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Zhao Jie

Kleiner Phönix

Eine Kindheit unter Mao

Karl Blessing Verlag

Unserer Großen Mutter
– in ewiger Erinnerung

1. Auflage 2013

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie
Werbeagentur, Zürich

Fotos im Bildteil © privat

Zeichnungen © Chen Youmin

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-10197-8

www.blessing-verlag.de

Die Nachricht

Meine Armbanduhr war stehen geblieben. In der Nacht des 3. Juni 1989, um 11 Uhr 40. Das entdeckte ich, als ich am Morgen aufwachte. Ich zog sie auf. Sie ging trotzdem nicht. Ich brachte sie zu einem Uhrmacher in der Berkaer Straße in Schmargendorf. Er sagte mir, die Uhr sei zwar uralt und verschmutzt, aber die Mechanik eigentlich noch völlig in Ordnung. Er verstehe es nicht und könne mir leider nicht helfen.

Ich trug diese Uhr seit mehr als fünf Jahren. Sie war eine mechanische, silberfarbene Schweizer Damenuhr der Marke Titoni, ein Erbstück meiner Großmutter. Als ich im März 1984 zum Studium nach Berlin gekommen war, hatte Großmutter sie mir gegeben und gesagt: »In meinem Alter spielt die Zeit keine Rolle mehr. Aber du brauchst eine Uhr.« Seitdem begleitete sie mich Tag und Nacht. Ich pflegte sie abends aufzuziehen, bevor ich schlafen ging. Noch nie war sie stehen geblieben.

Am diesem Abend sah ich blutige Bilder im Fernsehen: blutüberströmte Menschen, Tote auf ihren zerdrückten Fahrrädern, Schwerverletzte auf Dreiradkarren, rollende Panzer, brennende Fahrzeuge, Soldaten mit Sturmgewehren … Alle Sender berichteten über ein Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Die Demokratiebewegung Chinas im Frühling 1989 sei vom Militär blutig niedergeschlagen worden, hieß es. Mir stockte der Atem. Wie gelähmt saß ich vor dem Fernseher, stunden-, tage- und nächtelang. Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich diese mir so vertrauten Straßen, diese mir so ähnlich sehenden Menschen nicht am Bildschirm gesehen hätte.

Sechs Wochen hatte ich die Entwicklung in China sehr genau verfolgt. Ich schnitt Zeitungsartikel aus und heftete sie sorgfältig nach Datum in einen Ordner. Ich sah jeden Tag die Fernsehberichte und zeichnete sie auf Videokassetten auf. Ich ging mit chinesischen Studenten auf die Straße, um mich mit den Studenten in Peking zu solidarisieren. Wir glaubten, in China fände eine Umwälzung statt.

Der direkte Anlass der Demokratiebewegung war der plötzliche Tod des ehemaligen KP-Generalsekretärs Hu Yaobang am 15. April. Er hatte sich für die wirtschaftliche und politische Liberalisierung eingesetzt, aber seinen Kampf gegen die Konservativen und schließlich seinen Posten verloren. Am 17. April marschierten sechshundert Studenten und Dozenten der Hochschule für Politik und Recht spontan zum Platz des Himmlischen Friedens und legten dort Trauerfahnen und Kränze ab. Im Lauf des Tages kamen immer mehr Studenten anderer Universitäten hinzu. Sie gedachten des beliebten Staatsmanns und forderten bessere Studienbedingungen und Berufschancen sowie Freiheit.

An diesem Tag war die Demokratiebewegung entfacht worden. Die Studenten organisierten sich, gründeten die »Autonome Vereinigung der Pekinger Universitäten« und forderten die Regierung zum Dialog auf. Da die Regierung nicht auf die Bedingungen der Studenten einging, versammelten sie sich zu Hunderttausenden immer wieder auf dem Platz des Himmlischen Friedens, boykottierten die Vorlesungen und forderten Demokratie, Bekämpfung der Korruption, Meinungs- und Pressefreiheit.

Am 26. April erschien ein Leitartikel in der Volkszeitung, in dem die Demokratiebewegung zum »Aufruhr« erklärt wurde. Die Studenten waren empört. Sie sahen sich als Bürger und Patrioten, die ihre Rechte ausübten, und nicht als »Verbrecher«. Besorgt ging ich zu meinen Freunden. In unserer Verfassung steht doch geschrieben: »Die Bürger der Volksrepublik China genießen die Freiheit der Rede, der Publikation, der Versammlung, der Vereinigung, der Durchführung von Straßenumzügen und Demonstrationen.« Warum waren dann diese friedlichen Demonstrationen ein Aufruhr? Wir waren fassungslos. Die ganze Nacht hindurch diskutierten wir und befürchteten einen bösen Ausgang. Denn in der Logik des Staates musste ein Aufruhr bekämpft werden. Aber auch für die Studenten gab es jetzt kein Zurück mehr. Gäben sie auf, müssten sie damit rechnen, als »Aufrührer« abgestempelt und von der Staatssicherheit verfolgt zu werden.

Von diesem Zeitpunkt an wurde aus einer Studentendemonstration ein Massenprotest. Arbeiter, Angestellte und einfache Bürger gingen auf die Straße, um die Studenten zu unterstützen. Der Protest eskalierte. Die Studenten besetzten den Platz und traten am 13. Mai in einen Hungerstreik. Zwei Tage später sollte Gorbatschow als erster Generalsekretär der KPdSU seit dreißig Jahren China besuchen. Die Studenten hofften wohl, diesen günstigen Zeitpunkt nutzen zu können, um die Regierung zu Zugeständnissen zu zwingen. Denn der Fokus der internationalen Presse richtete sich in diesem Moment auf Peking.

Aber die Regierung ging nicht auf die Studenten zu und verlegte den Empfang für Gorbatschow, der ursprünglich auf dem Platz des Himmlischen Friedens stattfinden sollte, auf den Flughafen. Anschließend musste Gorbatschow die im Westen des Platzes befindliche Große Halle des Volkes durch einen Nebeneingang betreten, um sich mit dem Staatspräsidenten Yang Shangkun zu treffen. Das bedeutete einen großen Gesichtsverlust für die chinesische Regierung, das wusste jeder Chinese. Und ein Gesichtsverlust verhieß nichts Gutes.

Am 17. Mai strömten circa eine Million Menschen zu Fuß, mit Fahrrädern oder auf Lastwagen zum Platz des Himmlischen Friedens: Studenten, Arbeiter, staatliche Angestellte, Schriftsteller, Wissenschaftler, Polizisten, Ärzte, sogar Parteikader und Journalisten des Parteiorgans – der Volkszeitung – und des Staatsfernsehens. Die Medienvertreter aus aller Welt, die anlässlich des Besuchs von Gorbatschow in Peking versammelt waren, berichteten mit höchster Begeisterung: Sie wollten ursprünglich über den Staatsbesuch Gorbatschows berichten und gerieten unerwartet in eine Revolution.

Die Bilder im Fernsehen erinnerten mich an den 1. Oktober 1969. An jenem Tag hatte ich als eines der Blumenmädchen an der großen Parade zum 20. Staatsgründungsjubiläum teilgenommen und den Vorsitzenden Mao gesehen. Aber dieses Mal war es keine staatlich organisierte Kundgebung, sondern eine spontane Massenbewegung – wohl die erste und größte seit Gründung der Volksrepublik – und für ein ganz anderes Ziel. Ich war aufgewühlt und verfolgte angespannt die weitere Entwicklung: Vielleicht würde es ja doch noch ein Wunder und auch in China eine Perestroika geben!

Am Morgen des 20. Mai wurde das Kriegsrecht über Peking verhängt. In den Abendnachrichten dieses Tages sah ich Zhao Ziyang, den Generalsekretär der KP Chinas, der in der Nacht zuvor die Studenten auf dem Platz besucht hatte. Mit Tränen in den Augen sagte er: »Wir sind zu spät gekommen. Es tut mir leid.« Er bat die Studenten, den Hungerstreik zu beenden. »Ihr seid noch so jung. Ihr sollt gesund weiterleben, um die Verwirklichung der Vier Modernisierungen zu erleben. … Wir können unseren Dialog weiterführen. Manche Dinge brauchen Zeit, sie brauchen einen Prozess, bis man eine Lösung findet …«, sprach er durch ein Megaphon. Man sah selten, dass chinesische Politiker unter die Massen gehen, schon gar nicht, dass sie in der Öffentlichkeit Emotionen zeigen. Zhao Ziyang sah sehr erschöpft und traurig aus. Meine Unruhe und Sorge wurden immer größer.

Am 30. Mai tauchte eine zehn Meter hohe »Göttin der Demokratie« – eine Nachbildung der New Yorker Freiheitsstatue – vor dem Tor des Himmlischen Friedens auf. Studenten der Zentralen Kunstakademie hatten sie aus Gips und Polystyrol gebaut. Am nächsten Tag berichteten die Zeitungen, dass erste Demonstranten in Peking festgenommen worden seien und dass die staatlichen Medien die »Göttin der Demokratie« als eine »Demütigung der chinesischen Nation« bezeichneten. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass die »konservativen Kräfte in der KP-Führung« fest entschlossen waren, dem »Chaos« ein Ende zu setzen.

Dann kam die Nacht vom 3. auf den 4. Juni. An viele Möglichkeiten hatten wir gedacht, aber nicht an diesen blutigen Ausgang. Meine Freunde und ich konnten einfach nicht glauben, dass die Volksbefreiungsarmee auf das eigene Volk schoss und es mit Panzern niederwalzte. Die westlichen Medien sprachen von mehreren Tausend Opfern. Aber was war wirklich auf dem Platz des Himmlischen Friedens passiert? In dieser Nacht war kein einziger westlicher Journalist dort gewesen.

Ich war paralysiert. Regungslos saß ich vor dem Fernseher und zeichnete alle Berichte auf, ohne zu wissen, wozu. Inzwischen hatte ich mehr als ein Dutzend Videokassetten, die mit »Demokratiebewegung China 89« oder »4.6.« betitelt waren. Nach Peking zu telefonieren kam nicht infrage, denn ich wusste, wie gefährlich es im Moment für die Menschen in China sein musste, öffentlich über die Ereignisse zu sprechen.

In diesem Zustand der Fassungslosigkeit erhielt ich zehn Tage später, am 14. Juni 1989, einen Brief meiner Mutter aus Peking in dem gewöhnlichen hellblauen Umschlag für Luftpost. »Großmutter ist gestorben«, stand darin als erster Satz. Ich begriff die Schriftzeichen nicht, es waren Worte, deren Sinn ich nicht fassen konnte. Ich las sie noch einmal und noch einmal. Dann las ich weiter: »Großmutter ist im friedlichen Schlaf von uns gegangen, am 4. Juni um 5 Uhr 40. Doktor Liu hat den Totenschein ausgestellt. Noch am selben Tag brachten wir sie in die Leichenhalle des Bezirkskrankenhauses. Die Leute im Krematorium mussten wir mit einer hohen Summe bestechen, damit ihr Leichnam bereits drei Tage später eingeäschert werden konnte. Sonst hätte man sehr lange warten müssen, besonders in diesen Tagen … Weißt du, in Peking herrscht zurzeit eine unerträgliche Hitze

Die Worte »eine unerträgliche Hitze« waren unterstrichen. Während ich das las, fühlte ich, wie ich in einen dunklen Abgrund hinabfiel, tiefer und tiefer; ich wollte weinen, hatte aber keine Tränen.

Großmutter ist tot? Es gibt sie auf dieser Welt nicht mehr, nicht einmal ihren Leichnam? Sie ist als Mensch aus diesem Kosmos gegangen, einfach erloschen? Und ich erfahre es in Form einer Notiz auf einem Blatt Papier?

Und dann, von einem auf den anderen Moment, ging es mir auf: Ich schaute auf meine Uhr, die ich immer noch trug, in der Hoffnung, dass sich die Zeiger wieder bewegen würden. 11 Uhr 40 zeigte sie nach wie vor. Plus sechs Stunden Zeitdifferenz in der Sommerzeit. In Peking war es 5 Uhr 40 des 4. Juni gewesen, als meine Uhr stehen geblieben war. Eine giftige Ohmacht würgte und betäubte mich augenblicklich. Ich verlor meinen Verstand …

In meiner Kindheit und Jugend hatte ich zweimal den Tod aus der Ferne erlebt, einen Tod, den ich nicht begreifen und an dessen Wirklichkeit ich lange nicht glauben konnte.

Als ich drei Jahre alt war, starb mein Großvater, mit dem ich zusammenlebte. Während er im Sterben lag, hatte man mich ihn nicht sehen lassen, auch nach seinem Tod nicht. Er war einfach aus meinem Leben entschwunden. Als ich später nach ihm fragte, wurde mir erzählt, mein Großvater sei tot und verbrannt worden. Seitdem träumte ich immer wieder einen Traum: dass mein Großvater, der feuerrot und leuchtend aussieht, mich lächelnd besucht. Jahrelang hatte ich gehofft, dass er eines Tages zu uns, Großmutter und mir, zurückkehren würde, ich müsste nur Geduld haben. Erst als ich in die Schule ging, entdeckte ich einmal durch Zufall ein Kästchen mit Großvaters Urne und seinen beiden eiförmigen Handschmeichlern aus smaragdgrünem Jade in unserer Holztruhe. Aber ich konnte die Urne nicht mit Großvater in Verbindung bringen. Die beiden Handschmeichler, die seitdem mein liebstes Spielzeug in der Kindheit wurden, blieben die einzige Erinnerung an meinen Großvater.

Als ich dreizehn war, starb mein Onkel Peiren in einer weit entfernten Provinz im Süden an einer unerklärlichen Krankheit. Er war der einzige Bruder meiner Mutter. Ich liebte und verehrte ihn sehr. Man gab mir keine Gelegenheit, von ihm Abschied zu nehmen und an seiner Trauerfeier teilzunehmen. Ich konnte meine Trauer durch nichts zum Ausdruck bringen. Ich besaß nichts von ihm. Ich musste mich mit der Tatsache abfinden, dass mein geliebter Onkel, der uns nur einmal im Jahr besuchen kam, auf einmal nicht mehr da war und nie wieder heimkehrte.

Heute wollte ich mich nicht noch einmal damit abfinden, dass der mir liebste Mensch plötzlich nicht mehr existierte. Ich beschloss auf der Stelle, nach Peking zu fliegen.

Selbst wenn Großmutter wirklich nicht mehr da sein sollte, wollte ich zumindest noch einmal in dem Zimmer sein, in dem sie geatmet und geschlafen hatte. Selbst wenn es kein Grab gab, wollte ich zumindest einmal neben ihrer Asche meine Trauer ausweinen. Selbst wenn sie kein Testament hinterlassen hatte, wollte ich zumindest die von ihr zuletzt benutzten Gegenstände noch einmal ansehen und berühren. Und auch wenn keine Trauerfeier für sie stattfinden würde, wollte ich zumindest ein Räucherstäbchen für sie anzünden und ihr meines Herzens Opfergabe im Stillen widmen. Ich musste zurück, sonst wäre ich für den Rest meines Lebens nicht mit mir im Reinen gewesen.

Die Halle des Pekinger Flughafens war so gut wie leer.

Seit ich 1984 zum Studium nach Deutschland gegangen war, hatte ich meine Heimat zweimal besucht. Jedes Mal hatte ich ein überwältigendes Gefühl empfunden, sobald ich Pekinger Boden betrat und in das Meer von Menschen eintauchte, die die gleiche Hautfarbe hatten wie ich. Ich hatte schon auf dem Flughafen jeden angelächelt, dem ich begegnete.

Aber heute war der Flughafen leer. Nicht einmal vor der Passkontrolle gab es eine Schlange. Ich konnte gleich durchgehen.

»Welchen Zweck hat dein Besuch?«, fragte mich der uniformierte Beamte, ein junger Mann mit einem ausdruckslosen Gesicht, während er auf meine schwarze Trauerarmbinde starrte.

»Tote betrauern«, antwortete ich leise.

»Tote betrauern?«, echote er und beobachtete mich einige Sekunden. Dann fragte er, wer gestorben sei.

»Meine Großmutter.«

»Wie lange bleibst du?«

»Zwei, drei Wochen.«

Daraufhin senkte er seinen Kopf. Ich konnte nicht feststellen, was er tat, denn der Schalter, hinter dem er unter blassem Neonlicht saß, war sehr hoch. Nach einer Zeit, die mir endlos lang erschien, gab er mir meinen Pass zurück.

Ich nahm den Flughafen-Shuttlebus und stieg an der Haltestelle aus, die meinem Elternhaus am nächsten war. Den restlichen Weg ging ich zu Fuß. Es war drückend heiß und schwül. Die Radfahrer traten gemächlich und lustlos in die Pedale. Ein paar ältere Männer saßen mit ihren Vogelkäfigen im Schatten der Bäume am Straßenrand und spielten Schach. Alles war wie früher. Von den blutigen Bildern und Straßenschlachten, die ich vor zwei Wochen im Fernsehen gesehen hatte, keine Spur.

Meine Eltern wohnten in der Nähe des Diplomatenviertels im Chaoyang-Bezirk. Dort befanden sich auch die Büros der ARD- und ZDF-Korrespondenten, aus denen Jürgen Bertram und Gisela Mahlmann über die nächtelangen Schießereien berichtet hatten. Jetzt herrschte hier absolute Ruhe. Die breite Asphaltstraße schien sich im Hitzeflimmern in einen Fluss zu verwandeln. Ich blickte umher, diese mir so vertrauten Straßen, Menschen, Geschäfte – alles war wie früher. Trotzdem tat mir das Herz weh. Ich ging langsam weiter, unsicher und vorsichtig, und plötzlich wusste ich, warum: Ich suchte nach Spuren. War das hier die Straße, über die die Panzer der Volksbefreiungsarmee ins Zentrum gerollt waren, um eine friedliche Bewegung niederzuwalzen?

Je näher ich unserem Wohnhof kam, desto schwerer wurden meine Schritte. Kam ich wirklich zu spät? Ich hatte Angst, vor der Tatsache zu stehen, dass ich meine Großmutter wirklich nicht mehr vorfinden würde.

Als Mutter die Tür öffnete, war sie sichtlich verwirrt: »Tochter? Bist du es?« Wieso ich nicht geschrieben hätte, sie hätten mich doch abgeholt. Damit habe sie wirklich nicht gerechnet, sagte sie immer wieder und betrachtete mich von Kopf bis Fuß. Ihr Blick blieb kurz auf meiner schwarzen Armbinde haften. Dann wurde sie still, und ihre Augen wurden rot. Ich fürchtete mich vor solchen Augenblicken. Wir waren es nicht gewohnt, Gefühle zu zeigen. Ich hatte Mutter selten weinen sehen, ich weinte auch ungern vor ihr, geschweige denn, dass wir zusammen weinten. »Mama, ich habe Durst«, sagte ich.

Als ich hörte, dass Mutter in der Küche war, schlich ich hinaus, öffnete mit einem Ruck die Tür des gegenüberliegenden Zimmers, trat ein und schloss sie hinter mir.

Das Zimmer war leer.

Der etwa zwölf Quadratmeter große Raum auf der schattigen Nordseite der Wohnung war das gemeinsame Schlafzimmer von Großmutter und meinem Cousin Shitou gewesen. Ich konnte keine Veränderung wahrnehmen. Es fehlte lediglich das aus zwei Holzbrettern bestehende Bett meines Cousins, alles andere war noch da: Großmutters Bett, ihre Bettdecke, ihr mit Buchweizen gefülltes Kopfkissen, der von mir aus einem geblümten Bettbezug genähte Vorhang, der uralte, dunkelbraune Schreibtisch, den einst meine Eltern von ihrem Theaterensemble zugeteilt bekommen hatten, die drei großen eisernen Eimer mit Deckeln zum Aufbewahren von Reis und Mehl unter dem Schreibtisch, der kleine Geschirrschrank mit zwei Rauchglas-Schiebetüren, der Großmutter ein Leben lang begleitet hatte – alles war da. Sogar Großmutters Thermosflasche und ihre kleine, weiße, mit dem »Gott der Langlebigkeit« verzierte Porzellanteekanne standen noch auf dem Tisch, und ihr Spazierstock aus Sandelholz lehnte wie immer in der Ecke hinter der Tür.

Nur Großmutter war nicht mehr da.

Als ich sie letztes Mal besucht hatte, hatte sie mich gefragt, was der Tod bedeute. Ich hatte ihr gesagt: »Du wirst nicht sterben. Du willst doch Urgroßmutter werden, nicht wahr? Warte ab, nächstes Mal bringe ich dir einen Urenkel mit.« Sie hatte leise gesagt: »Ich will ja nicht sterben.«

Aber sie war tot. Ich hatte sie und mich selbst belogen.

Mich ergriff tiefe Reue. Ich bereute, ihr in ihren letzten Jahren nicht noch mehr Freude und Zuwendung gegeben zu haben. Ich bereute, dass ich ihr die medizinische Versorgung, die ich in Deutschland mit großer Selbstverständlichkeit genoss, nicht hatte anbieten können. Ich bereute, dass ich nicht bei ihr gewesen war, als sie meiner Liebe und Fürsorge am meisten bedurft hätte.

Ich erinnerte mich an ein altes Foto, eine circa 30 mal 40 cm große Schwarz-Weiß-Aufnahme in einem Messingrahmen, auf der Großmutter vermutlich Anfang fünfzig war. Nach diesem Foto sehnte ich mich jetzt. Als ich es in der Holztruhe unter ihrem Bett fand und betrachtete, fiel mir auf, wie glatt ihre Haut damals gewesen war. Es konnte natürlich sein, dass die Fotografie – wie früher üblich – retuschiert worden war. Ihre nicht sehr großen Augen hinter den Gläsern lächelten mild und schauten mich an. Ihr entgegen dem damaligen weiblichen Schönheitsideal – einem »Kirschenmund« – eher breiter Mund war fest geschlossen, sodass auf ihrem Gesicht trotz des Lächelns ein gewisser Ernst, ja ein Hauch Melancholie zu lesen war. Ihr schwarzes Haar hatte sie gemäß der für verheiratete Frauen damals noch geltenden Sitte zu einem Haarknoten hinter dem Kopf frisiert, sodass ihre Ohren ganz frei waren. Großmutter besaß zwei üppige Ohrläppchen, die nach der chinesischen Physiognomik auf ein glückliches langes Leben hinwiesen. Ob sie glücklich gewesen war, konnte ich nicht sagen. Und wie lang sie gelebt hatte? Keiner wusste genau, wie alt Großmutter geworden war, nicht einmal meine Mutter, ihre Tochter. Im Familienbuch stand, dass sie 1907 geboren worden war. Meine Mutter behauptete jedoch, Großmutter sei 84 gewesen, als sie starb; dann wäre sie 1905 auf die Welt gekommen.

Meine Großmutter war eine gewöhnliche Hausfrau gewesen. Sie hatte im Leben nichts besessen, kein Geld, keinen Reichtum, auch keine besonderen Fähigkeiten. Sie hatte keine Spur auf der Welt hinterlassen – oder in ihren eigenen Worten: »nichts Bemerkenswertes getrieben«. Aber sie hatte fünf Kinder großgezogen: meinen Onkel, meine Mutter, mich, meinen Cousin und meine Schwester. Sie war eine großartige Mutter, unsere Große Mutter. Sie hat uns nicht nur zu essen gegeben und Kleidung und Schuhe für uns genäht, sie hat uns vor allem auch mit ihrem Geist, mit ihrer Güte geprägt. Ihr Leben war eine Kerze, die nur dazu da war, uns zu beleuchten. Jetzt war sie abgebrannt, erloschen. Aber bin ich nicht die Fortsetzung ihres Lebens?

Ich glaube eigentlich nicht an ein Leben nach dem Tod. Aber für mich ist Großmutter unsterblich. Sie lebt in meinem Herzen weiter, sie lebt in uns allen weiter. Sie wird ewig lebendig in meiner Erinnerung bleiben, so lebendig wie ihr Lächeln auf der Fotografie.

Mit beiden Händen stellte ich den Messingrahmen mit der alten Aufnahme auf den Tisch, kniete nieder, machte voller Ehrerbietung dreimal Kotau und flüsterte ihr zu: »Großmutter, deine Enkelin ist zu dir zurückgekehrt.«

Danach ließ ich ungehemmt meinen Tränen freien Lauf.

Buch Eins

Die Geburt des Phönix