Über das Buch:
Nachdem ihm überraschend gekündigt wurde, flieht der Anwalt Eric Nash in seinen Heimatort Hope Harbor. Nur um dort feststellen zu müssen, dass sein Elternhaus die reinste Baustelle ist. Zu seinem Entsetzen hat sein Vater beschlossen, sich endlich seinen Traum von einem Bed & Breakfast zu erfüllen, und kurzerhand die unlängst zugezogene Architektin BJ Stevens mit dem Umbau beauftragt. Statt der Ruhe, die er sucht, um seinen nächsten Karriereschritt zu planen, sieht Eric sich also mit Lärm und Dreck konfrontiert – und einer kratzbürstigen Bauleiterin, der er keinen Millimeter über den Weg traut. Wie kann jemand eine Karriere in der Großstadt an den Nagel hängen und freiwillig in ein Kaff wie Hope Harbor ziehen? Bestimmt hat diese BJ irgendetwas zu verbergen …

Über die Autorin:
Irene Hannon studierte Psychologie und Journalistik. Sie kündigte ihren Job bei einem Weltunternehmen, um sich dem Schreiben zu widmen. In ihrer Freizeit spielt sie in Gemeindemusicals mit und unternimmt Reisen. Die Bestsellerautorin lebt mit ihrem Mann in Missouri.

Kapitel 8

War das BJ?

Eric starrte die Frau mit offenem Mund an, während er und sein Vater in die Kirchenbank der Grace-Christian-Kirche rutschten. Sie saß drei Reihen vor ihnen auf der anderen Seite des Mittelganges und sah absolut atemberaubend aus.

Er verdrehte den Hals.

Ja, es war BJ.

Bisher hatte er sie nur in abgetragenen Jeans, T-Shirt und mit Baseballkappe gesehen. Heute trug sie ein elegantes Seidenkleid und ihr Haar hatte sie nicht wie gewohnt zum Pferdeschwanz gebunden, sondern trug es offen. Die schulterlangen blonden Strähnen glänzten in der Sonne, deren Strahlen durch die Fenster fielen. Als sie sich in ihrem Sitz umdrehte, um einen Neuankömmling zu begrüßen, bemerkte er auch den dezent aufgetragenen Lippenstift und etwas Rouge.

Mann, sah sie gut aus!

„Eric.“

Als ihn sein Vater anstieß, zog er wie eine Schildkröte den Kopf ein. „Was ist?“

„Würdest du mir bitte ein Liederbuch reichen?“

„Ja, natürlich.“ Eilig nahm er eines der Bücher am Ende der Bankreihe und gab es ihm, da die Orgel bereits das erste Lied anstimmte.

„Singst du denn nicht mit?“

„Ähm, doch. Natürlich.“

Er nahm sich auch ein Buch und schlug es an der richtigen Stelle auf, aber er kannt das Lied nicht. Kein Wunder. Schließlich war sein letzter Gottesdienstbesuch schon ein paar Jahre her. Und seitdem hatten scheinbar neue Lieder Einzug in den Gottesdienst gefunden.

Egal. Er würde einfach die Lippen bewegen und weiterhin BJ unauffällig im Blick behalten.

Nach ungefähr der Hälfte des Liedes drehte sie sich um, so als würde sie seine Blicke in ihrem Rücken fühlen.

Überrascht riss BJ die Augen auf und drehte schnell den Kopf wieder nach vorne.

Erics Finger verkrampften sich um sein Liederbuch.

Wow, war diese Frau attraktiv!

Unter Einsatz seiner ganzen Willenskraft richtete er seinen Blick nach vorne zum Altar und bemühte sich nach Kräften, sich auf die Predigt von Pastor Baker und auf die Musik zu konzentrieren.

Aber es war ein schwerer Kampf.

Während die Orgel die letzten Töne des Abschlussliedes spielte, gab er diesen Kampf auf und überlegte krampfhaft, wie er ein paar Minuten in der Gesellschaft dieser attraktiven BJ verbringen konnte.

Doch diese Mühe hätte er sich sparen können, denn BJ sprach ihn und seinen Vater an, als sie aus der Kirchenbank heraus- und in den Mittelgang traten.

„Guten Morgen, BJ.“ Sein Vater lächelte die Architektin an.

„Guten Morgen.“ Sie konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf Eric. „Ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen, wenn Sie fünf Minuten erübrigen könnten.“

Der Blick seines Vaters wanderte zwischen ihm und BJ hin und her. „Lasst euch von mir nicht stören. Heute gibt es Kaffee und Donuts. Du findest mich im Gemeindesaal, Eric.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, gesellte er sich zu der Menge, die zum Ausgang strömte.

„Hier können wir uns ungestörter unterhalten.“ Eric deutete zu einer leeren Kirchenbank.

„Es dauert nicht lange.“ Sie setzte sich so, dass ein großer Abstand zwischen ihnen war.

„Kein Problem. Ich habe heute Nachmittag außer der Reparatur von Luis’ Moped nichts vor.“ Er setzte sich an das äußerste Ende der Bank. „Geht es um Luis?“ Vielleicht hatte sie ein paar weitere Informationen zu der Geschichte, die sie ihm bei ihrem spontanen Mittagessen im Hafen anvertraut hatte. Warum sonst hätte sie ihn ansprechen sollen?

„Nein.“

So viel also zu dieser Theorie.

Mit der Hand strich sie über den Seidenstoff ihres Kleides. Dann schob sie sich das Haar hinters Ohr und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Sein Blick wanderte zu ihren Sommersprossen auf ihrer Nase. Geduldig wartete er, bis sie weitersprach.

„Ich belästige Sie wirklich nur ungern, aber ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.“ Wieder fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen.

„Schießen Sie los.“ Seine Worte klangen heiser. Er räusperte sich schnell.

„Haben Sie schon von Helfende Hände gehört?“

„Nein.“

„Das ist eine Organisation, die das tut, was der Name sagt: Sie bietet jedem in der Stadt, der Hilfe braucht, praktische Hilfe an. Das begann vor ungefähr sechs Jahren als gemeinsames Projekt der Kirchengemeinden Grace Christian und St. Francis. Tracys Mann ist Leiter der Organisation, aber alle anderen Mitarbeiter engagieren sich ehrenamtlich.“

„Und Sie gehören auch dazu?“

Sie zuckte mit den Schultern und zupfte dabei an dem seidigen Stoff ihres Kleides. „Ich helfe ein wenig mit. Im Moment bin ich für die Kulissen und die Bühnenausstattung eines Musicals verantwortlich, das als Benefizveranstaltung für die Organisation aufgeführt werden soll. Die Kulissen zu bauen, ist kein Problem. Aber leider habe ich nicht das nötige Talent, um die Kulissen auch zu bemalen. Charley hatte versprochen, das zu übernehmen, aber jetzt hat er sich das Handgelenk verletzt. Deshalb hat er vorgeschlagen, dass ich Sie bitten könnte, diese Arbeit zu übernehmen.“

Jetzt hörte Eric ihr mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu. „Charley hat sich verletzt? Wie ist das denn passiert?“

„Das weiß ich nicht. Als ich gestern Mittag an seinem Stand war, um mir Tacos zu kaufen, hatte er einen dicken Verband um das Handgelenk.“

Nur ein paar Stunden, nachdem Eric ihn in seinem Studio besucht hatte.

Verdächtig.

Wollte der Künstler ihn auf diese Weise dazu bewegen, wieder einen Pinsel in die Hand zu nehmen? Sein Angebot, ein wenig auf der Leinwand zu experimentieren, hatte er ja ausgeschlagen.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie damit belästige. Ich weiß, dass Sie gerade vor anderen Herausforderungen stehen, und …“

„Nein.“ Er berührte ihren Arm. „Entschuldigen Sie sich doch nicht dafür, dass Sie jemanden bitten, bei einer gemeinnützigen Arbeit in einer Notsituation auszuhelfen.“ Die Frage, ob Charley seine Verletzung nur vortäuschte, war eigentlich unwichtig. Wenn er eine Chance bekommen wollte, die Frau, die im Moment neben ihm saß, besser kennenzulernen, gab ihm der Tacokoch dazu die perfekte Gelegenheit. „Erzählen Sie mir, was alles zu tun ist. Ich habe seit Jahren nicht mehr gemalt.“

Er hörte aufmerksam zu, während sie ihm beschrieb, was auf den Kulissen zu sehen sein sollte: die Atmosphäre und Landschaft von Oklahoma, mit Trauerweide, strahlendem Sonnenschein, weiten Wiesen und mannshohen Maispflanzen.

„Von welcher Größe sprechen wir?“

Sie nannte ihm die Maße.

„Wow.“ Er blinzelte langsam. „Ich habe noch nie auf etwas Größerem gemalt als auf 40 mal 50 cm große Leinwänden.“

„Laut Charley ist es das gleiche Prinzip, nur größer. Er hat auch noch nie Theaterkulissen gemalt. Ich weiß, dass er vorhatte, die Szene auf den Flächen zu skizzieren, bevor er mit dem Malen anfangen wollte.“

„Hat er schon irgendwelche Skizzen entworfen?“

„Nicht, dass ich wüsste. Ich denke, er reagiert gern spontan auf seine Eingebungen.“

Das hörte sich ganz nach dem Tacokoch der Stadt an.

„Wie viel Zeit hätte ich?“

„Ende des Monats findet die Aufführung statt. Die Kulissenwände habe ich schon gebaut und sie auf Rädern montiert. Sie könnten also jederzeit anfangen. Die Wände sind in der Theaterwerkstatt der High School. Ich bin an den meisten Abenden dort und baue die Bühnenausstattung, aber wir könnten es auch so arrangieren, dass Sie tagsüber in die Werkstatt können, falls Sie sich überhaupt dazu entscheiden, diese Aufgabe zu übernehmen.“

„An den Abenden würde es mir gut passen.“ Besonders wenn sie dann auch dort war.

„Heißt das …? Ist das ein Ja?“

Eric warf einen Blick zum Altarraum. Eigentlich war er nach Hope Harbor gekommen, um sich neu zu sortieren, einen neuen Kurs in seiner Anwaltslaufbahn einzuschlagen, nicht um Kulissen für ein Musical zu bemalen. Oder überhaupt zu malen. Er hatte aber auch nicht geplant, sich auf einen verzweifelten kubanischen Einwanderer einzulassen. Oder eine hübsche, reizvolle Frau kennenzulernen.

Nichts in Hope Harbor war so gekommen, wie er es erwartet hatte.

Was hatte sein Vater an dem Tag seiner Ankunft gesagt? Irgendeinen Spruch, dass man manchmal gute Dinge erlebt, wenn man für neue Möglichkeiten offen ist.

Nach allem, was in den letzten paar Tagen passiert war, war das vielleicht nicht nur ein dahingesagter Spruch. Vielleicht steckte in diesen Worten sehr viel Wahrheit.

Da sein Terminkalender gerade sehr übersichtlich war, konnte er eigentlich seine Hilfe zusagen, oder? Wenn er sich informierte, was man beim Bemalen von Kulissen beachten musste, sollte er in der Lage sein, das zu bewältigen. Und er konnte dabei Zeit mit dieser jungen Frau verbringen.

Eine Zusage brachte ihm nur Vorteile.

Er wandte sich ihr wieder zu. „Das ist ein Ja. Aber ich bin nicht Charley. Erwarten Sie also keine Wunder.“

„Es ist schon ein Wunder, dass es überhaupt jemanden in der Stadt gibt, der bereit – und in der Lage – ist, diese Arbeit zu übernehmen.“ Ihre Augen leuchteten und ihr strahlendes Gesicht betonte noch ihre Attraktivität. „Und ich vertraue Charley. Er hätte Sie nicht empfohlen, wenn er Ihnen diese Aufgabe nicht zutrauen würde.“

„Hoffen wir, dass er sich nicht irrt.“ In der Kirche war es still geworden. Er bewegte die Hand über die leeren Kirchenbänke. „Anscheinend sind wir die Letzten.“

„Alle anderen sind in Richtung Donuts verschwunden.“

„Haben Sie auch Lust auf einen Donut?“

„Nein, danke. Ich muss noch etwas erledigen. Außerdem versuche ich, fettes Essen zu meiden. Fett ist schlecht für die Arterien. Und für die Hüften.“

Er ließ seinen Blick über ihre Figur gleiten. „Sie sehen nicht so aus, als müssten Sie sich über Letzteres Gedanken machen.“

„Das liegt daran, dass ich mir darüber Gedanken mache.“ Sie stand auf und ließ ihm keine andere Wahl, als sich ebenfalls zu erheben.

„Ich würde mir die Kulissen gern sobald wie möglich ansehen, um mir einen Eindruck zu verschaffen.“

„Kein Problem. Ich will heute Nachmittag ab zwei Uhr an den Kulissen weiterarbeiten. Wenn Sie Zeit haben, könnten Sie vorbeikommen.“

„Das lässt sich einrichten.“

Sie folgte ihm aus der Kirchenbank und steuerte geradewegs auf den Ausgang zu.

Sosehr er sich auch bemühte, es fiel ihm beim besten Willen kein Vorwand ein, um sie noch länger aufzuhalten.

„Dann sehen wir uns also heute Nachmittag.“ Sie ging unbeirrt in den leichten Nebel hinaus. Der Himmel war mehr grau als blau. Die Wolken hatten anscheinend ihr Versteckspiel mit der Sonne gewonnen.

„Ich werde da sein.“

Sie bedachte ihn mit einem kurzen Lächeln und eilte dann die Stufen hinunter auf den Parkplatz zu.

Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, schlenderte Eric in Richtung Gemeindesaal. Vielleicht waren ja noch ein paar Donuts übrig. Er hatte Appetit auf etwas Süßes.

Aber falls er hier nichts mehr bekam, erwartete ihn später in der Schule „etwas Süßes“.

Mit einem Grinsen ging er wieder hinein, um dem feuchten Nebel zu entfliehen. Diesen Gedanken würde BJ bestimmt nicht gutheißen.

Es war ein ehrgeiziges Projekt, das er übernommen hatte. Als er daran erinnert wurde, verschwand das Grinsen auf seinem Gesicht und seine Schritte wurden langsamer. Der Künstler der Stadt traute ihm zwar vielleicht zu, die Theaterkulissen zu bemalen. Aber er selbst bezweifelte, dass das fertige Produkt Charleys professionellen Maßstäben standhalten könnte. Auch wenn er früher vielleicht Talent gehabt hatte, war dieses Talent womöglich verkümmert, da er es jahrelang vernachlässigt hatte.

Doch jetzt war es zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

Er blieb an der Kirchentür stehen und rang einen Moment mit sich. Dann ging er noch einmal zurück in den Saal und schickte ein Gebet gen Himmel. Hoffentlich war er dieser Aufgabe gewachsen.

* * *

Es war ein seltsames Gefühl, die Sonntagsmesse ausfallen zu lassen. Elena wäre von ihm enttäuscht.

Aber wie konnte ein Mann, der immer noch mit dem Gedanken spielte, sich von den Klippen zu stürzen, in die Kirche gehen und Gott unter die Augen treten?

Luis sank auf die Kante der durchgelegenen Matratze, auf der er sich nachts die meiste Zeit unruhig hin und her wälzte. Verzweifelt fuhr er sich mit der Hand übers Gesicht. Er hatte das Versprechen gehalten, das er Eric Nash gegeben hatte, und war am Freitag zur Arbeit erschienen. Das Frühstück, das John ihnen vorgesetzt hatte, hatte er gegessen. Es bestand kein Grund, die Pläne, bei denen er am Donnerstagabend gestört worden war, nicht doch noch in die Tat umzusetzen. Bei diesem verregneten Wetter würde ihn bestimmt niemand stören.

Andererseits hatte Eric den ganzen Freitag und wahrscheinlich auch einen großen Teil seines Wochenendes dafür geopfert, sein Moped wieder flott zu bekommen. Er bemühte sich sehr darum, den unangenehmen Zwischenfall wegen der Green Card wiedergutzumachen, und begegnete ihm mit viel Freundlichkeit. Wenn Luis seinen Plan jetzt in die Tat umsetzte, würde sich Eric vielleicht fragen, ob womöglich seine Frage nach der Green Card der Auslöser für Luis’ Entschluss gewesen sei.

Das war gut möglich.

Schuldgefühle waren eine schwere Last.

Sein Magen zog sich zusammen. Zögernd berührte er Elenas Foto, das er auf dem Nachttisch stehen hatte. Mit Schuldgefühlen kannte er sich bestens aus. Dazu kamen Gefühle der Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Wie sollte ein Mann das alles aushalten?

Selbst Gott schien ihn verlassen zu haben.

Ein Druck baute sich hinter seinen Augen auf und seine Augen wurden feucht. Er wusste ja, dass es falsch war, sich das Leben zu nehmen. Aber die Klippen übten immer noch eine große Anziehungskraft auf ihn aus, wenn er nur seine leere Zukunft vor sich sah.

Mit dem Handrücken wischte er sich über die feuchten Augen und stand seufzend auf.

Es war Zeit, einen Spaziergang zu machen.

Er nahm seine Jacke vom Fußende des Bettes und ging zur Tür. Doch dann erstarrte er. Das Knattern eines sauber laufenden Mopeds drang durch den Spalt des gekippten Fensters.

Mit der Jacke in der Hand trat er an die Jalousien und bewegte eine der wenigen Lamellen, die noch intakt waren.

Es war Eric. Er kam auf seinem Moped die Auffahrt heraufgetuckert.

Mit einem Stirnrunzeln ließ Luis die Lamelle wieder sinken. Was sollte das? Es war ausgemacht, dass er sein Moped morgen nach der Arbeit bei John mitnahm.

Als es an seiner Tür klopfte, rührte Luis sich nicht. Er war absolut nicht in der Stimmung, mit jemandem zu sprechen.

„Entschuldigen Sie die Störung, Luis.“ Erics Stimme drang klar und deutlich durch die dünne Tür. „Aber das Moped ist fertig und ich dachte, Sie hätten es vielleicht gern schon heute zurück. Ich will den Schlüssel nicht im Motorschloss stecken lassen.“

Er sprach so, als wüsste er, dass Luis da war.

Wahrscheinlich hatte er gesehen, wie die Lamellen kurz auf- und dann wieder zugegangen waren.

Mit einem Seufzen fuhr sich Luis durchs Haar. Es war albern, diesen Mann zu ignorieren. Und er wäre ihn bestimmt schnell wieder los. Wie lange dauerte es schon, sich zu bedanken und den Schlüssel entgegenzunehmen?

Mit schweren Schritten ging er zur Tür und schloss auf.

„Entschuldigen Sie, dass ich so unangemeldet hier auftauche.“ Lächelnd hielt Eric ihm den Schlüssel hin. „Das Moped ist fertig. Ich habe eine Probefahrt damit gemacht und ich denke, dass es Ihnen in nächster Zeit keine Schwierigkeiten mehr macht. Ich hatte schon befürchtet, es könnte der Vergaser sein, aber es war nur eine Sicherung kaputt und die Zündkerzen waren verschmutzt. Ich habe alle Zündkerzen gereinigt, habe eine ersetzt und eine neue Sicherung eingesetzt. Jetzt können Sie wieder damit fahren.“

Luis bemühte sich, ihm zu folgen, aber er verstand nicht alle Wörter.

Eines hatte er allerdings kapiert: Diese Reparatur hatte Geld gekostet. Neue Teile gab es nicht umsonst.

Er griff nach seinem Portemonnaie. „Danke. Wie viel schulde ich Ihnen?“

„Nichts. Es hat Spaß gemacht, an dem Moped zu basteln. Die Werkstatt, die mein Auto repariert, hat mir die Teile gegeben, die ich brauche, als ich gestern dort war, um mich über den Stand der Reparatur zu erkundigen.“

„Man hat Ihnen die Teile einfach so gegeben?“ Konnte es sein, dass ein Geschäft so großzügig war?

„Bei dem Preis, den meine Reparatur kostet, können sie es sich leisten, mir ein paar Kleinteile kostenlos zu geben.“ Ein plötzlicher Windstoß peitschte um die Ecke und Eric drehte sich so, dass ihn der feine Nieselregen nicht zu sehr durchnässte. „Ich würde ja vorschlagen, dass Sie eine Probefahrt machen, aber bei diesem Wetter verschieben Sie das wahrscheinlich lieber auf später.“

Plötzlich fiel ihm auf, dass Eric ganz durchnässt war. Seine Haare glänzten und sein T-Shirt klebte ihm auf der Brust. „Sind Sie im Regen hierhergefahren?“

„Als ich losfuhr, hat es noch nicht geregnet.“ Er zuckte die Achseln und zog einen Mundwinkel nach oben. „Willkommen an der Küste von Oregon!“

Luis warf einen Blick auf den leeren Parkplatz. „Wollen Sie jetzt zu Fuß in die Stadt zurückgehen?“

„Nein. Mein Vater kommt in ungefähr zehn Minuten und holt mich ab.“

Ein zweiter Windstoß erfasste die Tür und Eric. Wenn er noch länger hier stehen bliebe, wäre er völlig durchnässt, bis John hier eintraf.

Luis atmete schwer aus. Eigentlich wollte er diesen Mann nicht in sein Zimmer lassen, aber hatte er eine Wahl? Nach allem, was Eric für ihn getan hatte, konnte er ihn unmöglich im Regen stehen lassen.

Er trat zurück und zog die Tür weiter auf. „Sie können hier drinnen warten, bis er kommt.“

„Danke.“ Eric trat ein und blieb in der Mitte des Zimmers stehen, in dem er sich schnell umsah.

Obwohl seine Miene unverändert blieb, wusste Luis, was er dachte: Dieses Apartment mochte zwar sauber und ordentlich sein, aber es war trotzdem ein Loch.

Mit dieser Schlussfolgerung traf sein unerwarteter Gast natürlich ins Schwarze.

Es war nicht so, dass er in einer solchen Absteige wohnen musste. Er konnte sich durchaus etwas Besseres leisten. Wenn er seinem Schwiegervater nicht so viel Geld schicken würde. Aber solange sein Schwiegervater lebte, wollte Luis das Versprechen, das er Elena gegeben hatte, halten. Mit diesem Versprechen hatte er das letzte Hindernis für ihre Flucht aus Kuba aus dem Weg geräumt.

Jetzt bereute er, dass er das getan hatte.

Wieder war seine Kehle wie zugeschnürt. Wenn er ihrer Bitte nicht nachgekommen wäre, hätte sie sich vielleicht geweigert wegzugehen. Dann hätten sie ihren Traum, sich in Amerika ein neues Leben aufzubauen, zwar nicht verwirklicht, aber sie wären immer noch zusammen.

Er unterdrückte seine Gefühle und deutete auf den einzigen Sessel, der im Raum stand. „Wollen Sie sich setzen?“

Eric schaute ihn fragend an und ging dann zu dem Stuhl neben dem Bett. „Ich setze mich lieber hierher. Danke.“ Er nahm Platz und warf einen Blick auf das Foto, das auf dem Nachttisch stand. Er sagte kein Wort, aber Luis konnte die unausgesprochene Frage förmlich hören.

„Das ist … Das war meine Frau, Elena.“ Er setzte sich auf die Bettkante. „Sie ist vor zehn Monaten gestorben. Auf dem Weg nach Amerika.“

„Das tut mir sehr leid.“ Die Worte waren eine übliche Floskel, aber darin schwang ein aufrichtiges Mitgefühl mit.

Luis nahm das Foto vorsichtig in die Hand und hielt es liebevoll fest. „Es ist schwer.“ Seine Worte klangen heiser.

„Manchmal zu schwer, nehme ich an.“

Bei Erics leiser Bemerkung seufzte Luis. Es hatte keinen Sinn, das, was sie beide wussten, zu leugnen. Schließlich hatte dieser Mann neben ihm auf den Klippen gestanden. „Ja.“

Eric faltete die Hände und beugte sich vor. „Amerika ist ein großartiges Land, Luis. Und Hope Harbor ist ein ganz besonderer Ort. Die Menschen hier kümmern sich umeinander. Sie achten aufeinander. Ich bin sicher, dass Sie hier Freunde finden. Das Leben wird besser. Es wird nicht jeder Tag so grau und erdrückend sein wie der Tag heute.“ Er deutete zum Fenster.

Ah! Jetzt verstand er, warum ihm Eric das Moped bei diesem regnerischen Schmuddelwetter gebracht hatte, statt bis morgen zu warten. Der Sohn ihres Auftraggebers hatte befürchtet, dass dieser trübsinnige Tag BJs kubanischen Handwerker dazu verleiten könnte, das zu Ende zu bringen, was er in jener Nacht auf den Klippen versucht hatte.

Luis schaute auf seine verkrampften Hände. „An manchen Tagen bin ich nicht sicher, ob das stimmt.“ Dieses leise Geständnis, das er noch nie zuvor laut ausgesprochen hatte, wog schwer in dem düsteren Zimmer.

„Ich weiß.“ Es war klar, dass sie beide aufgehört hatten, einander etwas vorzumachen. „Aber ich will nicht, dass Sie noch mehr solche Tage haben. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.“

Luis runzelte die Stirn und überlegte, aus welcher Motivation heraus dieser Mann ihm seine Hilfe anbot. „Warum wollen Sie mir helfen?“

„Weil ich an die goldene Regel glaube, dass wir andere so behandeln sollen, wie wir selbst behandelt werden wollen.“

Nach allem, was er erlebt hatte, schien das zu stimmen. Nur wenige Menschen waren bereit, sich auf die Probleme anderer Menschen einzulassen.

„Ich bin Ihnen für Ihr Angebot dankbar.“ Dabei ließ er es bewenden.

Nach einigen Sekunden des Schweigens fragte Eric. „Aber …?“

Aber mir kann niemand helfen.

Er betrachtete die Regentropfen, die an der Fensterscheibe herunterliefen. Er hatte Elena verloren. Er hatte seinen Beruf als Arzt verloren. Er war Flüchtling in einem fremden Land, in dem er den Rest seines Lebens allein verbringen würde. Ein Arzt, der sich seinen Lebensunterhalt als einfacher Handwerker verdiente und der sich nach der Frau sehnte, die er geliebt hatte, und nach einem Traum, der nie wahr werden würde.

Aber davon wusste dieser Mann nichts. Und er würde wahrscheinlich auch nicht verstehen, wie dunkel die Welt für jemanden sein konnte, der alles riskiert und alles verloren hatte.

„Luis.“ Als Eric seinen Namen aussprach, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Gast. „Bitte erlauben Sie mir, Ihnen zu helfen.“

„Danke für das Angebot. Aber Sie können nicht alles, was in meinem Leben kaputt ist, reparieren.“

„Aber vielleicht einiges.“

Dieser Anwalt war wirklich hartnäckig. Und entschlossen. Er wollte scheinbar nicht eher gehen, bis er eine Zusicherung bekam, dass ein positiver Ausgang möglich war.

„Lassen Sie mich darüber nachdenken.“ Mehr konnte er ihm nicht anbieten.

Zwei Falten gruben sich in Erics Stirn. Es war unübersehbar, dass er nicht lockerlassen wollte, aber es war auch klar, dass er ihn nicht provozieren wollte. Dieses Dilemma kannte Luis. Als Arzt in der Notaufnahme hatte er mit vielen jungen Ärzten zu tun gehabt, die Antworten auf Fragen wollten, auf die es keine gab. Die sich um Ergebnisse bemüht hatten, die man unmöglich garantieren konnte, und die sich gequält hatten, wenn ihnen das nicht gelungen war, und die einfach nicht hatten akzeptieren wollen, dass man nicht jedes Problem lösen konnte.

Schließlich sprach Eric weiter. „Versprechen Sie mir noch etwas?“

„Dass ich morgen zum Frühstück komme?“ Irgendwie gelang Luis ein schwaches Lächeln.

„Nein, aber falls mein Vater kocht, sind Sie natürlich herzlich eingeladen. Ich bitte Sie einfach, mir zu versprechen, dass Sie, falls Sie sich entscheiden … mehr zu tun, als nur über etwas nachzudenken … dass Sie dann mit Pater Kevin sprechen.“

Den gleichen Rat würde ihm Elena geben, wenn sie hier wäre.

Aber mit einem Priester sprechen? Das könnte schwierig werden. Er war nicht der Typ, der über seine Gefühle sprach.

Außer mit Elena.

„Ich weiß nicht, ob ich das versprechen kann.“

Draußen ertönte plötzlich ein lautes Hupen und ein Anflug von Panik trat in Erics Gesicht. „Das ist mein Vater. Wenn … wenn Sie Pater Kevin nicht anrufen wollen, dann rufen Sie mich an, ja?“ Er kramte nach einem Stift in seiner Jackentasche, zog einen Zettel heraus und schrieb eine Telefonnummer auf. „Wir gehen einen Kaffee trinken oder … oder irgendetwas. Zu jeder Zeit, egal, ob bei Tag oder bei Nacht. Ich könnte selbst auch ganz gut jemanden brauchen, der mir zuhört. Jetzt, wo ich arbeitslos geworden bin.“

Luis starrte ihn an. „Das wusste ich nicht.“

„Ich werde schon einen Weg finden, wie es weitergeht. Ich mache mir mehr Sorgen um … andere Dinge.“

Zum Beispiel um den kubanischen Flüchtling, der im Haus seines Vaters arbeitete.

Wie konnte Luis die Bitte dieses Mannes ausschlagen?

„Ich werde anrufen.“

Die Anspannung in Erics Gesicht wich einer sichtlichen Erleichterung. Er stand auf und hielt ihm die Hand hin. „Danke. Falls das Moped wieder Probleme macht, sagen Sie es mir.“

„Das tue ich. Vielen Dank.“ Er ergriff seine Hand und drückte sie fest.

An der Tür blieb Eric noch einmal stehen. „Dann sehen wir uns morgen.“

„Ja. Ich werde da sein.“

Nach einem letzten nachdenklichen Blick lief Eric in das schmuddelige Wetter hinaus.

Luis blieb stehen, wo er war, bis er hörte, dass eine Autotür zugeschlagen wurde. Dann ging er ans Fenster und schaute durch die Lamellen. Der Wagen von John Nash war am Ende der Einfahrt angekommen und bog jetzt auf die Hauptstraße. Einige Momente später verschwand er hinter der Regenwand.

Nachdenklich ließ er die Lamellen wieder sinken.

In naher Zukunft würde er doch nicht zu den Klippen gehen.

Er kehrte zum Bett zurück und setzte sich wieder. Seltsam, dass ein unerwarteter Besuch von einem Mann, den er vor einer Woche noch nicht einmal gekannt hatte, seine Pläne so radikal ändern konnte. Und dass er die erloschene Glut in seinem Herzen wieder entfachen konnte.

Aus unerklärlichem Grund hatte er das Gefühl, dass die Wärme dieses Mal vielleicht ein wenig länger anhalten könnte. Wenn auch nur vielleicht.