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Von Hans Kammerlander liegen als E-Book bei Piper vor:

Bergsüchtig

Seven Second Summits

Unten und oben

Unter Mitarbeit von Walther Lücker.

Mit 33 farbigen und 88 schwarzweißen Abbildungen

Für meine Schwester Sabine

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen ungekürzten Taschenbuchausgabe

8. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-96046-5

© 2004 Piper Verlag GmbH, München

erschienen im Verlagsprogramm Malik

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: Archiv Hans Kammerlander

Fotos im Innenteil: Archiv Hans Kammerlander, Ahornach; Archiv Walther Lücker, Sand in Taufers; Hartmann Seeber, Sand in Taufers; Tappeiner (Luftaufnahme im Prolog)

Karten: Eckehard Radehose, Schliersee

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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K2, zweithöchster Berg der Erde

Vorwort

Wenn du es nicht versuchst,
wirst du nie wissen, ob du es kannst.

Sprichwort aus Gilgit/Pakistan

Es hat wieder geschneit. Berge und Täler versinken unter meterhohem Schnee. Es ist ganz still. Die Welt scheint in Watte gepackt. Der Himmel über Ahornach ist wolkenlos, draußen in den Dolomiten bilden sich Schleier. Nicht auszuschließen, daß noch mehr Schnee kommt.

Meine Ungeduld ist groß. Seit dreizehn Stunden suchen wir nun mit zwei Verlagsleuten nach Dias. Bilder, die dieses Buch illustrieren und Begleiter für die vielen geschilderten Erlebnisse sein sollen. Motive, die annähernd den optischen Eindruck im Karakorum, einem der höchsten Gebirge der Welt, widerspiegeln können, die etwas von der Steilheit des K2, dem zweithöchsten Berg der Erde, vermitteln.

Zum vierten Mal, nach Abstieg zum Erfolg, Bergsüchtig und Unten und oben, habe ich mich zu einer Expedition in mein Leben aufgemacht. Diese Reise in die Vergangenheit hat viele fast vergessene Begebenheiten neu aufleben lassen. Große und kleine Augenblicke, die mich stark beeindruckt haben. Es waren nicht immer die Gipfel, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Viel öfter waren es auf dem Weg dorthin kleine Dinge am Rande und natürlich auch die Grenzsituationen, in denen für kurze Zeit der Tod näher schien als das Leben.

Zu dieser Reise an einem »seidenen Faden« habe ich mich erneut mit dem Journalisten Walther Lücker aufgemacht. Wir haben uns vor fast zehn Jahren kennengelernt. Zufällig scheinbar, obwohl ich glaube, daß uns das Leben in den Bergen zusammengeführt hat. Ich kann die vielen Stunden nicht mehr zählen, in denen wir, ein Stück Südtiroler Speck und eine Flasche Rotwein auf dem Tisch, beieinander gesessen sind, um zu reden und zu diskutieren, nicht selten auch kontrovers. Wir waren zusammen klettern, im Fels und im Eis, wir lebten bei den Expeditionen zum Kangchendzönga und zum K2 viele Wochen Zelt an Zelt.

Ich habe klettern gelernt, nicht schreiben. Deshalb habe ich Walther gebeten, mich auf dieser besonderen Tour zu sichern, mitzuarbeiten an einem Buch über den K2 und andere Grenzerfahrungen, mitzuhelfen, das Geflecht meiner Gedanken zu ordnen und die treffende Formulierung für oft sehr extreme Situationen zu finden. Daß er dabei einige Passagen im Vorstieg gegangen ist, war mir nur recht. Seine Sicht der Dinge und seine Beobachtungen am Mount Everest und natürlich auch am K2 haben diesem Buch bisweilen einen zusätzlichen Blickwinkel eröffnet. Dafür bin ich dankbar.

Nun liegt das Manuskript vor mir. Einige hundert Seiten. Es ist eine Gratwanderung geworden. So wie mein Leben. Erheiternd und schmerzhaft, riskant und kühl kalkuliert, voll Glück und Pech, mal oben, mal unten, oft freudig, bisweilen voller Angst. All das Schöne in diesem Buch und in meinem Leben habe ich gesucht, den häufig knappen Ausgang nie geplant. Ich liebe das Leben. Auch wenn es bisweilen an einem seidenen Faden zu hängen scheint.

Sie kamen mit Wickelgamaschen und genagelten Schuhen, in Lodenhosen und in Lodenjacken. Sie trugen, was ein Bergbauer auf seinem Hof und ein Jäger auf der Gamsjagd trug. Sie waren Pioniere, beseelt von Aufbruchstimmung und Entdeckergeist, der große Taten erst ermöglicht. Ihre Ausrüstung war doppelt so schwer wie die modernen Materialien von heute, und doch waren sie kaum aufzuhalten.

Am 31. Juli 2004 jährt sich zum fünfzigsten Mal die Erstbesteigung des K2, der zweithöchsten Erhebung unserer Erdkruste. Mein Respekt gehört Lino Lacedelli und Achille Compagnoni, sowie all den anderen Bergsteigern, die 1954 an dieser italienischen Expedition teilnahmen. Meine Hochachtung aber erweise ich all jenen, die sich diesem gewaltigen Berg vor hundert Jahren schon genähert haben.

Ich möchte mich bei allen Mitarbeitern des Verlages, allen voran bei Dr. Klaus Stadler im Lektorat, bei Markus Dockhorn in der Produktion und beim Redakteur Wolfgang Gartmann, ganz herzlich bedanken. Eure Geduld am Schreibtisch möchte ich haben.

Ahornach, im Januar 2004

Hans Kammerlander

Prolog

Am 6. September 2003 kam es in Sand in Taufers zu einem außergewöhnlichen Einsatz der Feuerwehr. Es brannte kein Haus und keine Scheune, und es war auch kein Hochwasser in einen Keller geflossen. Eigentlich war überhaupt nichts passiert. Und dennoch rückte gegen 18 Uhr die Feuerwehr aus.

Nicht weil es meine Heimat ist, ich da geboren bin und dort immer noch lebe – das Tauferer Ahrntal zählt sicher zu den schönsten Tälern Südtirols. Vom Pustertal zweigt es bei Bruneck nach Norden hin ab, bildet bei Sand in Taufers die Seitenäste des Mühlwalder Tals, des Reintals und des Weißenbachtals, bevor es bald hinter Sand einen Bogen nach Nordosten macht. Die Vielfalt der Möglichkeiten scheint schier unerschöpflich. Tal- und Almwanderungen, kleine und große Bergbesteigungen, Rafting, Mountainbiking, Skitouren im Winter, Eisfallklettern, alpiner Skilauf, Langlauf – all das und noch viel mehr hat das Tauferer Ahrntal zu einer viel und gern besuchten Gegend gemacht.

Hochfeiler (3510m), Weißzint (3371m), Großer Möseler (3478m), Schwarzenstein (3368m), Keilbachspitze (3093m), Wollbachspitze (3210m), Napfspitze (3143m), Rauhkofel (3252m) – wie an einer Perlenschnur aufgezogen, reihen sich im Norden die vergletscherten Dreitausender der Zillertaler Alpen zu einer spektakulären Kulisse aneinander. Nach Osten hin bildet die nicht minder spannende Rieserferner-Gruppe mit dem Hochgall (3435m), dem Wildgall (3272m) und dem Magerstein (3372m) ein mächtiges Bollwerk. Da ist es kein Wunder, daß der Drang nach Bewegung fast schon zwanghaft wird.

Ein wenig hat es aber doch gebrannt an diesem 6. September 2003. Und das hing eben mit dem Drang nach Bewegung zusammen.

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Augenblick: Tauferer Ahrntal und die Gipfel der Zillertaler Alpen

24 Stunden zählt ein Tag. Davon sind in der Regel acht Stunden der Arbeit vorbehalten, acht Stunden der Freizeit und acht Stunden dem Schlaf. Irgendwann im Laufe eines Tages wird der Mensch einfach müde, dann braucht der Körper Ruhe und eine Pause. Doch was passiert, wenn der Körper 24 Stunden in Bewegung gehalten wird? Was ist, wenn der Mensch 24 Stunden ununterbrochen gefordert wird? Was, wenn während einer 24stündigen Bergtour die Müdigkeit übermächtig wird? Wenn die Beine nicht mehr wollen und der Kopf immer wieder sagt: Aufhören, ich kann nicht mehr? Eine Grenzerfahrung, ohne Zweifel. Aber auch eines der ganz besonderen Erlebnisse in der rauhen Welt der Berge. 24 Stunden gehen, rauf und runter, wieder rauf und wieder runter, unterbrochen nur von ein paar kurzen Rastpausen, das ist die Überwindung des scheinbar Unmöglichen.

Für mich war das immer schon eine besondere Herausforderung. Ich wollte wissen, was kann mein Körper innerhalb von 24 Stunden leisten? Was ist möglich binnen eines Tages und einer Nacht? Spätestens an dieser Stelle mag man die berechtigte Frage stellen: Ja, hat denn der Mensch nichts Besseres zu tun? Natürlich macht es keinen wirklichen Sinn, innerhalb 24 Stunden alle vier Grate des Matterhorns zu besteigen. Und auch nicht, durch die Nordwand des Ortler zu klettern, dann mit dem Rad von Sulden zu den Drei Zinnen in den Dolomiten zu fahren und in der Nacht durch die Nordwand der Großen Zinne zu steigen. Ich bin vielleicht auch nicht unbedingt ein Gewinn für die Menschheit, weil ich in 24 Stunden auf den Mount Everest gestapft und dann mit Ski wieder hinuntergefahren bin. Das alles war in erster Linie ein Gewinn für mich selbst. Nutzlos, aber ein intensives Erlebnis. Weil ich der Grenze dessen, was ich zu leisten imstande bin, dadurch so nahe gekommen bin.

Wenn andere darüber staunen oder mit Interesse jenen zuhören, die im Meer unendlich tief tauchen, durch glühende Wüsten gehen, mit dem Segelboot um die Welt schippern, mit dem Heißluftballon sonstwohin fahren oder eben an einem Berg etwas nicht Alltägliches leisten, dann ist dies wohl nichts anderes als der Versuch, die eigene Sehnsucht durch derlei Erzählungen ein wenig zu stillen. Und weil ich es in meinem Beruf als Bergführer so oft spüren und fühlen kann, wie die Menschen förmlich danach lechzen, sich selbst kennenzulernen, die eigenen Grenzen zu suchen, einmal einen ganz neuen Blickwinkel zu finden, habe ich mir gesagt, nimm andere mit hinaus – 24 Stunden lang.

Über eine Landkarte gebeugt, haben wir mit ein paar Freunden, allesamt Berg- und Wanderführer, eine Tour zusammengestellt, die uns zu den schönsten Aussichtspunkten, Almen und Seitentälern des Tauferer Ahrntals führen und dem Alpenhauptkamm ganz nahe kommen sollte. Daß am Ende die Feuerwehr kommen würde, ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.

Am 5. September, kurz vor 18 Uhr, starteten am Neves-Stausee in Lappach, ganz hinten beim Talschluß von Mühlwald, über 40 wildentschlossene Wanderer in der Absicht, durchzustehen, was wir da ausgeheckt hatten. Der Himmel war von milchigen Wolken verhangen. Nach den mörderischen Temperaturen des Jahrhundertsommers hatte es etwas abgekühlt. Wir erreichten nach zwei Stunden die Edelrauthütte und spazierten über den Neveser Höhenweg in die Dunkelheit hinein, Richtung Chemnitzer Hütte. Mitternacht. Zu dieser Stunde Nudeln zu essen ist vielleicht ein wenig gewöhnungsbedürftig, und doch blieb kaum etwas übrig. Der berühmte Kellerbauerweg führte uns zum Speikboden. 7 Uhr in der Früh. Wir eilten hinunter zur Mittelstation und ließen uns von dort nach Prettau im hinteren Ahrntal bringen. Müde Augen, müde Glieder. Beim Aufstieg durch das endlos lange Hasental hinauf auf den kleinen Gipfel der Weißen Wand glaubten viele, das sei die Grenze des Machbaren. Gegen 13 Uhr erreichten wir die Durra-Alm. Jetzt war ein Ende abzusehen. Über die Lobiser Schupfen erreichten wir mein Heimatdorf Ahornach. Zu unseren Füßen, knapp 500 Höhenmeter tiefer, Sand in Taufers und der Tauferer Boden. Rund 3000 Höhenmeter im Auf- und Abstieg, drei Höhenwege, drei bekannte Berghütten, drei wunderschöne Almen und die Marathondistanz von über 50 Kilometern steckten in den Knochen der Teilnehmer. 6. September, kurz vor 17 Uhr. Jetzt war es nur noch ein Katzensprung, und fast alle waren noch dabei, nur ein paar wenige hatten aufgegeben.

Eine Stunde später rückte in Sand die Feuerwehr aus. Mit einem historischen Löschfahrzeug und einer gewaltigen Handpumpe.

Schuhe – Socken – Haut, das bedeutet auch: Wärme – Feuchtigkeit – Reibung. 24 Stunden lang, fast unaufhörlich, hatten diese unheilvollen Komponenten ihre Arbeit verrichtet. Erst eine rote Stelle, dann eine kleine Entzündung und schließlich folgerichtig die unvermeidliche Blase an der Ferse oder den Fußzehen. Kaum jemand, der verschont geblieben wäre. Im Garten hinter dem Naturparkhaus Rieserferner hatten ein paar fleißige Helfer alte, hölzerne Waschzuber aufgestellt. Fast oberschenkelhoch und im Umfang so groß, daß man mit angezogenen Beinen darin hätte sitzen können. Das Abflußloch war mit einem Holzpfropfen verschlossen. Nun hagelte es knappe Kommandos.

»Absitzen!«

»An die Pumpe!«

»Wasser marsch!«

Die wackeren Feuerwehrmänner pumpten, was die alte Pumpe hergab. Und aus dem Schlauch spritzte das eiskalte Wasser direkt in die Zuber. Raus aus den Bergschuhen, weg mit den qualmenden Socken und hinein in das erfrischende Naß. Denn ein wenig hat es schon gebrannt an diesem 6. September 2003, kurz vor 18 Uhr. Gut zu wissen, wie schnell in Sand in Taufers die Feuerwehr zur Stelle ist, wenn man sie braucht. Nach und nach stiegen wir alle in die Tröge und kühlten die Füße, derweil das erste schäumende Bier durch die ausgetrockneten Kehlen rann.

Wenn es stimmt, daß Träume dazu da sind, nicht nur geträumt, sondern auch verwirklicht zu werden, dann hatten viele an diesem Tag einen Traum gelebt. Einmal so weit gehen, wie die Füße tragen. Ganz nah an die Leistungsgrenze herankommen. Und am Ende vielleicht erkennen, daß ein wenig immer noch gegangen wäre. Es war für mich vor allem an den großen Bergen der Welt, wo die Schinderei so hart sein kann, immer wieder interessant, daß im vermeintlichen Zustand totaler Erschöpfung der Körper doch noch etwas hergibt.

Als die Feuerwehr wieder abrückte, war es über Sand in Taufers schon wieder Nacht geworden. Ich wurde nachdenklich. Einen kurzen Moment lang durchzuckte mich der Gedanke, was denn wäre, wenn man zweimal 24 Stunden an einem Stück ... Ich verwarf den Gedanken. Verwarf ihn wohl vor allem deswegen, weil ich ja weiß, daß es möglich ist.

Die Suche nach Grenzen ist ein scheinbar endloses Spiel. Eine Spirale, ein Perpetuum mobile. Der Anfang nicht mehr nachzuvollziehen, ein Ende nicht absehbar. Je länger die Suche dauert, um so mehr bekommt der Mensch ein Gefühl für sich selbst und weiß auf einmal, wie nahe er der Grenze in bestimmten Situationen gekommen ist oder wie weit er noch davon entfernt war. Die Grenzsituationen in meinem Bergsteigerleben waren nicht immer gewollt. Beileibe nicht. Ich habe es mir nicht ausgesucht, daß mir bei einer Solokletterei an der Kleinen Zinne in den Dolomiten die Sohle meines Schuhs brach, es entsprach nicht meiner Absicht, daß bei der Skiabfahrt am Nanga Parbat unter meinem Ski ein Schneebrett abging, daß von einem winzigen Haken in der Nordwand des Peitlerkofels mein Überleben abhing, daß mir am dritthöchsten Berg der Erde die Fußzehen erfroren sind. Viele dieser Situationen hätte ich in diesen Sekunden oder Stunden lieber nicht erlebt. Eine Flasche rubinroter Brunello wäre mir manches Mal lieber gewesen. Ich bin den Weg, den ich bis heute hinter mir habe, nicht gegangen um der Geschichten willen. Ich habe das Abenteuer, aber nicht blind die Gefahr gesucht, die Herausforderung, nicht den Tod, den Berg, nicht den Steinschlag, den Gletscher, nicht die gähnend tiefe Spalte. Und doch hat das alles dazugehört. Es ist ein Teil der Suche, vielleicht eine Wegmarkierung oder besser eine Begrenzung des Weges. Blitz, Steinschlag, Lawinen, das sind die schwer kalkulierbaren Risiken beim Bergsteigen. Dazu kommen Leichtsinn, menschliche Fehler, schadhafte Ausrüstung, eigenes Versagen, aber auch Ängste oder zuviel Mut. Es gibt viele Möglichkeiten, nicht zu überleben. Aber davon gibt es im gesamten Leben genug. Das Leben als solches ist lebensgefährlich.

Weit über 2400 eigenständige Bergtouren liegen hinter mir und hoffentlich noch viele vor mir. Mit fast jeder bin ich um eine Erfahrung reicher geworden. Weil ich die Herausforderung Berg immer wieder annehmen wollte, hat es natürlich auch viel Raum für Erlebnisse gegeben. Und manche wären sicher dazu geeignet, mich einem Kamikaze, einem selbstmörderischen japanischen Todesflieger, gleichzusetzen. Wenn da nicht bei allem die Umstände zu berücksichtigen wären und die Tatsache, daß mir ein Gläschen Brunello wirklich lieber gewesen wäre als ein medizinballgroßer Steinbrocken in der Dibonakante der Großen Zinne.

Kapitel 1

Freier Blick – Die größte Pyramide der Erde

Auf einmal wurde die gelbe Gestalt vor mir schneller. Fast unmerklich nur, aber sie wurde schneller. Geringfügig vergrößerte sich der Abstand zwischen der dick vermummten Gestalt und mir. Dann blieb sie stehen. Und auch ich stoppte. Ich mußte anhalten. Es ging nicht anders. Mein Atem flog, mein Herz raste, mein Körper versuchte reflexartig die Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Ich konnte förmlich spüren, wie zäh und dickflüssig das Blut durch meine Adern pumpte. Und dazu der ständige Husten. Das war nicht ein kehliger, befreiender Husten, sondern ein ekelhafter Reizhusten, ausgelöst durch die Temperaturen, die Höhe und die trockene Luft.

Viel mehr als drei, vier Schritte war ich kaum mehr in der Lage, die Füße voreinanderzusetzen. Die Gestalt vor mir ebenfalls nicht. Die Kälte spürte ich kaum. Eigentlich fühlte ich fast gar nichts mehr. Nur diese unendliche Müdigkeit. Und den Durst. Meine Mundhöhle war ausgetrocknet wie dürres Herbstlaub. Meine Zunge fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Mir tat der Hals weh, und die Versuche zu schlucken waren eher ein Würgen. Es kostete nicht nur Kraft, sondern vor allem Überwindung, weiterzugehen. Die Gestalt vor mir drehte sich kurz um und machte eine Armbewegung. Ein angedeutetes Winken: Komm nur. Jean-Christophe Lafaille, der französische Spitzenbergsteiger, setzte sich erneut in Bewegung, blieb aber gleich wieder stehen. Noch einmal drehte er sich zu mir um. Und ich stand noch immer. Wie hoch waren wir wohl? Sicher weit über 8500 Meter, vielleicht sogar schon 8600 Meter. Hoffentlich, dachte ich, hoffentlich sind wir schon so weit oben. Dann mußte ich wieder husten.

Je länger ich innehielt, um so mehr reduzierte sich meine Herzfrequenz, und der Atem flog nicht mehr in den fast unerträglich schnellen, hechelnden Stößen. So ging das jetzt seit Stunden. Drei, vier Schritte gehen, keuchen, nach Sauerstoff saugen, den Körper auf höchste Belastung zwingen, anhalten. Dann wieder rasten, warten, bis Lunge und Herz sich ein wenig beruhigt haben. Wie angenehm war es, einfach dazustehen und nichts zu tun. In mir schien alles zu schreien: Bleib da, rühr dich nicht mehr vom Fleck. Danach den ersten Schritt zu tun war mit einer einzigen Anstrengung verbunden. Und die mußte vom Kopf ausgehen. Ich mußte mein Gehirn förmlich zwingen, das Signal auszusenden: Weitergehen, du mußt weitergehen! Es schien endlos lange zu dauern, bis dieses Signal meine Beine erreichte. Oft mußte ich den Gedanken mehrmals fassen, ehe die Muskeln endlich wieder ihr schmerzhaftes Spiel begannen.

Jetzt ging ich wieder ein paar Schritte. Und auch Jean-Christophe Lafaille vor mir bewegte sich. Er kam immer noch schneller voran. Das wunderte mich. Wie weit war er von mir entfernt? Zehn, vielleicht zwanzig Schritte? Höchstens. Das Gelände, in dem wir uns bewegten, war immer noch enorm steil. Wieso wurde er auf einmal schneller und ich nicht? Noch bevor ich länger darüber nachdenken konnte, blieb er schon wieder stehen. Genau wie ich. Es war ja soviel leichter anzuhalten, als weiterzugehen. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt. Runter auf die Knie und mit einer halben Drehung hingesetzt. Aber ich wußte in dem Moment beim besten Willen nicht, wie ich wieder hätte hochkommen sollen. Am zweithöchsten Berg der Erde, zumal in dieser Höhe, ist Sitzen wohl kaum die beste Methode, den Gipfel zu erreichen, und ganz sicher nicht geeignet, diesen Grenzgang am Rande medizinischer Vernunft zu überleben. Und überleben wollte ich den K2, den schönsten aller Achttausender.

Wenn mein Atem nicht mehr so unerträglich rasselte und der Husten mich nicht beutelte, schossen mir Gedanken durch den Kopf. Sie schienen undeutlich, wie in Watte verpackt, aus weiter Ferne kommend, selten zu Ende gedacht. Fast auf den Tag genau drei Wochen zuvor hatte ich rund 3500 Meter tiefer einen erstaunlichen Fund gemacht. Merkwürdig, daß mir das ausgerechnet jetzt einfiel.

Der K2, im nordwestlichen Zipfel des 500 Kilometer langen Karakorum-Gebirges gelegen, ist der einzige von 14 Achttausendern, der von keiner menschlichen Besiedlung aus zu sehen ist. Man muß viele Tage gehen, bis man diesen gewaltigen Berg – dann nur noch ein paar Stunden Fußmarsch von ihm entfernt – endlich zu Gesicht bekommt. Die letzten Etappen dieses Mega-Trekkings führen über den 60 Kilometer langen Baltoro-Gletscher, der zu den längsten Eisströmen der Welt gehört. Diese riesige kalte Zunge ist über und über mit Moränenschutt bedeckt. Schwarze Steine, nichts als schwarze Steine und keinerlei Vegetation mehr. »60 Kilometer große Steine und 60 Kilometer kleine Steine«, hat der deutsche Spitzenkletterer Wolfgang Güllich bei seiner Expedition im Karakorum belustigt-ernüchtert notiert. Tatsächlich ist es fast zermürbend, tagelang auf und ab über die Moränenhügel dahinzustapfen und dabei das Gefühl nicht loszuwerden, daß das niemals aufhört. »Kara« heißt schwarz und »Korum« bedeutet Geröll. Schwarzes Geröll, wie treffend.

Der Ursprung dieses mächtigen Gletscherflusses, den man da hinaufwandert, liegt in der Gegend um den Baltoro Kangri, den sogenannten Goldenen Thron, unweit der Achttausender Gasherbrum I und Gasherbrum II.Von dort fließt der Baltoro-Gletscher mit bis zu einem halben Meter Fließgeschwindigkeit pro Tag in Richtung des Concordia-Platzes und stößt dort mit dem Godwin-Austen-Gletscher zusammen. So eintönig und ernüchternd vielleicht der Untergrund ist, auf dem sich die Expeditionen und Trekkinggruppen ihre Wege zu den Basislagern der Gasherbrums, des Broad Peak und des K2 suchen, so spektakulär ist die Bergkulisse rundum. Es lohnt sich, den Blick zu heben und die schwarzen Steine immer wieder mal schwarze Steine sein zu lassen. Kunstwerke der Natur, wohin das Auge auch blickt. Urgewaltige Gebilde aus Stein und Eis. Bergmassive, eines schöner als das andere. Und als Höhepunkt schließlich der Concordia-Platz, der wie die Mitte eines Flusses wirkt. Von dort gibt es den ersten freien Blick auf den K2, der sich als größte Pyramide der Erde aus einem schier heillosen Chaos aus Schutt und Eis dem Himmel entgegenreckt. Nirgendwo sonst ist der Anblick des zweithöchsten Achttausenders so atemberaubend wie von dieser Stelle.

Nur noch eine Stunde vom Concordia-Platz entfernt, hatte ich drei Wochen zuvor meinen Zustieg ins K2-Basislager für eine kurze Rast unterbrochen. Ich ließ mich auf einem Stein nieder, und meine Augen wanderten ziellos über den Boden vor mir. In mir begann sich eine innere Spannung aufzubauen. Noch eine Stunde, dann würde ich den Berg endlich sehen, würde wissen, welche Verhältnisse am K2 herrschen, würde das Ziel tatsächlich anvisieren können. Meine Augen suchten also eigentlich gar nichts. Die Blicke sprangen umher und schienen auf einen Anhaltspunkt aus, fanden aber außer schwarzen Steinen nichts. Bis ein Stück Metall zwischen dem ganzen Geröll meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ich stand auf, ging ein paar Schritte zu der Stelle hin, bückte mich, griff nach dem Metall – und hielt ein Hufeisen in der Hand. Ein Hufeisen in 4600 Metern Höhe, an einem derart unwirtlichen Ort. Ich betrachtete das Eisen näher. Abgewetzt und zerschunden, aufgearbeitet und rund gestampft von Hufschlägen auf Stein. Es mußte von einem jener Pferde stammen, mit denen das pakistanische Militär in der endlosen Auseinandersetzung mit Indien einen Teil des Nachschubs in die entlegenen Gebiete des Karakorum schaffte. Anders konnte ich mir diesen seltsamen Fund nicht erklären. Ich hielt das Hufeisen in den Händen und dachte eher vage über die Bedeutung nach.

Ein Hufeisen ist vielerorts ein Symbol des Glücks. Brautpaaren hängt man bisweilen eines über die Tür. Natürlich mit der offenen Seite nach oben, damit das Glück hineinfallen kann. Zum Jahreswechsel gibt es Hufeisen aus Schokolade zu kaufen. Der Schornsteinfeger wird zu Werbezwecken gern mit einem Hufeisen in der Hand abgebildet. Es gibt viele Deutungen. Zum Beispiel auch die, daß der heilige Dunstan ein geschickter Hufschmied war und des Teufels Huf beschlagen sollte. Er schlug so heftig drauf, daß der Teufel um Gnade winselte. Dunstan rang dem Teufel das Versprechen ab, all jene zu schonen, die ein Hufeisen tragen. Manche sagen auch, daß die offene Seite unbedingt nach unten zeigen muß, damit das Glück auslaufen kann. Wenn noch drei Hufnägel am Eisen sind, hilft es besonders. Und man sagt auch, man muß es finden, das Hufeisen, nicht suchen.

Ich bin nicht abergläubisch, ganz gewiß nicht. Aber wenn ich in dieser Einöde, dieser endlosen Eis- und Steinwüste, mitten im Nichts, durch einen nicht mehr erklärbaren Zufall ein Hufeisen fand und das noch dazu ein Zeichen des Glücks bedeutet, dann war ich gern bereit, diese Deutung zu akzeptieren. Zumal in dem Zustand, in dem ich mich befand. Meine Verfassung war alles andere als optimal. Meine Vorbereitung auf das große Ziel war keineswegs so verlaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Am Ogre, einem schwierigen Siebentausender im Karakorum unweit der Trango-Türme, hatte ich mich mehr aufgerieben als gut eingestellt. Ich war praktisch kaum akklimatisiert, weil ich viel zu wenig Zeit in der Höhe verbracht hatte. Die technischen Schwierigkeiten waren für einen Vorbereitungsberg viel zu hoch und hatten mich eigentlich eher gestreßt. Noch bevor es am K2 richtig losgehen sollte, hatte ich also bereits einen kapitalen Fehler gemacht. Und nun nagten die Zweifel, negative Gedanken fraßen sich fest, und der K2 stand wie ein düsteres, unüberwindbares Bollwerk vor mir.

Ich saß auf dem Stein, eine Stunde vom Concordia-Platz entfernt, und hielt dieses abgetretene Hufeisen in der Hand, das irgendein lahmendes Roß verloren hatte. Und ausgerechnet ich hatte es gefunden. Ich war genau in dem Zustand, der Menschen nach dem Strohhalm greifen läßt, in dem ihnen jedes Mittel recht ist, wenn es nur ein bißchen Hoffnung bringt. Ich erinnerte mich zurück und suchte nach einer vergleichbaren Situation. 1992, auf dem Weg zum Basislager auf der Nordseite des Mount Everest, hatte ich in Tibet das Kloster Rongbuk besucht. Zerstört während der chinesischen Kulturrevolution, besuchte ich in den kläglichen Resten der Gemäuer einen alten, halbblinden Mönch, den ich schon seit einigen Jahren kannte. In unserem Gespräch kamen wir auf die Aussichten für einen Erfolg am Everest zu sprechen. Mahnend hatte dieser weise Mann damals mit seiner ruhigen Stimme zu mir gesagt: »Geh nicht auf diesen Berg. Es ist zu gefährlich. Es ist das Jahr der Schlange nach dem tibetischen Kalender. Er wird in diesem Jahr Schlimmes geschehen.« Wir scheiterten am Everest, ohne einen wirklich ernstzunehmenden Versuch unternommen zu haben. Lawinen, klirrende Kälte und Höhenstürme von ungeheurer Gewalt lähmten alle Aktionen am Berg.

Vier Jahre später kam ich wieder nach Rongbuk. Das Kloster war zum Teil wiederaufgebaut, und den alten Mönch fand ich auch. Die Furchen in seinem gegerbten Gesicht waren noch tiefer geworden, seine müden Augen wirkten noch trüber. Er trug jetzt eine Brille mit dicken Gläsern, von denen eines einen Sprung hatte. Es dauerte, bis er mich erkannte. Wir tranken Tee und unterhielten uns. Bis ich schließlich das Gespräch auf das Wetter und den Everest lenkte. Über sein Gesicht huschte ein gütiges Lächeln, seine Hand hob sich kurz gegen den Himmel, er sah mich lange an, und dann sagte er: »Gut. Jetzt wird alles gut werden.« Acht Tage später stand ich auf dem höchsten Punkt der Erde, auf dem Gipfel des Mount Everest.

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Alles wird gut: buddhistischer Mönch im Kloster Rongbuk an der Nordseite des Mount Everest

Daran hatte ich denken müssen, als ich unweit des Concordia-Platzes dieses Hufeisen in meinen Rucksack stopfte. Das war inzwischen drei Wochen her. Nun stand ich wieder weit jenseits der 8000-Meter-Marke, vor mir ein französischer Spitzenbergsteiger, vermummt in einem auffälligen gelben Sturmanzug. Und im Basislager, in meinem Zelt, lag das Hufeisen. Ich rätselte, wie weit Jean-Christophe Lafaille entfernt sein könnte und warum er unmerklich schneller wurde. Die Lösung lag so nahe, wie die Entfernung zwischen uns maß. Der Berg, dieses gewaltige Monstrum von K2, steil wie kaum ein anderer Achttausender, legte sich endlich zurück. Die Steilheit ließ nach, das Gelände wurde flacher. Die Flanke, in der wir angestiegen waren, mündete in eine Art flachen Grat. Das erkannte ich, als ich die Stelle erreichte, an der Jean-Christophe kurz vorher gestanden war. Wieder drehte er sich um, und mir schien, als würde ein kurzes Lachen seine angestrengten Gesichtszüge entspannen. Es schien mir so.

Es konnte nicht mehr weit sein. Vierzig, vielleicht fünfzig, höchstens sechzig Meter. Wenn es danach bergab gehen sollte, waren wir da. Wieder blieb ich stehen.

Mit keinem anderen Achttausender habe ich so sehr gerungen wie mit dem K2.

Kein anderer Achttausender hat mich so sehr genervt und doch so sehr angezogen, so geärgert und fasziniert, so gestreßt und so beeindruckt wie diese steinerne Pyramide auf der Grenze zwischen China und Pakistan im rauhen Nordwesten des Karakorum-Gebirges. Der Mount Everest ist höher, der K2 ist schwieriger. Beide Gipfel stellen enorme Anforderungen bis an die Grenze menschlicher Belastbarkeit. Am K2 aber gerät der Bergsteiger, ganz gleich von welcher Seite er sich nähert und welche Route er wählt, in steilen Fels, Eiswände und Seracs. Am Everest kann man meist gehen, am K2 muß man klettern. Vielleicht wegen dieser weit höheren Anforderungen gilt vielen der zweithöchste Berg als höchste bergsteigerische Herausforderung überhaupt. Nicht umsonst wird der K2 als der »Berg der Berge« bezeichnet. Und nicht umsonst landen alle Gespräche und Diskussionen über das Höhenbergsteigen über kurz oder lang beim K2.

Wenn einer 13 Achttausender bestiegen hat und es fehlt ihm noch der K2, dann weiß er nicht, wieviel ihm noch fehlt. Dann fehlt der Schönste und der Schwierigste von allen in der Sammlung, dann fehlt der König der Berge. Mir ist auf Anhieb außer den Erstbesteigern Lino Lacedelli und Achille Compagnoni kein Höhenbergsteiger bekannt, der den K2 als ersten Achttausender bestiegen hat. Voller Ehrfurcht und Respekt schieben viele seine Besteigung jahrelang vor sich her. Und das ist wahrscheinlich gut so. Denn zu einem Erfolg am K2 gehören viel Erfahrung und sicher auch eine Portion Glück. Glück, das mir acht Jahre lang durch die Hände zu rinnen schien wie Wasser. Bis hin zu jenem Tag, an dem sich der Berg vor mir endlich zurücklegte, an dem der K2 endlich nachgab...

Kapitel 2

Aufbruch – Die lange Reise zu den Achttausendern

Die längste Reise meines Lebens begann in Südtirol. Sie begann an einem strahlenden Sommertag, und die Fahrkarte, die ich löste, gab keine Reiseroute vor. Daß sie mich innerhalb von 19 Jahren auf die 13 höchsten Gipfel der Erde führen würde, ahnte ich nicht. Ich war zu diesem Zeitpunkt ein begeisterter Kletterer, ausgebildeter Bergführer und froh, daß ich meinen erlernten Maurerberuf nicht mehr ausüben mußte. Die gelben Wände der Dolomiten, die eisigen Rinnen der Zillertaler Alpen, das Matterhorn und der Mont Blanc faszinierten mich mehr als jede Baustelle der Welt.

An jenem Sommertag 1982 erhielt ich – völlig überraschend – eine Einladung von Reinhold Messner, ihn auf eine Expedition zum Cho Oyu zu begleiten. Messner, dem damals längst der Ruf eines außergewöhnlich starken Höhenbergsteigers vorauseilte, plante eine Winterbesteigung des achthöchsten Bergs der Welt. Für ihn besaß diese Einladung an mich offenbar eine gewisse Logik, obwohl wir noch nie zusammen an einem Seil geklettert waren. Aber ich arbeitete damals in der von Reinhold Messner geleiteten Alpinschule Südtirol und stand somit schon deswegen unter seiner »Beobachtung«.

Für mich hingegen kam die Einladung tatsächlich überraschend, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich eher weniger mit der Welt der höchsten Berge beschäftigt. Die Achttausender waren da, aber weit entfernt. Reinholds Erzählungen faszinierten mich, aber ich wußte nicht wirklich etwas mit der Höhe und den Bedingungen jenseits der 5000 Meter anzufangen. Mount Everest, K2, Gasherbrum, Manaslu, Dhaulagiri, Lhotse, Makalu – natürlich waren mir das Begriffe. Und natürlich der Nanga Parbat, an dem Reinhold Messner seinen Bruder Günther verloren hatte.

Ich hatte gerade erst in den Alpen über den Tellerrand hinausgeschaut, und jetzt wurde mir ein Berg im Himalaya auf dem silbernen Tablett präsentiert. Daß der Cho Oyu mit seinen 8201 Metern Höhe auf dem Normalweg unter die eher leichteren Achttausender eingestuft wurde, störte mich herzlich wenig. Die von Reinhold geplante Winterbegehung der Südostwand verschärfte die Sache um ein Vielfaches. Zudem war der Cho Oyu damals erst dreimal bestiegen worden. Es kostete mich keine lange Überlegung, meine Teilnahme an der Expedition zuzusagen.

Große Chancen, mich an der Seite von Reinhold in den Flanken eines Achttausenders zu bewegen und von Messners Höhenerfahrung zu lernen, bekam ich nicht. Wir versanken hoffnungslos im Schnee, und die Stürme zehrten uns bald aus. Reinhold erkannte die Sinnlosigkeit des Unternehmens recht schnell und brach die Expedition kurz entschlossen ab. Wir kehrten zurück in die nepalesische Hauptstadt Kathmandu und flogen nach Hause. Ich wurde während des gesamten Flugs das Gefühl nicht los, als sei mein Aufbruch in die Welt der Achttausender beendet, noch bevor er richtig begonnen hatte. Reinhold hingegen war rasch wieder guter Dinge. Er buchte das Unternehmen Cho Oyu im Winter auf das Konto Expeditionserfahrung, plante entschlossen weiter – und lud mich ein paar Wochen später für den darauffolgenden Frühling 1983 wieder ein. Er gab mir das Gefühl, daß ich dazugehöre.

Nachdem wir an der Südostseite des Cho Oyu im Winter gescheitert waren, hatte Reinhold für die Vormonsunzeit 1983 eine Besteigungsgenehmigung für die Südwestflanke. Nun sollte ich lernen, wie schnell und trotzdem sicher man einen Achttausender besteigen kann. Reinholds Zeitplan war straff und dennoch ausreichend. Wie eine ganz normale Trekkinggruppe wanderten wir im Solo Khumbu über Namche Bazaar in Richtung Thame bis unter den Nangpa-La und errichteten das Basislager. Wir akklimatisierten uns am Berg und stiegen dann in nur drei Tagen auf den Gipfel des Cho Oyu. 8201 Meter über dem Meeresspiegel. Es war die vierte Besteigung des Bergs überhaupt. Was für ein Gefühl.

Ich merkte, wie zerschlagen ich war, wie fertig. In meinem Kopf summte es wie in einem Wespennest, und ich wäre am liebsten keinen Schritt mehr weitergegangen. Aber tief in mir drinnen spürte ich, daß dies nicht die Grenze war. Vielleicht war ich nahe dran gewesen, aber es war nicht das Äußerste. Ein paar Reserven wären noch aufzubringen gewesen. Und mit diesen Reserven hätte ich entweder noch weiter hinauf oder eine schwerere Route gehen können. Ich erinnere mich, daß mich Reinhold Messner, der nur drei Jahre später als erster Mensch alle 14 Achttausender bestiegen haben würde, bei unserer Rückkehr ins Cho-Oyu-Basislager und auch später in Kathmandu ein paar Mal lange beobachtet hat. Er schien zu spüren, was in mir vorging, schien zu fühlen, daß nicht mehr viel fehlte, um in mir ein Feuer zu entfachen.

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Cho-Oyu-Expedition 1983: Jul Bruno Laner, Friedl Mutschlechner, Dr. Oswald Oelz, Reinhold Messner, Paul Hanny, Hans Peter Eisendle, Hans Kammerlander

Ich bin von meinem Naturell her nicht der Typ Mensch, der seine Gefühle wie ein offenes Buch vor sich herträgt. Ich habe tiefgehende Empfindungen, aber ich zeige sie selten offen. Die Freude ja, die Traurigkeit und die Melancholie eher nicht. Im Sommer 2003 wurden in Sand in Taufers zwei junge, sympathische Kletterer zu Grabe getragen. Norbert Oberfrank und Bruno Steinhauser waren beide erfahrene, umsichtige und souveräne Bergsteiger. Am 24. August stürzten sie am Östlichen Mesulesturm im Sella-Stock in den Dolomiten die Wand hinunter bis zum Einstieg. Jeder Kletterer weiß, daß er sich einem Risiko aussetzt. Und wer selbst klettert, kommt vielleicht etwas eher über den Tod eines Kollegen weg. Doch in diesem Fall war es das Gesamtausmaß der menschlichen Tragödie, das sich an diesem Sonntag als lähmendes Entsetzen über das ganze Tal ausbreitete. Denn Norberts Freundin Christa Oberhofer verlor praktisch in der gleichen Stunde in den Sextener Dolomiten auch ihren Vater, der auf einer Wanderung einem Herzinfarkt erlag. Als Norbert Oberfrank fünf Tage später beerdigt wurde und wir am offenen Grab standen, dachte ich darüber nach, was am Mesulesturm in der Sella passiert sein konnte. »Häufig wiederholte Idealkletterei an exzellentem Fels«, heißt es in der Routenbeschreibung. Mich beschäftigte die Frage nach dem Wie und nicht die nach dem Warum. Tief in mir war ein Gefühl von Traurigkeit. Und dort ließ ich es auch, tief drinnen.

Seine Empfindungen zu beschreiben ist wohl generell nicht einfach – und in der rauhen Welt der Berge vielleicht doppelt schwer. Für die Schönheit und Pracht der Berge gibt es zu wenige und oft nur unzureichende Vokabeln. Warum sonst fallen auf einem Gipfel so häufig die immer gleichen Worte, die am Ende nichts anderes zeigen als die eigene Unfähigkeit, sich auszudrücken: »unfaßbar«, »unglaublich«, »unbeschreiblich«. So ging es mir damals auf dem Gipfel des Cho Oyu. Ich konnte das Gefühl nicht in Worte zwingen. Kein Begriff hätte das auch nur annähernd fassen können. Als wir wieder im Basislager ankamen, machte sich Stolz in mir breit. Ich genoß noch einmal den Augenblick oben und war froh, wieder unten zu sein. Vielleicht wurde in dieser Stunde der Hunger nach mehr geweckt, da entstand möglicherweise diese Sucht, der Grenze noch näher zu kommen.

Reinhold Messner gab mir reichlich Gelegenheit dazu. Von nun an ging es praktisch Schlag auf Schlag. Ein Jahr nach dem Cho Oyu gelang uns die erste direkte Überschreitung zweier Achttausender. Alles, was wir zum Überleben benötigten, trugen wir wie ein Schneckenhaus auf dem Rücken auf die Gipfel des auch Hidden Peak genannten Gasherbrum I (8068m) und des Gasherbrum II (8035) im Karakorum. Am 24. April 1985 durchstiegen wir die noch jungfräuliche Nordwestwand der Annapurna (8091m), wechselten danach die Talseite und erreichten 19 Tage später den Gipfel des Dhaulagiri (8167m).

In nur drei Jahren hatten wir fünf Achttausender miteinander bestiegen. Im Winter 1985 zwangen uns enorme Stürme am Makalu (8481m) zum Rückzug. Im Frühjahr kamen wir wieder. Reinhold fehlten nur noch der Makalu und der Lhotse (8516m). Am 26. September 1986 rückten wir nach zwei vergeblichen Anläufen dem Makalu aufs Haupt. Am 16. Oktober standen wir am höchsten Punkt des Lhotse. Reinhold hatte alle 14 Achttausender bestiegen und war damit schon zu Lebzeiten zu seiner eigenen Legende geworden. Sieben der höchsten Berge unserer Erde hatten wir zusammen erlebt. Oder besser: überlebt.

Während des ganzen Medienrummels nach unserer Rückkehr nach Kathmandu, während Reinhold von einer Pressekonferenz zur nächsten eilte und von einem Empfang zum nächsten gereicht wurde, überlegte ich mir, ob alle 14 Achttausender auch für mich ein erstrebenswertes Ziel sein könnten. Ich verwarf den Gedanken. Ich konnte es durchaus in Ruhe auf mich zukommen lassen. Nein, es war nicht diese magische Zahl 14. Viel mehr beschäftigte mich das Interesse daran, was wohl die anderen Achttausender zu bieten haben könnten. Vor allem die ganz hohen, der Everest, der Kangchendzönga, der K2. Mit der Höhe kam ich zurecht, ich wußte nun, wie mein Körper reagiert. An der Seite von Reinhold hatte ich einige heikle Situationen überstanden. Ich hatte viele Erfahrungen gemacht und einiges gelernt. Vor allem aber bedeuteten mir das Land und die Menschen am Fuße des Himalaya etwas. Nepal war mir ein Stück zweite Heimat geworden. Die engen Gassen von Kathmandu, die Dörfer im Annapurna-Gebiet und im Solo Khumbu, die Kinder, die tibetischen Mönche und die unbändige Lebensfreude im drittärmsten Land der Erde.

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Lichtspiele: Sonnenuntergang am Makalu

Nachdem sich die Wege von Reinhold Messner und mir getrennt hatten, begann ich meine Reise allein fortzusetzen. Ich bestieg den Nanga Parbat und überlebte die Hölle am Manaslu, als binnen weniger Stunden zuerst mein Grödner Partner Carlo Großrubatscher bei einem tragischen Absturz ums Leben kam und dann Friedl Mutschlechner, mein Lehrmeister und einer meiner besten Freunde, von einem Blitzschlag getroffen wurde. Ich bestieg den Broad Peak, die Shisha Pangma in Tibet und schließlich nach mehreren Anläufen endlich den Mount Everest. Aber immer noch lag der K2 vor mir. Ich konnte machen, was ich wollte, er schien die härteste Nuß von allen.

Ich saß Stunden über Bücher und Zeitschriften gebeugt und verschlang alles, was ich über den K2 in die Finger bekommen konnte. Fasziniert studierte ich auf großformatigen Fotos die Grate und Pfeiler, Flanken und Wände dieses unglaublichen Kolosses. Ich versuchte mir bewußtzumachen, was es konkret bedeutet, daß das Matterhorn über dreißig Mal im K2 Platz hat. Dieser Berg war so ungeheuer wuchtig und so schön, daß er mir einfach keine Ruhe ließ. Selbst auf dem Gipfel des Everest, kurz bevor ich die Ski anschnallte, dachte ich an den K2.

An einem sonnigen Frühjahrstag des Jahres 1852, so ist es recht lebendig überliefert, stürmte ein junger Vermessungsbeamter in das Direktionsbüro des »Survey of India«, der indischen Landvermessungsbehörde, und rief ganz aufgeregt: »Sir, ich habe gerade den höchsten Berg der Erde entdeckt.« Der Gipfel wurde in der Karte als »Peak XV« eingetragen, mit einer Höhe von 8840 Metern registriert und bald danach unter dem Namen Mount Everest als das »Dach der Welt« bezeichnet.

Wenige Jahre später begann das indische Landvermessungsamt mit nicht minder großem Aufwand wie im Himalaya, dem Karakorum-Gebirge mit trigonometrischen Untersuchungen näher zu kommen. Der Hintergrund all dieser Anstrengungen war ein eher politischer. Die Messungen im Himalaya und im Karakorum waren nämlich nur Teil eines groß angelegten und äußerst ehrgeizigen Gesamtprojekts. Dabei ging es darum, möglichst genaue Landkarten sämtlicher Besitztümer des britischen Empire auf dem indischen Subkontinent zu zeichnen.

Im September 1856, vier Jahre nach der »Entdeckung« des Everest, richtete der britische Colonel T.G. Montgomerie seinen Theodoliten Richtung Norden aus. Sein Standpunkt: der Gipfel des Haramuk im Kaschmir-Gebirge. Vor Montgomerie lag eine Reihe von Bergkämmen, die ihn weniger interessierten. Weiter draußen jedoch waren die ersten schneebedeckten Gipfel des Karakorum erkennbar. Montgomerie, dunkle Augen, hohe Stirn, buschige Augenbrauen und mit einem gewaltigen Vollbart ausgestattet, schrieb eine kleine Notiz in seine Vermessungsunterlagen. Was er da in nicht mehr als 140 Kilometer entfernt sah, nannte er auf seiner Skizze »Planet K«. Das »K« stand für Karakorum. Hinter der Gebirgskette konnte Montgomerie zwei Gipfel ausmachen, die alle anderen an Form und Höhe übertrafen. Wieder griff er zum Stift und notierte »K1« für den vermeintlich höheren der beiden Berge und »K2« für den zweithöchsten. In Wirklichkeit war der von ihm als »K1« bezeichnete Berg der 7821 Meter hohe Masherbrum. Und es sollte noch zwei weitere Jahre dauern, ehe die Topographen feststellten, daß der »K2« mit seinen 8611 Metern nach dem Mount Everest der zweithöchste Berg der Welt ist.

1861 näherte sich ein Offizier des »Survey of India« den hohen Bergen im Karakorum. Durch und durch von britischem Entdeckergeist beseelt, erkundete Henry Haversham Godwin Austen mit einigen mutigen Trägern aus Baltistan den mächtigen Baltoro-Gletscher und näherte sich bis auf etwa 15 Kilometer dem heute als »Concordia-Platz« bezeichneten Punkt, an dem die ganz großen Karakorum-Gletscher zusammenfließen. Als er es im Verlauf seiner langen Expedition nicht über den Muztagh-Paß schaffte, entschloß er sich, den K2 näher in Augenschein zu nehmen. Da ihm aber der Ausblick vom Baltoro-Gletscher aus durch immer neue Felsriegel und Bergmassive verwehrt war, stieg Godwin Austen wild entschlossen dem wunderschönen Massiv des Masherbrum entgegen. So weit hinauf, bis er endlich die Spitze der gewaltigen Pyramide des K2 herausragen sah. Der britische Kapitän zeichnete schließlich die erste Übersichtskarte des Karakorum-Gebietes.

Nur allzu gern hätten die Briten bei der Namensgebung eine Parallele zum Mount Everest gesehen, der bis zum heutigen Tag nach dem leitenden Vermessungsbeamten des »Survey of India«, Sir George Everest, heißt. »Mount Godwin Austen« hingegen konnte sich nicht durchsetzen. Einzig der breite Gletscherfluß, der sich vom Skyang Kangri kommend herunterwälzt und auf dem das Süd-Basislager des K2 errichtet wird, trägt den Namen des Europäers, der dem K2 so nahe kam wie niemand vor ihm. Auch »Chogori«, wie die einheimischen pakistanischen Balti den Berg seit frühesten Zeiten nennen, schaffte es nicht in den allgemeinen Sprachgebrauch. Der chinesische Name »Dapsang« ist fast überhaupt nicht bekannt. Es blieb bei der Bezeichnung K2, sachlich, nüchtern, nichtssagend, ganz so wie der britische Colonel T.G. Montgomerie jenen Vermessungspunkt notiert hatte.