Über das Buch:
Texas 1893: Neill, der jüngste der Archer-Brüder, träumt davon, finanziell endlich auf eigenen Füßen zu stehen. In dem kleinen Ort Dry Gulch will er sich genug Geld für eigenes Ackerland verdienen. Doch es ist gar nicht so einfach, das Vertrauen der Einheimischen zu gewinnen und einen Job zu finden. Zum Glück spielt ihm ein Unbekannter einen Zettel zu: Dachdecker benötigt, um Heim von Witwe zu reparieren.

Da ihm jede Arbeit recht ist, beschließt Neill, die Frau aufzusuchen. Leider gestaltet sich der Empfang alles andere als vielversprechend. Doch Neill Archer ist keiner, der gleich aufgibt. Schnell schaut er hinter die Fassade der jungen Witwe und merkt, dass hier mehr gefragt ist als ein paar handwerkliche Fähigkeiten. Denn seine neue Arbeitgeberin schwebt in großer Gefahr …

Über die Autorin:
Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy End-Garantie und einer überzeugenden christlichen Botschaft. Nach dem Studium der Psychologie begann sie selbst mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Texas.

Kapitel 8

„Wie lange hast du schon Schmerzen?“ Neill hob Clara in seine Arme und machte sich auf den Weg zum Nebenzimmer. Diese Verrückte sollte im Bett liegen und sich nicht um sein Abendessen kümmern.

Clara wollte sich wehren. „Lass mich, Neill. Ich habe zu arbeiten.“

Aber er ignorierte ihren Protest und machte die Schlafzimmertür mit dem Fuß auf. „Das Einzige, was du jetzt zu tun hast, ist, dieses Kind auf die Welt bringen. Ich kümmere mich um alles andere. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich eine Küche aufräume.“

Als er sie auf das Bett legte, sah er, dass sie schon das meiste Bettzeug entfernt hatte. Eine Öldecke lugte unter dem Laken hervor und bedeckte die Matratze. Ein Stapel Handtücher und eine Wasserschüssel standen neben dem Bett und eine Flanelldecke lag in Reichweite.

Irgendwie ließen die Vorbereitungen, die sie getroffen hatten, die Situation schrecklich real werden und er hatte das Gefühl, ertrinken zu müssen. Fast bekam er keine Luft mehr. Mit zittrigen Händen zog er Clara die Mokassins aus und deckte sie zu. „Ich … ähm … hole den Arzt.“

Verzweifelt darauf bedacht, auf sein Pferd zu springen und jemanden zu holen, der kompetenter war als er selbst, wirbelte er herum und lief zur Tür, doch Claras Stimme ließ ihn erstarren.

„Nein! Bitte, Neill. Kein Arzt. Keine Hebamme. Mack wird sie längst bestochen haben. Das dürfen wir nicht riskieren.“ Das Flehen in ihrer Stimme brach ihm fast das Herz. Langsam drehte er sich um.

„Ich muss doch jemanden holen, Clara. Du kannst das Baby nicht alleine bekommen.“

Sie reckte das Kinn vor und ihre Augen funkelten entschlossen. „Doch, das kann ich. Das muss ich. Nur so ist es sicher.“

Wieder überkam sie eine Wehe, schlimmer als zuvor. Sie stöhnte und atmete und rollte sich auf die Seite. „Du musst gehen, Neill“, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Neill schüttelte den Kopf. „Wenn du glaubst, dass ich dich jetzt alleine lasse, hast du den Verstand verloren.“

Dann tat diese verrückte Frau etwas, womit er beim besten Willen nicht gerechnet hatte. Sie lachte. Das Geräusch drang direkt in sein Herz. Sofort wurde alles in ihm weich und er ertappte sich, wie er sie anlächelte.

„Ich will nicht, dass du das Haus verlässt, Neill. Nur das Zimmer. Ich muss mein Nachthemd anziehen.“

„Oh.“ Er räusperte sich verlegen und rieb sich den Nacken, bevor er ihr einen ernsten Blick zuwarf. „Gut. Aber ich bleibe auf der anderen Seite der Tür, egal wie lange es dauert. Ich komme sofort, wenn du mich brauchst, Clara.“ Noch einmal trat er näher an das Bett heran, hätte sie am liebsten berührt, gestreichelt, etwas getan, um ihr die Schmerzen zu nehmen. „Du musst das nicht alleine durchstehen. Ich bin da.“

Sie erwiderte seinen Blick für einen langen Moment. „Spielst du für mich?“

Er zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Geige. Die Musik entspannt mich. Ich glaube, das wird meine Schmerzen lindern.“

Neill sprang sofort auf die Idee an, dankbar, etwas zu tun zu haben. „Schatz, ich spiele die ganze Nacht für dich, wenn du es willst.“

„Danke.“ Ihr Lächeln erhellte den Raum und versetzte ihn in Aktion. Er rannte los, schloss kaum die Schlafzimmertür hinter sich, so schnell lief er in die Scheune, um seine Geige zu holen.

* * *

Der Mann war ein Wunder. Zwischen den Wehen, die in immer kürzeren Abständen zu kommen schienen, atmete Clara tief ein und aus. Zwei Stunden spielte Neill nun schon ohne Pause. Die weichen Töne drangen durch die Tür und nahmen ihr die Anspannung, versetzten sie in einen Dämmerschlaf, wenn sie sich zwischen den Wehen entspannte. Bei all ihren tapferen Plänen, das Baby allein zu bekommen, konnte sie Gott gar nicht genug danken für diesen Mann, der so starrköpfig war und hiergeblieben war. Die Geburt wäre ohne seine Musik nicht zu ertragen gewesen.

Wieder traf sie der Schmerz, fuhr ihr durch den Rücken und in den Bauch. Sie versuchte, dagegen anzuatmen, wie bei den Wehen zuvor, doch dieses Mal war es anders. Länger, andauernder. Und sie hatte das Gefühl, pressen zu müssen.

Ein Stöhnen entrang sich ihrem Hals und sie kämpfte gegen die Instinkte ihres Körpers an. Sie konnte das nicht. Der Himmel stehe ihr bei, sie konnte es nicht.

Panik schwoll in ihrer Brust. Was, wenn etwas schiefging? Sie würde nichts tun können. Was, wenn die Geburt zu lange dauerte und sie danach nicht mehr die Kraft hatte, sich um ihr Kind zu kümmern? Was, wenn das Baby nicht atmete? Horrorszenarien wirbelten durch ihren Kopf, bis sie den Schrei nicht länger zurückhalten konnte.

„Neill!“

Die Musik brach ab. Schritte näherten sich der Tür und sie wurde aufgerissen. Neill warf sich auf die Knie neben ihrem Bett und strich ihr sofort die Haare aus dem schweißnassen Gesicht.

„Ich bin hier, Clara“, beruhigte er sie. „Ich bin hier.“

Sie blickte ihn wild an und krallte sich in sein Handgelenk. „Ich schaffe das nicht, Neill. Ich kann das nicht.“

„Natürlich schaffst du das, Schatz. Du bist stark. Du bist die stärkste Frau, die ich kenne.“ Er lächelte sie an. „Und ich helfe dir.“

Tränen strömten ihr über das Gesicht. „Ich habe Angst.“

Er küsste sie auf die Augenbraue. „Wir schaffen das gemeinsam. Alles wird gut.“

Wieder traf sie eine Wehe und sie riss sich los. Weg von seinem Kuss, von seinen tröstenden Worten. Doch er folgte ihr. Seine starken Arme hielten ihr den Rücken.

„Das Baby kommt“, stöhnte sie und wollte, dass er die Dringlichkeit verstand. „Du musst aufpassen, dass nichts schiefgeht.“

Sie zwang sich, Neill anzuschauen, ignorierte den Schmerz in ihrem Körper. Sie brauchte sein Versprechen. Seine Zusicherung.

Er nickte und im gleichen Augenblick gab ihr Körper ihr wieder das Gefühl, dass sie pressen sollte. Dieses Mal würde sie es nicht ignorieren. Neill war hier. Er würde ihr Kind beschützen.

Mit neuem Mut beugte sie sich vor und presste.

* * *

Nachdem er zehn Minuten hilflos dabei zugeschaut hatte, wie Clara gebar, schob Neill alle edelmütigen Ideale beiseite, die man ihm eingebläut hatte, wenn es um den Anstand einer Frau ging, und tat alles, um sie zu unterstützen. Er kletterte hinter sie aufs Bett und stützte ihren Rücken. Er tunkte eines der Tücher ins Wasser und kühlte damit ihren Hals und das Gesicht. Er massierte sie am unteren Rücken und hielt sie, wenn die Wehen kamen.

Wie hielt sie das nur aus? Es musste mindestens eine Stunde her sein, dass sie ihm gesagt hatte, das Baby würde kommen. Ihr Stöhnen wurde immer tiefer, ihre Schreie lauter. Wie lange noch? Bestimmt müsste das Kind doch längst da sein. Stimmte irgendetwas nicht? Er hatte versprochen, Mutter und Kind zu beschützen, doch wie sollte er einen Feind bekämpfen, den er nicht sah?

Gott, steh ihr bei, betete sein Geist. Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen soll. Schütze Clara und ihr Baby. Bitte.

Wieder benetzte er das Tuch und rieb Clara damit über die Stirn, hoffte, irgendwie ihr Leid lindern zu können.

Ihre Muskeln spannten sich an. Eine weitere Wehe. Schnell warf er das Tuch weg und drückte seine Knie in die Matratze. Sie ergriff jedes Mal seine Hände, wenn die Schmerzen schlimmer wurden, und auch jetzt fanden ihre Finger die seinen wie durch einen Magneten angezogen. Seine Handflächen schlossen sich um die ihren. Er beugte sich vor und flüsterte ihr ermutigende Worte ins Ohr.

Sie presste sich gegen ihn. Ein Schrei entrang sich ihrer Brust. Dann plötzlich ließ sie seine Arme los und griff nach vorne.

„Es kommt, Neill!“, rief sie aufgeregt, trotz ihrer Erschöpfung. „Ich spüre es.“

Die nächsten Minuten verschwammen. Bevor Neill wusste, was geschah, hielt er Claras Kind in den Händen und legte es ihr auf die Brust. Die leisen Schreie des Babys waren die schönsten Klänge, die Neill jemals in seinem Leben gehört hatte. Tränen traten ihm in die Augen und mit zitternden Fingern bedeckte er das kleine Wesen mit einem trockenen Tuch und rieb es ab.

Clara lehnte sich in die Kissen und schaute ihren kleinen Sohn verliebt an. Das dunkle Haar des Babys stand in alle Richtungen ab und sein zerknautschtes Gesichtchen drückte sein Missfallen über sein durchlebtes Martyrium aus. Mit verschmierter Haut und zornesrotem Kopf hätte Neill es nicht gerade als hübsch bezeichnet, aber …

„Er ist perfekt“, flüsterte Clara. „Absolut perfekt.“ Sie streichelte die Haut des Kleinen mit einem Finger und Neill konnte ihr nur zustimmen.

„Wie willst du ihn nennen?“, fragte er leise und war nicht in der Lage, die Hand vom Rücken des kleinen Wesens zu nehmen. Es war, als hätte sein Beisein auf der Reise des Kleinen in diese Welt ein unzerstörbares Band zwischen ihnen entstehen lassen. Neill hätte schwören können, dass sein Herz in seinem Brustkorb immer weiter anschwoll.

„Harrison.“ Sie streichelte das dunkle Köpfchen des Babys. „Das war der Mädchenname meiner Mutter. Ich mochte ihn immer.“

Neill lächelte und war froh, dass sie ihn nicht nach ihrem verstorbenen Ehemann benannte. „Harrison ist ein guter Name. Stark. Genau wie unser kleiner Racker hier.“

Das Wort unser kam ihm über die Lippen, ohne dass er groß darüber nachgedacht hatte. Als er es bemerkte, warf er Clara einen schnellen Blick zu, doch ihr schien es gar nicht aufgefallen zu sein. Sie war zu beschäftigt damit, ihren Sohn zu liebkosen – ein Junge, der schrie wie ein kleines, hungriges Ferkel und sein Mündchen aufriss und nach der Brust seiner Mutter suchte.

Neill begriff und sprang auf. „Ich … ähm … lasse euch alleine und … ähm … hole Wasser für sein Bad.“ Er wich rückwärts in Richtung Tür. „Ruf, wenn du so weit bist.“

Er war schon fast geflohen, als Claras Stimme ihn noch einmal innehalten ließ.

„Neill?“

Er kam zurück. „Ja?“

Zum ersten Mal seit Stunden fokussierte sie sich vollkommen auf ihn und die Tiefe der Gefühle in ihren Augen raubte ihm fast den Atem. „Danke.“

Er brachte nur ein Nicken zustande. Dann verließ er den Raum und ging zum Herd. Er hoffte, dass die banale Aufgabe, Wasser zum Kochen zu bringen, ihm dabei helfen würde, seine Fassung wiederzufinden. Der Himmel wusste, wie sehr er das momentan brauchte. Dass er jetzt schon fast seine eigene kleine Familie hatte, haute ihn fast um.

Er wollte diese Frau. Dieses Kind. Doch er hatte Clara versprochen, ihr Zeit zu geben, und er würde sein Wort halten. Obwohl … er hatte nie gesagt, dass er sie nicht umwerben würde. Angesichts dieser Aussichten umspielte ein Lächeln seine Lippen.

Er war in Gedanken so sehr in seine Pläne vertieft, dass er fast die schattenhafte Silhouette draußen im Hof übersehen hätte. Ein Mann, der gerade auf sein Pferd stieg. Dieser Reiter konnte nur ein Ziel haben. Die Circle-D-Ranch.