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Joachim Franz
Matthias Huthmacher

IRON
CURTAIN
TRAIL

Mit dem E-Bike
von Norwegen zum
Schwarzen Meer
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Delius Klasing Verlag

Inhalt

Vorwort Martin Schulz

Vorwort Michael Cramer

Ein Wort zu Europa

Eine Idee wird geboren

Die Vorbereitung

Die Fahrt gen Norden

DONNERSTAG, 26. JUNI 2014: Jakobselva–Näätämö
116 Tageskilometer / 116 Gesamtkilometer

FREITAG, 27. JUNI 2014: Näätämö–Vuotso
278 Tageskilometer / 394 Gesamtkilometer

SAMSTAG, 28. JUNI 2014: Vuotso–Oulanka
322 Tageskilometer / 716 Gesamtkilometer

SONNTAG, 29. JUNI 2014: Oulanka–Vartius
304 Tageskilometer / 1020 Gesamtkilometer

MONTAG, 30. JUNI 2014: Vartius–Ilomantsi
334 Tageskilometer / 1354 Gesamtkilometer

DIENSTAG, 01. JULI 2014: Ilomantsi–Lappeenranta
310 Tageskilometer / 1664 Gesamtkilometer

MITTWOCH, 02. JULI 2014: Lappeenranta–Kloogaranna
170 Tageskilometer / 1834 Gesamtkilometer

DONNERSTAG, 03. JULI 2014: Kloogaranna–Ikla
334 Tageskilometer / 2168 Gesamtkilometer

FREITAG, 04. JULI 2014: Ikla–Upesgriva
336 Tageskilometer / 2504 Gesamtkilometer

SAMSTAG, 05. JULI 2014: Upesgriva–Karkle
336 Tageskilometer / 2840 Gesamtkilometer

SONNTAG, 06. JULI 2014: Karkle–Wizajny
317 Tageskilometer / 3157 Gesamtkilometer

MONTAG, 07. JULI 2014: Wizajny–Elblag
344 Tageskilometer / 3501 Gesamtkilometer

DIENSTAG, 08. JULI 2014: Elblag–Mielno
321 Tageskilometer / 3821 Gesamtkilometer

MITTWOCH, 09. JULI 2014: Mielno–Born
341 Tageskilometer / 4162 Gesamtkilometer

DONNERSTAG, 10. JULI 2014: Born–Neu-Darchau
352 Tageskilometer / 4514 Gesamtkilometer

FREITAG, 11. JULI 2014: Neu-Darchau–Ilsenburg
314 Tageskilometer / 4828 Gesamtkilometer

SAMSTAG, 12. JULI 2014: Tag eins in der Region
144 Tageskilometer / 4972 Gesamtkilometer

SONNTAG, 13. JULI 2014: Tag zwei in der Region
149 Tageskilometer / 5121 Gesamtkilometer

MONTAG, 14. JULI 2014: Isenburg–Frankenheim
311 Tageskilometer / 5432 Gesamtkilometer

DIENSTAG, 15. JULI 2014: Frankenheim–As
339 Tageskilometer / 5771 Gesamtkilometer

MITTWOCH, 16. JULI 2014: As–Altreichenau
358 Tageskilometer / 6129 Gesamtkilometer

DONNERSTAG, 17. JULI 2014: Altreichenau–Wildendürnbach
326 Tageskilometer / 6455 Gesamtkilometer

FREITAG, 18. JULI 2014: Wildendürnbach–Podersdorf
210 Tageskilometer / 6665 Gesamtkilometer

SAMSTAG, 19. JULI 2014: Podersderf–Szentgotthard
212 Tageskilometer / 6877 Gesamtkilometer

SONNTAG, 20. JULI 2014: Szentgotthard–Novaki
264 Tageskilometer / 7141 Gesamtkilometer

MONTAG, 21. JULI 2014: Novaki–Crna Bara
329 Tageskilometer / 7470 Gesamtkilometer

DIENSTAG, 22. JULI 2014: Crna Bara–Coronini
266 Tageskilometer / 7736 Gesamtkilometer

MITTWOCH, 23. JULI 2014: Coronini–Trgoviste
322 Tageskilometer / 8058 Gesamtkilometer

DONNERSTAG, 24. JULI 2014: Trgoviste–Obel
319 Tageskilometer / 8377 Gesamtkilometer

FREITAG, 25. JULI 2014: Obel–Trigrad
311 Tageskilometer / 8688 Gesamtkilometer

SAMSTAG, 26. JULI 2014: Trigrad–Rizia
298 Tageskilometer / 8986 Gesamtkilometer

SONNTAG, 27. JULI 2014: Rizia–Carevo
203 Tageskilometer / 9189 Gesamtkilometer

Empfang in Sofia

Der lange Weg zurück

Tag der Abschiede

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Der Eiserne Vorhang verlief auf einer Länge von 10 000 Kilometern von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer durch ganz Europa und trennte den Kontinent mehr als vier Jahrzehnte lang in Ost und West. Bis zu den friedlichen Revolutionen in Ostmitteleuropa war er die physische und ideologische Grenze zweier sich feindlich gegenüberstehender Blöcke. Er trennte nicht nur viele Nachbarstaaten voneinander, sondern spaltete auch Deutschland. Heute ist von dem ehemaligen Todesstreifen kaum noch etwas zu sehen, seine Relikte erinnern uns, aber sie trennen uns nicht mehr.

Man muss Erinnerung sichtbar machen! Der Eiserne Vorhang ist Symbol einer gemeinsamen, gesamteuropäischen Erfahrung im wiedervereinigten Europa. Er ist Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses, mit dem die viel beschworene Europäische Identität gefördert werden kann.

Nach dem Vorbild des Berliner-Mauer-Radweges und des Deutsch-Deutschen-Radweges entsteht nun entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs ein Rad- und Wanderweg, der Reisen auf den Spuren der gemeinsamen Geschichte unseres Kontinents ermöglicht. Das 10 000 Kilometer lange »Grüne Band« von der Barentssee zum Schwarzen Meer steht seit 2002 unter der Schirmherrschaft von Michail Gorbatschow, dem früheren Präsidenten der Sowjetunion. 20 Länder sind an diesem Projekt beteiligt, darunter 15 Mitgliedsstaaten der EU. In vielen Regionen wird noch an der Verwirklichung des Projekts gearbeitet, doch schon heute sind zahlreiche Abschnitte ausgeschildert und ausgebaut.

Der Radweg, für den die Bürgerrechtler Lech Wałęsa, Marianne Birthler und Václav Havel die Schirmherrschaft übernommen haben, verläuft durch mehrere Nationalparks und verbindet eine Vielzahl einzigartiger Landschaften, die wegen ihrer vormaligen Sperrzonen nahezu unberührt geblieben sind. Er verbindet aber auch unzählige Mahnmale, Museen und Freiluft-Einrichtungen, die an die Geschichte der Spaltung Europas erinnern.

Die Route des Iron Curtain Trail wurde nach den folgenden fünf Kriterien ausgewählt:

• möglichst nahe an der ehemaligen Grenze

• auf komfortabel zu befahrenden Wegen

• stark befahrene Straßen vermeidend

• die ehemalige Grenze häufig querend

• viele Zeugnisse der Geschichte integrierend

Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa sind 25 Jahre vergangen. Wilhelm von Humboldt hat einst gesagt: »Nur wer seine Vergangenheit kennt, wird die Zukunft meistern.« Wenn wir die Zukunft Europas positiv gestalten wollen, müssen wir uns mit der Vergangenheit auseinandersetzen.

Ich bin daher froh, dass Joachim Franz und sein Team mit der »E-Expedition Iron Curtain Trail« auf eine ganz neue Art dazu beigetragen haben, diesen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Zukunft mit zu gestalten. Zu dieser Zukunft gehört aber auch ein Umdenken im Umgang mit der Mobilität. Joachim Franz und sein Team haben diesen Aspekt der Zukunftsbewältigung in ihre Expedition eingebunden. Auch dafür gilt ihnen mein Dank.

Michael Cramer

Mitglied des Europäischen Parlaments;

Vorsitzender im Ausschuss

für Verkehr und

Fremdenverkehr

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Ein Wort zu Europa

Als wir im Sommer 2014 die Expedition Iron Curtain Trail durchführten, geschah dies in einem Europa, das noch nicht mit den gewaltigen Flüchtlingsströmen zu kämpfen hatte, die im Sommer 2015 einsetzten. Wir haben die Grenzen in Mitteleuropa und auf dem Balkan zigfach und ohne Probleme kreuzen können. Uns allen, die wir dabei waren, ist im Verlauf dieser Expedition klar geworden, welch wertvolles Gut der Europäische Gedanke darstellt. Ich persönlich bin in dieser Zeit endgültig zum überzeugten Europäer gereift.

Heute könnten wir eine solche Expedition in dieser Form gar nicht mehr durchführen. Heute stehen wieder Zäune auf einigen der von uns passierten Grenzen. Das ist schon traurig genug. Noch mehr erschüttert mich jedoch, wie sehr sich im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise wieder nationales Denken entfaltet. Es erschüttert mich zu sehen, dass es Kräfte in Europa gibt, die Menschen in Not ihre Hilfe verweigern wollen. Das ist nicht mein Europa!

Ich habe indes auch gesehen, in welchem Maße viele Menschen Flüchtlingen gegenüber bewundernswerte Hilfsbereitschaft gezeigt haben. Das gibt mir Zuversicht. Ich glaube daher fest an jenes Europa, das ich im Verlauf der Expedition Iron Curtain Trail für mich persönlich entdeckt habe. Ich glaube an ein offenes, großzügiges Europa, an gemeinsame Europäische Werte. An diesen Werten werde ich festhalten.

Joachim Franz

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Eine Idee wird geboren

Es begann mit einem Telefonat. Anfang April 2013 erhielt ich einen Anruf aus dem Wolfsburger Rathaus. Oberbürgermeister Klaus Mohrs ließ anfragen, ob ich die Moderation der Festveranstaltung zum 75. Geburtstag der Stadt übernehmen würde. Da vieles in Wolfsburg mit Mobilität zu tun hat und ich einen Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft schlagen wollte, entschied ich mich bei der Gala am 28. Juni 2013 für den Auftritt mit einem E-Bike in futuristischem Design. Das kam an. Noch am selben Abend fragte mich einer der Vorstände der Wolfsburg AG, dem Zusammenschluss aus Stadt und Volkswagen AG, ob ich mir nicht eine E-Bike-Aktion für die Region vorstellen könne? E-Mobilität brauche emotionale Geschichten, um das Interesse an neuen Mobilitätsformen zu wecken, einen Umdenkprozess zu fördern. Donnerwetter, dachte ich, eine ebenso herausfordernde wie interessante Aufgabe.

Ende August 2013 stand das Konzept zur »E-Expedition – Iron Curtain Trail«: mit dem E-Bike auf den Spuren des ehemaligen Eisernen Vorhangs, vom Nordmeer bis zum Schwarzen Meer. Der Aspekt des »Umdenkprozesses« hatte mich auf die Idee gebracht. 2014 würde es 25 Jahre her sein, seit der durch ganz Europa gezogene Eiserne Vorhang sich öffnete. Der Wegfall dieser Trennlinie aber schuf nicht nur politisch eine vollkommen neue Situation, er hatte auch für die Bürger Europas einen gewaltigen Umdenkprozess zur Folge. Genauso erfordert die Mobilität der Zukunft einen Umdenkprozess, die Bereitschaft, neue Wege zu gehen. Warum also nicht diese beiden Aspekte miteinander verbinden? Die Klammer dazu würde der »Europa Radweg 13, Iron Curtain Trail« bilden. Dieser vereint europäische Geschichte mit nachhaltigem Tourismus und leistet so einen Beitrag zum Zusammenwachsen Europas. Damit ruht diese Expedition auf drei Säulen: historisches Erinnern, neue Mobilität und europäischer Gedanke. Womit ich auch den »Vater« des Europa-Radwegs Iron Curtain Trail für mein Vorhaben gewinnen konnte: Michael Cramer ist Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und Fremdenverkehr im Europäischen Parlament, und es ist seine Initiative gewesen, diesen Radweg zu schaffen, um auf einer Strecke von fast 10 000 Kilometern europäische Geschichte, Politik, Natur und Kultur erlebbar zu machen. Auch der Starttermin war schnell gefunden. Am 27. Juni 1989 durchtrennten der damalige österreichischen Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn erstmals symbolisch den Eisernen Vorhang. Wir würden auf den Tag genau 25 Jahre später aufbrechen.

Die Vorbereitung

Eine gewaltige Aufgabe lag vor uns. Da erwies sich die Streckenplanung noch als geringste Schwierigkeit, denn die »Bikeline Radkarten« liefern einen gut nutzbaren roten Faden. Als nächstes stellte sich die Frage: Wer fährt mit? Mir war klar, dass ich nicht einfach zum Telefonhörer greifen konnte, um ein paar Freunde mit dem flotten Satz auf den Lippen zu fragen: »Hey, Bock auf eine 9000 Kilometer lange E-Bike-Tour im Sommer 2014, so etwa 30 Tage lang?«

Doch da gab es ja Christian! Christian Roth, Geschäftsführer des E-Bike-Store in Wolfsburg, der mir jenes Future-E-Bike zur Verfügung gestellt hatte, mit dem ich im Juni auf die Bühne geradelt war. Genau genommen war er also schuld an diesem Abenteuer. Christian und mich verbindet eine mehr als zwanzigjährige Freundschaft. Keine, bei der man sich ständig auf dem Schoß sitzt. Aber eine, die sich bei jedem Aufeinandertreffen immer wieder als beständig erwiesen hat. Ich wusste von gemeinsamen Mountainbike-Ausfahrten, dass Christian ein sehr guter Radfahrer ist. Im Gegensatz zu mir hatte er zwar noch nie eine monatelange Expedition hinter sich gebracht, aber immerhin schon eine Alpenquerung im Sattel absolviert. Er behauptet bis heute, ich hätte ihn mit der ganzen Geschichte überrumpelt. Fakt war: Jetzt stand er plötzlich vor der größten sportlichen Herausforderung seines Lebens.

Damit begann die Zeit des Trainings. Merida stattete uns zunächst mit E-Mountainbikes aus der 2013er Serie aus. Für mich hieß es jetzt: umdenken, anders trainieren, sich auf etwas Neues einlassen. Hatte ich noch bis vor kurzem zu jenen gehört, die E-Bikes mit Ignoranz strafen, so musste ich nun begreifen: Nein, man ist nicht alt, wenn man E-Bike fährt. Irgendwann fasste ich mir also ein Herz und stieg zur ersten Testfahrt auf. »Holla, die Waldfee« – das ging ja ab wie die Feuerwehr! Aber ach, ich war gleich im »Turbo«-Programm gestartet. Also runter schalten auf »Eco«. Die Erkenntnis: »So viel Unterstützung bringt das gar nicht.«

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Packtag: Meine Crew, Manfred, Detlef und Wilhelm (v. l.), blickt mich skeptisch an, ob wir wirklich alles unterbringen

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Und damit wir auch alles wiederfinden, müssen genaue Packlisten angelegt werden

Nach 20 Kilometern stand ich an einer roten Ampel. Neben mir hielt ein Rennrad und jemand fragte: »Joachim?« Hey, ein alter Freund aus Triathlon-Zeiten. Doch die Freude dauerte nur wenige Sekunden – dann fiel sein Blick auf mein Bike und dann auf den Akku. Stille. Betroffenheit. Fragende, fast mitleidige Blicke. Nonverbale Kommunikation nennt man das. Ich konnte jedoch seine Gedanken lesen: »Bist du krank? Alt geworden? Gebrechlich?« Die Ampel schaltete auf Grün und ich blieb erst einmal stehen.

Dieses Zusammentreffen war rückblickend der Augenblick, an dem ich mich auch innerlich klar für die »E-Expedition – Iron Curtain Trail« entschied. Aus einer tollen Idee wurde in diesem Moment eine Botschaft. Wenn wir nicht lernen, den Dingen offen und ohne Vorbehalt gegenüber zu stehen, nicht mehr neugierig und lernfähig sind, dann werden wir die Zukunft nicht meistern!

Auf unseren Trainingsfahrten trafen Christian und ich immer wieder auf »die anderen« Biker, die verächtlich schauten. Wer aber den Dialog suchte, bekam Antwort: »Wenn du vier Stunden hart auf deinem Bike trainierst, dann fühlst du dich kaputt und müde. Wenn du vier Stunden hart auf einem E-Bike trainiert hast, wie fühlst du dich dann? Du bist genauso kaputt und müde – aber 30, 40 Kilometer weiter gefahren. Über die Intensität des Radfahrens entscheidet immer noch der, der im Sattel sitzt.«

Die Trainingsdistanzen wuchsen jetzt schnell an. 100, 150 oder 200 Kilometer waren keine Seltenheit. Allein zwischen Januar und Juni 2014 absolvierte ich etwa 6500 Trainingskilometer. Christian und ich einigten uns schon früh darauf, die Expedition im E-Modus »Tour« zu absolvieren. »Eco« bot schlicht zu wenig Unterstützung, »Sport« und »Turbo« wiederum zehrten zu sehr an der Reichweite der Akkus.

Im März 2014 bekamen wir die Expeditions-Räder: vier Merida MTB Big.Nine E-Lite 900 DX. Wir montierten einen anderen Sattel und eine etwas geneigtere Sattelstütze, Liegelenker und komfortable Griffvarianten. Das war’s. Der Spaß an langen Distanzen stieg von Wochenende zu Wochenende. Natürlich gab es auch die weniger lustigen Begebenheiten. Etwa der Ausfall des E-Motors mitten im Harz und der 100 Kilometer lange Rückweg ohne elektrische Unterstützung. Was für eine Plackerei!

Es ging auch nicht immer ohne Blessuren ab. Ende April legte ich bei einer Ausfahrt mit dem Crossbike einen Überschlag hin. Christian stürzte bei einer Trainingseinheit, als er, das Rad über der Schulter, beim Überqueren eines Baumstamms ausrutschte. In diesen Fällen bog uns die Chiropraktikerin Cathi Telle wieder gerade – die permanente medizinische Betreuung gehört unabdingbar zu den Vorbereitungen auf solche Abenteuer dazu.

Anfang Juni erfolgte die Generalprobe: Wolfsburg-Usedom-Wolfsburg, 750 Kilometer in zwei Tagen. Wir wollten testen, wie das Aufladen der Akkus im Auto klappt, wie sich ein Begleitfahrzeug im Verkehr um uns kümmern konnte und wie wir mit den Tagesleistungen von jeweils 375 Kilometern klarkommen würden. 13 Stunden brauchten wir am ersten, 14 Stunden am zweiten Tag. Danach waren wir froh, wieder in Wolfsburg zu sein. Christian aber sagte: »Jetzt nur noch 28 Mal so eine Strecke und wir hätten den Iron Curtain Trail geschafft.« Wer braucht eigentlich solche Freunde?

Mit der sportlichen Vorbereitung allein war es indes nicht getan. Wir brauchten ein Team. Klar war zunächst nur: Wir sind zwei Radfahrer und benötigen ein Begleitfahrzeug mit zwei Mann an Bord. Und mehr noch: Die Expedition sollte ja keine Privatveranstaltung werden. Wir wollten via Medien eine Botschaft vermitteln. Wir mussten also einen Journalisten, einen Fotografen und ein Filmteam dabei haben. Da wir unterwegs möglichst in freier Wildbahn oder bei netten Menschen auf der Wiese lagern wollten, sollte außerdem ein dreiköpfiges Begleitteam gebildet werden, das entsprechende Plätze finden und vorbereiten würde. Macht summa summarum elf Personen, verteilt auf vier Fahrzeuge.

Im Lauf des Frühjahrs fügten sich alle Puzzleteile zu einem Gesamtwerk zusammen. Die Volkswagen AG erklärte sich bereit, die erforderlichen Autos bereit zu stellen. Dann kam das Angebot der Firma Robel, die Freizeitmobile auf VW-Basis produziert, uns zusätzlich noch ein Wohnmobil als Heim für die Sportler zur Verfügung zu stellen.

Auch das Expeditionsteam nahm Gestalt an. Das Team Strecke, das uns Radfahrer aus einem VW Multivan versorgen würde: Willy Mohrmann, bereits 2008 mit mir unterwegs gewesen, jetzt Fahrer und E-Bike-Mechaniker in einem. Didi Lorenz, seit 2003 Urgestein meiner Expeditionen und bald 70 Jahre alt, auch diesmal wieder Streckennavigator, aber nur mit einem Zeitfenster für den ersten Teil der Strecke. Und Riccardo Margagliotta, Mitarbeiter unserer Agentur und Schwiegersohn. Er würde Didi nach der halben Strecke ablösen.

Das Lagerteam: Manfred Reinecke, ebenfalls seit 2008 dabei, mit dem Robel-Wohnmobil. Detlef Kern, auch er seit 2008 an meiner Seite, und Dietlinde Siedentopf als Neuling, beide mit einem VW Crafter und der gesamten Ausrüstung betraut. Dietlinde fiel als ausgebildeter Ergotherapeutin und Fitnesstrainerin außerdem die Aufgabe der medizinischen Betreuung zu.

Die beiden Medienteams, jeweils mit einem VW Caddy auf Achse: Die Filmcrew, bestehend aus Kameramann Max-Martin Bayer, der 2011 mit mir um die Welt gereist war und Filmredakteur Olmo Hennecke. Die Text- und Fotocrew mit dem Journalisten und langjährigen Freund Matthias Huthmacher, der mich in der Vergangenheit auf allen wichtigen Expeditionen begleitet hat, sowie als Debütant der Fotograf Joachim Mottl. Die Aufgabe der Medienteams war klar: Online-Tagebuch, Facebook, Youtube, Nachrichtenagenturen, Tageszeitungen und Magazine, sie alle galt es, mit Stoff zu beliefern.

Dazu kam das Basislager in Wolfsburg, passend zum Thema auf der E-Mobility-Station angesiedelt: Von hier aus würde Sandra Wukovich, Mitinhaberin unserer Agentur, die gesamte Koordination leiten. Hier fanden auch die Pressekonferenzen statt, konnten interessierte Bürger an großen Bildschirmen den Expeditionsverlauf verfolgen.

Am Sonntag, dem 22. Juni 2014, traf das gesamte Team in Wolfsburg zusammen. Packtag. Nahrungsmittel, Werkzeug und Ersatzteile, medizinisches Equipment, alles, was man eben so braucht auf einer wochenlangen Expedition. Dazu vier Bikes, zwei Mannschaftszelte, neun Feldbetten, Feldküche und Massagebank, die gesamte Medienausrüstung sowie die persönliche Habe der Teammitglieder – eine Menge Reisegepäck.

Jetzt lief der Countdown. Am nächsten Tag, 23. Juni, fand die große Abschluss-Pressekonferenz auf der E-Mobility-Station statt. Der Oberbürgermeister, der Vorstand der Wolfsburg AG und Michael Cramer kamen. Vertreter der Metropol Region, des Schaufensters E-Mobilität, des ADFC und unserer Partner. Fernsehen und Rundfunk, Zeitungsjournalisten. Die E-Tankstelle war brechend voll. Ein guter Anfang für uns, die wir mit unserer Expedition ein sichtbares Zeichen setzen wollen.

Der letzte Abend vor dem Aufbruch in das große Abenteuer. Mich beschlich wieder dieses Gefühl, als würde ich für immer gehen. Ich habe einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, was mir dieser Gedanke sagen will. Dabei ist es ganz einfach: Derjenige, der du vor dem Aufbruch bist, geht für immer. Man kommt wieder, ist aber ein anderer Mensch. Wir machen Erfahrungen, und Erfahrungen prägen uns. Ich werde bei meiner Rückkehr reicher sein an Erlebnissen, mit neuen Eindrücken in Herz und Kopf. Und vielleicht auch wieder etwas demütiger.

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Auch das gehört dazu: Rede und Antwort stehen bei der Pressekonferenz vor dem Aufbruch

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Das gesamte Team – und das Wappenbanner der Stadt Wolfsburg, das wir mit auf die lange Reise nehmen

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Der Tross rollt über die Öresund-Brücke zwischen Dänemark und Schweden

Die Fahrt gen Norden

Dienstag, 24. Juni 2014, 4:00 Uhr. Der Wecker klingelt. Rasch unter die Dusche, auf die Schnelle einen Kaffee trinken und bloß nicht zu lange »Tschüss« sagen. Als ich die Tür hinter mir schließe, ist es eher so, als würde es zum Einkaufen gehen und nicht auf große Fahrt. Vielleicht haben die Vorbereitungszeit und der Stress mit den zwischen viel zu viel Arbeit eingeschobenen Trainingseinheiten einen Teil meiner Begeisterung aufgefressen. Jetzt sind alle Gedanken über die Herausforderungen und Ungewissheiten auf dem Weg wie weggeblasen. Ich funktioniere an diesem Morgen einfach, vermutlich auch aus vielen Jahren der Expeditions-Routine heraus.

5:30 Uhr, alle Team-Mitglieder sind am E-Bike-Store eingetroffen. Hier und da gibt es noch eine Verabschiedungsszene. Eine letzte Besprechung, das Briefing für die Fahrt gen Norden. Es folgt der Treueschwur. Das gesamte Team bildet einen Kreis, jeder legt die Arme auf die Schultern des Nachbarn und dann wird es laut: »Schaffen wir das? Ja, wir schaffen das!«

Pünktlich um 6:30 Uhr setzt sich der Tross in Bewegung. Ich bin müde. In den letzten zwei Wochen war ich vor lauter Stress zu keinem Training mehr gekommen, hatte unter Schlaflosigkeit gelitten, dazu kam eine wenig vernünftige Ernährung. Warum müssen die letzten Wochen vor dem Start zu einer Expedition immer so sein? Ich schlafe ein. Nach zwei Stunden kommt der Konvoi erstmals zum Stehen. Fahrerwechsel, kurze Pause. 15 Minuten, genug Zeit für einen Kaffee. Dann geht es weiter. Das ist jetzt der Rhythmus für die nächsten Tage. Mehr als 3000 Kilometer Anfahrt sind es bis zum eigentlichen Startpunkt im hohen Norden. Das Wohnmobil gibt das Tempo vor. 100, 110 Kilometer pro Stunde – die Zeit verrinnt zäh.

Wir passieren Hamburg und Kopenhagen. In der Nacht huschen wir an Malmö und Stockholm vorbei. Es wird abwechselnd gefahren und geschlafen. Die Temperatur fällt auf sieben Grad, aus Regen wird Hagel, der die Straße innerhalb von Minuten mit einer dünnen Eisschicht überzieht. Alter Schwede – es ist Ende Juni! Wir sind jetzt so weit im Norden, dass es nicht mehr richtig dunkel wird. Wir folgen der Blauen Küste Schwedens noch bis Luleå, drehen auf Nord-Kurs, fahren im weichen Licht der skandinavischen Sommersonne hinein in die Einsamkeit Lapplands, durch endlos scheinende Wälder und saftig grüne Wiesenlandschaften. Überall Wasser, zahllose Seen, Flüsse und Bäche – eine Landschaft, die uns für die Strapazen dieses Marathons entschädigt.

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Das Wohnmobil wird uns Radfahrern unterwegs als Schlafzimmer dienen

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Wichtig bei 3000 Kilometern Anfahrt bis zum Startpunkt der Expedition: Lockerungsübungen während des Auto-Marathons

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Zunächst geht es noch auf gut ausgebauten skandinavischen Schnellstraßen voran

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Später folgen schmale Sträßchen durch die verträumten Landschaften des Nordens

Am Abend sinken die Temperaturen auf unter fünf Grad, Regenschauer setzen ein. Wir passieren den Polarkreis und ich entscheide, dass das Team heute Nacht noch einmal richtig ausschlafen soll. Bei Kaamanen im Norden Finnlands überfallen wir daher die Hüttenanlage »Neljän Tuulen Tupa«, bekommen unter den rauchgeschwärzten Balken der Gaststube eine Lachssuppe und Jägersteaks serviert, dazu das finnische Traditionsbier Lapin Kulta. Es ist schon nach Mitternacht, als ich in der Koje liege. Durch das kleine, holzgerahmte Fenster fällt noch immer fahler Sonnenschein und meine Gedanken kreisen. Morgen werden wir an der Küste des Polarmeeres stehen. Dann geht es tatsächlich los.

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Der Expeditionsstart naht: Radfahrer und Filmcrew machen sich bereit

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DONNERSTAG, 26. JUNI 2014:

Jakobselva – Näätämö

116 Tageskilometer / 116 Gesamtkilometer

Um 7:30 Uhr: Abflug. Die letzten Kilometer auf vier Rädern, über die Grenze nach Norwegen hinweg. Kein Auto weit und breit außer unserer Kolonne. 9:45 Uhr: Ankunft in Kirkenes. 3035 Kilometer zeigen die Autotachos an. Jetzt steht noch unsere erste Begegnung an. Das Expeditions-Konzept sieht schließlich möglichst viele Kontakte zu Menschen vor, die mit einem unserer Themen in Verbindung stehen. Hier im hohen Norden ist das Yngve Labahå, Geschäftsführer des Volkswagen-Autohauses in Kirkenes, der auch gleich die lokale Presse eingeladen hat. Nach Interviews und Fotoshooting erklärt Yngve den immensen Erfolg der Elektromobilität in Norwegen.

Der, dank seiner Einnahmen aus Öl- und Gasförderung aus der Nordsee, reiche Staat verzichtet beim Kauf eines Elektroautos auf den ansonsten horrend hohen Einfuhrzoll, dazu zehn Jahre lang auf die Kfz-Steuer und auf die allenthalben erhobenen Mautgebühren. Außerdem dürfen E-Autos auf öffentlichen Parkplätzen kostenlos parken, an den zahlreich vorhandenen Ladestationen kostenfrei Strom zapfen sowie die Bus- und Taxispuren in den Städten nutzen. Kein Wunder, dass Norwegen in Europa das Land mit den höchsten Verkaufszahlen für Elektroautos ist. Und weil Yngve erstens von der Zukunft der Elektromobilität überzeugt ist, zweitens nahe des ehemaligen Eisernen Vorhangs lebt und drittens uns etwas Gutes tun will, stellt er uns für die erste Etappe der Expedition einen VW e-Up zur Seite.