kam – und es hatte nichts damit zu tun, dass er den Regentschaftsrat um Erlaubnis bitten wollte, jemanden zu ehelichen. Der Erzhexer, die oberste Autorität des Reiches, lag im Sterben. Und wenn der Herzog zufällig gerade in der Goldenen Stadt weilte, wenn der Erzhexer starb, wäre er in einer Position, Einfluss auf den Ausgang des Wettstreits um die Wahl des nächsten Erzhexers zu nehmen.

Bei dem Gedanken daran schweifte ihr Blick zum Kaiserpalast, einem dunklen Gemäuer aus turmhohem, düsterem Stein. Dort residierte seit dem Zweiten Nekromantischen Krieg kein Kaiser mehr. Offiziell war die königliche Linie erloschen, als der Hexerkönig mit seinem verzweifelten Griff nach der höchsten Macht einen Albtraum für die ganze Welt entfesselt hatte. Inoffiziell gab es angeblich einen verschwundenen Thronfolger – aber niemand hatte bisher den Thron erfolgreich für sich eingefordert. Eine gewaltige Zahl von Anwärtern hatte es im Laufe der Jahre versucht, aber nur, um sich auf den Goldenen Thron zu setzen und danach nie wieder gesehen zu werden. Der Thron, so hieß es, erkannte den königlichen Stamm. Platzhalter wurden nicht akzeptiert.

Als sie um die Ecke bog, blieb sie stehen, gerade lange genug, um eine Reihe von Soldaten vorbeizulassen, die zum Wachturm auf dem Nordgipfel marschierten. Elaine hatte genug Geschichtsbücher gelesen, um zu wissen, dass der Wachturm die Stadt während des Ersten Nekromantischen Krieges beschützt hatte, aber während des Zweiten Krieges zerstört worden war. Danach hatte man ihn wieder aufgebaut, und seither wurde er vom Regentschaftsrat instand gehalten. Es gab keine Bedrohung für das Reich, zumindest soweit sie wusste, aber zweifellos hatte der Rat seine Gründe. Der Wachturm sollte sicherlich auch die Macht des Rats demonstrieren, an die gepanzerte Faust im Samthandschuh erinnern. Die Goldene Stadt war die Hauptstadt des Reiches. Innerhalb ihrer Mauern wurde keine Störung geduldet.

Als die Große Bibliothek in Sicht kam, gestattete Elaine sich eine kleine Atempause. Die Bibliothek ragte hoch auf, wenn auch nicht so hoch wie der Kaiserpalast, und war umgeben von Statuen berühmter Alchemisten. Die Statuen blieben bewegungslos, solange sie jemand anschaute, aber wenn sie unbeobachtet waren, schienen sie sich fast unmerklich zu bewegen. Sie gehörten zu den Verteidigungsmaßnahmen der Großen Bibliothek gegen unerwünschte Eindringlinge und hatten ihr schon immer Unbehagen bereitet. Die Statuen schienen sie irgendwie zu hassen, obwohl sie nicht hätte erklären können, warum. Das spiegelte wahrscheinlich ihre eigene begrenzte Empfänglichkeit für Magie wider.

Die massiven Steintüren öffneten sich für sie, als sie näher kam, weil sie aufgrund von Elaines magischer Signatur erkannten, dass ihr der Zutritt erlaubt war. Eine ganze Reihe von Erzhexern war nicht bereit gewesen, allein den Statuen zu vertrauen, ganz gleich, wie viele Zauber benutzt worden waren, um sie zu gehorsamen und unbesiegbaren Wächtern zu machen. Die Große Bibliothek wurde durch mehrere Lagen von Schutzzaubern gesichert, einige selbst für die geringsten Magier offensichtlich, einige so subtil und tödlich, dass ein potenzieller Dieb keine Chance hatte, sie zu entdecken, bis es viel zu spät war. Selbst die Schule der Einzigartigen, ein Gebäude, das dazu ausgelegt war, magische Unfälle einzudämmen, die Hexer in der Ausbildung verursachten, war weniger gut geschützt als die Bibliothek. Aber schließlich war das magische Wissen, das innerhalb ihrer steinernen Mauern verwahrt wurde, die Quelle der Macht des Reiches. Es durfte nicht in falsche Hände fallen.

Drinnen bewirkte die kühle, trockene Luft, dass sie sich unbehaglich verschwitzt fühlte, während sie durch die Flure lief und spürte, wie sie sich um sie herum wanden und drehten. Das Gebäudeinnere lag in einer Taschendimension und war größer, als es das auch äußerlich schon nicht kleine Gebäude ahnen ließ. Elaine hatte gehört, dass die Große Bibliothek auf irgendeiner Ebene sogar lebendig sei, aber sie war nie in der Lage gewesen, sie als lebendiges Wesen zu spüren. Vielleicht war sie für ihre Sinne einfach zu subtil, um sie wahrzunehmen, oder sie sprach nicht mit einfachen Menschen. Die Große Bibliothek hatte beide Nekromantischen Kriege und noch viele andere Konflikte überstanden.

Die Flure entwirrten sich plötzlich, und sie fand sich in der Vorhalle wieder. Es war ein kostbar geschmückter Raum, vollgehängt mit Gemälden von Bibliothekaren aller Zeiten, aber sein Zweck war unverkennbar. Nicht jedem konnte Zutritt zur Großen Bibliothek oder all den Beständen, die sie beherbergte, gewährt werden. Angehörige der Schule der Einzigartigen, ranghohe Zauberer, der Regentschaftsrat … sie hatten Zutritt. Alle anderen mussten einen Antrag bei der Obersten Bibliothekarin stellen und sie davon überzeugen, dass sie würdig waren, die Große Bibliothek zu betreten. Eines Tages, sagte sich Elaine, würde sie diese mächtige Position innehaben. Es war ein seltsam freudloser Gedanke.

»Elaine«, ertönte eine strenge Stimme. Elaine erstarrte. »Was habe ich dir übers Zuspätkommen gesagt?«

Elaine verkniff sich einige mögliche Antworten und tat ihr Bestes, zerknirscht zu wirken. »Es tut mir leid, Miss Pingel«, sagte sie. »Auf den Straßen war es heute furchtbar voll.«

Miss Pingel blickte sie finster an. Sie war eine hochgewachsene Frau, alt genug, um Elaines Großmutter zu sein, und eine Sklavin, die an die Große Bibliothek gebunden war. Nach den Gerüchten, die Elaine gehört hatte, war Miss Pingel – nicht ihr echter Name, sondern einer, den ihr der Erzhexer aufgedrückt hatte – eine recht erfolgreiche Bücherdiebin gewesen. Nachdem man sie beim Diebstahl in der Großen Bibliothek auf frischer Tat ertappt hatte, war sie versklavt und zur Strafe der Bibliothek zugewiesen worden. Der Zauber, der sie band, machte es ihr unmöglich, die Bibliothek zu verlassen oder ihre Arbeit schlecht zu erledigen.

»Wir werden etwas gegen deine ständigen Verspätungen unternehmen müssen, mein Mädchen«, erklärte Miss Pingel ernst. »Sie sind wirklich absolut inakzeptabel. Besonders, da unsere Dienste in letzter Zeit so stark in Anspruch genommen werden …«

Während sich der Erzhexer darauf vorbereitet, die Götter zu treffen, dachte Elaine säuerlich. Jeder Zaubermeister auf der Welt versuchte jetzt, sich seine Chancen auszurechnen, Erzhexer zu werden. Und alle würden noch einmal Bücher wälzen, um ihre Zauberkünste aufzufrischen – und Kontakte zu anderen Zauberern suchen, ja selbst zur normalen Bevölkerung. Macht war für viele Zauberer eine Droge, und die Position des Erzhexers war die mächtigste Position der Welt.

»… und deshalb erwarte ich mehr von dir«, beendete Miss Pingel ihren Satz. »Du kannst dich glücklich schätzen, dass wir unsere Untergebenen nicht mehr zu prügeln pflegen. Ich schlage vor, du gehst jetzt und richtest dich angemessen für deine Arbeit her. Du wirst einigen der allerbesten Zauberer in der Stadt assistieren.«

Elaine nickte und ging durch das Foyer in das kleine Büro hinter dem Empfangspult. Die Große Bibliothek hatte ein Dutzend Lesesäle und hundert verschiedene frei zugängliche Bestände, aber kaum ein Besucher würde sich für die Bücher interessieren, die er selbst kaufen konnte. Nein, alle würden die eingeschränkt zugänglichen Bände haben wollen, die man streng hinter Schloss und Riegel hielt. Und einige würden sicherlich sogar versuchen, sie zu überreden, ihnen Bücher aus dem Schwarzen Gewölbe zu holen – trotz des Erlasses des Erzhexers, der den Zutritt ohne Erlaubnis des Regentschaftsrates untersagte. Elaine betete im Stillen, dass keiner von ihnen töricht genug war, unangenehm zu werden, wenn sie seine Forderungen zurückweisen musste. Die Große Bibliothek kümmerte sich zwar selbst um jeden Unruhestifter, aber oft genug bekamen dann auch arglose Umstehende ihre Maßnahmen zu spüren.

Sie streifte den grauen Kittel über, den das Bibliothekspersonal trug, und nahm sich einen Moment, um ihre Frisur zu überprüfen. Die Arbeit in der Bibliothek verlangte einen speziellen Menschentyp, jemanden, bei dem man sicher sein konnte, dass er den Zugang, den ihm die Bibliothek gewährte, nicht missbrauchte. In ihrem Fall spielte es noch nicht einmal eine Rolle, ob sie sich genau an die Regeln hielt. Selbst wenn sie verbotene Bände las – ihr fehlte ja schon die Macht, viele der Zauber zu benutzen, die andere Zauberer täglich einsetzten. Von den dunklen Zaubern, die seit den Nekromantischen Kriegen nicht mehr benutzt worden waren, ganz zu schweigen.

»Raum dreizehn«, sagte Miss Pingel, als Elaine aus dem Büro kam. »Daphne ist am Pult, aber sie braucht Hilfe bei der Suche nach Material. Zu viele Zauberer dort oben, und sie werden langsam ungeduldig.«

»Ja, Miss Pingel«, erwiderte Elaine und machte sich dann auf den Weg. Manchmal bewegten die Korridore sich scheinbar beliebig, aber diesmal war die Bibliothek offenbar geneigt, reglos zu verharren. Raum dreizehn war größer als das Foyer, mit zahlreichen Schreibtischen, an denen griesgrämige Zauberer saßen, die in alten Büchern lasen und sich Notizen machten. Eine kleine Schlange von Zauberern stand vor dem Hauptpult und wartete ungeduldig darauf, an die Reihe zu kommen. Elaine ging zum Pult hinüber und schaute zu der ersten Zauberin in der Schlange hoch – und begriff zu spät, dass es jemand war, den sie nur zu gut kannte.

»Froschauge«, erklang eine überschwängliche Stimme. »Wie schön, dich wiederzusehen.«

Elaine wäre am liebsten im Boden versunken. Von allen Menschen, die die Große Bibliothek aufsuchten – und denen sie persönlich zu dienen hatte –, musste es ausgerechnet Millicent sein. Die einzige Person, die sie kannte, die sie nie wiedersehen wollte.

Wunderbar, dachte sie bitter. Dieser Tag wird immer besser.

Nutall_Rahmen.ai

Kapitel 2

Nutall_Rahmen.ai

»Millicent«, sagte Elaine. »Ich …«

»Ich bin absolut entzückt, dich zu sehen, Froschauge«, erwiderte Millicent. Sie strich sich mit der Hand durch das lange blonde Haar, damit einem ja nicht entging, wie schamlos eng sich ihre weiße Bluse um den Leib schmiegte. »Dieses … Mädchen war nicht bereit, mir zu geben, was ich haben wollte.«

Elaine zuckte innerlich zusammen. Millicent, blond, schön und mit einem magischen Stammbaum so lang wie ihr Arm, hatte beschlossen, sie zu hassen – und das von dem Tag an, an dem Elaine in die Schule der Einzigartigen aufgenommen worden war. Ein Waisenmädchen brachte Millicent bei ihrer sorgfältig geplanten Karriere nicht weiter, daher hatte Millicent sich herausgenommen, fünf höllische Jahre lang auf Elaine herumzuhacken. Elaine erinnerte sich – sie konnte es gar nicht vergessen – an Tage, an denen sie feststellen musste, dass jemand ihre Arbeitsmaterialien gestohlen, ihren Zauberstab versteckt oder in ihre Bücher gekritzelt hatte. Und an die Woche, die sie als Frosch zubringen durfte, nachdem Millicent beschlossen hatte, ihre Verwandlungsübungen an einem arglosen Opfer zu praktizieren. Kein Wunder, dass Daphne wenig hilfsbereit gewesen war. Millicent hatte ein bemerkenswertes Talent dafür, Menschen zu verärgern.

»Hier«, sagte Millicent und hielt Elaine einen Zettel unter die Nase. »Ich will diese Bücher haben, sofort.«

Elaine überflog die Liste und wünschte, sie wäre stark genug, um Millicent die Stirn zu bieten. Aber Millicent respektierte nur Zauberkraft und eine gute Herkunft, und Elaine hatte weder das eine noch das andere zu bieten. Niemand wusste, wer ihre Eltern gewesen waren oder warum sie ihre Tochter ausgesetzt hatten, aber Millicent hatte nicht gezögert, eine mögliche Schlussfolgerung daraus zu ziehen. Uneheliche Kinder wurden immer noch als Schande betrachtet, selbst solche, die Anzeichen von Zauberkraft erkennen ließen. Und Elaines Kraft war nie bedeutsam genug gewesen, um ihre unbekannten Eltern davon zu überzeugen, ihre Meinung zu ändern.

»Du willst diese Bücher alle haben?«, fragte Elaine überrascht. Keins von ihnen stand auf der verbotenen Liste für eine ausgebildete Hexe, aber sie waren allesamt erschreckend nah dran. Ein paar von ihnen waren bei der Abstimmung nur eine Stimme davon entfernt gewesen, in das Schwarze Gewölbe verbannt zu werden. »Hast du …?«

Millicent grinste, während sie eine Schriftrolle hervorholte und sie Elaine reichte. »Meine Tante, Lady Lichtspinner, die zukünftige Erzhexe, war so freundlich, mir die Erlaubnis zu geben zu studieren, wie es mir gefällt«, erklärte sie. »Jetzt hüpf los, Froschauge, sonst wirst du für den Rest des Tages hüpfen.«

Elaine lehnte sich auf die einzige ihr offenstehende Art auf, indem sie das Pergament sehr gründlich studierte. Lady Lichtspinner war ihr bekannt, obwohl ihr nicht klar gewesen war, dass Millicent tatsächlich ihre Nichte war – aber die Familienbande zwischen den Zaubermeistern waren sowieso häufig verwirrend. Und sie hatte die Befugnis, Millicent zu erlauben, jeden Band außerhalb des Schwarzen Gewölbes zu lesen. Elaine überprüfte das magische Siegel und tat ihr Bestes, Millicents Arm mit dem zuckenden Zauberstab zu ignorieren, und dann gab sie ihrer Peinigerin das Schriftstück zurück. Vielleicht würde sie länger brauchen, um diese Bücher aufzuspüren, als das normalerweise der Fall war.

»Das scheint in Ordnung zu sein«, erklärte sie höflich. »Warum nimmst du nicht Platz und wartest, während ich die Bücher zusammensuche?«

»Ich bin in Raum vierzehn«, sagte Millicent entschieden. »Bring sie dorthin. Ich werde inzwischen weitere aufschreiben, die du suchen kannst.«

Sie rauschte aus dem Lesesaal, und Elaine starrte ihr in ohnmächtigem Zorn nach. Millicent war schon immer ein Miststück gewesen, aber schließlich hatte sie die Herkunft und die Zauberkraft, um sich das erlauben zu können. Sie war nicht einmal nach dem Froschzwischenfall besonders bestraft worden, obwohl der Rektor selbst sie vor der ganzen Schule gescholten hatte. Ein Mädchen mit weniger guten Beziehungen hätte durchaus der Schule verwiesen oder gezwungen werden können, für Übungszaubertränke als Versuchskaninchen zu dienen. Kopfschüttelnd griff sie nach der Liste und überflog sie noch einmal. Einiges auf der Liste gehörte absolut nicht zu den Büchern, von denen sie wollte, dass Millicent sie las.

Aber sie hatte keine Wahl. Sie ließ Daphne im Lesesaal zurück und trat in das Büro und durch den Spiegel an der Wand. Wie in den meisten magischen Gebäuden gab es in der Großen Bibliothek eine Reflexion innerhalb der Spiegel, eine alternative Dimension, die nur vom Personal betreten werden konnte. Elaine wurde es schwummrig, als sie die Spiegelwelt betrat und sich umsah. Überall lagen große Bücherstapel, einige mit einer so dicken Staubschicht bedeckt, dass die Vermutung nahelag, sie seien seit tausend Jahren nicht angerührt worden. Es gab Bücher, das wusste Elaine, die nicht einmal während der schlimmsten Tage der Nekromantischen Kriege aufgeschlagen worden waren. Miss Pingel hatte ihr erzählt, dass die Hexer jener Tage die Geheimnisse in den Büchern erheblich mehr gefürchtet hatten als den Hexerkönig und seine Armeen von untoten Dienern.

Hatte die gewöhnliche Welt die Lesesäle und andere Abteilungen für das Personal, bestand die Spiegelwelt aus endlosen Räumen voller Bücher. Elaine zog die Liste hervor, wählte den ersten Titel aus und konzentrierte sich dann, ließ sich von der Magie in der Großen Bibliothek zu dem Buch leiten. Es war in einen nahen Raum gestopft und unter einem Stapel anderer staubiger Bände vergraben worden, als hätte der letzte Benutzer sich Mühe gegeben, das Buch vor zufälligen Blicken zu verstecken. Nur das Personal und die Zaubermeister durften die Spiegeldimension betreten, und die Magie in der Bibliothek machte es unmöglich, irgendetwas dauerhaft zu verbergen, aber irgendjemand hatte eindeutig versucht, genau das zu tun. Elaine betrachtete den Titel, als sie es aus seinem Versteck zog, und schüttelte den Kopf. Ein Band über Methoden, um seine eigenen Machtreserven zu vergrößern, indem man sich mit anderen Magiern zusammentat, war das Letzte, was Millicent lesen sollte. Elaine wusste – zu ihrem ewigen Bedauern –, dass Millicent mehr Macht als nötig hatte. Und warum gab ihr ihre Tante überhaupt die Erlaubnis, diese Bücher zu lesen?

Sie grübelte über die Frage nach, während sie die anderen Bücher auf der Liste zusammensuchte. Eines davon handelte von Verwandlung, von Methoden, um eine Veränderung lange genug aufrechtzuerhalten, dass die Realität den Zauber einholen konnte, während es in einem anderen darum ging, komplizierte Zaubertränke zu brauen. Zwei der Bücher waren in einer Sprache geschrieben, die seit tausend Jahren tot und vergessen war, obwohl ein simpler Übersetzungszauber es Millicent ermöglichen würde, sie zu lesen. Und eines der Bücher handelte von Abmachungen, die man mit den Göttern aushandeln konnte. Elaine lächelte grimmig, als sie dieses Buch auf den wachsenden Stapel legte. Es gab genug Schauergeschichten über Magier, die versucht hatten, mit den Göttern zu feilschen, um in ihr die Hoffnung zu wecken, dass es das war, was Millicent im Sinn hatte. Allerdings hatte Millicent Übung darin, sich nicht für die Folgen ihrer Taten verantwortlich machen zu lassen. Vielleicht würde es ihr gelingen, auch die Götter zu verzaubern.

Eines der Bücher war der Bibliothek zufolge bereits im Lesesaal. Es war ein seltsames Buch, eines, das erörterte, wie man magische Kreaturen wie Werwölfe und Meerjungfrauen zähmte, zumindest Millicents Notizen zufolge. Elaine argwöhnte, dass es darin tatsächlich um etwas viel Finstereres ging. Sie hatten etwas über Tränke gelernt, die man herstellen konnte, wenn man Zugang zu Werwolffell oder zu Meerjungfrauenschuppen hatte, Tränke, die definitiv auf der verbotenen Liste standen. Aber Millicent würde sich gedulden müssen, sagte sie sich, während sie zurück durch den Spiegel ging. Es gab strenge Gesetze gegen die Störung eines Lesers, nur weil ein anderer sein Buch haben wollte.

Der Spiegel flackerte um sie herum, als sie mit den Büchern unter dem Arm in die normale Welt zurückkehrte. Millicent hatte gesagt, sie würde in Raum vierzehn sein, klar. Raum vierzehn war normalerweise für Zaubermeister reserviert, und obwohl Millicent niemals als Zaubermeisterin durchging, würde sich niemand mit Lady Lichtspinners Lieblingsnichte anlegen wollen. Die Tür wurde geöffnet, als Elaine näher kam, und sie erblickte Millicent auf einem der bequemen Stühle und in die Lektüre eines der älteren Kataloge vertieft. Sie stammten noch aus einer Zeit, bevor einer der ersten Bibliothekare die Zauber angelegt hatte, die automatisch die Kataloge auf den neuesten Stand brachten, wenn ein Buch der Bibliothek hinzugefügt wurde. Kein Buch durfte die Große Bibliothek jemals verlassen, nicht einmal eines, das von der jüngeren Forschung gründlich widerlegt worden war. Der bloße Gedanke war Ketzerei.

»Im Alchemistischen Monatsblatt steht ein Artikel über eine neue Art von Leuchttrank«, sagte Millicent in einem beinahe freundlichen Ton. Und dann war sie wieder ganz die Alte: »Aber das würde dich nicht interessieren, nicht wahr? Deine Begabung Tränke zu brauen war gleich null.«

Elaine ignorierte sie, so gut sie es vermochte. Millicent hatte natürlich recht. Elaine hatte keinen großen Erfolg mit Tränken gehabt. Allerdings wurden ohnehin erstaunlich wenige Schüler Tränkemeister. Es verlangte Geschick, Geduld und angeborene Begabung, alles Eigenschaften, an denen es Elaine mangelte. Aber sie hatte es geschafft, genug Tränke zu erlernen, um ihre Prüfungen zu bestehen, selbst wenn sie keine mehr hergestellt hatte, seit sie die Schule der Einzigartigen verlassen hatte. Selbst die Tränke, die dafür geschaffen waren, bei Frauenproblemen zu helfen, konnte man leichter – und sicherer – in einer Apotheke kaufen.

Aber sie war eine gute Bibliothekarin. »Deine Bücher«, sagte sie knapp. »Ich fürchte, eines von ihnen hat gegenwärtig ein anderer Leser, aber ich hole es für dich, wenn es zurückgegeben wird.«

Überraschenderweise machte Millicent deswegen kein Theater. »Leg sie hierhin, Froschauge«, erwiderte sie, nahm das erste Buch vom Stapel und blies den Staub darauf weg. »Und hier ist die nächste Liste.«

Elaine seufzte. »Ich suche sie dir heraus«, murmelte sie erschöpft.

»Hüpf los«, sagte Millicent. Sie kicherte, als hätte sie nicht drei Jahre lang den gleichen Scherz gemacht. »Ich lasse es dich wissen, wenn ich dich brauche.«

Sie hielt Elaine für fast eine Stunde beschäftigt, bevor Miss Pingel schließlich kam und Elaine befahl, sich um jemand anders zu kümmern. Elaine verbrachte voller Erleichterung den Rest des Morgens in einem anderen Teil der Bibliothek, wo sie es mit Kunden zu tun hatte, die offensichtlich alle ihre Zauberkünste und ihre Kenntnisse der alten Magie auffrischen wollten. Vielleicht war das in gewisser Weise vernünftig, überlegte sie, nachdem sie einen weiteren Stapel Bücher herausgesucht hatte. Der Erzhexer lag schließlich im Sterben. Millicent hatte erwähnt, dass ihre Tante die nächste Erzhexe werden würde, was darauf schließen ließ, dass Lady Lichtspinner definitiv beabsichtigte, selbst zu kandidieren. Elaine konnte darin nur schlechte Neuigkeiten sehen. Wenn Millicent jetzt schon unerträglich war, wie würde sie sich wohl aufführen, wenn ihre Tante Erzhexe wurde?

Die Frage nagte an ihr, während sie eine Pause machte und dann zu dem Arbeitsraum unter der Hauptbibliothek hinunterging. Miss Pingel ließ ihr Personal in verschiedenen Aufgabenbereichen arbeiten, um sicherzustellen, dass sie die Erfahrung hatten, bei Bedarf jederzeit dort einzuspringen, wo gerade Not am Mann war. Elaine war aufgetragen worden, eine neue Bücherlieferung zu untersuchen, die der Bibliothek vermacht worden war, aber sie hatte seit mehreren Tagen keine Zeit gehabt, damit anzufangen. Sie war erleichtert, endlich eine Gelegenheit zu haben, an den Kisten zu arbeiten. Das war echte Bibliothekarsarbeit.

Jeder Magier auf der Welt – und jeder, der sich dafür hielt – sammelte Bücher über Magie. Es gab tausende Exemplare alltäglicher Zauberbücher, dazu Bücher über Theorie und Bücher über Kreaturen, die von Magie berührt worden waren. Keins von denen stand auf dem Index, obwohl es schon vorgekommen war, dass eine lang verlorene Ausgabe eines verbotenen Buches auftauchte, wenn die Sammlung eines toten Pseudomagiers gesichtet wurde. Einige der Bücher waren sehr gefährlich gewesen, und nur die Tatsache, dass ihr Besitzer kaum genug Magie besaß, um eine Kerze anzuzünden, hatte die Welt vor Schaden bewahrt. Miss Pingel zufolge waren mehrere Exemplare von Shades finsterster Schatten erst gefunden worden, als die Kisten, in denen sich die Bücher befanden, in der Großen Bibliothek geöffnet worden waren. Elaine war klug genug, nicht an ihren Worten zu zweifeln.

Sie hatte die normalen Zauber zur Erkennung von Verfluchungen und Verhexungen benutzt, als die Kisten in der Großen Bibliothek eingetroffen waren, aber sie wiederholte den Vorgang, bevor sie die erste Kiste hochhob und auf ihren Arbeitstisch stellte. Nichts wurde als gefährlich ausgewiesen, was nichts heißen musste; es war einfach genug, eine Verhexung vor den meisten Erkennungszaubern zu verbergen. Elaine wappnete sich und murmelte leise eine Beschwörung. Die Zauber, die die Kiste zusammenhielten, lösten sich, sodass sie das Holz entfernen und in einer Ecke säuberlich aufstapeln konnte. In der Kiste harrte ein kleiner Stapel Bücher ihrer Aufmerksamkeit. Sie hielt inne, lange genug, um den Kitzel zu genießen, nicht zu wissen, was sie in der Kiste finden würde, dann griff sie nach dem ersten Buch. Es war enttäuschend. Allgemeine Magie war ein Standardnachschlagewerk für Studenten, aber selbst Elaine hatte dieses Niveau lange überschritten.

Kopfschüttelnd griff sie nach den Papieren, die verzeichneten, woher die Bücher gekommen waren, und überflog sie. Herzog Gama, der jüngere Bruder von König Hildebrand, hatte sich wie so viele der jüngeren Edelleute eingebildet, Magier zu sein. Er hatte den Papieren zufolge über keine echte Macht verfügt, aber das hatte ihn nicht daran gehindert, jedes magische Buch zu kaufen, das er in die Finger bekam. Einige der skrupelloseren Händler hatten sich wahrscheinlich auf seine Kosten bereichert, überlegte Elaine, während sie zwei Bücher herauszog, die als Schwindel bekannt waren. Herzog Gama hatte weder die Erfahrung noch die magischen Fähigkeiten besessen, um zu erkennen, wann jemand versuchte, ihn übers Ohr zu hauen und ihm wertloses Pergament zu verkaufen. Elaine legte die beiden Bücher auf die Seite mit dem Vermerk, sie wegzuwerfen. Das Gesetz der Großen Bibliothek, nichts wegzuwerfen, galt nicht bei Büchern über falsche Zauber und nicht existente Mächte. Kein Wunder, dass Herzog Gama nichts zuwege gebracht hatte, als er versucht hatte, Magie einzusetzen.

Das nächste Buch war viel interessanter – und wie Millicents Lektüreliste nur einen Schritt vom Verbotenen entfernt. Benennung von Dämonen gehörte eigentlich auf die verbotene Liste, aber es gab davon auf der Welt so viele Exemplare, dass selbst die Inquestio den Versuch, sie alle aufzuspüren, für hoffnungslos befand. Das Buch enthielt zwar keine Anweisungen darüber, wie man Dämonen beschwor, doch allein die Kenntnis ihrer Namen und Wesensart machte es einem vom Glück gesegneten Amateur möglich, sie aus der Dunkelheit herbeizurufen. Elaine schaute sich zwei Seiten darin an, schüttelte angesichts einiger der Bilder den Kopf und legte es dann auf den Rollwagen. Miss Pingel würde den Band in Augenschein nehmen und feststellen müssen, ob er identisch mit den anderen war, die schon in der Großen Bibliothek lagerten, und dann würde sie entscheiden, was damit zu geschehen hatte. Am Ende würde sie es zweifellos dem Bestand der Bibliothek hinzufügen. Herzog Gamas Geist würde sich bei dem Gedanken wahrscheinlich freuen.

Die nächsten fünf Bücher waren billiger Schund aus einer Kellerdruckerei, eine hoffnungslos unrealistische Serie über einen Zauberer, der angeblich über so viel Macht verfügte, dass es schwer vorstellbar war, er könnte überhaupt jemals irgendwelche Probleme bekommen. Elaine konnte sich daran erinnern, während ihrer Schulzeit zwei der Romane gelesen und darüber gestaunt zu haben, wie viele Ungereimtheiten der unbekannte Autor in einer Handvoll schmaler Bändchen untergebracht hatte. Selbst der Erzhexer hätte Mühe gehabt, es mit den magischen Fähigkeiten des Helden aufzunehmen, obwohl sich ihm vielleicht genauso viele Mädchen an den Hals warfen wie dem Helden. Magische Begabung wurde weitervererbt; das wusste jeder. Sie errötete, als sie sich an ein Angebot erinnerte, das ihr einer von Millicents Freunden gemacht hatte, ein Magier mit mehr Magie in seinem kleinen Finger, als Elaine in ihrem ganzen Körper hatte. Er hatte angenommen, dass sie sich auf die Chance stürzen würde, ein Kind von ihm zu bekommen.

Sie legte die Romane auf den Stapel, der entsorgt werden sollte, und griff dann nach dem nächsten Buch – und errötete abermals. Anleitung für Sexmagie war niemals ein Anwärter für die verbotene Liste gewesen, obwohl es als eins der gefährlichsten Bücher gelten musste, die es gab – wenn es von jemandem benutzt wurde, der nicht wusste, was er tat. Es war möglich, Sex einzusetzen, um magische Macht zu erzeugen – die Illustrationen überließen rein gar nichts der Fantasie –, aber es erforderte intensive Konzentration und eine Hingabe, die selbst die verbissensten Meister der Tränkeherstellung nicht aufbrachten. Die Schüler der Magie ihrer Generation hatten es vorgezogen, eselsohrige Exemplare herumzureichen und sie als Unterstützung bei dem Versuch zu verwenden, das andere Geschlecht zu verführen. Erinnerungen an die Tage, da einige der Jungen Exemplare davon gefunden und versucht hatten, die Mädchen ins Bett zu bekommen – natürlich zu Forschungszwecken –, ließen die Röte in ihren Wangen noch intensiver werden.

Sie war beim letzten Buch angelangt und nahm es verwirrt in die Hand. Auf dem Buchdeckel stand kein Titel, nicht einmal eine der Glyphen, die manche Zauberer für ihre Namen benutzten. Es war ein kleines Buch, fast im Format des Tagebuches, das sie im Waisenhaus geführt hatte, bevor zwei der älteren Mädchen es ihr gestohlen und die Toilette hinuntergespült hatten. Sie drehte es hin und her und versuchte herauszufinden, wie man die Seiten von dem Zauber befreite, der das Buch geschlossen hielt. War Herzog Gama zufällig auf einen der Zauber gestoßen, die von Autoren benutzt wurden, um ihre Werke zu sichern? Oder hatte jemand anders es für ihn verzaubert? Jedes Königreich hatte einen Hofzauberer, der den Erzhexer vertrat – und sicherstellen sollte, dass keiner der ansässigen Herrscher sich einfallen ließ, gegen die magische Ordnung aufzubegehren. Es wäre für Herzog Gama sicher nicht schwer gewesen, den Hofzauberer zu überreden, den Zauber für ihn zu wirken.

Sie murmelte leise eine Beschwörung und war überrascht, als das Buch sich nicht aufschlagen lassen wollte. Ein zweiter Zauberspruch zeigte auch keine Wirkung, ein dritter ebenso wenig. Das war eine Überraschung; es legte die Vermutung nahe, dass der Zauber auf dem Buch für jemand Bestimmten gemacht war, vielleicht sogar komplex genug, um das Werk eines Zaubermeisters zu sein. Elaine wusste, dass einige Zauberer ähnliche Verzauberungen benutzten, um zu verhindern, dass Standesgenossen ihre Werke lasen, aber sie hatte noch nie davon gehört, dass ein Nichtzauberer in der Lage gewesen wäre, einen solchen Zauber anzuwenden. Bestimmt …

Das Buch schien vor Magie zu flimmern. Elaine spürte, wie sich etwas von innen aus dem Buch entrollte. Als das magische Feld sich plötzlich verstärkte, wollte sie den Band fallen lassen, aber ihre Hand weigerte sich loszulassen. Ein greller Blitz zuckte, sie spürte, dass etwas in ihren Kopf gestoßen wurde, und dann stürzte sie in dunkle Nacht.