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Originalausgabe

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,

Tumblingerstraße 21, 80337 München

© 2016. Redaktionelle Verantwortung: Verlag C.H. BECK oHG

eBook Datagroup int. SRL, 300665 Timişoara, România

Umschlaggestaltung: Agentur 42, Bodenheim

unter Verwendung eines Fotos von Panthermedia

eBook
ISBN 978-3-406-68071-7 (C.H. BECK)

Dieser Titel ist auch als Printausgabe beim

Verlag und im Buchhandel erhältlich.

Abkürzungsverzeichnis

AdR

Ausschuss der Regionen

AEUV

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäische Union

AKP-Staaten

Afrika-, Karibik- und Pazifik-Staaten

ASEM

Asia-Europa-Meeting

CERN

Europäische Organisation für Kernforschung

CETA

Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada

EAG

Europäische Atomgemeinschaft (auch: EURATOM)

EASA

Europäische Agentur für Flugsicherung

EAWU

Eurasische Wirtschaftsunion

ECE

Wirtschaftskommission für Europa (Economic Commission for Europe)

ECOFIN

Rat der Wirtschafts- und Finanzminister der EU

ECU

Europäische Währungseinheit (European Currency Unit), Vorläufer des Euro

EEA

Einheitliche Europäische Akte

EEF

Europäischer Entwicklungsfonds

EFRE

Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung

EFSI

Europäischer Fonds für strategische Investitionen

EFTA

Europäische Freihandelszone (European Free Trade Association)

EG

Europäische Gemeinschaft

EGKS

Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (auch. Montanunion)

EIB

Europäische Investitionsbank

ELER

Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes

EP

Europäisches Parlament

EPZ

Europäische Politische Zusammenarbeit

ESA

Europäische Weltraumorganisation (European Space Agency)

ESIF

Europäische Struktur- und Investitionsfonds

ESM

Europäischer Stabilitätsmechanismus

ESVP

Europäische Sicherheits- und Verteidigungs- politik

EU

Europäische Union

EuGH

Europäischer Gerichtshof

EURATOM

Europäische Atomgemeinschaft (auch: EAG)

EUV

Vertrag über die Europäische Union

EVG

Europäische Verteidigungsgemeinschaft

EWG

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

EZB

Europäische Zentralbank

FRONTEX

Europäische Grenzschutzagentur

GASP

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik

GSVP

Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik

GUS

Gemeinschaft Unabhängiger Staaten

KFOR

Kosovo Force

KSZE

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

NATO

North Atlantic Treaty Organization

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammen- arbeit in Europa

RGW

Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe

SDÜ

Schengener Durchführungsübereinkommen

SIS

Schengener Informationssystem

TTIP

Transatlantisches Freihandelsabkommen

WEU

Westeuropäische Union

WSA

Wirtschafts- und Sozialausschuss

WWU

Wirtschafts- und Währungsunion

Einführung:
Wie sie wurde, was sie ist – 50 Jahre „Erfolgsgeschichte Europäische Union“

I. 25. März 1957

25. März 1957. In Rom ist Frühling. Auf dem Kapitol herrscht Hochbetrieb. Handwerker legen letzte Hand an. Den Platz schmücken Blumen und Flaggen. Carabinieri in Paradeuniformen ergänzen das Bild. Die Jugend Italiens hat schulfrei – kurzum: es ist ein besonderer Tag!

Für einen Tag ist die Ewige Stadt wieder die Hauptstadt Europas, präsentiert sich in festlichem Fahnenschmuck, sonnt sich in uralter Tradition – schließlich wurde von hier aus einst das Abendland regiert. „Die europäische Geschichte kehrt nach Rom zurück“ – so klingt es in italienischen Kommentaren.

Dann, um 18.00 Uhr, ist es so weit. Unter dem Geläut der berühmten Patarina, der 700-jährigen Glocke auf dem mittelalterlichen Turm des römischen Kapitols, unterzeichnen an einem langen, mit rotem Brokat bedeckten Tisch in dem mit Gobelins festlich ausgeschmückten Saal der Horatier und Curatier des Konservatorenpalastes sechs in elegantem Schwarz gekleidete Herren die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft. Unter ihnen ein eindrucksvoller älterer Herr, ein „Grandsigneur“ Europas und Architekt der Verträge, Dr. Konrad Adenauer, erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er ist der einzige Regierungschef in der Runde; die anderen fünf Unterzeichnerstaaten Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande lassen sich durch ihre Außenminister vertreten.

Zwei Jahre intensiven Verhandelns waren vorausgegangen. Im Mai 1955 hatten die Außenminister der sechs Staaten in Messina beschlossen, über eine Wirtschaftsunion schließlich zu einem – man höre und staune – auch politisch vereinigten Europa zu gelangen. Immerhin bewegt man sich von nun an Schritt für Schritt hin zu einem einheitlichen Markt für 160 Millionen Europäer.

Das Presseecho ist verhalten. Von einem „bedenklichen Weg nach Europa“ etwa ist die Rede, von einem „Ja trotz aller Bedenken“. Auch „Unterzeichnung am Tiber – Befürchtungen am Rhein“ klingt nicht euphorisch; deutlich markanter noch titelt das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ mit „Das Komplott von Rom“ (24. März 1957) oder gar mit „Spaltungsverträge unterzeichnet“ (26. März 1957).

Nahezu 60 Jahre ist das alles her. Ein geschichtliches Experiment ohne Beispiel ist gelungen. Seit über zwei Jahrzehnten – auch hierzu trugen die „Römischen Verträge“ bei – sind Kalter Krieg und Spaltung Europas in Ost und West Historie. Wohlstand und Frieden, Freiheit und Freizügigkeit von La Rochelle bis Riga: das sind Markenzeichen einer weit über die wirtschaftliche Kooperation hinausgewachsenen Gemeinschaft von heute 28 europäischen Ländern und Völkern, die sich seit 1993 nicht ohne Selbstbewusstsein „Europäische Union“ nennt.

II. Ein langer Weg

Rom wurde bekanntlich weder an einem Tag erbaut, noch markiert die damalige Vertragsunterzeichnung dort den Anfang aller Anfänge. Der Aufbau der heute 28 Mitgliedstaaten umfassenden „Europäischen Union“ – kurz: EU – begann Schritt für Schritt nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die gedankliche Vorarbeit zu einem vereinten Europa reicht jedoch bedeutend weiter in die Vergangenheit zurück. Erinnert sei nur an Erasmus von Rotterdam, der bereits im 16. Jahrhundert über ein geeintes Europa philosophierte. Oder an Voltaire, der Europa 1751 als „eine Art große Republik“ beschrieb, „verteilt in verschiedene Staaten. . .“. Oder an den französischen Dichter Victor Hugo, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wohlgemerkt dem Jahrhundert der Nationalstaaten, von den zukünftigen Vereinigten Staaten von Europa träumte.

Paneuropäische Ideen und Europapläne gab es auch in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. 1923 etwa stellte Richard Graf von Coudenove-Kalergi in seinem Buch „Paneuropa“ als Antwort auf Krieg und Kriegsfolgen ein europäisches Einigungsprogramm mit dem Ziel Vereinigter Staaten von Europa vor. Er gründete die „Paneuropa-Union“, die ein beachtliches Echo in der Öffentlichkeit fand. Doch eine reale Chance erhielten solche Visionen erst nach den Verwüstungen und dem unvorstellbaren Leid, das der Zweite Weltkrieg über unseren Kontinent gebracht hatte.

III. Ideen – Pläne – Gründerzeiten

Berühmt wurde die Rede Winston Churchills, der am 19. September 1946 in Zürich erstmals die Gründung der Vereinigten Staaten von Europa vorschlug – allerdings ohne Großbritannien einbeziehen zu wollen. Auch andere Politiker von Rang, wie etwa der Belgier Paul-Henri Spaak, der Italiener Alcide De Gasperi oder der Deutsche Konrad Adenauer, setzten sich für ein Zusammenwachsen Europas ein. 1948 bildete sich in Den Haag die Europäische Bewegung. Sie gab den Anstoß zur Gründung des Europarates in Straßburg am 5. Mai 1949.

Dem Europarat – übrigens nicht zu verwechseln mit dem „Europäischen Rat“, dem seit 1974 als ständige Einrichtung zweimal jährlich zelebrierten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der heutigen Europäischen Union! – trat 1950 die frisch entstandene Bundesrepublik Deutschland bei. Die Hoffnung, der Europarat sei nun der Anfang einer politischen europäischen Union, erfüllte sich nicht; zu groß waren die Meinungsunterschiede der Gründerstaaten über das zu verfolgende Konzept: Aufbau eines Bundesstaates, also einer Föderation, den USA nachempfunden? Oder besser nur eines losen europäischen Staatenbundes, einer Konföderation, die es den einzelnen Staaten erlaubt, ihre Souveränität unangetastet zu erhalten? Oder eine Einigung peu à peu, pragmatisch sozusagen und auf Gebiete beschränkt, die gewisse Erfolgsaussichten boten?

Als bahnbrechend erwies sich die am 9. Mai 1950 vom französischen Außenminister Robert Schuman verkündete Idee, die als „Schumanplan“ Furore machen sollte. Mit einer ebenso einfachen wie genialen Idee gab er den zentralen Anstoß zu einer friedlichen Einigung Europas nach den Schrecken des Krieges: er reichte dem ehemaligen Kriegsgegner Deutschland die Hand und schlug vor, diejenigen Industriezweige künftig zusammenzulegen, die sozusagen die Kanonen produziert hatten – nämlich die Eisen- und Stahlindustrie. Es war der Beginn einer Fusion der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion. Neben Deutschland und Frankreich stimmten auch Italien und die Benelux-Länder Belgien, Niederlande und Luxemburg diesem Plan zu. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, kurz: EGKS oder auch Montanunion genannt, war geboren.

1957 gründeten diese sechs Staaten in Rom die „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, kurz: EWG. Sie dehnten damit die gemeinsame Politik im Montanbereich auf Handel, Wirtschaft, Verkehr und viele andere Bereiche aus. Man versprach sich, innerhalb von zwölf Jahren einen gemeinsamen Markt bilden zu wollen. „Zollunion“ – so lautete von nun an das Zauberwort.

Zeitgleich und ebenfalls in Rom gründeten unsere sechs Pionierstaaten die „Europäische Atomgemeinschaft“, kurz: EAG oder auch Euratom. Diese beiden als „Römische Verträge“ wohlbekannten Gründungsakte traten am 1. Januar 1958 in Kraft. Seinerzeit schon sah man sie lediglich als ein Zwischenstadium auf dem Weg zu einer politischen Einigung Europas an. In der Präambel zum EWG-Vertrag vom 25. März 1957 bekundete man den „festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“.

IV. Süd-, Nord-, Ost- – Erweiterungsrunden und offene Grenzen

Was dann folgte, kann man mit Fug und Recht als historisch beispiellose Erfolgsgeschichte bezeichnen. Aus sechs Staaten wurden neun, aus neun wurden zehn, dann sogar zwölf: Zum 1. Januar 1973 traten Dänemark, Irland und Großbritannien bei, zum 1. Januar 1981 Griechenland. Portugal und Spanien folgten zum 1. Januar 1986.

Unter dem neuen Etikett „Europäische Gemeinschaft“ (EG) bewegten sich die zwölf mit erheblichem Tempo auf einen großen gemeinsamen Binnenmarkt für seinerzeit 323 Millionen Menschen zu. Am 1. Januar 1993 wurde er Wirklichkeit; die Zollschranken fielen, Grenzkontrollen gehörten der Vergangenheit an. Der „Binnenmarkt 92“ eröffnete ungeahnte Chancen für den, der rasch lernte, mit den neuen Marktdimensionen umzugehen. Er barg auch Risiken, die ein solcher Markt für nahezu alle Wirtschaftszweige, für Ausbildungsprofile, Auftragswesen, Dienstleistungsmärkte oder Verbraucherbelange mit sich bringt.

Mit dem Beitritt Finnlands, Österreichs und Schwedens zum 1. Januar 1995 erreichte unser – inzwischen als „Europäische Union“ firmierender – Staatenverbund dann eine Ausdehnung, die die mögliche Zahl goldener Sterne auf der tiefblauen Europafahne sprengte; fünfzehn Mitgliedstaaten, aber es blieb bei nur zwölf Sternen – aus Platzgründen.

Allerdings sei auch an die politische Dimension erinnert, die dieses solide Einigungswerk unseres über Jahrhunderte zerstrittenen Kontinents ausstrahlte – nicht zuletzt mehr und mehr auch auf die Staaten Mittel- und Osteuropas, und dies zu einer Zeit, als man dort von Selbstbestimmung kaum zu träumen wagte. Je durchlässiger die Grenzen zwischen den Staaten Westeuropas wurden, je mehr die Zollschilder und -schranken verschwanden, umso scharfkantiger mussten die Sperranlagen, die den Osten Europas abriegelten, in das Bewusstsein der Menschen treten, in West wie in Ost. Den Beitrag der Europäischen Union zum Fall des Eisernen Vorhangs mögen Berufenere bewerten; der Erfolg, der sich in der – nach der „Süd-“ und der „Norderweiterung“ so genannten – „Osterweiterung“ zum 1. Mai 2004 spiegelt, spricht für sich. Zehn Staaten, vorwiegend aus Mittel- und Osteuropa, nämlich Estland, Lettland und Litauen, Tschechien, Ungarn und Polen, die Slowakei, Slowenien sowie Malta und Zypern sind seither Vollmitglieder. Eine Europäische Union der 25 Staaten war entstanden, mit über 450 Millionen Einwohnern. Mit Bulgarien und Rumänien sind am 1. Januar 2007 zwei weitere Vollmitglieder, am 1. Juli 2013 mit Kroatien schließlich das 28. Mitglied hinzugekommen.

Die Europäische Union dehnt und streckt sich – bald sogar über den Bosporus hinaus? Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ab Herbst 2005 wurde am 17. Dezember 2004 beschlossen, wenn auch mit dem ausdrücklichen Hinweis, damit sei eine Mitgliedschaft nicht präjudiziert, und man rechne auch erst in einem Jahrzehnt damit. Dennoch: bereits die Integration der seit 1. Mai 2004 hinzugekommenen Staaten bedeutete für die Europäische Union politisch wie wirtschaftlich einen nicht in allen Konsequenzen überschaubaren Kraftakt. Dies hat sich mit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens noch potenziert. Nicht zu vergessen sind Albanien, Mazedonien, Montenegro und Serbien, deren Beitrittsperspektiven schon sehr konkret sind – allerdings insoweit immer noch im Rahmen des historischen Projekts, die Jahrhunderte alte und zuletzt durch den Eisernen Vorhang bedrohlich manifestierte Spaltung und Zerrissenheit des Kontinents zu überwinden.

Etwas völlig anderes ist die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der mehr als 77 Millionen Einwohner (Stand 2014) zählenden Türkei. Hier verlässt die Europäische Union ihre Rolle als Versöhnerin eines unruhigen Kontinents und verwandelt sich in eine geostrategische Spielerin. Wie eng die Beziehungen der Türkei zu Europa auch sind, etwa über die Mitgliedschaft in der NATO, dem Europarat oder im Rahmen bestehender privilegierter Verträge mit der Europäischen Union, so war die Türkei doch nie ein europäischer Staat. Ihr Beitritt dürfte das ohnehin labile Selbstverständnis einer politischen Einigung Europas, das auf Homogenität und gemeinsamen Wertetraditionen gegründet sein muss, zur Disposition stellen – von den finanziellen Lasten für die Union, deren Dimension heute niemand wirklich überschaut, ganz zu schweigen.

V. Von Kirkenes bis Kos: Ohne Pass durch Europa

Parallel zu den Erweiterungsrunden gewann auch der Abbau der Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union seit Mitte der 1980er Jahre rapide an Dynamik. Fünf Länder waren es zunächst, die am 14. Juni 1985 im luxemburgischen Schengen das „Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen“ schlossen. Das sog. Schengener Abkommen war geboren. Es leistete wertvolle Impulse für die wachsenden Freiheiten in Europa, aber auch für Integration und Zusammenarbeit. In den folgenden Jahren traten ihm weitere EU-Mitgliedstaaten bei, nämlich 1995 Italien, Spanien und Portugal, Griechenland und Österreich. 2000 folgten Dänemark, Schweden und Finnland sowie die beiden Nicht-EU-Staaten Island und Norwegen. Am 21. Dezember 2007 fielen für Estland, Lettland und Litauen, die Slowakei, die Tschechische Republik, für Polen, Slowenien, Ungarn und Malta die Grenzkontrollen innerhalb des Schengen-Raumes fort. Schließlich stieß sogar die Schweiz zum Schengenverbund: in der Nacht zum 12. Dezember 2008 beendete sie die Personenkontrollen an ihren Grenzen. Da die Schweiz jedoch kein Mitgliedstaat der Europäischen Union ist, wird sie weiterhin auf Zollkontrollen bestehen.

Das entsprechende Durchführungsabkommen (SDÜ) ist heute in allen diesen Staaten in Kraft. Es hebt nicht nur die Personenkontrollen an den Binnengrenzen der Vertragsstaaten auf, es sieht vor allem auch Ausgleichsmaßnahmen vor, um zu verhindern, dass die „offenen Grenzen“ etwa nun auch der Kriminalität oder der illegalen Zuwanderung Tür und Tor öffnen. In diesem Zusammenhang spielt der verstärkte Schutz der Außengrenzen des Schengen-Raumes eine hervorgehobene Rolle.

So können heute Personen und Waren vom Cabo Sao Vicente in Portugal bis nach Usedom oder von Palermo auf Sizilien bis nach List auf Sylt gelangen, ohne ein einziges Mal kontrolliert zu werden. Und obwohl die Grenzen als Filter für Kriminelle wegfallen, werden die Belange der Inneren Sicherheit durch ein bislang beispielloses Maß an grenzübergreifender Kooperation auf dem Gebiet der Verbrechensbekämpfung und der polizeilichen Kooperation berücksichtigt.

VI. „Maastricht“, „Amsterdam“, „Nizza“ – Europäischer Vertragstourismus

„Europäische Union“ – seit den Gründerjahren geistert diese schillernde Programmvokabel mehr oder minder erfolgreich durch europapolitische Diskussionen, beflügelt Phantasien, schmückt Dokumente und Parteiprogramme. Schon 1961 etwa sollte eine Kommission unter Leitung des Franzosen Christian Fouchet Vorschläge für ein Statut einer „Union der europäischen Völker“ vorlegen. Die „Fouchet-Pläne“ blieben in den Schubladen. Auf den Pariser Gipfelkonferenzen von 1972 und 1974 proklamierte man dann, als neues Ziel europäischer Einigung, den Bau einer „Europäischen Union“. Auch der daraufhin vom Belgischen Ministerpräsidenten Leo Tindemans erarbeitete „Tindemans-Bericht“ erwies sich als nicht konsensfähig.

Auch das Europäische Parlament (EP) in Straßburg blieb nicht untätig; so wurde seit der Gipfelkonferenz von Den Haag 1969 die „politische Finalität“ des Einigungsprozesses mit dem Ziel der „Europäischen Union“ immer wieder bekräftigt. Am 14. Februar 1984 verabschiedete das EP mit überzeugender Mehrheit den „Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union“, ausgearbeitet von einer Kommission unter Leitung des Italieners Altiero Spinelli. Der Entwurf setzte Maßstäbe; er propagierte die Ablösung der drei Gemeinschaften EGKS, EWG und Euratom durch eine Europäische Union. Auf sie sollten die seinerzeit zwölf Mitgliedstaaten in weiteren wesentlichen Politikbereichen bisherige nationale Zuständigkeiten übertragen.

Immerhin griffen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten auf ihrem Gipfeltreffen im Juni 1984 diese Anstöße auf. Sie beauftragten Ausschüsse mit der Ausarbeitung von Vorschlägen zu einer verbesserten Zusammenarbeit. Auf der Basis der daraus entwickelten Ausschussberichte handelte man die sog. Einheitliche Europäische Akte (kurz: EEA) aus, die am 1. Juli 1987 in Kraft trat. Hinter dieser Bezeichnung, mit der man als Leser naturgemäß zunächst wenig anfangen kann, verbirgt sich das bis dato wichtigste Reformwerk seit der Gründung 1957. Die EEA ergänzte die Römischen Verträge um neue Tätigkeitsbereiche. Sie verankerte die seit 1970 bereits praktizierte Europäische Politische Zusammenarbeit im Vertragstext und verlieh der Gemeinsamen Außenpolitik der damals noch zwölf Mitgliedstaaten eine völkerrechtliche Grundlage. In vielen Bereichen wurde der bei Abstimmungen im „Ministerrat“ geltende Grundsatz der Einstimmigkeit durch das Prinzip der Mehrheitsentscheidungen ersetzt. Last not least wurde unser EP in seinen Befugnissen gestärkt; neben Mitspracherechten in der Finanz- und Haushaltspolitik erhielt es Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung sowie Mitentscheidungsmöglichkeiten bei EU-Abkommen mit Drittländern.

Und dann war plötzlich Land in Sicht. Die EEA bewährte sich als Stufe, als Zwischenschritt auf dem Weg zu einer umfassenden Union. Im Dezember 1990 wurde eine „Regierungskonferenz über die Politische Union“ einberufen. Die erarbeiteten Ergebnisse flossen, zusammen mit Resultaten der parallel eingesetzten Regierungskonferenz über die „Wirtschafts- und Währungsunion“, in den – man höre und staune – „Vertrag über die Europäische Union“ ein. Die zwölf Mitgliedstaaten unterzeichneten ihn am 7. Februar 1992 in einer hübschen niederländischen Stadt, und so wurde dieses – ebenso gerühmte wie zunächst geschmähte –Reformpaket weithin bekannt unter dem Namen „Vertrag von Maastricht“.

Fazit: eine Union war gegründet, die auf drei Säulen ruht:

Eng verknüpft ist und bleibt der „Maastrichter Vertrag“ wohl besonders mit der Entscheidung, spätestens 1999 eine gemeinsame Europa-Währung – sprich: den Euro – einzuführen, an der jene EU-Mitgliedstaaten teilnehmen sollen/können/dürfen, die bestimmte sog. Konvergenzkriterien erfüllen.

Dänen, Iren und Franzosen – nicht so die Deutschen – wurden befragt, ob der Vertrag sowie insbesondere die Euro-Konsequenz in ihren Ländern umgesetzt werden soll. In Irland fand die Volksabstimmung eine deutliche, in Frankreich eine hauchdünne Mehrheit. Das dänische Referendum scheiterte knapp und erhielt erst im zweiten Anlauf die Zustimmung der Bevölkerung. In Deutschland musste das Bundesverfassungsgericht über mehrere gegen den Vertrag – und vorrangig gegen einen künftigen Euro – gerichtete Klagen entscheiden.

Bereits im März 1996 berief man eine erneute Regierungskonferenz ein. Das Ergebnis: eine – nach EEA und „Maastricht“ – dritte umfassende Änderung und konsequente Fortentwicklung der Gründungsverträge von 1957. Sie ist niedergelegt in einem im Juni 1997 von den inzwischen fünfzehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Amsterdam unterzeichneten Vertragswerk, das Grundlagen für eine bürgernahe und handlungsfähige Europäische Union legen wollte. Ein zentrales Anliegen dieses sog. „Vertrags von Amsterdam“ war es, die Union für eine baldige Aufnahme der zahlreichen beitrittswilligen Staaten Mittel- und Osteuropas zu rüsten. Wiederum profitiert auch das EP; in etwa 80 Prozent aller Bereiche der Politik kann es nun gleichberechtigt neben dem „Ministerrat“, dem Rat der nationalen Fachminister, mitentscheiden.

Und „Nizza“? Was verbirgt sich hinter dieser fast schon vergessenen Chiffre? Gemeint ist hier das Europäische Gipfeltreffen im Dezember 2000 im schönen Süden Frankreichs, das zum bis dato längsten Verhandlungsmarathon der Staats- und Regierungschefs in der Geschichte der Europäischen Union geriet.

Die schwierigste Aufgabe, die dort zu bewältigen war, bestand in der Neugewichtung der Stimmenanteile der einzelnen Mitgliedstaaten im Rat („Ministerrat“), dem einflussreichen Gesetzgebungsorgan der Europäischen Union. Sie war besonders brisant angesichts der sich konkret abzeichnenden Osterweiterung. An dieser Frage sollte drei Jahre später in der Tat die Perspektive einer gemeinsamen Verfassung der Europäischen Union – zumindest vordergründig und vorläufig – unübersehbar zerplatzen. Schon seinerzeit war sie heikel genug; man mühte sich tage- und nächtelang nach Kräften ab, um eine halbwegs konsensfähige, für „große“ wie für „kleinere“ Mitgliedstaaten gleichermaßen akzeptable Neuverteilung der Stimmen zusammen zu basteln.

Als weiterer Stolperstein erwies sich in Nizza der Reformansatz, das Einstimmigkeitsprinzip zugunsten von Entscheidungen, die mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, zurückzudrängen – ein altes Thema, das im Vorfeld der Osterweiterung heftig auflebte. Es galt, die Funktionsfähigkeit einer um mindestens zehn Staaten erweiterten Europäischen Union zu gewährleisten. Zusätzlich ging es um die künftige Größe der EU-Kommission; sie zählte seinerzeit bereits – ohne eine Repräsentation der zehn neuen Staaten – stolze 20 Mitglieder.

Schließlich beschloss man eine neue Sitzverteilung für das EP, die einerseits die neu beitretenden Staaten berücksichtigt und andererseits der Bevölkerungsgröße der einzelnen Mitgliedsländer etwas fairer als bisher Rechnung tragen sollte. Deutschland durfte danach seit 2004 als bevölkerungsreichstes Land der Europäischen Union mit 99 Sitzen die meisten Abgeordneten entsenden. Die anderen Staaten folgten in einer Spanne zwischen 78 (Frankreich, Italien und Großbritannien) bis 5 Sitzen (Malta).

VII. Von Zinnowitz bis Zypern: Das „Euro-Land“

„Schon die alten Griechen. . .“ – so fangen seit der Schulzeit immer wieder Chronologien an. In unserem Kontext waren es „schon die Staats- und Regierungschefs der damaligen sechs EU-Gründerstaaten“, die auf einem Gipfeltreffen im Dezember 1969 in Den Haag eine Europäische Wirtschafts- und Währungsunion als eine der Etappen auf dem Weg zu einer „Europäischen Union“ anvisierten. Ohne eine zwischen den Mitgliedern koordinierte Wirtschafts- und Währungspolitik erschienen bereits seinerzeit weitere Fortschritte der europäischen Integration unrealistisch. Dennoch sollte es bekanntlich bis 1999 dauern, bis eine Währungsunion verwirklicht war, und dies auch nur zwischen zunächst zwölf der seinerzeit fünfzehn EU-Staaten.

Ein erster Anlauf scheiterte 1971 am Zusammenbruch des internationalen Währungssystems von Bretton Woods und den folgenden Währungsturbulenzen. Als Minimallösung verständigten sich die sechs Staaten im April 1972, die Wechselkurse ihrer nationalen Währungen in einer „Währungsschlange“ nur noch um maximal 2,25 Prozent voneinander abweichen zu lassen.

Der Folgeschritt war ein „Europäisches Währungssystem“ (EWS), das 1979 ins Leben gerufen wurde und eine „European Currency Unit“, den sog. ECU, einführte – eine „Korb-Währung“, die lediglich als Rechengröße u. a. für Wechselkurse, für Zölle oder einheitliche Agrarpreise fungierte. Der ECU war also nie war er als Banknote oder Münze in Umlauf.

Unter Vorsitz des von 1985 bis 1994 amtierenden Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors erarbeitete ein Komitee der Notenbankpräsidenten der inzwischen zwölf Mitgliedstaaten in den Jahren 1988/89 einen Dreistufenplan zum schrittweisen Aufbau einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Diesem „Delors-Bericht“ folgend bewegte man sich von nun an auf das bisher ehrgeizigste, aber auch besonders kontrovers diskutierte Ziel im Rahmen der europäischen Integration zu. Mit dem Maastrichter Vertrag wurde 1992 der Weg zur WWU völkerrechtlich verbindlich fixiert; als Termin für unwiderruflich feste Wechselkurse zwischen den WWU-Teilnehmerstaaten schrieb man den 1. Januar 1999 fest.

Jeder Student der Nationalökonomie lernt in frühen Semestern, dass eine Währungsunion nur der letzte Schritt im Zusammenwachsen von Staaten sein kann, nachdem vorher die Wirtschafts-, Finanz-, Außen- und die sonstige Politik einander angeglichen wurden. Die Europäischen Politiker sind den umgekehrten Weg gegangen; sie haben – wie es Professor Josef Isensee seinerzeit in engerem Kreis gern dargestellt hat – das krönende 16. Stockwerk an Luftballons in den blauen Himmel gehängt, bevor der Bau auch nur annähernd bis zum 4. Stock gediehen war. Erst Jahre später, der Euro war längst da, die Arbeitslosenzahlen in Deutschland waren hoch wie nie und die Volksabstimmungen über den EU-Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden 2005 überraschend klar gescheitert, fand dieser Gedanke vorsichtig Eingang in die Diskussion. Professor Karl Albrecht Schachtschneider sprach aus, was viele dachten: „Eine staatsübergreifende Geldpolitik bei nationaler Beschäftigungspolitik – das passt einfach nicht zusammen.“

Für den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl galt das Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion zwar lange schon als wichtige Option; die Vorstellung aber, man könne sie auf Dauer ohne politische Union erhalten, war für ihn „abwegig“. Und doch betrieb er sie? Was passierte da, auf dem Weg nach Maastricht?

Am 9. November 1989 fiel in Berlin die Mauer. Am 18. November bekam der Bundeskanzler bei einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Paris das tiefe Misstrauen der Kollegen zu spüren. Ihm wurde schmerzhaft bewusst, dass die ständigen Bekenntnisse der Partner zum Recht der Deutschen auf Wiedervereinigung wenig wert waren. Ein Plazet zur deutschen Einheit, darüber machte er sich fortan keine Illusionen mehr, war ohne konkrete Zugeständnisse auf dem Weg zur WWU nicht zu erreichen – insbesondere nicht aus Frankreich, wo man einem größer und damit stärker werdenden Deutschland besonders argwöhnisch entgegensah. Präsident François Mitterand witterte die Gunst der Stunde, die Macht der Deutschen Bundesbank zu brechen. Kühl setzte er einen genauen Zeitplan für den Euro durch – und Bundeskanzler Kohl, der Deutschen Einheit verpflichtet, gab nach. Man beteuerte zwar vage, die politische Union immer im Sinn zu behalten; auf dem verbindlichen Weg zum Euro aber gab es nun kein Zurück mehr.

„Für die Franzosen“ – so brachte es eine große deutsche Tageszeitung in diesen Wochen auf den Punkt – war „der Euro die geschenkte Chance, die D-Mark loszuwerden, aber ihren Nationalstaat zu erhalten“.

Im Bonner Kanzleramt herrschte alles andere als Begeisterung über die Währungsunion und den Verzicht auf die Deutsche Mark – von der deutschen Bevölkerung ganz zu schweigen. Auf deutsche Veranlassung kam immerhin 1996 der sog. Stabilitäts- und Wachstumspakt zustande; er droht jedem an der WWU teilnehmenden Staat, dessen Haushaltsdefizit die zulässige Höchstgrenze von 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übersteigt, empfindliche Geldbußen an. Grotesker Weise überschritten gerade Deutschland und Frankreich fünf Jahre lang in Folge – zuletzt 2006 – diese wichtige 3-Prozent-Grenze bei der Neuverschuldung und gefährdeten damit nicht nur ungeniert die Stabilität des Euro, sondern lieferten den Sündern in anderen Ländern ein höchst kontraproduktives Alibi für eine laxere Fiskalpolitik.

Am 1. Januar 1999 wurde mit der dritten Stufe der WWU in elf Ländern der Europäischen Union der Euro als gemeinsame Währung eingeführt. Die Umrechnungskurse zwischen den Teilnehmerwährungen sind seither unwiderruflich festgelegt. Die Europäische Zentralbank mit Sitz in Frankfurt/Main übernahm von diesem Tag an die Verantwortung für die Geldpolitik; sie hat die Deutsche Bundesbank de facto hinsichtlich der Wacht über die Stabilität abgelöst. Seit dem 1. Januar 2002 ist der Euro als Zahlungsmittel in Geldscheinen und Münzen im „Euroland“ in Umlauf; seit dem 12. März 2002 ist er in diesen Ländern der Europäischen Union – also neben Deutschland in Belgien, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, Portugal, Spanien und Griechenland alleiniges Zahlungsmittel. Am 1. Januar 2007 hat Slowenien als 13. Land den Euro eingeführt. Am 1. Januar 2008 folgten Malta und Zypern, am 1. Januar 2009 die Slowakei, am 1. Januar 2011 Estland und am 1. Januar 2014 Lettland. Als 19. Euroland kam am 1. Januar 2015 Litauen dazu. Die anderen EU-Mitgliedstaaten sind der Währungsunion bisher nicht beigetreten.

VIII. (K)eine Verfassung für Europa?

Jeder Staat, der auf sich hält, gibt sich eine Verfassung. Die Europäische Union hat keine. Bisher jedenfalls. Sie ist allerdings nach wie vor auch kein Staat. Aber ist sie nicht auf dem Weg dorthin? Strebt sie nicht eine zumindest staatsähnliche Integration an?

Sagen wir es, der aktuellen Integrationsskepsis vorsichtig Rechnung tragend, vielleicht so herum: Die Befürworter einer politischen Integration unseres schönen reichen alten Kontinents warten seit Jahrzehnten darauf, dass die vielfältigen, seit 1957 zwischen den Staaten (West-) Europas gewachsenen Verflechtungen früher oder später einen qualitativen Umschwung hin zur Gründung eines Bundesstaates Europa bewirken. Früher oder später. Schließlich bleibt es jedermann unbenommen, zu hoffen . . .

Andererseits stehen wir keineswegs bei null. Vorstellungen, wie sich die politische Einigung Europas konkretisieren sollte oder ob sie überhaupt längerfristig in reale Politik umsetzbar sei, umfassen bis heute ein eindrucksvolles Spektrum. Nahezu alle denkbaren Abstufungen von einer Union in Gestalt eines Bundesstaates bis zu einer lockeren Vereinigung zur Förderung des gegenseitigen Warenaustausches sind im Sortiment.

1. Föderation – Konföderation – Union?

Natürlich gab und gibt es die überzeugten europäischen Föderalisten, denen ein europäischer Bundesstaat vorschwebt, wobei sie bei allem Idealismus gelegentlich übersahen oder übersehen, dass allein der Glaube an eine kommende Föderation der europäischen Staaten noch kein den Eigenheiten dieses bunten Kontinents gerecht werdendes Konzept darstellt.

Andererseits gab es Denkrichtungen, die den gemeinsamen Markt weniger als neue Gestaltungs- und Eingriffsmöglichkeit auf europäischer Ebene, sondern eher als Instrument zur Stärkung des Freihandels und einer freiwilligen Weltwirtschafts- und Weltwährungsordnung ansahen.

Die Anhänger eines „Europa der Vaterländer“ schließlich erstrebten zwar eine intensive Kooperation der europäischen Staaten, waren aber nicht bereit, einer weiteren Einschränkung nationaler Souveränität, einer Stärkung und Demokratisierung der Gemeinschaftsinstitutionen und ausgedehnteren Zuständigkeiten der Gemeinschaft zuzustimmen.

Ein Blick in die Römischen Verträge von 1957 bestätigt die Bemühungen um eine Entwicklung hin zu einer umfassenden Union nur begrenzt. Der EGW-Vertrag beschränkte sich darauf, in seiner Präambel eher vage von einem „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ zu sprechen. Auch sei daran erinnert, dass Gegenstand der Gemeinschaftsregeln über lange Zeit in erster Linie die Wirtschaft war.

Über diesen Bereich ergaben sich nach und nach immer vielfältigere Auswirkungen auf die Politik der Mitgliedstaaten bis hin zur Außenpolitik. So entwickelte die Gemeinschaft zunehmend Eigendynamik. Und: es wurden Gemeinschaftsorgane mit – mitunter recht greifbaren – Kompetenzen geschaffen. Heute verfügt die Union über ein Organgerüst, das sich deutlich an die staatstheoretische Gewaltenteilungslehre anlehnt.

Die Kehrseite der Medaille: nicht selten wird mit Blick auf die Architektur der Gemeinschaft von „Demokratie-Defizit“ gesprochen. Im Visier ist dabei nicht nur die immer noch eher schwächliche Rolle des Europäischen Parlaments als Legislative, sondern auch die Konzentration der Entscheidungsgewalt beim Rat der Europäischen Union, dem Gremium der Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten.

Noch im Jahr 2000 zog man in einer Schrift der Bundeszentrale für Politische Bildung folgendes Fazit: „Die konkreten Vorstellungen über die gemeinsame Zukunft werden. . . immer unklarer. Die Konsensfindung in der Union erweist sich als überaus mühsam“. Auch heute, nach vollzogener Osterweiterung, lässt sich wohl schwerlich ein grundlegend anderes Fazit ziehen: Europa wird gebaut; aber genaugenommen fehlen die endgültigen Baupläne.

2. Ein „Verfassungsvertrag“ – immerhin

Wie sollte es weitergehen? Zu bewältigen ist der Spagat zwischen einer neuen Qualität der Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union einerseits und der Herkules-Aufgabe einer Integration von heute immerhin dreizehn neuen Mitgliedern andererseits. Mit dem Vollzug der „Osterweiterung“ offenbarte sich krasser denn je die – bereits seinerzeit im Club der fünfzehn Staaten virulente – Frage nach tragfähigen Regierungsstrukturen einer derart weit gespannten Union.

Und dann war sie plötzlich da, die Idee einer „Verfassung“ für Europa.

Eine Verfassung ist weit mehr als ein Bauplan. Eine Verfassung gießt in Beton. Sie barg aus der Sicht der Kritiker zugleich die Gefahr eines Endes der bisherigen Elastizität in sich.

Im Juni 2004 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel auf einen Text für einen „Vertrag über eine Verfassung für Europa“. Feierlich unterzeichnet wurde er am 28. Oktober 2004 an dem „historischen“ Ort, an dem 1957 die Gründungsverträge aus der Taufe gehoben worden waren: auf dem Kapitol in Rom. In Kraft hätte er nur treten können, wenn alle EU-Staaten es auf nationaler Ebene ratifiziert hätten. Der Ratifizierungsprozess begann zunächst recht flott. Dann aber sprachen sich in Volksabstimmungen im Mai 2005 55 Prozent der Franzosen und im Juni 2005 61,6 Prozent der Niederländer gegen die Annahme der „Verfassung“ aus: zwei EU-Gründerstaaten sagten „Stopp“.

Was folgte, war eine allgemeine Ratlosigkeit. Man verordnete sich eine „Denkpause“. War der Integrationsprozess in den vergangenen Jahren vielleicht zu ambitioniert vorangetrieben worden? Spiegelte sich hier die Verunsicherung der Europäer über die jüngste erhebliche Erweiterung der Union und insbesondere die Skepsis über eine Öffnung gegenüber der Türkei wider, die vielen alles andere als geheuer ist? Dass das Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden nicht zuletzt Ausdruck des schwindenden Vertrauens der Bürger in die Union sei, galt bald als unbestritten.

Übrigens – und wie der Name „Vertrag“ es bereits verriet: zu einer „Verfassung“ im klassischen Sinn hatte es ohnehin nicht gereicht. Die Türen zu einem Bundesstaat sollten nicht entriegelt werden. Die Nationalstaaten sollten die Herren der Europäischen Politik bleiben.

3. Letzte Ausfahrt Lissabon

Erst im ersten Halbjahr 2007 gelang es im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Substanz des Vertrages – neu eingekleidet in ein umetikettiertes Vertragswerk – weitestgehend zu retten. Am 13. Dezember 2007 unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Lissabon den „Vertrag über die Arbeitsweise der Union“. Nachdem man mit dem Verfassungsvertrag unerwartet Schiffbruch erlitten hatte, sollte nun dieses Reformwerk die Europäische Union auf eine neue Grundlage stellen. Aber auch dieser „Vertrag von Lissabon“ erhielt, nach anfänglichen Ratifikationen in über der Hälfte der Mitgliedstaaten, unerwartet Gegenwind: am 12. Juni 2008 stimmten die Iren in einer Volksabstimmung gegen ihn. Trotzig beschlossen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am 20. Juni 2008 in Brüssel, dass der Ratifizierungsprozess in den anderen EU-Ländern fortgeführt werden soll.

Das „Nein“ der Iren – die wie kaum ein anderes Volk von der EU profitieren – traf die Union unerwartet. Damit hatte niemand gerechnet. Schließlich war doch der Lissabon-Vertrag bereits der höchst mühsam erreichte „Plan B“, der letzte Ausweg. Einen „Plan C“ hatte niemand mehr in der Schublade.

So auch hier. Der Ratifizierungsprozess lief weiter. In Deutschland gab das Bundesverfassungsgericht am 30. Juni 2009 grünes Licht. In Irland ließ man die Bevölkerung erneut abstimmen – sie votierte am 2. Oktober 2009 mit einer unerwartet überzeugenden Mehrheit von 67,1 Prozent für den neuen Vertrag. Es geht also doch. Sogar der erklärte Europaskeptiker und Präsident Tschechiens, Vaclav Klaus, unterschrieb ihn. Er zierte sich lange, aber er unterschrieb. Als Letzter.

Am 1. Dezember 2009 konnte der Reformvertrag von Lissabon schließlich in Kraft treten. Als spektakuläre Sofortfolgen stehen seither zwei neue Steuerleute auf der Brücke des europäischen Dampfers: ein auf zweieinhalb Jahre gewählter „Präsident des Europäischen Rates“ sowie ein „Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik“ – im Verfassungsvertrag hatte man seinerzeit noch den Mut, ihn „Außenminister“ zu nennen. Ob damit allerdings Kurs und Tempo der Integrationspolitik unionsfreundlicher geprägt sein wurden, lässt sich mit Blick auf die Erfahrungen der zurückliegenden Jahre „nach Lissabon“ leider nicht bestätigen. Ob Libyen-Intervention 2011, Irak-Konflikt oder Ukraine-Krise seit 2014 – die Nationen behielten weitestgehend den Kompass in den Händen.

IX. Krisengespenster „Staatsschulden“ und „Flüchtlinge“

Und dann ging plötzlich ein neues Gespenst um, in Europa. Es hieß „Krise“. Salopp, aber unzutreffend sprach man mitunter von „Euro-Krise“. Tatsächlich förderte eine Finanzkrise, ausgelöst durch die spektakuläre Pleite einer Bank in den USA, einen lange ignorierten Missstand zutage: die teilweise verantwortungslos hohe Staatsverschuldung in einigen Mitgliedsländern der EU.

Der Euroraum war während der ersten zehn Jahre seines Bestehen als finanzpolitische und ökonomische Einheit wahrgenommen worden. Währung und Psychologie haben einiges miteinander zu tun. So gelangten auch Mitgliedstaaten an höchst günstige Kredite, deren tatsächliche Wirtschaftsleistungen, isoliert betrachtet, deutlich höhere Zinsen für ihre Verschuldungen zwingend erfordert hätten. Dann brach die Krise herein – und plötzlich schaute man wieder genauer hin, taxierte die Kreditwürdigkeit einiger Euroländer schlagartig wieder realistisch und justiert an ihrer nationalen Leistungsfähigkeit ein.

Mit schonungsloser Klarheit musste man sich eingestehen, nicht nur über seine Verhältnisse gelebt, sondern auch die einfallsreich erdachten und sorgsam austarierten Stabilitätskriterien, die die Festigkeit unsere Gemeinschaftswährung garantieren sollten, leichtsinnig oder gar schmählich außer Acht gelassen zu haben.

Dieses Eingeständnis wiederum brachte uns generell ins Grübeln: war die schöne Währungsunion ohne eine sie stützende Fiskalunion nicht doch ein Ritt über den Bodensee? Kann eine Gemeinschaftswährung dauerhaft solide funktionieren, wenn nicht zugleich eine nationenübergreifende Kompetenz in der Wirtschafts- und Finanzpolitik die Zügel hält?

Allerdings erschienen – und erscheinen – dahingehende Souveränitätstransfers politisch nicht realisierbar. Der Euro aber sollte aus grundlegenden unionspolitischen Beweggründen unter allen Umständen geschützt werden. Der Spagat war perfekt.

Da also Vertragsänderungen, die finanzpolitische Kompetenzverlagerungen von den Nationen auf die Union zum Ziel hätten, nicht auf die Tagesordnung zu setzen waren, musste man andere Wege gehen. Stützmechanismen wurden erfunden, Rettungsschirme und fiskalische Absprachen außerhalb des Europäischen Gemeinschaftsrechts. Man baute auf Selbstverpflichtungen und disziplinierende Abstimmungsprozesse. Not macht erfinderisch. Krisen bergen auch Chancen.

Bis etwa zum Jahresende 2014 rang uns das sicherlich eindrucksvolle Bemühen unserer politisch Verantwortlichen um den Erhalt des Euro einen gewissen Respekt ab – und schuf neues Vertrauen. Fiskalvertrag, „Schuldenbremse“, „Euro-Plus-Pakt“, „Rettungsschirm“, „Europäisches Semester“ oder schließlich der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM wurden zu kleinen Symbolen eines redlichen Ringens um den Erhalt unserer Währung – wenn auch zu einem hohen Preis. Hinzu kam, dass Krisenstaaten wie Irland, Portugal oder Spanien sich zu konsolidieren begannen. Noch war die Krise keineswegs gebannt. Aber Disziplin schien wieder zu greifen. Die Erfolge schienen der Beharrlichkeit zunehmend recht zu geben.

Dann allerdings, zum Jahresbeginn 2015, drohte ein zunehmend unwürdiger Eiertanz rund um die heftige Finanzkrise in Griechenland alles zu verspielen, was sich unsere Europapolitiker bis dato an Achtung zurückerworben hatten. Was, so fragte sich jeder Beobachter, sind mühsam vereinbarte und fein säuberlich austarierte Regeln und Stabilitätskriterien noch wert, wenn ein Land sie einfach ignoriert? Und die anderen dieses Ignorieren mit immer neuen Kompromissen honorieren? Wie weit ist es mit der Solidarität her, wenn es einem so kleinen Land gelingt, die anderen, von der Angst um die schöne Währung durchdrungenen Euro-Partnerländer monatelang am Nasenring durch die öffentliche Manege zu führen? Es steht außer Frage, dass die sogenannte Griechenland-Krise das Bild unserer Union – nach innen wie nach außen – gravierend getrübt hat.

2015 – ein Schicksalsjahr? In gespenstischer Analogie zum schwankenden Euro verwandelte sich die Schengener Verheißung der offenen Grenzen in ein Szenario ungeahnter Bedrohung. Im Sommer setzte – über die nicht zu kontrollierenden Außengrenzen etwa in Griechenland – eine derart immense Zuwanderung in den sozusagen offen zur Disposition stehenden Schengen-Raum ein, dass seriöse Stimmen schon bald von einer neuen „Völkerwanderung“ sprachen. Ungebremst strömten Hunderttausende aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und natürlich auch aus Schwarzafrika über den Balkan hinein nach Europa. Über Serbien, Ungarn und Österreich strebten die allermeisten von ihnen – nach Deutschland. Die EU schaute zu. Antworten, Lösungen, Konzepte waren nicht zur Hand.

Eine – allerdings lediglich auf das Kurieren von Symptomen bezogene – Idee der Europäischen Kommission, die Menschen fair auf unsere 28 EU-Staaten zu verteilen, scheiterte postwendend am kategorischen Widerstand verschiedener Mitgliedstaaten. Selbst als in Deutschland täglich bis zu 10.000 neue Flüchtlinge eintrafen – über das Wochenende des 12. und 13. September 2015 etwa verzeichnete allein München die Ankunft von rund 19.100 Flüchtlingen –, lehnten es Polen, Tschechien, Slowenien oder Großbritannien rundweg ab, einen fairen Verteilschlüssel zu akzeptieren.

So mutierte die Flüchtlingskrise zugleich zu einer Fundamentalkrise des Europäischen Gedankens: Binnengrenzen und Freizügigkeit, einst hochgepriesene Jahrhundert-Errungenschaften europäischer Integration, offenbarten uns in dieser dramatisch aus dem Ruder laufenden Notsituation die Grenzen dessen, was Europa im Kern zusammenhalten soll

X. Europa – das gelungene Friedensprojekt

Mitten hinein in die Schuldenkrise, die bis dahin wohl schwerste Turbulenz in der jüngeren Geschichte unserer Union, platzte immerhin eine gute Nachricht, die den fundamentalen Wert unserer Europäischen Integration, ihre eigentliche tiefe Existenzberechtigung und ihre zentrale Gründungsidee wieder in den Fokus rückte. Am 12. Oktober 2012 wird die Europäische Union mit dem wichtigsten Preis der Welt ausgezeichnet: Das Nobelpreiskomitee in Oslo verleiht unserer Staatengemeinschaft den Friedensnobelpreis.