Cover

Luanne Rice

Zeit der Rosenblüte

Ursula Bischoff

Knaur e-books

Über Luanne Rice

Luanne Rice hat in den USA zahlreiche Romane veröffentlicht und gilt dort als Bestsellerautorin. In Deutschland erschienen von ihr unter anderen »Wo das Meer den Himmel umarmt«, »Was allein das Herz erkennt« und »Wolken über dem Meer«. Sie stammt aus Connecticut und lebt heute mit ihrem Mann in New York City.

Über dieses Buch

Um ihrer schwerkranken Großmutter beizustehen, kehrt Lily Malone mit ihrer kleinen Tochter Rose und ihrer neuen Liebe Liam in ihren Heimatort an der Ostküste zurück. Lily sieht ihrer Heimkehr mit Sorge entgegen, denn sie befürchtet, ihrem Ex-Mann Edward wiederzubegegnen, vor dem sie einst hochschwanger geflohen ist. Edward will sich an ihr rächen und schreckt nicht davor zurück, dafür auch die kleine Tochter zu benutzen. Lily ist verzweifelt, und nur ihre Freundin Marisa, ebenfalls ein Opfer von Edward, und Liam stehen ihr zur Seite. Was aber können sie gegen einen Menschen ausrichten, der alles daransetzt, Lilys Leben zu vernichten?

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005

unter dem Titel »Summer of Roses« bei Bantam Books, New York.

eBook-Ausgabe 2011

Knaur eBook

© 2005 Luanne Rice

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2007 Knaur Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Sandra Witte

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

ISBN 978-3-426-41458-3

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FÜR ROSEMARY GOETTSCHE.
Willoughby Moon, die schönste Rose von allen

»In dem Christopher Robin und Pooh
an einen verzauberten Ort gelangen …

I

And all your friends

Sends-

I mean all your friend

Send-

(Very awkward this, it keeps

going wrong)

Well, anyhow, we send

Our love

END

– Kapitel X,

aus The House at Pooh Corner,

von A.A. Milne

Prolog

Meine Hochzeit war ein Traum. Mit allem, was man sich nur wünschen kann, und wenn ich daran denke, selbst heute noch, sehe ich den Ablauf vor mir: eine Hochzeit wie ein Märchen, das immer glücklich endet.

Die Trauung fand im Garten meiner Großmutter am Meer statt, an einem strahlenden Morgen, Anfang Juli in Hubbard’s Point. Die Taglilien standen in voller Blüte. Daran erinnere ich mich fast genauso lebhaft wie an die Rosen: orange- und cremefarbene, zitronengelbe und goldene Taglilien auf hohen grünen Stengeln, die sich im Sommerwind wiegten, ihre Lebensfreude in den ungezügelten blauen Himmel hinausposaunend. Doch die Rosen waren das Steckenpferd meiner Großmutter, ihr ganzer Stolz und ihre große Freude, und in jenem Jahr blühten sie allesamt, eigens für meine Hochzeit.

Die Scarlet-Dublin-Bay-Rosen rankten sich an dem Spalier neben der vorderen Eingangtür des Cottage mit seinem verwitterten Schindeldach empor, während sich Garnets-and-Golds und blassrosa New Dawns am gemauerten Schornstein hinaufwanden. In den Beeten neben der eisernen Gartenbank prangten die roten, gelben, pfirsich- und rosa-
farbenen klassischen englischen Sorten, während an der Steinmauer unweit des alten Wunschbrunnens und neben der Treppe, die zur höher gelegenen Straße führte, niedrige Büsche mit weißen und cremefarbenen Rosen wuchsen. Eine sechs Fuß hohe Rosa-Rugosa-Hecke – weiße und rosa Strandrosen – säumten den Deich, zusammen mit dunkelblauem Rittersporn und Hortensien.

Es war eine perfekte Kulisse für eine perfekte Hochzeit – etwas, wovon die meisten Leute, ich selbst eingeschlossen, nicht einmal zu träumen wagten. Ich glaube, dass ich damals dachte, nicht der Typ zum Heiraten zu sein. Man könnte auch einfach sagen, dass ich ein zurückhaltender Mensch war. Ich hatte meine Eltern schon früh verloren. Als Kind liebte ich meine Familie über alles. Ich weiß, wie dramatisch das klingt, aber es ist wahr. Wir waren glücklich, und meine Eltern liebten sich auf eine unbändige, maßlose und hingebungsvolle Art. Ich hatte gesehen, wie liebevoll sie miteinander umgingen, hatte dieses Bild verinnerlicht und schon damals als Vierjährige beschlossen, dass ich mich niemals mit weniger zufrieden geben würde. Als die beiden während einer Seereise nach Irland bei einem Fährunglück ums Leben kamen, hatte ich das Gefühl, als sei ein Teil von mir mit ihnen gestorben, obwohl ich mich zu dem Zeitpunkt bei meiner Großmutter in Connecticut aufhielt.

Meine Hochzeit und alles, was ihr vorausging – Edward Hunter zu begegnen und mich unsterblich in ihn zu verlieben, auf Wolken zu schweben, wie ich es nie erwartet oder für möglich gehalten hätte –, kam also einem Wunder oder einer Art Auferstehung gleich. Ein kleines Mädchen, wiederauferstanden von den Toten, vom Grund der Irischen See, in die es vor siebenundzwanzig Jahren mit den Eltern entschwunden war.

Edward. Seine Gefühlsäußerungen, seine Umarmung, seine Gegenwart – all das besaß die Intensität einer voll aufgedrehten Sturmlaterne. Er schien mich so zu lieben, wie ich war, mit all meinen guten und schlechten Seiten, und wollte mich am liebsten nicht eine Minute aus den Augen lassen. Als Einzelgängerin und mutterlos aufgewachsenes Kind erlebte ich diese Nähe wie im Rausch.

Er maß kaum mehr als einen Meter vierundsiebzig, aber mit meinen eigenen gerade einmal einssechsundfünfzig kam er mir groß vor; ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um ihn zu küssen. Als ehemaliger Rugbyspieler in Harvard war er breitschultrig und muskulös. Sein roter Saab trug drei Aufkleber: einen von der Harvard University, einen von der Columbia Business School, und ein weiterer prangte auf der Stoßstange, mit dem Spruch ›Rugby Players Eat Their Dead‹. Der Witz war: Edward war lammfromm, und ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass er eine derart rauhe Sportart ausübte, geschweige denn, dass er sich seine Gegner einverleibte.

Wenn ich an unseren Hochzeitstag zurückdenke, sehe ich seinen roten Wagen wieder vor mir: Er stand auf der Straße, oben an der Steintreppe hinter dem von Rosen und Efeu überwucherten Wunschbrunnen. Der Brunnen wurde von einem anmutigen Eisenbogen überspannt, auf dem ›Sea Garden‹ zu lesen war, der Name des Anwesens meiner Großmutter. Der schmiedeeiserne Schriftzug war noch zu Lebzeiten meines Urgroßvaters angebracht worden – die schwarzen Lettern begannen schon damals, wie vor neun Jahren, in der salzhaltigen Luft zu rosten. Ich erinnere mich noch gut an diesen Augenblick: wie ich im Garten meiner Großmutter stand und daran dachte, dass ich bald in Edwards roten Flitzer einsteigen und mit ihm davonbrausen würde – dass ich seine Frau sein und mit ihm in die Flitterwochen fahren würde.

Hatte ich den Eisenbogen und die rostenden Buchstaben schon damals als versteckte Mahnung betrachtet, dass sogar die schönsten Dinge im Leben, von denen man hofft, dass sie ewig währen, ein Ende haben oder zerstört werden können? Ich glaube nicht. Aber ich erinnere mich, dass ich bei ihrem Anblick zum ersten Mal an jenem Tag einen kalten Schauder verspürte.

Meine Großmutter und Clara Littlefield – ihre Nachbarin, die Tür an Tür mit ihr wohnte, und allerbeste Freundin seit Kindertagen – hatten sich selbst übertroffen, um mir eine Traumhochzeit zu bereiten. Ein gelbweiß gestreiftes Zelt stand im Garten zwischen den beiden Häusern, genau auf dem höchsten Punkt des Kaps von Hubbard’s Point, das stolz in den Long Island Sound hineinragt. Tische mit langen cremefarbenen Tischdecken waren verstreut aufgestellt worden, festlich geschmückt mit Blumen aus dem Garten. Ein Streichquartett der Hartt School of Music von Hartford spielte Vivaldi. Meine Freundinnen waren in ihrem sommerlichen Sonntagsstaat erschienen – bunte Sonnenkleider, Strohhüte, blaue Blazer.

Granny stand vor mir, sah mir in die Augen. Wir waren gleich groß und lachten, weil wir beide so glücklich waren. Ich trug ein weißes Brautkleid und sie eine blassgelbe Robe aus Chiffon. Mein Schleier wehte in der Meeresbrise; der Brautstrauß bestand aus weißen Rosen, cremeweißen Hortensien und Efeu vom Wunschbrunnen. Granny hatte einen gelben Strohhut mit einem Band aus blauen Blumen aufgesetzt.

»Wie schade, dass Edwards Familie nicht dabei sein kann«, sagte sie, als wir neben dem Wunschbrunnen standen, bereit, mit dem Einzug der Braut zu beginnen.

»Finde ich auch. Aber er versucht, das Beste daraus zu machen.«

»Na gut. Solche Dinge passieren eben … ich bin sicher, du wirst sie bald kennenlernen. Eines ist gewiss, Mara: Deine Eltern sind heute bei dir.«

»Granny, bring mich nicht zum Weinen.«

»Keine Bange.« Meine Großmutter straffte entschlossen die Schultern. »Wir beide bleiben stark, wenn ich dich deinem Bräutigam übergebe, oder ich will nicht Maeve Jameson heißen.«

»Meine Eltern wären stolz auf dich.« Ich wusste, dass meine Großmutter in gleichem Maß an sie dachte, wie ich versuchte, jeden wehmütigen Gedanken an sie zu verdrängen – und ich sah sie mit einem breiten Lächeln an, um zu beweisen, dass ich nicht in Tränen ausbrechen würde.

»Stolz auf uns beide«, widersprach sie und hakte sich bei mir ein, als das Quartett Bach anstimmte.

So viel Zeit ist inzwischen vergangen, doch bestimmte Erinnerungen sind immer noch klar und gestochen scharf. Der Druck von Großmutters Hand auf meiner, ruhig und beharrlich, als wir über den Rasen gingen; meine Strandfreundinnen Bay und Tara, die mich mit einem strahlenden Lächeln ansahen; der Duft der Rosen und der salzigen Luft; Edwards kurze dunkle Haare, sein goldbrauner Teint, der sich von dem blassblauen Hemd und dem weizenfarbenen Leinenblazer abhob; sein staunender Blick.

Ich weiß noch, wie ich dachte, dass er Augen machte wie ein kleiner Junge. Haselnussbraune Augen. Er hatte den ganzen Morgen bei den Vorbereitungen geholfen, hatte angeordnet, wo die Tische aufgestellt werden und wo das Quartett seinen Platz haben sollte. Es war seltsam, einem Mann das Kommando zu überlassen, hier, auf diesem Kap der starken Frauen. Granny und ich hatten einen belustigten Blick getauscht – und ihn gewähren lassen. Und nun stand er da, an unserem provisorischen Altar im Seitengarten, und sah aus wie ein kleiner, von Gott und der Welt verlassener Junge, als ich auf ihn zu ging. Aber dann bemerkte ich diesen Blick – leer, und dennoch irgendwie alarmiert, er ließ mich zögern, und ich klammerte mich an die Hand meiner Großmutter.

Ja, ich erinnere mich an diesen starren Blick, an den Ausdruck in seinen haselnussbraunen Augen. Es war Angst – mein Verlobter hatte Angst, als er unter dem gestreiften Zelt stand und mich näher kommen sah. Die Jahre sind vergangen und haben mich alles über seine Ängste gelehrt, aber kehren wir zum Tag meiner Hochzeit zurück und tun so, als wüssten wir nichts von alledem. Gedanken und Gefühle kamen und gingen im schnellen Wechsel. Halt, die Reihenfolge stimmt nicht. Als Erstes kamen die Gefühle und dann die Gedanken.

Mir war innerlich kalt – das gleiche instinktive Schaudern, das ich empfunden hatte, als mein Blick auf sein Auto und den vom Salz zerfressenen, rostigen Metallbogen fiel. Aber ich verscheuchte dieses unerwünschte, ungute Schaudern mit dem Gedanken: Edward, Liebling, Edward! Du musst keine Angst haben … mach dir keine Sorgen, dass wir uns zu früh zu diesem Schritt entschlossen haben könnten oder weil meine Großmutter an dir zweifelt. Ich liebe dich … ich liebe dich.

Ich liebe dich.

Worte, die ich bis zu diesem Zeitpunkt selten benutzt hatte – doch seit der Begegnung mit Edward waren sie mir geläufig. Der Mara Jameson von früher, verschlossen und auf der Hut, wären sie nie über die Lippen gekommen; die neue Mara Jameson konnte sie dagegen nicht oft genug wiederholen.

Hier war mein Zuhause, mein Garten, meine Familie und meine Freunde – Edward war weit von allem entfernt, was ihm lieb und vertraut war. Seine Familie hatte nicht kommen können. Diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, als meine Großmutter meine Hand in seine legte und ihm zuflüsterte: »Gib gut auf sie acht, Edward.« Edward nickte, doch der Ausdruck in seinen Augen verschwand nicht.

Eine kurze Anmerkung für mich selbst und an die Bräute in aller Welt: Wenn du vor dem Traualtar stehst, kurz davor bist, das Jawort zu geben, und nur noch überlegst, warum der künftige Ehemann einer Panik nahe zu sein scheint, ist das ein Warnzeichen, dem du unbedingt Aufmerksamkeit schenken solltest.

Die Trauung nahm ihren Lauf. Worte und Musik, das ist mir in Erinnerung geblieben. Was für eine Bedeutung hatten sie letztlich? Schwer zu sagen, und noch schwerer, nicht zynisch zu sein. Die Zeremonie kaschiert eine grundlegende Wahrheit: Die Ehe ist ein Vertrag. Lassen wir die Romantik mal beiseite. In erster Linie ist die Ehe ein rechtskräftiger, verbindlicher Vertrag zwischen zwei Menschen, die eine Partnerschaft eingehen, ihre jeweilige Habe in eine Gütergemeinschaft einbringen und einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, Kraft einer Macht, die niemand Geringeres als der Staat bekleidet.

Wenn ich an Edwards Blick zurückdenke, hatte er vermutlich Angst, dass ich im letzten Augenblick abspringen könnte, bevor das Geschäft unter Dach und Fach war, beurkundet durch meine Unterschrift auf der gepunkteten Linie. Was wäre geschehen, wenn ich nicht unterzeichnet hätte? Wenn ich auf meine leise innere Stimme gehört und den Schauder als eine Warnung erkannt hätte, die es wert war, beachtet zu werden?

Aber ich war taub für solche Einflüsterungen. Ich schob meine intuitiven Empfindungen beiseite und glaubte den Verheißungen der Sommerluft: Liebe, Hoffnung, Treue, Entschlossenheit. Ich hielt Edwards Hand. Sagte »Ja, ich will«, und er sagte »Ja«. Dann küsste er die Braut. Die Hochzeitsgäste ließen uns hochleben und meine Freundinnen weinten und lachten zugleich. Sie freuten sich unbändig mit mir.

Nun waren wir Mann und Frau. Ein herrlicher Hochzeitstag im Sommer, mit strahlend blauem Himmel und einem Funkeln auf dem spiegelglatten Meer, Bach, gefolgt von Mozart, das Rascheln der Blätter im Wind – alles war so perfekt, so spektakulär, schien von einem wundervollen gemeinsamen Leben zu künden.

Ich wandte mich ihm zu und sah ihn an. Meine Augen waren feucht und meine Stimme erstickt von den unbändigen Gefühlen, die mich überkamen. »Edward«, flüsterte ich, hingerissen von all meinen Hoffnungen, Träumen und den Möglichkeiten unserer gemeinsamen Zukunft. Er starrte mich an – die Angst in seinen Augen war wie weggeblasen, hatte einer anderen Empfindung Platz gemacht. Es war das erste Mal, dass ich sah, wie … Nun, ich möchte den Ereignissen nicht vorgreifen. Ich kann nur sagen, dass ich ein Gefühl hatte, als drohte mir die Erde unter den Füßen – die dünne Grasschicht auf dem Granitriff – zu entgleiten.

Er berührte die Blumen in meinem Brautstrauß. »Du bist so zart, Mara«, sagte er. »Wie eine weiße Rose. Und weiße Rosen sind besonders verletzlich. War es das, was deine Großmutter meinte, als sie sagte, ich solle gut auf dich achtgeben?«

Seine Worte verschlugen mir den Atem. Deuteten sie nicht auf Zärtlichkeit hin? Auf tiefe, wahrhaftige Gefühle, Fürsorglichkeit und Verständnis? Ich finde schon. Er konnte sehr zärtlich sein, das will ich gar nicht leugnen. Aber diese Worte lassen sich auch als versteckte Drohung auffassen, und das waren sie, wie ich heute weiß.

Allem Anschein nach hatte sich seine ganze Aufmerksamkeit auf Grannys sanften Hinweis konzentriert – nach meiner Auffassung eine spontane Bemerkung von einer Großmutter, die ihm die Braut zugeführt hatte und sie behütet wissen wollte. Hatte Edward überhaupt etwas von der Zeremonie mitbekommen? War er mit seinen Gedanken dabei gewesen? Seine haselnussbraunen Augen funkelten, als er Grannys Worte wiederholte.

Vor kurzem träumte ich von einer Frau, die verschleiert durchs Leben ging. Schwarz, grau, weiß, silbern, schiefergrau, dunkelblau – Schleier in mehreren Schichten, die ihr Gesicht verhüllten. Einer über dem anderen. Die Frau verbrachte ihre Tage im Dunkeln, selbst wenn die Sonne schien. Eine Existenz im Verborgenen. Der Blick nach draußen ebenso eingeschränkt wie der Blick hinein. Die Frage war: Wer hatte sie in diese Schleier gehüllt? Hatte sie es selbst getan? In meinem Traum legte sie einen nach dem anderen ab – und ganz zuunterst, an letzter Stelle oder an erster, kam ein weißer Brautschleier zum Vorschein. Diese Schleier waren mir in meinem Leben gewaltsam heruntergerissen worden. Obwohl ich sie unbedingt behalten wollte – unvorstellbar, wie sehr ich sie damals brauchte.

Frauen lernen, die Schattenseiten ihres Lebens zu verbergen. Wir lieben die Sonnenseite und zeigen allen, wie gut es uns geht. Unsere Errungenschaften, unsere berufliche Laufbahn, unsere Auszeichnungen, unser Haus, unseren Garten, unsere glückliche Ehe, unsere hübschen Kinder. Wir lernen durch stillschweigende Übereinkunft, den Blick abzuwenden und zu verbergen, was nicht in dieses harmonische Bild passt – die Verletzungen, die seelische Zerstörung, die Dunkelheit, das Monster im Schrank und die Unheil verkündende Düsterkeit in den Augen des frisch angetrauten Ehemannes.

Doch für manche Frauen kommt ein Zeitpunkt im Leben, an dem das Monster in Erscheinung tritt und nicht mehr in den Schrank zurückkehrt. So war es bei mir. Nach und nach begann Edward, sein wahres Gesicht zu offenbaren. Meine Großmutter hatte es als Erste erkannt. Nur sehr weisen Menschen gelingt es, nicht den Stab über eine Frau zu brechen, die an einer solchen Beziehung festhält. Ein Urteil ist leicht gefällt: schwarzweiß gefärbt und mit voller Wucht ausgesprochen, wie der Hammerschlag eines Auktionators. Es verhindert gleichwohl, sich unbequeme Fragen zu stellen: Was kann ich persönlich tun, um zu helfen? Könnte mir das Gleiche passieren?

Meine Großmutter fällte kein Urteil. Sie versuchte zu verstehen – und wenn jemand Verständnis hatte, dann sie, die Frau, die mich in ihrem von Rosen überwucherten Cottage am Long Island Sound großgezogen hatte. Eine Frau, deren Geduld ausreichte, dem steinigen Boden von Connecticut rote, rosa, pfirsichfarbene, gelbe und weiße Rosen abzutrotzen; die ihre Enkeltochter nach dem Verlust der Eltern ins Leben zurückholte; die genug Ausdauer aufbrachte, um das Lügengewebe zu durchschauen, hinter die Schleier zu blicken und bereit war zu helfen, wirklich zu helfen, statt ein Urteil zu fällen.

Die Leute fragten: »Wieso hast du es so lange bei ihm ausgehalten?« Die ehrliche Antwort lautet, dass ich unter Schleiern lebte. Doch die Antwort, die ich gab, lautete: »Ich habe ihn geliebt.« In gewisser Weise entsprach auch diese Antwort der Wahrheit. Meine Großmutter verstand das.

Es war nicht wirklich Liebe. Das wusste ich lange Zeit nicht. Wahre Liebe ist wie ein Bumerang – wird sie erwidert, kommt sie zu dir zurück. Bei Edward war Liebe ein Fass ohne Boden. Sie verzehrte mich beinahe, nahm mir alles, was ich hatte und mehr – bis meine Welt und ich mit ihr zusammenbrach.

Nun habe ich Liam und kenne den Unterschied. Und ich habe meine Tochter Rose. An dem Tag, als sie geboren wurde, vor neun Jahren, war ich auf der Flucht. Ich hatte mein Zuhause, meine Großmutter und meine geliebte Küste von Connecticut zurückgelassen, wo ich geboren und aufgewachsen war, um Edward zu entkommen und wenigstens die Trümmer meines Lebens zu retten. Der Wahlspruch des Staates Connecticut lautet ›Qui Transtulit Sustinet‹ – derjenige, der anderswo einen neuen Anfang wagt, gedeiht.

Lassen wir es dabei bewenden, dass die Gründerväter dabei mehr die männlichen Mitglieder der Gesellschaft im Auge hatten. Vielleicht wussten sie, dass Frauen, die anderswo einen neuen Anfang wagen, zunächst einmal Wurzeln fassen müssen, um zu gedeihen – zumindest mir ist es so ergangen.

Ich verließ mein Zuhause, schwanger mit Rose und am Boden zerstört. Aber Rose erweckte die Liebe in mir zu neuem Leben. Mit Hilfe von Rose und Liam gelang es mir, wieder zu mir selbst zu finden. Und dank meiner Großmutter, auch wenn sie nicht bei mir sein konnte. Sie war in meinem Herzen, leitete mich Tag für Tag, als ich untertauchen musste, in einem fremden Land, weit weg von zu Hause.

Meine Großmutter ließ mich gehen. Sie brachte das ultimative Opfer – sie gab mir und Rose, ihrer Urenkelin, die Chance und die Mittel, Edward zu entkommen, erwies sich als Kraftquelle für eine emotional gebrochene Frau. Doch dieser Verzicht kostete sie so viel, dass ich nicht weiß, ob sie überleben wird.

Mein Name lautet nun Lily Malone. Das war der Deckname, den ich auf der Flucht benutzte, und er ist mir geblieben. Ich habe beschlossen, ihn zu behalten. ›Lily‹ steht für die orangefarbenen und gelben Taglilien an der Steinmauer im Meergarten meiner Großmutter, deren lange schlanke Stengel sich in der salzigen Meeresbrise hin und her wiegen. Und Malone wegen des irischen Volksliedes, das sie mir vorzusingen pflegte, als ich klein war:

In Dublin's fair city, where girls are so pretty,

I once laid my eyes on sweet Molly Malone …

Die Verse schienen voller Leben, versprachen Romantik und unverhoffte Liebe. Ich wählte den Namen Malone wegen dieses Liedes, das mir meine Großmutter vorsang, als ich ein Kind war und nicht einschlafen konnte, aber es gibt noch einen anderen Grund. Der Name hilft mir, wachsam zu bleiben – er erinnert mich daran, dass es auch in meinem Leben einen Mann gegeben hatte, der mich mit Begehren betrachtet hatte. Und wie Molly Mallone war auch ich eine Frau, die hart zu arbeiten verstand. Das gefiel ihm an mir. Das gefiel ihm sehr.

Ich würde meiner Großmutter gerne den Namen meiner Wahl erklären. Ich würde alles darum geben, sie wieder zu sehen. Und ihr Liam vorzustellen – und Rose, vor allem Rose.

Doch es gab einen anderen Grund, nach neun Jahren Exil nach Hause zurückzukehren: Ich muss versuchen, meine Großmutter ins Leben zurückzuholen und zu retten, so wie sie mich einst gerettet hat. Ihretwegen will ich mich erinnern. Ich werde mir jede noch so schmerzliche Einzelheit vergegenwärtigen, um mir vor Augen zu führen, was sie für mich getan hat – für die Frau, die ich war, und die Frau, die ich heute bin.

Diese Geschichte ist ein Gebet für sie, für Maeve Jameson.

Sie beginnt vor dreizehn Jahren, vier Jahre nachdem ich Hubbard’s Point verließ, um mich an dem entlegensten Fleckchen Erde zu verstecken – damals, als ich noch Mara war. Eine Rose, so zart und so verletzlich.

1

Wie kehrt ein Mensch in ein Leben zurück, das er vor neun Jahren verlassen hat? Eine Frau, die weiß, dass unerbittlich nach ihr gefahndet wurde, dass ihr Bild auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen in Connecticut und darüber hinaus erschienen war? Dass jede noch so kleine Polizeistation bis heute nach ihrer Leiche Ausschau hält? Die, mit einer Ausnahme, von allen Bekannten und Verwandten für tot gehalten wurde?

Die Antwort lautet, dass sie es einfach für jedermann sichtbar durch die Vordertür betritt.

Genau das tat Lily Malone in den frühen Morgenstunden des neunten August. Kurz nach eins in der Nacht parkte Liam seinen Pick-up an der Wendestelle von Hubbard’s Point, nahm Rose auf den Arm – die nach der langen Fahrt von Nova Scotia fest schlief – und folgte Lily die Steintreppe hinab.

Lily warf einen raschen Blick auf den Bogen über dem Wunschbrunnen – da stand der Name des Anwesens, ›Sea Garden‹, die Buchstaben noch ein wenig rostiger, noch ein wenig filigraner von der Salzluft als vor neun Jahren. Der Anblick versetzte ihr einen so tiefen Stich, dass sie laut aufseufzte. Sie war zu Hause, wirklich und wahrhaftig. Ein leichter Wind wehte vom Long Island Sound herüber – Salzwasser, wie am St.-Lorenz-Golf im maritimen Kanada, wo sie in den letzten neun Jahren untergetaucht war. Doch dieser Nachtwind war warm, sanft, angefüllt mit dem Duft von Sumpfgräsern und Sandstränden – eine Landschaft, die ganz anders war als die arktischen Klippen des Fjords mit seinem kalten, klaren Wasser, das vom Packeis hinabrann.

»Meine Güte«, sagte sie aufgeregt und hellwach angesichts der Tatsache, dass sie schließlich doch noch heimgekehrt war. Die Rosen hießen sie willkommen – ihr Duft erfüllte die Luft, und obwohl die Kletterrosen am Rankspalier neben der vorderen Eingangstür ein wenig vernachlässigter wirkten als vor neun Jahren, sahen sie immer noch üppig und prachtvoll aus.

Lily streckte die Hand nach oben, zwischen die Dornen, tastete unter der Schindel neben der dunklen Verandabeleuchtung, und richtig, da lag er – der Schlüssel, den ihre Großmutter dort zu verstecken pflegte, bewacht vom dichten Blattwerk der Rosen und Dornen. »Er liegt immer noch an derselben Stelle«, flüsterte sie.

»Natürlich«, sagte Liam, der mit Rose hinter ihr stand, dicht an ihrem Ohr. »Sie hat die Hoffnung nie aufgegeben, dass du zurückkommst.«

»Maeve wird auch bald wieder zu Hause sein.« Lily öffnete die quietschende Fliegengittertür und hielt sie mit der Schulter offen, während sie den Schlüssel ungeschickt in das rostige, alte Schlüsselloch der Eingangstür schob. »Oder? Sag mir, dass sie wieder gesund wird –«

»Das wird sie, Lily«, bestätigte Liam.

Lily spürte, wie sich der Schlüssel drehte. Genau wie vor neun Jahren schleifte die Tür noch immer beim Öffnen über den Boden, weil sie ein wenig schief in den Angeln hing. Sie betrat die Küche … roch die dumpfe Feuchtigkeit der Strandhäuser, sie sich in Abwesenheit der Besitzer ausbreitete. Trotzdem hatte irgendjemand – offenbar Clara – ein paar Fenster im Haus geöffnet. Lily wanderte durch das Erdgeschoss wie ein Geist, der immer wieder an sein geliebtes und vertrautes Fleckchen Erde zurückkehrt.

Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »Es ist alles noch genauso wie früher«, flüsterte sie. Der Mond war über dem Sund aufgegangen, warf seinen schimmernden hellen Schein auf das stille Wasser, während sein blasses Licht den Raum durchflutete. Lily sah die vertrauten Schonbezüge, Flickenteppiche und Kissen, die sie für ihre Großmutter bestickt hatte. Sie ließ ihre Finger über ihre alte Muschelsammlung, über die Bücher im Regal und die Mondsteine gleiten, die sie bei Ebbe am Little Beach aufgelesen hatte.

Sie nahm alles in sich auf, brachte es aber noch nicht fertig, das Licht einzuschalten. Wenn sie Licht machte, würde sie gezwungen sein, sich der Realität zu stellen. ›Realität‹ bedeutete, hier zu sein, zurück aus dem Exil, zurück in der Welt der Lebenden. Nachbarn würden das Licht entdecken und herüberkommen. Und bald würden alle wissen, dass sie zurückgekehrt war.

Auch Edward.

»Wo soll Rose schlafen?«, fragte Liam.

»In meinem Zimmer«, flüsterte Lily. Sie ging voraus, die enge Treppe hinauf. Im ersten Stock befanden sich vier kleine Schlafräume – typisch für die meisten Strandhäuser, was die Größe und Atmosphäre betraf. Lilys Herz klopfte, als sie ihr ehemaliges Mädchenzimmer betrat. Der Raum hatte Dachschrägen unter den Traufen an der Nordseite des Hauses, enthielt ein Doppelbett und einen Schreibtisch mit ihren alten Betsy-McCall-Papierpuppen. Sie unterdrückte ein Schluchzen, als sie die Tagesdecke zurückschlug und die mit kleinen blauen Rosensträußen bedruckten Laken und eine sommerlich leichte rosa Decke sah. Sie bückte sich und schnupperte daran – es roch frisch.

»Meine Großmutter hat geahnt, dass wir kommen«, sagte sie. »Sie hat das Bett für Rose bezogen, bevor sie ins Krankenhaus musste.«

Gemeinsam brachten sie Rose ins Bett. Das kleine Mädchen regte sich, schlug die Augen auf und blickte sich verschlafen im Raum um. »Sind wir da?«, fragte sie.

»Ja, mein Schatz. Du kannst dir morgen früh alles anschauen. Gute Nacht.«

»Nacht«, murmelte Rose, ihre Lider flatterten und fielen zu.

Lily und Liam gingen wieder nach unten. Mondlicht tanzte auf dem Wasser vor dem Haus. Lily hatte von diesem Raum aus durch die breiten vorhanglosen Fenster, die auf die Felsen und das Meer hinausgingen, ungezählte Male den Mond aufgehen sehen. Hier schien alles so offen im Vergleich zu der von Kiefern gesäumten Blockhütte, die sie auf Cape Hawk, Nova Scotia, bewohnt hatte – verborgen in einem Wald im hohen Norden, bewacht von Falken und Eulen.

Liam war einer der ersten Menschen gewesen, der ihr begegnet war, als sie in der fernen, unbekannten kleinen Stadt eintraf – unkenntlich mit ihren kurz geschnittenen, ehemals langen schwarzen Haare, die nun hellbraun gefärbt waren, und der alten Hornbrille ihrer Großmutter. Er hatte sich als Freund und Retter erwiesen, obwohl sie ihn bei jedem Schritt ihres gemeinsamen Weges zurückgewiesen hatte. Ihr war keine andere Wahl geblieben, um sich selbst und ihr ungeborenes Kind zu schützen.

Lilys erste Woche in Nova Scotia erinnerte an ein schauriges Märchen, mit allem, was dazugehörte: Eine Blockhütte tief in den Wäldern des hohen Nordens, die Kopfprämie, von Edward als Belohnung für sachdienliche Hinweise auf ihren Verbleib ausgesetzt, und die Anwesenheit des ebenso grimmigen wie fürsorglichen Liam – der ihr bei der Niederkunft beigestanden, das Baby auf dem Küchenfußboden auf die Welt geholt und geschworen hatte, Mutter und Kind bis in alle Ewigkeit zu beschützen. Und sein Beistand war oft erforderlich gewesen: Mit einer komplexen Herzerkrankung geboren, hatte Rose erst zu Beginn dieses Sommers ihre letzte Operationsrunde hinter sich gebracht.

Mutter und Kind, beide mit einem Herzleiden, dachte Lily, während sie den Mond im Sund betrachtete. Sie hatte den Arm um Liam gelegt und seiner umfing sie. Die Schreie der Seemöwen wehten von ihrem Brutplatz auf den Felseninseln, die sich eine halbe Meile entfernt auf der anderen Seite der Meerenge befanden, zu ihnen herüber. Lily spürte, wie sie in ihrem Herzen nachhallten, und dachte an das bevorstehende Ceili-Festival auf Cape Hawk, das alljährlich stattfand; die traditionelle irische Musik war genauso eindringlich und klagend wie die Schreie der Möwen.

Sie blickte Liam an – hochgewachsen und schlank, die blauen Augen überschattet von seinem eigenen persönlichen Kummer. Der Hai, dem sein Bruder zum Opfer gefallen war, hatte Liam den Arm abgerissen – und ihm den Spitznamen ›Captain Hook‹ eingetragen, ein Relikt aus seiner Kindheit, das ihn sowohl zum Objekt des Spotts als auch zu einer tragischen Gestalt in seinem kleinen Heimatort machte. Liam war keines von beiden; er bahnte sich mit Brachialgewalt den Weg durch Universität und Graduiertenstudium, wurde ein weithin anerkannter Meeresforscher und Ichthyologe – spezialisiert auf die großen weißen Haie, die Spezies, die seine Familie auseinandergerissen und seinen eigenen Körper zerfetzt hatte.

Lily war sich nicht sicher, was sie letztlich zusammengeführt hatte. Oder ob das überhaupt eine Rolle spielte. Ihre Wege hatten sich in der kleinen Stadt im hohen Norden gekreuzt. Weit fort von zu Hause, hatte sie eine Ersatzfamilie gefunden. Anne, Marisa, Marlena … ihre Freundinnen und Mitstreiterinnen im Stickclub, die Nanouk-Mädels aus dem eisigen Norden, die wie Schwestern waren. Und Liam. Er war bei Roses Geburt zugegen und auch danach immer zur Stelle gewesen, wenn sie ihn brauchte. Diese neun Jahre auf Cape Hawk hatten ihr mehr Kraft gegeben, als sie sich jemals erträumt hätte.

Die Krankheit ihrer Großmutter hatte sie nach Hubbard’s Point zurückgeführt. Patrick Murphy, der die polizeilichen Ermittlungen geleitet und die Fahndung nach der spurlos verschwundenen Lily in Gang gesetzt hatte, war es schließlich doch noch gelungen, sie auf Cape Hawk aufzuspüren. Durch ihn erfuhr sie von Maeves Zustand, und in dem Augenblick hatte sie alle Bedenken über Bord geworfen. Sie wusste, was sie zu tun hatte.

Sie war nach Hause zurückgekehrt.

»Ich bin wirklich hier«, sagte sie, an Liam geschmiegt.

»Bist du für das gewappnet, was dich morgen erwartet?«

»Mir bleibt keine andere Wahl. Meine Großmutter braucht mich.«

»Ich weiß.« Seine Stimme war tief und ruhig. Er berührte zärtlich ihr Haar, und ihre Haut begann zu prickeln. Es war für beide neu, ihre Gefühle so offen zu zeigen. War es wirklich erst wenige Wochen her, dass sie sich zum ersten Mal geküsst hatten? Sie hatte Rose geliebt, seit sie auf der Welt war, und nun hatte dieser Mann einen wichtigen Platz in ihrem Leben eingenommen – sie waren zusammen, wie eine richtige Familie.

»Ich will nicht, dass Rose ihm begegnet«, erklärte Lily, und sie musste nicht einmal seinen Namen aussprechen.

»Ich bringe sie weg von hier, falls du einverstanden bist. In ein sicheres Versteck. Nur du wirst wissen, wo wir sind.«

Lilys Herz drohte auszusetzen, wie ein Stein, der übers Wasser hüpft. Was wäre, wenn ihm das gelänge? Wenn sie Rose für immer vor Edward verstecken könnte?

»In Kanada habe ich mich so stark gefühlt«, gestand sie. »Ich hatte die Situation völlig unter Kontrolle, Roses Sicherheit eingeschlossen. Was ist, wenn er versucht, sie ausfindig zu machen, jetzt, wo wir wieder in den Staaten sind? Für ihn ist sie nur ein Mittel zum Zweck, um sich an mir zu rächen. Und ich bin ein Mittel zum Zweck, um sich an ihr zu rächen.«

Sie lehnte sich an seine starke Brust, während sein Arm sie von hinten umfing. Sie wiegten sich gemeinsam hin und her, betrachteten den silbernen Pfad des Mondes auf dem Wasser.

»Ich finde, du solltest trotz alledem zu deiner Großmutter gehen. Aber lass mich Rose irgendwohin bringen, wo er nicht an sie herankommt.«

»Wir könnten Patrick um Hilfe bitten«, schlug Lily vor.

»Könnten wir. Aber ich habe einen alten Freund an der University of Rhode Island. Dozent für Ozeanographie an der Graduate School. Er hat ein Haus unweit Scarborough Beach, in der Narragansett Bay. Er würde uns sicher aufnehmen. Es ist nicht weit von hier.«

»Rose war noch nie von mir getrennt.« Lilys Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Außer, wenn sie in die Klinik musste.«

»Du tust es für sie. Um sie von Edward fernzuhalten, bis du weißt, was von ihm zu erwarten ist.«

»Sie würde gerne bei dir sein«, murmelte Lily. Rose liebte Liam über alle Maßen. An ihrem neunten Geburtstag, vor knapp einem Monat, hatte sie zwei Wünsche geäußert: Nanny zu sehen, den legendären weißen Wal von Cape Hawk, und einen Vater wie Liam zu haben. »Wie viel soll ich Rose erzählen?«

»So viel, wie sie deiner Ansicht nach verkraften kann.«

Wie sollte sie auch nur annähernd ermessen, wie viel das war? Rose hatte gerade einen Eingriff am offenen Herzen hinter sich. Sie erholte sich von der hoffentlich letzten Operation, die zur Beseitigung der Fallotschen Tetralogie erforderlich war, eines ›angeborenen Herzfehlers mit Vorhofseptumdefekt‹, wie es im Fachjargon hieß.

»Ich weiß nicht. Sie wird viele Fragen haben.«

»Alles wird gut, Lily.«

»Ist das ein Versprechen?« Lily lächelte. Er hatte beispielsweise gelobt, immer für Rose da zu sein, sie niemals im Stich zu lassen – das herzkranke Kind, das mit seiner Hilfe das Licht der Welt erblickt hatte.

»Ja, und bisher sind alle in Erfüllung gegangen, oder?«

»Bisher.« Sie drehte sich um und legte den Kopf in den Nacken, küsste ihn lange und leidenschaftlich, spürte, wie ihr Blut in Wallung geriet. Jede Berührung von Liam war ein Versprechen, besaß eine magische Anziehungskraft. Draußen brandeten die Wellen gegen die Felsen, und die Blätter raschelten im Wind. Lily schauderte, sehnte sich nach mehr.

»Die Antwort lautet also ›Ja‹?«

Lily schloss die Augen, unfähig, zu sprechen. Die Ereignisse hatten sich geradezu überstürzt – sie hatte von Maeves Zustand gehört, beschlossen, sich aus ihrem Versteck zu wagen und von Nova Scotia aus hierher zu fahren.

»Du musst dich nicht gleich entscheiden«, fuhr er fort. »Du brauchst Schlaf, Lily. Morgen früh wirst du klarer sehen.«

»Sobald die Sonne aufgeht, wird Clara deinen Pick-up bemerken«, sagte Lily. »Dann wird sie schnurstracks herüberkommen, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn sie Rose und dich entdeckt, ist es aus mit der Geheimniskrämerei. Aber keine Bange, sie kann uns nicht gefährlich werden – genau genommen freue ich mich sogar darauf, sie wieder zu sehen.«

»Ich weiß. Du denkst, es sei unfair, sie in etwas hineinzuziehen, was sie vielleicht nicht versteht. Komm, lass uns schlafen gehen – wir haben noch bis zum Morgengrauen Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.«

»Bis dahin sind es nur noch wenige Stunden.«

Hand in Hand gingen sie nach oben. Lily hatte immer noch kein Licht gemacht. Sie hatte sich noch nicht zu diesem bedeutsamen Schritt durchringen können. Es spielte ohnehin keine Rolle – auch in der Dunkelheit kannte sie das Haus in- und auswendig. Jeden Luftzug, jede knarrende Diele, jedes Möbelstück. Ihre Großmutter hatte in all den Jahren nichts verändert.

Hier in diesem Cottage, das ihr vertrauter war als jeder andere Ort auf der Welt, wartete Lily auf Antworten. Sie konnte nicht umhin, die Freude zur Kenntnis zu nehmen, die sie empfand – sie liebte die warme Brise, den Duft, den die Rosen ihrer Großmutter verströmten. Sie führte Liam in das größte Schlafzimmer an der Vorderseite des Hauses – ihre Großmutter hielt es immer für Gäste bereit –, mit Giebelfenstern in den Dachschrägen, die auf die mondbeschienene Bucht hinausgingen. Lily stieß die Fensterflügel so weit auf wie möglich.

Ein Windstoß ließ die zarten weißen Vorhänge flattern, kühlte Lilys erhitzte Haut. Das Tosen der Wellen, die im ewig gleichen Rhythmus gegen die Felsen unter ihnen brandeten, drang durch die Fenster. Lily ging in ihr altes Mädchenzimmer, um nach Rose zu sehen. Sie beugte sich zu ihr hinab, sah, wie sich die Brust ihrer Tochter hob und senkte. Roses Atemzüge glichen den Wellen – stetig und zuverlässig folgte einer dem anderen. Lily wusste, dass Rose bei Liam in guten Händen war, aber der Gedanke, sich von ihr zu trennen, wenn auch nur für kurze Zeit, erschien ihr unerträglich.

»Lily«, flüsterte Liam auf der Türschwelle hinter ihr, seine Hand auf ihrer Schulter. »Komm ins Bett.«

Lily schüttelte den Kopf. Sie stand wie angenagelt. Warum erfüllte ein so friedlicher Anblick sie mit solcher Angst? Rose schlief in Lilys Kinderbett; der Sommerwind wehte den Duft des Geißblatts und Hunderter roter, rosafarbener und weißer Rosen herüber. Sie erinnerte sich an die unheilvollen Worte: Weiße Rosen sind besonders verletzlich. Während sie ihre Tochter betrachtete, suchte sie sich mit der hart erkämpften Gewissheit zu beruhigen, dass Edward von Roses Existenz nichts ahnte.

Für Edward war Lily tot. Gestorben vor neun Jahren, im achten Monat schwanger. Lily spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg und schauderte. Ihr war, als hätten die Götter ihr gerade freies Geleit gegeben. Edward ahnte nichts von Rose …

»Ich bin einverstanden«, sagte sie, ohne sich umzudrehen, ohne den Blick vom Gesicht ihrer Tochter zu wenden, von den langen braunen Wimpern, die auf den zarten Wangen ruhten, dem leicht geöffneten Mund. Der linke Arm war am Ellenbogen angewinkelt, die Fingerspitzen ruhten am Hals, schützten die Narbe, die ihr von der Operation am offenen Herzen geblieben war. »Vielleicht ist es sicherer, wenn du mit ihr untertauchst.«

»Ich werde gut auf sie achtgeben«, flüsterte Liam.

Lily nickte. »Ich weiß. Das hast du immer getan.«

Sie kniete sich neben Roses Bett und betrachtete sie lange – eine Ewigkeit, wie es schien –, bis sich Rose seufzend umdrehte. Da Lily sie nicht aufwecken wollte, küsste sie ihre schlummernde Tochter auf den Scheitel und folgte Liam ins Schlafzimmer. Sie wusste, dass es nichts auf der Welt gab, was sie veranlassen könnte, Rose wegzuschicken, dass nichts sie zwingen könnte, diese schwere Entscheidung zu treffen – mit einer Ausnahme: das Bedürfnis, ihre Großmutter zu sehen, die Frau, die sie großgezogen hatte, und sich zu vergewissern, dass sie gesund werden würde.

Die einzige Ausnahme.

Sie schlug die weiße Tagesdecke aus Chenille zurück, kuschelte sich an Liam und schloss die Augen. Das Tosen der Wellen vermischte sich mit dem Heben und Senken von Liams Brust. Sie zählte die Wellen, spürte sein Herz schlagen. Draußen, vor dem offenen Fenster, schrien unentwegt die Möwen in ihrer Kolonie auf der Insel.

Lily starrte stumm den Mond an, der vor dem Fenster stand, während sie den Schreien der Möwen lauschte, mit Liams Atem an ihrem Hals. Sie zog seinen Arm enger um sich und betete, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Die Morgendämmerung brach wie ein Donnergrollen herein und Liam Neill wusste, dass nicht mehr viel Zeit blieb. Er musste Rose in Sicherheit bringen, so viel war gewiss, aber er wusste nicht, wie er es übers Herz bringen sollte, sich von Lily zu trennen. Er wollte nur eines: bei ihr bleiben, um sie zu beschützen.

Lily bereitete Kaffee und Hafergrütze zum Frühstück, dann wusch und kleidete sie Rose an. Der Himmel wechselte von einem dunklen Purpurrot zu Tiefblau, als die Sonne den Horizont im Osten krönte. Liam hatte viel von Hubbard’s Point gehört – es war für ihn beinahe ein mythischer Ort: Hier war Lily geboren, und hier hatte ihre geliebte Maeve preisgekrönte Rosen gezüchtet und ihre Enkelin zu einer schönen und starken Frau herangezogen. Liam trat auf die Veranda an der Seite des Hauses hinaus, den Kaffee in der Hand, und betrachtete das Riff aus Granitgestein, das zum Long Island Sound abfiel. Das Cottage stand fast auf dem höchsten Punkt des Kaps – dem höchsten Punkt von Hubbard’s Point, wie Lily ihm und Rose während der Fahrt von Cape Hawk hierher erzählt hatte.

Liams Blick schweifte über den Seitengarten zu einem ähnlichen Cottage – mit silbrig verwitterten Schindeln, Fensterläden und einer Eingangstür in Türkis und mit roten Geranien gefüllten weißen Blumenkästen –, als er gewahrte, wie jemand aus dem Fenster spähte.

Er wich zurück, an die Wand des Hauses gepresst, dann verschwand er im Inneren. Er betrat die Küche, wo Lily und Rose am Tisch saßen und sich unterhielten, und tippte Lily auf die Schulter.

»Mich hat gerade jemand gesehen«, sagte er. »Aus dem Nachbarhaus.«

»Das ist Clara. Sie steht immer im Morgengrauen auf, weil um diese Zeit der Hartford Courant geliefert wird.«

»Wir müssen los.«

»Ich verstehe das nicht«, warf Rose ein. »Wir sind doch gerade erst angekommen.«

Lily holte tief Luft. Liam wusste, wie sehr die Situation sie belastete, und strich ihr mitfühlend über das glänzende schwarze Haar. Sie sah Rose in die Augen.

»Liebes, Liam und du werdet für ein paar Tage anderswo wohnen. Nicht weit von hier – jedenfalls nicht zu weit –, und ich weiß jederzeit, wo du bist.«

»Warum kommst du nicht mit?«, fragte Rose.

»Ich muss mich um meine Großmutter kümmern.«

»Deine Granny?«

Lily nickte. »Ja. Du weißt, sie ist krank –«

»Deshalb sind wir von Cape Hawk hergekommen.«

Lily musterte Rose, als versuchte sie zu entscheiden, wie viel sie ihr sagen sollte. Liam stand am Seitenfenster und hielt Wache, er wusste, dass ihnen nicht mehr viel Zeit blieb.

»Das ist richtig«, sagte Lily. »Aber es gab einen Grund, warum ich von hier weggegangen bin, vor langer Zeit. Ich muss … ich muss noch einiges erledigen, bevor du zurückkommen kannst, aber dann werden wir uns nie mehr trennen.«

»Mommy.« Roses Stimme brach, einer Panik nahe.

»Rose, es wird nicht lange dauern.«

»Ich möchte aber, dass du mitkommst.«

»Ich komme zu euch, sobald es geht. Sehr bald, Rose – sobald alles geregelt ist. Es wird nicht lange dauern – das verspreche ich dir. Und in der Zwischenzeit bleibst du bei Liam.«

Rose zögerte. Sie sah immer noch verunsichert aus, aber sie blickte Liam an, Bestätigung suchend. Er lächelte sie beruhigend an und drückte ihre Hand. Sie streckte ihm die Arme entgegen, und er hob sie hoch. Er beugte sich zu Lily hinüber – ihre Blicke trafen sich, versanken ineinander.

»Gib gut auf sie acht.«

»Das verspreche ich dir. Als wäre sie mein eigen Fleisch und Blut.« Liam beugte sich vor, damit Lily Rose einen Abschiedskuss geben und er beide gleichzeitig umarmen konnte. Das Gepäck befand sich bereits im Pick-up. Lily hatte seine Handynummer und alle Informationen, über die er zusätzlich verfügte – Adressen und Telefonnummern von John Stanley, privat und von seinem Labor, nebst einer von Hand gezeichneten Wegbeschreibung zu seinem Haus in der Narragansett Bay.

»Auf Wiedersehen, mein Schatz«, verabschiedete sich Lily mit leiser Stimme und feuchten Augen.

»Wiedersehen, Mommy.«

»Ich ruf dich an«, versprach Liam.

Lily bedeutete ihm mit einer Geste, dass es an der Zeit war, aufzubrechen. Sein Blick schweifte ein letztes Mal über den Garten – über das dunkelgrüne Gras, nass vom Tau –, und wieder fielen im Cottage nebenan die Vorhänge. Mit Rose auf dem Arm, eilte er den Gehweg entlang und die Steintreppe empor, vorbei an dem von Rosen überwucherten Brunnen.

»Was ist denn das?«, fragte Rose.

»Ein Wunschbrunnen«, erwiderte Liam, als er die Tür des Pick-up öffnete und Rose auf ihrem Sitz anschnallte. Mit weit ausholenden Schritten ging er zur Fahrerseite hinüber, stieg ein und ließ den Motor an.

»Im Garten meiner Urgroßmutter?«, fragte Rose überrascht.

»Ja.« Liam legte gerade den Rückwärtsgang ein, als er sah, wie sich die Tür des Nachbarhauses öffnete und eine grauhaarige Frau den Gehweg entlangeilte.

»Ich wünsche mir, ich wünsche mir …«, flüsterte Rose.

Liams Herz klopfte zum Zerspringen, als er rückwärts in die Sackgasse fuhr. Das Dröhnen des Motors breitete sich zu beiden Seiten des Kaps aus, bis über das blaue Wasser, das die Landzunge umgab. Idyllische kleine Cottages thronten hoch droben auf den Felsbänken, die Gärten quollen über von Strandrosen und Wildblumen. Er konnte seine Augen nicht von Lily abwenden. Sie stand im Vorgarten, die Arme über der Brust verschränkt, unfähig, sich zu rühren.

»Und wer ist das?«, fragte Rose, die beobachtet hatte, dass die grauhaarige Frau plötzlich wie angewurzelt stehenblieb, aufschrie und auf ihre Mutter zulief.

»Das ist Clara«, sagte Liam, obwohl er ihr noch nicht persönlich begegnet war. »Du wirst sie irgendwann kennenlernen.«

»Hoffentlich.« Rose Stimme klang belegt. »Sie scheint sich zu freuen, Mommy zu sehen.«

»Und ob!« Und während Lily die Arme ausbreitete, um die älteste Freundin ihrer Großmutter zu begrüßen, legte Liam den Gang ein und fuhr los: in Richtung Rhode Island.

2

Das kann doch nicht wahr sein! Ich muss unter Halluzinationen leiden!«, rief Clara Littlefield und blieb einen halben Meter von Lily entfernt wie vom Donner gerührt stehen, gerade lange genug, um sich zu überzeugen, dass sie kein Trugbild vor sich hatte.

»Ich bin’s wirklich, Clara. Ich bin wieder da.«

»Liebes Kind.« Clara war völlig aufgelöst, als sie Lily an sich zog und umarmte. Lily hielt sie umfangen, fühlte sich auf Anhieb in ihre Kindheit zurückversetzt. Diese Frau war für sie wie ein Tante gewesen – Clara und Maeve standen sich so nahe wie Schwestern.

»Clara, sag mir, was mit Granny ist.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe tausend Fragen – was ist denn bloß mit dir geschehen? Wo warst du? Wie bist du hierhergekommen?«

»Ein Freund hat mich hergebracht. Ich erzähle dir den Rest später, aber zuerst muss ich zu Granny.«

»Sie ist im Shoreline General.«

»Ich weiß. Würdest du mich bitte hinfahren? Ich konnte ihre Autoschlüssel nicht finden.«

»Ihre Handtasche mit dem Schlüsselbund liegt bei mir zu Hause. Ich habe sie vorsichtshalber an mich genommen, gleich am Tag ihrer Einlieferung. Natürlich bringe ich dich hin.«

Lily atmete tief ein. Die erste Hürde war geschafft. Sie lief ins Cottage, ergriff ihre Handtasche und sperrte die Haustür zu. Sie schob das Handy in die Tasche ihrer Baumwollhosen – das Telefon war das Wichtigste auf der Welt, die Verbindung zu Rose und Liam. Dann stiegen sie in Claras blauen Chrysler.

Als Lily zum ersten Mal bei Tageslicht durch Hubbard’s Point fuhr, fiel ihr auf, dass die Zeit stehengeblieben zu sein schien, obwohl sich einiges verändert hatte. Die meisten Cottages hatten ihr malerisches Aussehen bewahrt, schmiegten sich in die ländlich anmutende Landschaft. Doch andere …

»Was ist denn hier passiert?«, fragte Lily, als sie an dem altem Anwesen der Langtrys vorbeifuhren.

»Ach Kind. Das ist hier inzwischen gang und gäbe. Die Leute kaufen ein Strandhaus und versuchen es in einen Schaukasten zu verwandeln – mit Milchglasscheiben und ähnlichem Schnickschnack. Wie sie es schaffen, aus einem Hubbard’s-Point-Cottage ein Meriden-Bestattungsunternehmen zu machen, ist mir schleierhaft.«

»Ich kann mir schon vorstellen, was Granny dazu sagt.«

»Sie sagt ›Palazzo Protzo für Neureiche‹. Du glaubst gar nicht, wie ich unsere Gespräche vermisse. Keiner bringt mich so zum Lachen wie Maeve.«

Bringt. Lily schöpfte Hoffnung angesichts der Gegenwartsform.

»Was meinen die Ärzte?«

Konstellation.