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Bertelsmann Stiftung (Hrsg.)

Inklusion kann gelingen!

Forschungsergebnisse und Beispiele
guter schulischer Praxis

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet unter
http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2016 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh
Verantwortlich: Nicole Hollenbach-Biele, Dennis Vogt
Lektorat: Heike Herrberg
Herstellung: Sabine Reimann
Umschlaggestaltung: Elisabeth Menke
Umschlagabbildung: Ulfert Engelkes (Gemeinschaftsgrundschule Wolperath-Schönau,
Jakob Muth-Preisträger 2013/14)
ISBN 978-3-86793-665-1 (Print)
ISBN 978-3-86793-773-3 (E-Book PDF)
ISBN 978-3-86793-774-0 (E-Book EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

Ulrich Kober, Dirk Zorn

Inklusion statt Förderschule? Zum Stand des gemeinsamen Unterrichts in Deutschland

Nicole Hollenbach-Biele

Zusammen oder getrennt? Inklusive und separierende Beschulung im Licht der empirischen Forschung

Kathrin Dedering

Erfahrung mit inklusiver Schule: Die Sichtweise von Eltern auf das gemeinsame Lernen

Nicole Hollenbach-Biele, Anja Simon

Inklusive und nicht inklusive Schulen im Vergleich: Die Perspektive der Lehrkräfte

Corinna Ziegler, Dirk Richter und Nicole Hollenbach-Biele

Jakob Muth-Preis für inklusive Schule

Ina Döttinger

Landkarte aller bisherigen Preisträger

Porträts der aktuellen Preisträger

Grund- und Mittelschule Thalmässing (Bayern)

Saaleschule für (H)alle (Sachsen-Anhalt)

Geschwister-Scholl-Gymnasium Pulheim (NRW)

Förderzentrum für Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung – Pestalozzi-Schule Husum (Schleswig-Holstein)

Was kann man von Jakob Muth-Preisträgerschulen lernen? Ergebnisse der Studie »Gute inklusive Schule«

Ann-Kathrin Arndt, Rolf Werning

Wie wird Inklusion gut gemacht? Gelebte Praxis inklusiver Schulen

Nicole Hollenbach-Biele, Dennis Vogt

Die Autorinnen und Autoren

Abstract

Vorwort

Schulen werden inklusiver

Wir befinden uns im Jahr sieben nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die 2009 einen inklusiven Paradigmenwechsel für das deutsche Schulsystem eingeleitet hat. Die Zahl Sieben steht in der Kulturgeschichte symbolisch für Fülle oder einen abgeschlossenen Zyklus. Der Weg zur Inklusion in Schulen ist allerdings noch lange nicht abgeschlossen. Kritische Stimmen wie die Monitoringstelle zur UN-Behindertenrechtskonvention monieren die schleppende Umsetzung in vielen Bundesländern. Andere stellen auch immer wieder grundsätzlich die Frage, ob die Regelschulen wirklich der beste Förderort für Kinder mit Förderbedarf sind.

Aus unterschiedlichen Perspektiven belegen diese Stimmen, dass überall Ernst gemacht wird mit der schulischen Inklusion. Tatsächlich hat sich in den letzten sieben Jahren viel getan in Deutschland: Immer mehr Förderschüler* werden in Regelschulen unterrichtet, Förderschulen werden geschlossen oder in »Schulen ohne Schüler« überführt, Sonderpädagogen kommen an Regelschulen, Fortbildungen für Lehrkräfte in Regelschulen werden gestartet. Schließlich ist Inklusion nicht mehr nur ein Thema in integrativen Schulformen wie Grund- oder Gesamtschulen, sondern Gymnasien suchen mittlerweile ebenfalls Wege gemeinsamen Lernens.

Auch wenn es angesichts der umfassenden Herausforderung viel zu früh wäre, nach sieben Jahren eine Bilanz zu ziehen, geht es in diesem Buch um die Frage, wo wir heute bei der Inklusion in Schulen stehen. Den Einstieg markiert ein Blick auf die aktuellen Kennziffern zur Inklusion und in die Schulgesetze. In ihrer Analyse kommt Nicole Hollenbach-Biele zu dem Schluss, dass Deutschland insgesamt ein langsames Reformtempo fährt. Denn auch wenn immer mehr Kinder mit Handicap eine Regelschule besuchen, geht der Anteil von Schülern in den Förderschulen kaum zurück. Diese zunächst widersprüchlich erscheinende Entwicklung liegt daran, dass derzeit bei immer mehr Schülern ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wird – Tendenz weiter steigend. Allerdings ändert sich der Befund, wenn statt der Bundesebene die Länderebene betrachtet wird. Dieser länderspezifische Blick zeigt: Vor allem die Stadtstaaten und Schleswig-Holstein haben in den vergangenen Jahren die Weichen für eine umfassende schulische Inklusion gestellt. Dies schlägt sich in den statistischen Zahlen und auch in der Gesetzeslage nieder. Andere Bundesländer stehen hier noch am Anfang.

Doch warum entwickelt sich die schulische Inklusion in einigen Bundesländern so langsam und in anderen vergleichsweise konsequent? Neben unterschiedlichen Ausgangslagen bei Größe und Demographie sowie schulpolitischen Unterschieden gibt es in vielen Bundesländern immer noch grundsätzliche Skepsis, ob das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf funktionieren kann. Kathrin Dedering beleuchtet, welche Befunde die erziehungswissenschaftliche Forschung zu dieser Grundsatzfrage beisteuert. Diverse Studien aus dem deutschsprachigen und internationalen Raum zu den Effekten gemeinsamen Lernens machen deutlich, dass sowohl die Schüler mit als auch jene ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in ihrer kognitiven und schulischen Leistungsentwicklung vom inklusiven Unterricht profitieren bzw. dass der getrennte Unterricht in diesen Bereichen Nachteile für Förderschüler mit sich bringt. Für die Schülergruppe ohne Förderbedarf ermöglicht das gemeinsame Lernen zudem einen Mehrwert im (psycho-)sozialen und emotionalen Lernen. Insgesamt kommt Dedering zu dem Schluss, dass inklusiver Unterricht für alle Schüler positiv wirkt, wenn dabei auf die Lerngruppenzusammensetzung, auf gute individuelle Förderung sowie auf konsequente Arbeit an der sozialen Akzeptanz und am Selbstkonzept der Schüler geachtet wird.

Von positiven Erfahrungen mit dem gemeinsamen Unterricht berichten auch die Mütter und Väter. Unter Rückgriff auf die Ergebnisse einer repräsentativen Elternumfrage zeigen Nicole Hollenbach-Biele und Anja Simon, dass Eltern ein Bewusstsein für die positiven Effekte inklusiver Bildung entwickeln, wenn sie in Kontakt mit dem gemeinsamen Lernen kommen, sei es durch die eigenen Kinder oder durch Kinder in ihrem Umfeld. Inklusive Lernumgebungen werden positiver bewertet als nicht inklusiv arbeitende Schulen – und zwar unabhängig davon, ob das eigene Kind Förderbedarf hat oder nicht. Doch es zeigt sich, dass die Mehrheit der Eltern (noch) nicht davon überzeugt ist, dass alle Schüler inklusiv am besten lernen. Auch hier macht die konkrete Erfahrung den Unterschied: Eltern von Kindern, die inklusive Schulen besuchen oder die private Kontakte zu Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf haben, schätzen das Potenzial des gemeinsamen Lernens tendenziell höher ein.

Eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung von Inklusion spielen neben den Eltern auch und in besonderer Verantwortung die Lehrkräfte. Corinna Ziegler, Dirk Richter und Nicole Hollenbach-Biele richten den Blick auf die Erfahrungen von Lehrkräften an inklusiv arbeitenden Schulen. Mit einer Analyse von Daten aus einer repräsenta tiven Umfrage mit 1.000 Lehrkräften der Sekundarstufe I zeigt ihr Beitrag, dass Lehrkräfte an inklusiven Schulen intensiver kooperieren als Lehrkräfte nicht inklusiver Schulen, und das bei vergleichbarer beruflicher Zufriedenheit.

Die Voraussetzungen für eine konsequente Ausweitung des gemeinsamen Lernens scheinen also vorhanden zu sein: Die empirische Schulforschung, Rückmeldungen inklusionserfahrener Eltern und die Einschätzungen inklusiv arbeitender Lehrkräfte zeigen, dass Inklusion unter bestimmten Rahmenbedingungen funktionieren kann. Das könnte Schulpolitikern in den bisher zurückhaltend agierenden Bundesländern Mut machen auf dem Weg zur inklusiven Schule.

Nicht zuletzt braucht dieser Weg orientierende Beispiele bzw. Orte des Gelingens – also Schulen, die bereits erfolgreich inklusiv arbeiten. Mittlerweile gibt es viele solcher Schulen hierzulande. Die Beauftragte des Bundes für die Belange behinderter Menschen zeichnet gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung und der Deutschen UNESCO-Kommission seit 2009 jedes Jahr Schulen mit dem Jakob Muth-Preis für inklusive Schule aus. Ina Döttinger skizziert die Entstehungsgeschichte dieses Preises, seine Kriterien und das Bewerberfeld. Auch hier wird deutlich, dass sich die inklusive Schullandschaft in den vergangenen Jahren entwickelt hat: Bei einer über die Jahre relativ konstanten Bewerberzahl fanden sich in den ersten Jahren der Preisvergabe vergleichsweise viele Grundschulen unter den Bewerbungen. Inzwischen bewerben sich mehr und mehr Schulen der Sekundarstufe I für den Preis, darunter auch Gymnasien. Zudem lässt sich eine deutliche Qualitätssteigerung des Bewerberfelds insgesamt erkennen.

Bis einschließlich 2015 haben sich über 550 Schulen aus allen 16 Bundesländern für den Jakob Muth-Preis beworben. Die Landkarte der Jakob Muth-Preisträger zeigt, dass sich die bisherigen 21 ausgezeichneten Schulen auf neun Bundesländer verteilen. Im Juni 2016 sind die Grund- und Mittelschule Thalmässing aus Bayern, die Saaleschule Halle (Sachsen-Anhalt) und das Geschwister-Scholl-Gymnasium Pulheim (Nordrhein-Westfalen) als erstes Gymnasium überhaupt ausgezeichnet worden. Den jährlichen Preis für einen inklusiv arbeitenden Schulverbund erhielt die Pestalozzi-Schule Husum gemeinsam mit dem Förderzentrum für Lernen, Sprache und emotionale und soziale Entwicklung aus Schleswig-Holstein. Kurze Schulporträts stellen die Arbeit der vier Preisträger vor.

Ein Besuch jeder einzelnen dieser prämierten Schulen ist spannend und erkenntnisreich. Für die inklusive Schulentwicklung in der Fläche ist über die Einzelbeispiele hinaus zu fragen, wie und was man insgesamt von diesen besonderen Schulen lernen kann. Dieser Frage gehen zwei Beiträge des vorliegenden Bandes in unterschiedlicher Weise nach.

Ann-Kathrin Arndt und Rolf Werning haben Interviews mit Schulleitungen, Lehrkräften, Sonderpädagogen und Eltern in zwanzig Jakob Muth-Preisträgerschulen geführt und leiten daraus Merkmale guter inklusiver Schulen ab. Dazu gehören der Fokus auf die Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten eines jeden Kindes, eine individualisierte und zugleich kooperative Lernkultur, die intensive Kooperation sowohl im multiprofessionellen Kollegium als auch mit Eltern und externem Unterstützungssystem sowie – als Grundvoraussetzung – die inklusive Haltung, Kompetenz und ein hohes Engagement aller am Schulleben Beteiligten. Schließlich bedarf es auch einer ausgeprägten Reflexions- und Evaluationskultur.

Nicole Hollenbach-Biele und Dennis Vogt beschreiben, mit welchen konkreten Methoden und Strategien gute inklusive Schule im Alltag arbeitet. Diese lassen sich den Merkmalen guter inklusiver Schule von Werning und Arndt zuordnen. In einem Glossar werden alle Methoden kurz beschrieben. Der Band wird begleitet von einem Film (Link auf Seite 178 in diesem Band), in dem Schulleitungen und Mitglieder der Kollegien der Jakob Muth-Schulen aus ihren konkreten Erfahrungen die zentralen Merkmale guter inklusiver Schule erläutern.

Sieben Jahre sind zu kurz für die Umsetzung einer Jahrhundertreform. Die Zusammenschau der hier versammelten Beiträge und Befunde zeigt aber, dass es Gründe in Fülle gibt, den weiteren Ausbau des gemeinsamen Lernens beherzt voranzutreiben. Schüler profitieren, Eltern und Lehrkräfte berichten von positiven Erfahrungen – und es gibt genügend Beispiele und Orientierung dafür, worauf es in der pädagogischen Praxis ankommt, damit Inklusion gelingt. Neben dem Engagement in der Schule vor Ort braucht es dazu vor allem ein klares politisches Bekenntnis, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, und verlässliche Rahmenbedingungen, unter denen dieser Weg zu einer guten inklusiven Schule weiter beschritten werden kann.

Ulrich Kober Dr. Dirk Zorn
Director Senior Project Manager
Programm »Integration und Bildung« Programm »Integration und Bildung«
Bertelsmann Stiftung Bertelsmann Stiftung

* Wir verwenden in dieser Publikation keine geschlechtergerechte Sprache. Mit Schülern, Lehrern, Politikern etc. sind immer auch Schülerinnen, Lehrerinnen, Politikerinnen etc. gemeint.

Inklusion statt Förderschule? Zum Stand des gemeinsamen Unterrichts in Deutschland

Nicole Hollenbach-Biele

Die Frage, ob und wie der gemeinsame Unterricht von Kindern unterschiedlicher Ausgangssituationen, etwa mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, gut umgesetzt werden kann, spaltet seit Jahren die Meinungen. Die kontroverse Diskussion zeigt, dass das Thema »Inklusion« (derzeit vorwiegend mit dem engen Fokus auf Behinderung) von einem reinen Fachthema zum öffentlichen Reizthema avanciert ist. Sie macht zugleich deutlich, dass das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) aus dem Jahr 2009 öffentlich wahrgenommen wird. Und auch die Konsequenzen der Ratifizierung sind mittlerweile vielen klarer geworden: Mit der Unterzeichnung der Behindertenrechtskonvention hat Deutschland sich verpflichtet, allen Menschen mit Behinderung den Zugang zum allgemeinen Schulsystem zu eröffnen. Diese Öffnung von Schulen für alle Kinder und Jugendlichen gilt es nun weiter voranzutreiben, um sich Schritt für Schritt einem wirklich inklusiven1 Schulsystem anzunähern.

Die 16 Bundesländer gehen sehr unterschiedlich mit dem Ziel um, ihr jeweiliges Schulsystem inklusiv zu gestalten. Auch wenn sich die vorliegenden Zahlen und Daten des Statistischen Bundesamtes und der Kultusministerkonferenz (KMK) aus diversen Gründen2 nur bedingt eignen, um über den Fortschritt von inklusivem Lernen in Quantität und Qualität etwas auszusagen, sind sie mangels Alternativen dennoch hilfreich, wenn es darum geht, die bisherigen Entwicklungen sauber zu dokumentieren. Sie helfen, eine erste empirische Grundlage zu schaffen, damit die oft sehr emotional geführte Diskussion über den gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung sich versachlicht. Insbesondere wenn die jährlich gemeldeten Daten der Länder in Zeitreihen überführt werden, lässt sich die bisherige Entwicklung von der Unterzeichnung der UN-BRK (Schuljahr 2008/09) bis zum aktuellen in der Statistik verfügbaren Zeitpunkt (Schuljahr 2014/15) auf Bundes- und Landesebene annäherungsweise quantitativ nachzeichnen.

Abbildung 1: Förderquote, Inklusionsquote, Exklusionsquote

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Quelle: Bertelsmann Stiftung

Im Folgenden wird beschrieben, wie sich das gemeinsame Lernen von Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im allgemeinen Schulsystem bzw. an Förderschulen entwickelt hat. Wichtige Indikatoren der Kultusministerkonferenz sind hier die Förderquote, die Inklusionsquote und die Exklusionsquote, denn diese zeigen, wie hoch der Anteil von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf insgesamt ist und wo diese Kinder und Jugendlichen lernen (Abbildung 1). Dabei gilt: Inklusionsquote + Exklusionsquote = Förderquote.

Eine andere Lesart wird benötigt, wenn es um die ebenfalls in der KMK-Statistik enthaltenen Kennzahlen »Inklusionsanteil« und »Exklusionsanteil« geht. Diese gehen nicht, wie die zuvor genannten Quoten, von der Grundgesamtheit aller Schüler in Deutschland aus, sondern beziehen sich jeweils auf alle Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Abbildung 2). Dabei gilt: Inklusionsanteil + Exklusionsanteil = 100 Prozent aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf.

Abbildung 2: Inklusionsanteil – Exklusionsanteil

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Quelle: Bertelsmann Stiftung

Schließlich ist auch der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf interessant, der eine Förderschule mit bzw. ohne mindestens Hauptschulabschluss verlässt. Dies sind die Jugendlichen, die voraussichtlich nach dem Ende ihrer Schulzeit keinen Anschluss in Form einer berufsvorbereitenden oder gar berufsausbildenden Perspektive finden werden.

Status quo der Inklusion: Deutschland im Schuljahr 2014/15

Insgesamt lernten im Schuljahr 2014/15 rund 7,3 Millionen Erst- bis Zehntklässler an den Schulen des deutschen Schulsystems. Den Zahlen der Kultusministerkonferenz zufolge erhielten gut 508.000 dieser Kinder und Jugendlichen die Diagnose »sonderpädagogischer Förderbedarf«. Damit lag die Förderquote in dieser Altersgruppe deutschlandweit bei 7,0 Prozent.

Innerhalb dieser Gruppe aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in der Schulstatistik der KMK, je nach Förderbedarf, neun Gruppen3 von Kindern und Jugendlichen unterschieden (Abbildung 3): Mehr als jeder dritte (37,7 %) Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf lässt sich im Schuljahr 2014/15 dem Förderschwerpunkt »Lernen« zuordnen. Hinzu kommen jeweils 16,1 Prozent mit den Förderschwerpunkten »Geistige Entwicklung« und »Emotionale und soziale Entwicklung« sowie weitere 10,8 Prozent mit dem Schwerpunkt »Sprache«. Die weiteren Förderschwerpunkte sind mit jeweils unter zehn Prozent mit vergleichsweise wenigen Kindern und Jugendlichen vertreten. Zudem wurde bei 2,7 Prozent ein übergreifender Förderbedarf festgestellt oder die entsprechenden Schüler können nicht eindeutig zugeordnet werden.

Abbildung 3: Anteile der Förderschwerpunkte, Schuljahr 2014/15

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Quelle: Bertelsmann Stiftung

Die Förderquote an sich sagt noch nichts darüber aus, ob die UN-BRK umgesetzt wird. Dafür ist vielmehr entscheidend, welchen Lernort Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchen. Im Schuljahr 2014/15 lernen nach wie vor 4,6 Prozent (und damit fast 335.000 der insgesamt rund 508.000 Schüler) der Erst- bis Zehntklässler mit besonderem Förderbedarf an einer Förderschule (Exklusionsquote). Den gemeinsamen Unterricht an einer Regelschule besuchen hingegen nur gut 173.000 Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf – die Inklusionsquote liegt damit inzwischen bei 2,4 Prozent. Statistisch formuliert kommen an einer allgemeinbildenden Schule also im Schuljahr 2014/15 hierzulande knapp zweieinhalb Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf 100 Kinder und Jugendliche ohne eine Förderdiagnose.

Von der Gruppe der Förderschüler aus betrachtet wird deutschlandweit bislang nur gut jeder Dritte (34,1 %) aller Erst- bis Zehntklässler mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv unterrichtet (Inklusionsanteil), zwei von drei Schülern lernen nach wie vor an Förderschulen (Exklusionsanteil: 65,9 %). Dabei besuchen vor allem Schüler mit einem diagnostizierten Förderbedarf in den Bereichen »Emotionale und soziale Entwicklung« (52,6 %), »Sprache« (42,3 %) und »Hören« (42,1 %) allgemeine Schulen. Dies gilt auch für mehr als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen mit den Förderschwerpunkten »Sehen« (39,4 %) und »Lernen« (39,5 %). Bei einem spezifischen Förderbedarf in der »Körperlichen und motorischen Entwicklung« besucht nur noch weniger als ein Drittel aller betroffenen Erst- bis Zehntklässler (30,7 %) eine allgemeine Schule. In den übrigen Förderschwerpunkten kommt dem gemeinsamen Unterricht praktisch gar keine Bedeutung zu.

Auch der Blick auf die Lernorte – also Schularten und Schulstufen – zeigt interessante Details: So werden die Chancen von Kindern und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Laufe ihrer persönlichen Bildungskette immer geringer. Während in den Kindertagesstätten nur in sehr wenigen Fällen eine Aussonderung vorgenommen wird, steigt mit zunehmendem Alter der Kinder der Anteil derer, die nicht am gemeinsamen Unterricht teilhaben, sondern eine Förderschule besuchen. Schließlich scheiden sieben von zehn Jugendlichen ganz aus dem System aus, weil sie ihre Schulzeit ohne Abschluss (in diesem Fall ohne Hauptschulabschluss) beenden (Abbildung 4).

Abbildung 4: Inklusionsanteile entlang der Bildungskette

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Quellen: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, KMK 2016

Nimmt man nach dem Übergang in die weiterführenden Schulen die Schulformen in die differenzierende Betrachtung auf, zeigt sich weiterhin, dass Inklusion im Sinne des gemeinsamen Lernens von Kindern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in Deutschland insgesamt seltener an Gymnasien stattfindet (Tabelle 1).

Tabelle 1: Inklusion in der Sekundarstufe nach Förderschwerpunkten* und Schulform**

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Quelle: KMK 2016

Die (verkürzte) Selbstverständlichkeit, mit der in der öffentlichen Debatte an einigen Stellen davon ausgegangen wird, dass das Gymnasium nur solche Schüler aufnehmen solle, die berechtigte Aussichten auf den Erwerb eines Abiturs haben – und die implizite Botschaft, dass dies bei einem sonderpädagogischen Förderbedarf in der Regel nicht der Fall sei –, ist in diesem Zusammenhang zu diskutieren. Besonders bei einigen Förderschwerpunkten und in vielen Einzelfällen leuchtet nicht unmittelbar ein, warum die jeweiligen Kinder und Jugendlichen dieses Potenzial bei entsprechender Begleitung und adäquaten Rahmenbedingungen nicht haben sollten.

Schaut man sich darüber hinaus die Koppelung von Migrationsstatus mit sonderpädagogischem Förderbedarf bzw. Inklusion an, zeigen sich deutliche Hinweise auf eine doppelte Benachteiligung: Laut KMK-Statistik (KMK 2016) liegt die Förderquote bei Kindern, die nicht in Deutschland geboren wurden, mit 8,6 Prozent über der gesamtdeutschen Quote – bei einer Exklusionsquote von 6,3 Prozent und einem Inklusionsanteil von nur 26,7 Prozent. Anders formuliert: Bei Kindern und Jugendlichen, deren Geburtsort außerhalb Deutschlands liegt, wird tendenziell häufiger ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert und ist die Wahrscheinlichkeit eines Förderschulbesuchs erhöht. Dieser kurze Blick in die Zahlen bestätigt Befunde der empirischen Schulforschung, nach denen Schüler mit Migrationshintergrund in Förderschulen überrepräsentiert sind, ohne dass sich dies durch andere Einflussfaktoren (z. B. Geschlecht, sozioökonomischer Status) aufklären ließe (z. B. Wocken 2007; Stanat 2006; Stanat, Rauch und Segeritz 2010).

Nimmt man die vorgestellten Zahlen – bei aller Vorsicht in der Interpretation – als Abbild der rein quantitativen Verbreitung von inklusivem Lernen ernst, wird deutlich: Deutschland hat noch einen weiten Weg zu gehen, wenn die in der UN-BRK geforderte gemeinsame Beschulung aller Kinder mit und ohne Behinderung zum Regelfall werden soll. Zudem ist unklar, wie hoch der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist, die zwar eine allgemeine Schule besuchen, dort allerdings dauerhaft in gesonderten Gruppen, Klassen oder Zweigen unterrichtet werden. Solche strukturell abgegrenzten Formen – nennen wir sie Exklusion in der Inklusion – sind kritisch zu diskutieren, wenn sie keine Durchlässigkeit zum Regelunterricht ermöglichen. Diese Formen werden in der Schulstatistik allerdings nicht sichtbar.

Fokus Länderebene: Wo stehen die Bundesländer im Schuljahr 2014/15?

Die Bildungssysteme der 16 Bundesländer unterscheiden sich deutlich: Zwar werden in den meisten Bundesländern ein allgemeines Schulsystem und ein Förderbzw. Sonderschulsystem parallel geführt; allerdings unterscheiden sich in beiden Systemen insbesondere die Zahl und die Arten der weiterführenden Schulen teilweise erheblich, ebenso wie die Formen und Zeitpunkte der Schülerzuweisung bzw. die Selektionsmechanismen. Entsprechend schwierig ist es, die ohnehin nur vorsichtig interpretierbaren Indikatoren Förderquote, Exklusionsquote und Inklusionsanteil jeweils ohne Einbezug der bundeslandspezifischen Bedingungen zu verwenden. Dennoch sollen die Zahlen der KMK auch für die Bundesländer als erste Grundlage verwendet werden, um die aktuelle Situation in Deutschland etwas genauer zu beschreiben.

Bereits der Blick auf die Anteile der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Förderquote) in den Ländern weist erhebliche innerdeutsche Unterschiede auf: Mit Abstand die meisten Schüler meldet hier mit 10,6 Prozent Mecklenburg-Vorpommern, gefolgt von Sachsen-Anhalt mit 9,2 Prozent (Tabelle 2). Deutlich geringer ist der Anteil von Erst- bis Zehntklässlern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Hessen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz mit 5,7 bzw. 5,6 Prozent. Die Spannweite der gemeldeten Förderquoten ist also erstaunlich groß. Zudem wird im Vergleich deutlich, dass den Erst- bis Zehntklässlern in den ostdeutschen Bundesländern (mit Ausnahme von Thüringen) sehr viel häufiger ein sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wird als gleichaltrigen Schülern in den westdeutschen Ländern.

Tabelle 2: Schülerzahlen und Förderquoten im Ländervergleich, Schuljahr 2014/15

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Quelle: KMK 2016

Der Blick in die einzelnen Förderschwerpunkte zeigt – bei aller Vorsicht in Bezug auf die Vergleichbarkeit der Länderdaten – noch weiter gehende Diskrepanzen. So variiert etwa der Anteil von Schülern mit dem Förderschwerpunkt »Lernen« zwischen den Ländern um fast 28 Prozentpunkte: Während Rheinland-Pfalz (56,2 %) und Bremen (55,7 %) laut Statistik mehr als jeden zweiten Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf dem Schwerpunkt »Lernen« zuordnen, gehören in Bayern nur 28,3 Prozent der Erst- bis Zehntklässler zu dieser Gruppe (Abbildung 5). Ähnliche Unterschiede zeigen sich bei einem Vergleich der anderen Förderschwerpunkte. Selbst wenn die vorliegenden Daten keine inhaltlich-kausale Interpretation erlauben, zeigt sich hier, wie unterschiedlich die Verfahren zur Feststellung der jeweiligen Förderbedarfe in den Ländern sein müssen und/oder dass die diversen Definitionen der Förderschwerpunkte sich stark unterscheiden.

Abbildung 5: Verteilung der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf die Förderschwerpunkte in den Bundesländern, Schuljahr 2014/15

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Quelle: KMK 2016

Auch beim Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, der an separaten Sonder- bzw. Förderschulen unterrichtet wird, gibt es große Unterschiede zwischen den Bundesländern. Wie weiter oben erläutert, besuchen im Schuljahr 2014/15 rund 335.000 Erst- bis Zehntklässler eine Förderschule. Das entspricht einer bundesweiten Exklusionsquote von 4,6 Prozent. Zwischen den Bundesländern streut diese Quote von 1,5 Prozent (Bremen) bis 6,6 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern). Prozentual vergleichsweise viele Förderschüler finden sich neben Mecklenburg-Vorpommern auch in Sachsen-Anhalt (6,4 %) und Sachsen (6,0 %). Baden-Württemberg (5,2 %) und Nordrhein-Westfalen (4,9 %) liegen ebenfalls über dem bundesdeutschen Durchschnitt (Tabelle 3). Die geringsten Exklusionsquoten weisen neben dem Stadtstaat Bremen das Flächenland Schleswig-Holstein (2,3 %) sowie die beiden weiteren Stadtstaaten Berlin (3,2 %) und Hamburg (3,4 %) auf.

Schließlich unterscheiden sich die Bundesländer im Schuljahr 2014/15 auch stark in Bezug auf ihren Inklusionsanteil. Über ganz Deutschland hinweg besucht gut jeder dritte Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine allgemeine Schule – im Ländervergleich zeigt sich hier eine Spannweite von mehr als 50 Prozentpunkten. So lernt in den Stadtstaaten Berlin (57,4 %) und Hamburg (59,6 %) deutlich mehr als jeder zweite Erst- bis Zehntklässler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit gleichaltrigen Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf; in Bremen besuchen mit 77,1 Prozent sogar mehr als drei Viertel aller Förderschüler eine allgemeine Schule (Tabelle 4). Und auch in Schleswig-Holstein (63,4 %) gehen fast zwei Drittel aller Förderschüler in eine allgemeine Schule. Die bundesweit geringsten Inklusionsanteile melden Bayern und Hessen mit 26,8 bzw. 23,1 Prozent.

Tabelle 3: Schülerzahlen und Exklusionsquoten im Ländervergleich, Schuljahr 2014/15

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Quelle: KMK 2016

Ein genauer Blick auf die Inklusionsanteile in den verschiedenen Förderschwerpunkten nach Bundesland macht deutlich, dass sich nicht nur das Ausmaß inklusiver Lernsettings klar unterscheidet: Die Zahlen zeigen zudem, dass Kinder und Jugendliche aus den Förderbereichen in den Ländern höchst unterschiedliche Zugänge zum allgemeinen Schulsystem nutzen.

Tabelle 4: Schülerzahlen und Inklusionsanteile im Ländervergleich, Schuljahr 2014/15

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Quelle: KMK 2014

Etappen auf dem Weg zum gemeinsamen Lernen: Was hat sich getan?

Nach Datenlage hat Deutschland insgesamt und haben auch die meisten der 16 Bundesländer also noch einige Etappen vor sich, bevor das gemeinsame Lernen für die Mehrheit der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf umgesetzt ist. Gleichwohl – und das soll der Fokus dieses Kapitels sein – zeigt die rückwirkende Analyse der Daten auch, dass viele Bundesländer in den vergangenen Jahren große Schritte in Richtung eines inklusiven Schulsystems vollzogen haben: Die nachfolgenden Zeitreihen zeichnen nach, wie sich die inklusive Beschulung in Deutschland insgesamt sowie in den Bundesländern in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Wichtig für die Betrachtung sind vor allem drei Zeitpunkte (die dazwischenliegenden Jahre werden teilweise mitberichtet):

das Schuljahr 2000/01 – dies ist das erste Jahr, für das die KMK die Daten in der heutigen Form bereitstellt;

das Schuljahr 2008/09 – im Jahr 2009 wurde die UN-BRK ratifiziert und damit der Anspruch auf inklusive Beschulung in den Status eines Bundesgesetzes gehoben; ab hier müsste die Entwicklung also rapide an Geschwindigkeit zunehmen;

das Schuljahr 2014/15 – dies ist der aktuelle Datenpunkt.

Dargestellt wird diese Entwicklung zunächst für Deutschland und anschließend für die Bundesländer – dort werden die Zeitreihenanalysen ergänzt um einen knappen Überblick über die veränderte Gesetzeslage zum gemeinsamen Unterricht in den meisten Ländern.

Was hat sich in Deutschland verändert?

Bei der Betrachtung der Zeitreihen zur Entwicklung von Förderquote, Exklusionsquote und Inklusionsquote in Deutschland (Abbildung 6) fällt vor allem die Förderquote ins Auge, denn sie ist seit Beginn der Zeitreihe kontinuierlich gestiegen. Im Schuljahr 2000/01 lag der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf noch bei 5,3 Prozent. Seit Ratifizierung der UN-BRK steigt die Quote fast regelmäßig jährlich um 0,2 Prozentpunkte – von 6,0 Prozent im Schuljahr 2008/09 auf 7,0 Prozent im Schuljahr 2014/15. Deutschlandweit gibt es also immer mehr Schüler mit besonderem Förderbedarf.

Abbildung 6: Zeitreihen zur Entwicklung der Förderquote in Deutschland (= Exklusionsquote + Inklusionsquote) in Deutschland seit 2000/01

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Quellen: KMK 2010, KMK 2016

Als Ursachen dieser Entwicklung werden oft vier Faktoren diskutiert. Erstens geht mit einem stärkeren Fokus auf den Anspruch, Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam zu unterrichten, sicher auch der genauere Blick auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes einher. Zweitens haben sich die diagnostischen Instrumente und Praktiken über die Zeit verändert. Drittens hat sich auch eine gesellschaftliche Akzeptanz für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf entwickelt: Über die zunehmende Sensibilisierung der Öffentlichkeit bauen Eltern und Kinder ihre Ängste vor der offiziellen Feststellung eines Förderbedarfs eher ab und vertrauen stärker darauf, dass sich durch eine Diagnose die Chancen auf gemeinsames Lernen und bestmögliche Förderung verbessern können. Viertens schließlich wird die Entwicklung in der Fachliteratur über das »Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma« (z. B. Bleidick 1988) erklärt. Dies bezieht sich darauf, dass in vielen Bundesländern mit der steigenden Zahl von Schülern mit diagnostizierten Förderbedarfen auch die Stellen der Lehrkräfte an den Schulen aufgestockt werden. Anders formuliert: Einzelschulen können sich über mehr Diagnosen zusätzliche Ressourcen sichern.

Erste Hinweise auf die Plausibilität dieser Vermutung ergeben sich aus der Entwicklung von Exklusions- und Inklusionsquote (Abbildung 7): Sie macht deutlich, dass sich in Deutschland an den parallel geführten Systemen von allgemeinen Schulen und Sonder- bzw. Förderschulen nur wenig getan hat. Die Exklusionsquote ist nach zwischenzeitlichem Anstieg (5,0 % im Schuljahr 2009/10) im Schuljahr 2014/15 wieder auf dem Niveau des Schuljahres 2000/01 (4,6 %). Deutschlandweit gehen also anteilig noch genauso viele Kinder und Jugendliche auf eine gesonderte Schule und nehmen eben nicht am gemeinsamen Unterricht des allgemeinen Schulsystems teil, wie es vor 15 Jahren – und damit lange vor dem Recht auf gemeinsame Beschulung gemäß UN-BRK – der Fall war.

Gleichzeitig lernen – und dies ist im Wesentlichen ein Resultat der gestiegenen Förderquote – immer mehr Schüler mit diagnostiziertem Förderbedarf an allgemeinen Schulen: Im Schuljahr 2000/01 hatten nur 0,7 Prozent aller Schüler an allgemeinen Schulen Förderbedarf; in den Folgejahren bis zur UN-BRK stieg diese Inklusionsquote bereits leicht an – im Schuljahr 2008/09 wiesen 1,1 Prozent einen sonderpädagogischen Förderbedarf auf. Seit der Ratifizierung der UN-BRK hat sich die Quote mehr als verdoppelt – auf 2,4 Prozent im Schuljahr 2014/15 (Abbildung 7).

Abbildung 7: Förderquote, Inklusionsquote und Exklusionsquote in Deutschland: Schuljahre 2000/01, 2008/09 und 2014/15

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Quelle: KMK 2010, KMK 2016

Noch deutlicher wird dies anhand des Inklusionsanteils: Dieser zeigt, dass über die Zeit immer mehr Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine allgemeine Schule besuchen (Tabelle 5). Während im Schuljahr 2000/01 etwas mehr als jeder zehnte Erst- bis Zehntklässler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit Gleichaltrigen ohne diagnostizierten Förderbedarf lernte, ist es im Schuljahr 2014/15 bereits mehr als jeder Dritte. Dieser Anstieg erklärt sich – das wird in der Zusammenschau mit der oben dokumentierten Förder- und Exklusionsquote klar – primär durch das Mehr an Förderschülern und eben nicht dadurch, dass inzwischen deutlich weniger Exklusion betrieben wird.

Tabelle 5: Förderquote, Exklusionsquote und Inklusionsanteile in Deutschland: Schuljahre 2000/01, 2008/09 und 2014/15

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Quelle: KMK 2010, KMK 2016

Was hat sich in den Bundesländern verändert?

Angesichts der bereits dokumentierten Unterschiede zwischen den Bundesländern im Schuljahr 2014/15 ist wenig erstaunlich, dass sich auch die Entwicklungen seit 2000/01 sehr unterschiedlich vollzogen haben.

Wie Abbildung 8 zeigt, ist die Förderquote nach früheren starken Anstiegen in einigen Bundesländern wieder rückläufig – dies ist sowohl im Stadtstaat Bremen als auch in den ostdeutschen Flächenländern Brandenburg, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern der Fall. Allerdings ist die Quote im letztgenannten Bundesland noch vergleichsweise hoch. In der zweiten Gruppe von Bundesländern stagniert die Förderquote nach einem sprunghaften Anstieg von 2000/01 bis 2008/09 bzw. verändert sich marginal (Schwankungen <0,5 Prozentpunkte seit 2008/09) – dies ist der Fall in Berlin, Sachsen und Sachsen-Anhalt. In den übrigen Ländern steigt die Quote im Zeitverlauf teils deutlich an. In diesen Ländern wird also bei immer mehr Schülern ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt. Die höchsten Zuwächse verzeichnen Hamburg und das Saarland mit jeweils über zwei Prozentpunkten. Wie bereits oben argumentiert wurde, ist diese Entwicklung per se nicht negativ zu bewerten – vielmehr muss im Einzelfall geschaut werden, was sich hinter den Förderquoten verbirgt und wie das jeweilige Schulsystem mit den neuen Anforderungen konkret umgeht.

Abbildung 8: Förderquoten, Inklusionsquoten und Exklusionsquoten in den Bundesländern im Zeitverlauf

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Quellen: KMK 2010, KMK 2016

Die Zeitreihe zeigt zudem, dass es einigen Bundesländern seit dem Schuljahr 2008/09 schrittweise gelungen ist, die Exklusionsquote zu senken, also den Anteil der Schüler im Förderschulsystem zu verringern. Zu diesen Ländern zählen die Stadtstaaten Bremen, Berlin und Hamburg sowie die Flächenländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig Holstein und Thüringen. Stagnation bzw. eine nur leichte Veränderung (<0,5 Prozentpunkte) in der Exklusionsquote weisen Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und das Saarland aus. In Baden-Württemberg ist die Quote der Erst- bis Zehntklässler an Förderschulen um 0,5 Prozentpunkte gestiegen.

Eine Steigerung der Inklusionsquote ohne merklichen Rückgang oder gar mit gleichzeitigem Anstieg der Exklusionsquote bedeutet, dass in diesen Bundesländern mehr Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine allgemeine Schule besuchen. Sie bedeutet zugleich, dass dieses Mehr an inklusiv lernenden Erst- bis Zehntklässlern nicht einhergeht mit weniger Schülern in den Förderschulen. Dies ist in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland der Fall. Hier lässt sich die steigende Inklusionsquote also ausschließlich auf die steigenden Anteile von Diagnosen sonderpädagogischen Förderbedarfs im Land zurückführen.

Das damit einhergehende Problem liegt auf der Hand: Wenn sich der Anteil von Schülern im Förderschulsystem nicht verringert, hält sich das Doppelsystem und verbleiben die entsprechenden Ressourcen im Förderschulsystem. Diese werden allerdings eigentlich für eine gute Inklusion in allgemeinen Schulen benötigt, wenn nicht zusätzliche Mittel investiert werden. Eine Steigerung der Inklusionsquote bei gleichzeitig deutlichem Rückgang der Exklusionsquote melden indes Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen.

Quantitative Entwicklung und Gesetzeslagen in den Bundesländern – ausgewählte Beispiele

Einige Länderbeispiele zeigen im Folgenden nochmals, wie sehr die Entwicklungen in den Bundesländern variieren und wie wichtig es daher ist, nicht grundsätzliche Urteile anhand dieser Indikatoren auszusprechen, sondern eine genauere Berichterstattung über Rahmenbedingungen und den Umgang der Systeme mit den jeweiligen Bedingungen zu etablieren. Bei der exemplarischen Betrachtung werden auch die aktuellen Gesetzeslagen (Stand Dezember 2015) kurz skizziert (vgl. auch Döttinger und Hollenbach-Biele 2015).

So stieg in Bremen die Förderquote von 6,7 Prozent im Schuljahr 2000/01 auf 7,5 Prozent (Schuljahr 2008/09), sank danach allerdings stetig auf die aktuelle Quote von 6,5 Prozent. Besonders in den vergangenen sechs Jahren – zwischen den Schuljahren 2008/09 und 2014/15 – gelang es der Hansestadt eindrucksvoll, die Exklusionsquote zu verringern. Diese liegt nun bei 1,5 Prozent. Gut 77 Prozent aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf besuchen damit eine allgemeine Schule. Flankiert wurde diese positive Entwicklung durch ein deutliches Bekenntnis der Politik/Bildungsadministration zur Inklusion in Form von offiziellen Weichenstellungen: In dem 2009 überarbeiteten Bremischen Schulgesetz (BremSchulG) ist der Auftrag festgeschrieben, dass Bremer Schulen die Inklusion aller Schüler im Rah men ihres Erziehungs- und Bildungsauftrags befördern sollen (§ 3 Abs. 4 Brem SchulG). Dabei ist der Unterricht für alle Schüler gemeinsam in der allgemeinen Schule mit Ausnahme der Förderzentren Hören, Sehen und KME zu gestalten (§ 4 Abs. 5 BremSchulG). Über den Lernort der einzelnen Schüler entscheidet die Senatsverwaltung im Einvernehmen mit den Eltern, wobei eine inklusive Beschulung an einer allgemeinen Schule Vorrang hat und alle Schulen eine auf die individuelle Problemlage der Schüler ausgerichtete Unterrichtung sicherstellen müssen (§ 70 BremSchulG).

In Berlin ging ein Anstieg der Förderquote zwischen 2008/09 und 2014/15 von 7,1 auf 7,5 Prozent ebenfalls einher mit einer rückläufigen Exklusionsquote (von 4,4 auf 3,2 %). Dies lässt sich unter anderem mit dem steigenden Inklusionsanteil erklären – er entwickelte sich im gleichen Zeitraum von 38,8 auf 57,4 Prozent. Die Schulgesetzeslage ist etwas zurückhaltender als etwa in Bremen: Laut Berliner Schulgesetz (SchulG) sollen Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bevorzugt den gemeinsamen Unterricht der allgemeinen Schule besuchen (§ 36 Abs. 2 SchulG). Dabei ist der gemeinsame Unterricht in allen Regelschulformen möglich, steht allerdings unter Ressourcenvorbehalt (§ 37 Abs. 1 SchulG). Berlin räumt den Eltern das Wahlrecht ein: Erziehungsberechtigte entscheiden über den Lernort (§ 36 Abs. 4 SchulG). Allerdings ist das zieldifferente Lernen nur an der Grundschule, der integrierten Sekundarschule (ISS) und einigen beruflichen Schulen möglich – nicht aber etwa an Gymnasien (§§ 18 Abs. 1 und 20 Abs. 4 Sonderpädagogikverordnung, SopädVO).

Im dritten deutschen Stadtstaat Hamburg schließlich stieg die Förderquote vor allem seit 2008/09 sprunghaft – sie liegt im Schuljahr 2014/15 bei 8,3 Prozent. Im gleichen Zeitraum ist die Exklusionsquote von 4,9 auf 3,4 Prozent gesunken – dies erklärt einen Teil des gestiegenen Inklusionsanteils auf mittlerweile 59,6 Prozent. Die Entwicklung in der Hansestadt findet ihre Rahmung in einem klar auf Inklusion ausgerichteten Hamburgischen Schulgesetz (HmbSG): Mit dem 2010/11 neu formulierten § 12 HmbSG haben Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ohne Ressourcenvorbehalt das Recht, eine allgemeine Schule zu besuchen und dort gemeinsam mit Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet und besonders gefördert zu werden (§ 12 Abs. 1 HmbSG). Zieldifferentes Lernen ist umfassend umgesetzt; so soll die Lernkultur wesentlich durch individuelle Förderung geprägt sein (§ 14 Abs. 2 und 4 AO-SF Verordnung über die Ausbildung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, AO-SF). In Hamburg entscheidet die Bildungsbehörde unter Berücksichtigung der Eltern über den Lernort des jeweiligen Schülers.

In Niedersachsen stieg die Förderquote im betrachteten Zeitraum um einen Prozentpunkt (2008/09: 4,7 %; 2014/15: 5,7 %). Gleichzeitig verringerte sich die Exklusionsquote von 4,4 auf 3,9 Prozent: Der Inklusionsanteil stieg von 6,6 auf 31,4 Prozent. Bei genauerer Betrachtung der Zeitreihe wird deutlich, dass diese Entwicklungen in Niedersachsen vergleichsweise spät starteten, denn im Schuljahr 2011/12 lag der Anteil noch bei gut elf Prozent. An den Zahlen lassen sich vermutlich unter anderem die gesetzlichen Veränderungen im Niedersächsischen Schulgesetz (NSchG) erkennen: So sind seit 2013/14 in Niedersachsen grundsätzlich alle öffentlichen Schulen inklusive Schulen (§ 4 Abs. 1 NSchG), zieldifferenter Unterricht ist mit Ausnahme der Sekundarstufe II an allen Schulen möglich (§ 4 Abs. 2 NSchG). Allerdings räumt das Land eine Übergangsfrist bis 2018 ein (ebd.) und der gemeinsame Unterricht steht unter Ressourcenvorbehalt (§§ 59 und 60, jew. Abs. 1 NSchG).

Nordrhein-Westfalen zeigt eine ähnliche Entwicklung auf etwas anderem Niveau: Seit dem Schuljahr 2000/01 ist die Förderquote stetig gewachsen: von 5,0 über 6,0 Prozent im Schuljahr 2008/09 auf aktuell 7,4 Prozent. Dabei stieg vor allem in den vergangenen Jahren der Inklusionsanteil deutlich an, während sich die Exklusionsquote (von 5,2 % im Schuljahr 2008/09 auf 4,9 % im Schuljahr 2014/15) leicht verringerte. Dieser eher langsame Rückgang der Exklusionsquote hängt sicher auch damit zusammen, dass erst seit dem Schuljahr 2014/15 die inklusive Bildung im Nordrhein-Westfälischen Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (NRW-SchulG) als Regelform definiert wird (§§ 2 Abs. 5 und 20, Abs. 2 NRW-SchulG) und das zieldifferente Lernen an allen Schulen und Schulformen die Regel ist. In NRW können Eltern abweichend eine Förderschule als Lernort wählen (§ 20 Abs. 2 NRW-SchulG) und der gemeinsame Unterricht an den allgemeinen Schulen steht (in Bezug auf die Aufnahmekapazität) unter Ressourcenvorbehalt (§ 46 Abs. 2 NRW-SchulG).

Bayern zeigt in der Zeitreihe Kontinuität bei der Exklusionsquote – diese hat sich von 4,7 Prozent im Schuljahr 2000/01 über 4,6 Prozent (2008/09) bis heute mit 4,7 Prozent so gut wie nicht verändert. Der gleichzeitige Anstieg in der Förderquote (5,3 %/5,5 %/6,4 %) ist also ausschließlich dadurch zu erklären, dass immer mehr Schüler in allgemeinen Schulen einen sonderpädagogischen Förderbedarf erhalten – die Inklusionsanteile wuchsen von 11,3 über 16,1 auf derzeit 26,8 Prozent. Im Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) ist die inklusive Schule ein Ziel der Schulentwicklung aller Schulen (§ 30b Art. 1 BayEUG); dabei können Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine allgemeine Schule (Schule mit dem Profil »Inklusion«) oder eine Förderschule besuchen (§ 41 Abs. 1 BayEUG). Wenn die Förderung an einer allgemeinen Schule oder die Möglichkeit des Besuchs einer Schule mit dem Schulprofil »Inklusion« nicht hinreichend gedeckt werden kann, besucht der Schüler die geeignete Förderschule (§ 41 Abs. 5 BayEUG). Und unter bestimmten Umständen kann der Besuch einer Förderschule verpflichtend sein. Dabei entscheidet die Behörde unter Berücksichtigung der Eltern über den Lernort des Schülers. Zieldifferentes Lernen ist nur an den Grund-, Mittel- und Berufsschulen möglich (§ 30a Abs. 5 BayEUG.).

In Baden-Württemberg zeigt sich eine völlig andere Entwicklung. Im südlichen Flächenland sind alle Quoten über die vergangenen 15 Jahre gestiegen: die Förderquote von 5,7 Prozent im Schuljahr 2000/01 über 6,4 Prozent (2008/09) auf aktuell 7,3 Prozent. Dabei hat sich in diesem Zeitraum der Anteil von Förderschülern in den allgemeinen Schulen erhöht (Inklusionsanteil: 24,6 % – 26,0 % – 29,1 %); zugleich lernen anteilig immer mehr Schüler in den Förderschulen des Landes (Exklusionsquote: 4,3 % – 4,7 % – 5,2 %). Von einer Zusammenführung des allgemeinen mit dem Förderschulsystem ist das Land also eher weiter entfernt als in früheren Jahren. Für die Zukunft ist hier eine Veränderung zu erwarten: Mit der Änderung des baden-württembergischen Schulgesetzes im Sommer 2015 (SchG) hat inklusives Lernen einen neuen Stellenwert erhalten. Demnach wird allen Schülern ein barrierefreier und gleichberechtigter Zugang zu Bildung und Erziehung ermöglicht, Schüler mit und ohne Behinderung werden gemeinsam erzogen und unterrichtet (inklusive Bildung) (§ 1 Abs. 3 SchG) und das Elternrecht eingeführt. Damit ist die inklusive Bildung Aufgabe aller Schulen; alle Schüler werden zu den Bildungszielen der allgemeinen Schulen geführt, soweit der besondere Anspruch der Schüler nicht eigene Bildungsziele erfordert (§ 15 Abs. 1 SchG). Der zieldifferente Unterricht ist in allen Schulformen mit Ausnahme der gymnasialen Oberstufe und der beruflichen Bildungsgänge in der Sekundarstufe II möglich (§ 15 Abs. 4 SchG). Sonderpädagogische Beratung, Unterstützung und Bildung findet in den allgemeinen Schulen statt (§ 15 Abs. 2 SchG). In Bezug auf den geeigneten Lernort berät die Schulaufsichtsbehörde die Eltern bei ihrer Entscheidung. Allerdings steht die Umsetzung des Elternwillens unter Ressourcenvorbehalt (§ 82 Abs. 1, 2 und 4 SchG).

Brandenburg verzeichnet eine leicht rückläufige Förderquote (8,5 % im Schuljahr