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Ein Koffer, von dem keiner wissen durfte

Bernhard freute sich schon auf die Schule. Endlich lesen lernen. In ein paar Tagen war der erste Schultag. Nur eines gefiel ihm nicht. Den rechten Arm heben und Heil Hitler rufen. „Sag doch einfach drei Liter“, meinte sein Vater, dem das auch nicht gefiel. „In einer Gruppe, wo alle laut grüßen, fällt das doch gar nicht auf.“ Und so war es zum Glück auch, aber ganz ungefährlich war es nicht.

Jahre später, kurz nach dem Krieg, kam er aus der Schule und ein junger Mann stand in der Einfahrt zum Hof.

„Guten Tag“, grüßte der und fragte: „Bin ich hier richtig, bei Wessels?“

„Jaha“, antwortete Bernhard und musterte den Mann vorsichtig. Seit die Menschen aus den nahen Städten kamen und ihre Wertsachen gegen etwas zu essen tauschen wollten, waren alle auf dem Hof vorsichtig geworden. Dieser junge Mann sah allerdings nicht so aus, als wäre er auf Hamsterfahrt. Erstens war er allein, meist kamen sie mindestens zu zweit, und er hatte keine Tasche dabei, also auch nichts zum Tauschen.

„Sind deine Eltern da und könnte ich die wohl mal sprechen?“, stellte der Mann die nächste Frage.

„Bestimmt“, meinte Bernhard. „Warten Sie mal hier. Ich gehe mal gucken.“

Der Mann nickte höflich und setzte sich auf einen der Begrenzungssteine neben der Hofeinfahrt.

In der Küche fand Bernhard seine Mutter beim Kartoffelschälen. „Mama, da ist ein seltsamer Mann“, teilte er mit. „Keine Ahnung, was der wohl will, etwas zum Tauschen hat der nicht dabei.“

„Dann will ich mir den mal ansehen“, meinte sie, legte Kartoffeln und Schälmesser beiseite und machte sich auf den Weg.

Vom Küchenfenster aus beobachtete Bernhard, wie sich seine Mutter mit dem Mann unterhielt. Dann kamen sie auf das Haus zu und in die Küche.

„Setzen Sie sich doch“, sagte sie. „Bernhard, gib dem Herrn Dornberg bitte ein Glas Milch. Ich komme gleich wieder.“

Bernhard stellte dem Mann ein Glas Milch hin, das dieser langsam und mit Genuss austrank.

Nach einer Weile kam die Mutter mit einem Koffer wieder. „Bitte sehr, Herr Dornberg, hier ist der Koffer Ihrer Mutter. Ich bedaure, dass sie ihn nicht mehr selbst abholen kann.“

Der junge Mann hatte fast Tränen in den Augen. „Danke! Sie wissen gar nicht, was uns das bedeutet, das noch etwas aus der Zeit existiert.“

„Nein, ganz verstehen kann ich es sicher nicht“, nickte die Mutter, „nicht so wie Sie jedenfalls. Aber wenigstens das konnte ich für meine Klassenkameradin tun, als sie weg musste. Wenig genug.“

„Aber immer noch mehr, als andere taten“, flüsterte Herr Dornberg leise.

„Darf ich fragen, was Sie nun vorhaben?“, fragte die Mutter interessiert.

„Zurück nach Palästina, dort haben sich alle, die von unserer Familie übrig sind, niedergelassen. Im Moment möchte keiner in Deutschland leben, aber der Koffer und sein Inhalt werden uns an bessere Zeiten erinnern. Deshalb: vielen Dank, denn es war ja nicht ungefährlich“, erwiderte Herr Dornberg.

„Wie ich schon sagte, es war wenig genug.“ Seine Mutter seufzte leise. „Aber das wenige habe ich gern getan.“ Sie begleitete ihn bis zur Hofeinfahrt, gab ihm zum Abschied die Hand und schaute ihm noch eine Weile hinterher.

Ihre Musik

Es gibt zwei Dinge, die die Welt und fast alle Menschen begeistern: Fußball und Musik. Jedes Land hat seine Musik und Fußball ist mittlerweile Weltsport. In Ländern wie dem unseren haben Fußballclubs viele treue Fans.

So war es auch bei Brigitte Schulz. Das bemerkte jedenfalls die neue Pflegerin Nadja. Überall im Zimmer von Frau Schulz befanden sich Erinnerungsstücke: Eintrittskarten von wichtigen Spielen ihres Vereins, ein viel benutztes Cappy in Vereinsfarben, der unverzichtbare Fanschal, ein Trikot mit der Nummer und dem Namen eines ihrer Lieblingsstars und ganz viele Fotos mit Freunden aus dem Fanclub.

Frau Schulz ging es nicht mehr so gut. Sie war zwar ein wenig vergesslich, aber nicht dement. Es war der Körper, der einfach nicht mehr wollte. Alles fiel ihr schwer und nur noch an guten Tagen konnte sie das Bett verlassen. Pflegerin Nadja war von Anfang an gern bei ihr. Frau Schulz hatte zwar keine Sprache mehr, nach einem Schlaganfall hatte sich das Sprachzentrum nicht wieder erholt, aber Frau Schulz sprach noch mit Händen und Füßen und ganz besonders mit den Augen. Pflegerin Nadja mochte Letzteres ganz besonders.

Seit einiger Zeit jedoch lächelten ihre Augen selten. Sie wirkte traurig, trostlos und in sich gekehrt. Auch ihr Sohn, der sie regelmäßig besuchte, wusste nicht warum. Selbst ihr Lieblingsessen genoss sie nicht wie sonst. Nadja überlegte zwar, wie sie ihr helfen könnte, hatte aber keine Idee. Dafür kannte sie Frau Schulz noch nicht lang genug.

Beim nächsten Besuch sprach der Sohn Nadja an.

„Ich habe beim Aufräumen auf dem Dachboden eine kleine Kiste gefunden“, schilderte er. „Diese CDs waren dabei. Die sind vielleicht was für meine Mutter. Sie liebte doch Fußball und ich kann mich erinnern, dass die WM im eigenen Land mit dem Motto ‚Zu Gast bei Freunden‘ für sie ein echter Höhepunkt war. In diesem Sommer hatte sie wahnsinnig viel Spaß.“

Nadja schaute auf die Titel der CDs: WM-Hits 2006, ein Sammelsurium von Fangesängen und eine CD mit afrikanischer Musik. Sehr interessant, dachte sie nur.

„Alles klar, danke Herr Schulz“, meinte sie, „ein Versuch kann ja nicht schaden. Aber afrikanische Musik?“

„Ach, wissen Sie“, erläuterte der Sohn. „Damals wurde Public-Viewing zur Freude der Fans zum ersten Mal durchgeführt. Dort fuhr auch meine Mutter immer gern hin. Bei der WM waren auch afrikanische Länder vertreten. Zufällig hatte meine Mutter diese CD auf einem Grabbeltisch gefunden und gekauft. Einige der Lieder fand sie toll. Und wenn sie mit dem Auto auf dem Weg zum Fußball gucken war und eine afrikanische Mannschaft spielte, dann legte sie diese CD ein, drehte den Ton ganz laut und fuhr so mit geöffnetem Autofenster durch die Stadt. Sie liebte es, wenn die Leute herüberschauten, sich wunderten und dann fröhlich lachten. Das Auto selbst war ja mit den deutschen Farben geschmückt. Vielleicht erinnert diese Musik sie an diesen schönen Sommer. Ich hoffe, es macht ihr Freude.“

Noch am selben Nachmittag legte Nadja die CD mit den WM-Hits ein: „Ich habe Ihnen etwas Musik mitgebracht, vielleicht gefällt sie Ihnen.“ Zunächst reagierte Frau Schulz nur wenig. Aber schon beim zweiten Lied klopfte sie mit den Händen auf der Bettdecke den Takt mit. Das könnte klappen, dachte Nadja noch, als Frau Schulz sie ansah und ihre Augen sie wieder anlächelten. Ein Stück Lebenslust kehrte zurück. Sie winkte Nadja heran und drückte ihre Hand. Es war ihre Art, danke zu sagen.

„Die Musik gefällt Ihnen“, stellte Nadja voller Freude fest. „Ich lasse die Musik laufen, ich muss jetzt noch etwas anderes tun, komme aber dann wieder. In Ordnung, Frau Schulz?“ Frau Schulz nickte.

„Und morgen hören wir dann diese CD“, meinte Nadja und zeigte ihr die CD mit der afrikanischen Musik. Die Augen von Frau Schulz leuchteten zustimmend.

Nachdem Nadja das Zimmer verlassen hatte, um sich auf den Weg zu einem anderen Bewohner zu machen, dachte sie nur: Erstaunlich, aber Musik kann die Lebensfreude zurückholen. „Da wird sich ihr Sohn aber freuen, dass das geklappt hat“, sprach sie leise mit sich selbst und freute sich für Frau Schulz.

Kaffeegespräch

Waltraud war schon lange Mitglied beim Katholischen Frauenverband. Das war so üblich in dem Dorf, in dem sie wohnte. So kam man mal raus. Der Ortsverband bot auch schon seit Jahren immer wieder kleine Ausflüge an, an denen sie gerne teilnahm. Es wurde immer so organisiert, dass sie auch mitfahren konnte, obwohl sie mittlerweile auf ihren Rollator angewiesen war.

Am Ende eines dieser Ausflüge, sie hatten ein Wasserschloss besichtigt, gab es wie immer zum Schluss Kaffee und Kuchen. Dabei wurde sich natürlich unterhalten. Auf diese Art erfuhr man viele Neuigkeiten aus dem Dorf und wie es den Freundinnen so ging. Durch das Lutherjahr kamen sie auf das Thema „katholisch und evangelisch“.

„Zum Glück ist das heute nicht mehr ganz so wichtig“, meinte Maria, eine der Frauen, mit denen sie immer gern an einem Tisch saß. „Wenn man bedenkt, dass die Jungs damals, als wir Kinder waren, jemanden auf dem Schulweg verhauen haben, nur weil der evangelisch war.“

„Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen“, meinte Brigitte, die ebenfalls am Tisch saß. „Gut, dass diese Zeiten vorbei sind.“

„Zum Glück“, lächelte Elvira, die die kleine Runde komplett machte. „Sonst würde ich heute nicht so gemütlich mit euch Kaffee trinken können.“

„Wieso?“, fragte Waltraud.

„Na, ich bin doch evangelisch“, grinste Elvira. „Und trotzdem darf ich heute bei euch teilnehmen.“

Die anderen drei nahmen einen Schluck aus ihren Tassen und nickten.

„Du würdest uns in der Runde fehlen“, stellte Brigitte für alle fest.

„Oh, danke“, freute sich Elvira. „Früher hat es aber auch seltsame Blüten getrieben. Wisst ihr, was mir als junges Mädchen passiert ist?“

Die anderen schüttelten den Kopf. Neugierig warteten sie auf Elviras Erklärung.

„Als junges Mädchen geht man ja feiern – und wie das so ist, lernt man dann ja auch Jungs kennen. Einer war ganz nett und wir hatten einen schönen Abend auf dem Schützenfest, so mit Tanzen und allem. Am Ende machte er den Kavalier und brachte mich nach Hause. Zum Abschied wollte er mir eigentlich einen Kuss geben. Er zierte sich allerdings ein wenig und sagte dann ganz schüchtern: ‚Bevor ich dich küsse, habe ich eine Frage: Bist du katholisch oder evangelisch?‘ Ganz perplex habe ich geantwortet: ‚Evangelisch‘ – ‚Dann darf ich dich nicht küssen‘, verkündete er dann – und mit einem knappen ‚Tschüss‘ war er weg. Bekloppt, was?“

Die anderen lachten: „Ja, so war die Zeit.“

„Aber du hast ja trotzdem einen lieben Mann gefunden“, stellte Waltraud fest.

„Genau, wer weiß, wofür das gut war“, bestätigte Elvira.

Dann wandten sich alle wieder ihrem Kuchen zu.

„Ob ich wohl noch einen der Apfelplunder bekomme?“, fragte sich Maria.

„Der schmeckt aber auch wirklich lecker“, bestätigte Brigitte. „Magst du mal nachfragen? Ich hätte auch nichts gegen ein zweites Stück. Wer noch?“

Kein Licht im Kühlschrank

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