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Philipp Grabinski

Bormen

Ein grotesker Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Philipp Grabinski

Philipp Grabinski, Jahrgang 1969, verkauft seit 20 Jahren glücklich Bücher, nachdem er als Schreiner, Philosoph, Kurierfahrer und Ultraschallproband (»Sehen Sie nur, liebe Kollegen! Selten war eine Leber so deutlich zu schallen!«) nicht glücklich wurde. Er schreibt grundsätzlich nur im Zug. Wenn er nicht arbeitet, dann spielt er mit seinen Kindern. Veröffentlichungen: Beitrag in der Anthologie »Meet little sixteen« Berlin, 2010

Über dieses Buch

Klopek ist anders. Er hat eine eigene, sehr merkwürdige Weltansicht, die er DIE Ordnung nennt und die seine Mitmenschen oft verzweifeln lässt. Durch den Tag schafft er es nur mit fixen, sich nie ändernden Abläufen, und als er von seinem Chef als Strafaktion in eine Stadt irgendwo in Osteuropa, von der er und auch sonst niemand jemals gehört hat, geschickt wird, ist er völlig überfordert und schafft es nur mit viel Glück dorthin. Die Einwohner von der Stadt Bormen sind ehrgeizlos und desinteressiert, faul und neugierig und wollen keine Einflüsse von außen akzeptieren. Das macht es für Klopek noch schwieriger, seinen Auftrag auszuführen – der doch maßgeblich für ein neues Bormen ist. Zumal er das Völkchen aufgrund seines merkwürdigen Dialekts kaum versteht … Und warum hat er zwar unzählige Kinder, aber noch keine einzige Frau dort gesehen? Klopek irrt orientierungslos durch diese sonderbare Welt mit ihren vielen skurrilen Charakteren, bis er plötzlich bemerkt, dass in der Stadt DIE Ordnung herrscht, und er sich entscheidet, für den Erhalt des alten Bormens zu kämpfen!

Impressum

© 2012 neobooks.com.

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Alisha Bionda

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: © FinePic, München

www.neobooks.com

ISBN 978-3-426-43035-4

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Für Sarah

1

Klopek war sich sicher: Alles gehörte irgendwohin, jede Sache hatte ihren Platz. Es bedeutete Ordnung, wenn alles an seiner Position war. Dann war die Welt in Ordnung. Unordnung war ein schlimmes Wort für Klopek und ein geradezu körperlich unerträglicher Zustand. Jedes Ding hatte schließlich seine Stelle, wo es hingehörte, und nichts befand sich irgendwo zufällig. Jedem Ding war ein Ort zugewiesen. Aber das war auf keinen Fall zu verwechseln mit Ordentlichkeit, diesem widerlich kleingeistigen Charakterzug, Dingen einen Platz zuzuweisen, damit man sie leichter wiederfand. Etwa Gabeln, die in ihr Besteckkastenfach gelegt wurden, Schuhe, die im Schuhschrank warteten. Das konnte jeder, das war einfallslos und dumm – und das entsprach auch nicht DER Ordnung. Jede einzelne Gabel hatte natürlich ihren eigenen Platz in Klopeks Wohnung, und jeder Schuh auch. Der linke Wochentagsschuh stand selbstverständlich hinter der Kloschüssel, der rechte in der Wohnzimmervitrine, neben der Montagsgabel und dem Butterfässchen. Das Paar Sonntagsschuhe gehörte auf den Esstisch, und das Stofftaschentuch in die Besenkammer. Genau so sah es DIE Ordnung vor.

Unerträglich jedoch war ordentliche Ordnung, auf dass es ordentlich aussähe. Was waren das für Menschen, die putzten, aufräumten und wegstellten? Die nicht DIE Ordnung kannten, sondern sich dem allgemeinen Diktat einer willkürlichen Ordentlichkeit unterwarfen, Tassen in den Geschirrschrank stellten, Hemden und Hosen in den Kleiderschrank hingen?

Die Klopeks, seine Eltern, das waren ordentliche Menschen gewesen: Der stets glattrasierte Buchhalter-Vater, der besonders früh aufstand, um sich korrekt anzukleiden. Der Anzug hatte ordentlich zu sitzen. Dafür nahm er sich viel Zeit und prüfte mehrfach den Knick jeder Falte. Die Mutter mit ihrem Putzzwang schrubbte die Wasserhähne mit ihren wundroten Händen, bis das Metall stumpf wurde. Sie konnte nie ruhig dasitzen, weil sie rastlos durchs Haus zog und auf- und wegräumte.

»Mein ordentlicher Geist«, pflegte der Vater zu sagen, wenn er überhaupt sprach.

»Rumliegen lassen«, murmelte die Mutter immer vor sich hin. «Rumliegen lassen. Alles müssen sie rumliegen lassen.«

Nur der kleine Klopek, der sagte nichts. Wenn er gerade seine Bauklötze auf dem Boden ausgebreitet hatte, schnellte auch schon die Mutter heran und räumte die Klötze zurück in die Kiste.

»Rumliegen lassen, immer nur rumliegen lassen. Schlimm ist das mit dir.«

Dann sagte die Mutter manchmal Worte, die der kleine Klopek nicht verstand. Selbst die Mutter schien darüber erstaunt und hielt erschreckt die Hand vor den Mund. Kein Bild konnte er zu Ende malen, kein Holzpuzzle zusammensetzen, ohne dass die eilfertige Mutter ihm alles vor der Nase forträumte.

Selbst die Mahlzeiten blieben nicht von der mütterlichen Ordentlichkeit verschont. Jedem Bissen, der im kleinen Klopek verschwand, wurde mit einem feuchten Putzläppchen nachgewischt. Auf dem Tisch und um den Mund. Der Teller war noch nicht geleert, da hatte die Mutter ihn auch schon abgeräumt. Der Kleine wuchs heran, blieb schmal und schweigsam.

Die Mutter ruhte erst, als ihr Herz für immer stehenblieb, völlig in ihrem Element, kniend vor der Kloschlüssel, die vom Putzrausch ausgefranste Bürste mit den geschundenen Händen fest umklammernd. Der Vater hatte seit dem Tod seiner Frau einen seltsamen Blick bekommen. Er sprach undeutlich und fing an, seltsame Worte zu benutzen, mit denen Klopek nichts anzufangen wusste. Schließlich folgte er der Mutter einige Wochen später. Der Junge fand ihn morgens im Bett liegend, korrekt im Anzug gekleidet, rasiert und tot. Damit endete seine Kindheit. Der ohnehin schweigsame Klopek wurde noch schweigsamer. Ein entfernter Onkel besorgte ihm eine Lehrstelle als Kopist im Notariat Kälberzähm. Außerdem eine kleine Wohnung, denn bei sich aufnehmen wollte er diesen stummen schmalen Jungen nicht.

Rumliegen lassen. Rumliegen lassen.

Klopek schüttelte sich. Ein Gegenstand konnte schließlich auch rumliegen und trotzdem an seinem Ort sein. Wenn dies der Fall war, war die Ordnung hergestellt. Nach Jahren elterlicher Ordentlichkeit wurde der junge Klopek somit in die Lage versetzt, sein eigenes Leben zu gestalten. Der Onkel, ein fettleibiger jovialer Herr mit lauter Stimme, versprach ihm mehr, als er einhalten wollte. Er sah noch zweimal nach dem Rechten, dann blieb er für immer weg, und der junge Klopek, der diesen Umstand nicht bedauerte, entwickelte nun, befreit vom Zwang zur Ordentlichkeit, seiner Eltern ledig und durch seine Lehrstelle finanziell unabhängig seine ganz und gar eigene Ordnung.

Jedem einzelnen Gegenstand wies Klopek einen neuen Platz zu. Diese Zuordnung war äußerst ungewöhnlich und wäre für einen Fremden nicht nachvollziehbar gewesen, geschweige denn, dass er irgendetwas in diesem Haushalt gefunden hätte. Aber Klopek hatte alles im Kopf, nie musste er etwas suchen. Außerdem hatte er nie Gäste. Nichts lag ihm ferner, als Menschen einzuladen. Er kannte auch niemanden, den er hätte einladen können.

Die Wohnung wirkte auf den ersten Blick unaufgeräumt. Überall standen und lagen Dinge herum. Mitten in der Diele stand ein emaillierter Zahnputzbecher, daneben ein gläserner Eierbecher. Auf dem Schuhschrank stand eine Teedose, lagen eine Socke und ein Handtuch, beides zusammengelegt. Auf der Fußleiste ruhte eine Zahnbürste, die Zahnpastatube würde man im Küchenschrank finden, den Brotkorb samt Brot unter der Kommode. Als Ort für einen Gegenstand konnte in dieser Wohnung alles in Frage kommen. Der Eindruck von Unaufgeräumtheit täuschte allerdings, denn die herumliegenden Gegenstände schienen allesamt mit ihrem Platz zufrieden zu sein und strahlten eine friedliche Ruhe aus.

Weil Klopeks Sicht der Ordnung schwer mit dem Ordnungssinn der restlichen Menschheit vereinbar war, wäre er ein gänzlich einsamer Mensch geworden, wenn der entfernte Onkel damals nicht die Lehrstelle im Notariat Kälberzähm arrangiert hätte. Schon beim ersten Betreten der düsteren und ehrfurchtsgebietenden Räumlichkeiten des Notariats mit seinen holzgetäfelten Wänden und dicken Teppichen, mit dem Geruch nach altem Papier und staubigen Folianten war der junge Klopek schwer beeindruckt gewesen. Nur die Akkuratesse, mit der sich Kolonnen von Ordnern in den hohen Regalen aneinanderreihten, befremdete seinen ungewöhnlichen Sinn für Ordnung. Das war genau die Art von Ordentlichkeit, der er gerade davongekommen war. Trotzdem nahm er die Stelle an.

Nicht jeder kannte DIE Ordnung, das musste er rasch feststellen. Jeder hat seine Ordnung, mehr oder weniger, leider. Doch in Klopeks Kopf herrschte nur seine eigene.

Ordnung kann von Vorteil sein, und im Notariat Kälberzähm war dank des Fräuleins Rosenau, der langjährigen Perle des Büros, alles geordnet. Ein Büro braucht Ordnung. Akten, Mappen, Ordner und Papiere brauchen ihren nachvollziehbaren Platz. Doch schon bald nach Klopeks Einstellung ereigneten sich unerklärliche Vorgänge im Notariat Kälberzähm. Legte Fräulein Rosenau eine Akte zur Seite, um sie später fortzuräumen, so war sie sicherlich in den nächsten Augenblicken verschwunden und an ihrem Platz im Archiv. Wie die Akte dort hingelangt war, hatte weder Fräulein Rosenau noch Notar Kälberzähm je beobachten können. Es konnte nur Klopek gewesen sein, aber der schien nie sein Zimmerchen, in dem er täglich saß und handschriftliche Kopien von Schriftsätzen erstellte, verlassen zu haben. Niemand hatte ihn gesehen. So ein Mann kann ein Segen für ein Büro sein, in dem es von Vorgängen nur so wimmelt, deren Archivierung wie von Zauberhand geschah.

Es kam allerdings auch vor, dass Kälberzähm ein Schriftstück auf seinem riesigen Schreibtisch – Kälberzähm war ein Gigant von einem Mann – beiseitegelegt hatte, um es später zu bearbeiten. Eben erst hatte die Rosenau es aus dem Archiv geholt, da war es auch schon wieder zurück ins Archiv gelangt. Klopek natürlich, doch der saß in seinem Zimmerchen und schrieb ab. Wer wollte ihm etwas vorwerfen? So legte Fräulein Rosenau täglich mehr Wege als nötig zurück. Andererseits hatte sie auch schon mal die eine oder andere Akte archiviert, die sich kurze Zeit später wieder in ihrer Ablage befand, als gehöre sie nur genau dorthin. Das kam gewöhnlich nicht allzu häufig vor. Wer wollte etwas gegen Klopek sagen? Der saß nur in seinem Zimmerchen. Schließlich kam es, wie es kommen musste. Klopek hatte insgeheim die Ordnung im Notariat Kälberzähm übernommen. Wenn Kälberzähm Fräulein Rosenau um einen Schriftwechsel bat, antwortete Fräulein Rosenau nicht selten: »Gerne, ich hol’ ihn geschwind. Er müsste in der Teeküche im Tassenregal hinten rechts liegen.« Oder auch: »Moment, wenn ich nicht irre, liegt er draußen unter der Fußmatte.« Damit ließ sich leben, denn Fräulein Rosenau war eine findige Person. Kälberzähm, der Riese, weit über zwei Meter messend und von kräftigster Statur, war von Natur aus ein aufbrausender Mensch, der gerne Gotteslästerliches im Munde führte. Da war es mehr als verwunderlich, dass er mit Klopeks Ordnung der Dinge leben konnte, aber was sollte er ihm vorwerfen? Der Mann der wenigen Worte saß doch nur in seinem Zimmerchen, das er lediglich zum Mittagessen und zum Feierabend verließ. Kälberzähm gab schnell die Suche nach einem Grund für diese seltsamen Vorgänge auf. Er hatte ja noch die Rosenau, die den Überblick behielt. So einen wie den Klopek musste man auch erstmal finden. Einen, der in seinem Zimmerchen unermüdlich Dokumente abschrieb, wofür Kälberzähm ihn sehr schätzte.

Klopek war kein phantasievoller Mensch, aber das brauchte er für seine Tätigkeit als Schreiber und Kopist auch nicht zu sein. Im Gegenteil. Diese Phantasielosigkeit war sogar von großem Vorteil. Gepaart mit Akribie und Sorgfalt ergaben sie die perfekte Kombination an Anlagen für diese trostlose Tätigkeit. Er schrieb seit dreiundzwanzig Jahren ab. Dreiundzwanzig Jahre fertigte er für Kälberzähm beglaubigte Abschriften an und war ein Mann der Worte, der abgeschriebenen, der kopierten Worte. Es waren Sätze, die andere ausformuliert und aufgeschrieben hatten, und die darauf warteten, wortgetreu und ohne Interpretation auf ein neues Blatt exakt übertragen zu werden. Der Vorgang des Abschreibens hatte etwas höchst Befriedigendes für Klopek. An der Schönheit eines kopierten Wortes konnte er sich erfreuen. Etwas Neues schaffen, ohne seine Phantasie bemühen zu müssen. Sein Geist floss bei dieser Arbeit träge dahin, und nur der kleine Teil des Gehirns, der für die Bewegung der Hand zuständig war, schien leise zu brummen. Diese langjährig geistlose Tätigkeit hatte natürlich Spuren bei Klopek hinterlassen. Sein Leben folgte Mustern, von denen er nicht abwich.

So wie ein Dokument dem Abgeschriebenen glich, so glichen sich auch Klopeks wenige Tagesabläufe. Zur gleichen Zeit stand er morgens auf, frühstückte immer das gleiche Brot mit der gleichen Wurst, um zwölf Uhr ging er stets in den Ratskeller, wo er am immer selben Platz seinen Pferdesauerbraten zu sich nahm. Abends ging er den immer gleichen Weg nach Hause, kaufte bei Menkeln Brot, Wurst und Butter, um sich schließlich zu Hause vor das Radio zu setzen, wo er den Rest des Abends leichte Musik hörte. Alles folgte erprobten Mustern, alles hatte seine Ordnung.

Klopeks Ordnung.

Sprechen dagegen hörte man ihn selten, und wenn er sprach, waren es seltsam abgehackte Sätze, manchmal nur ein Wort, das er wie schleimigen Auswurf angewidert ausspie.

Kälberzähm hatte Klopek nie auf die verschwundenen – oder besser verlegten – Dinge angesprochen, weder jetzt noch vor gut zwanzig Jahren, als der erste Ordner verschwand und sich verlässlich immer wieder auf der Hutablage einfand, egal, wie oft die Rosenau ihn auch ins Archiv trug, bis sie die Hutablage als Ablageort akzeptierte. Und in weiterer Zeit das Tassenregal in der Teeküche, den Handtuchschrank auf der Toilette sowie den Spülkasten. Man glaubt nicht, wo sich überall Akten und Papiere aufbewahren lassen. Bis zu diesem Tag hatte Kälberzähm nie etwas gesagt, was wirklich erstaunlich für einen Mann mit seinem Charakter war. Doch diesmal fehlte ein besonderes Utensil auf Kälberzähms unendlich großer Schreibtischplatte.

»Klopek! Verfluchtnocheins! Wo stecken Sie?«

Jedem Gegenstand war von scheinbar höherer Stelle ein Ort vorbestimmt, wo er hingehörte. Jedes Ding hatte seine Stelle, nichts befand sich irgendwo zufällig. So sah es jedenfalls Klopek. Jeder verfluchte Krümel befand sich genau dort, wo er auch hingehörte. Besser gesagt: Jeder verfluchte Krümel sollte sich dort befinden, wo er hingehörte. Tat der Krümel aber nicht, weil viele Gegenstände, Dinge und Krümel nicht mehr genau dort herumlagen, wo es ihnen bestimmt war. Es gab immer jemanden, der meinte, etwas woanders hinlegen zu müssen.

»Gottverdammich, Klopek, wo ist mein Goldener Kormoran?«

Das mag aus Unwissenheit geschehen, aus Unachtsamkeit, in seltenen Fällen aus Bosheit. Aber es geschah. Es geschah jeden Tag, überall und immer wieder. Menschen legten Dinge an falschen Orten ab. Und daran litt Klopek. Denn er kannte die Orte der Dinge, wusste, wo jedes Ding hingehörte. War im Besitz der Ordnung der Dinge.

»Klopek, da stecken Sie doch wieder dahinter. Jesusmariaundjosef! Beim Kormoran hört der Spaß auf.«

Und wie immens war Klopeks Leiden an der Unordnung der Dinge. Dieses Ausdenfugengeratensein, diese Verirrtheit der Gegenstände, die sich nicht mehr dort befanden, wo sie sich hätten befinden sollen, weil Ignoranten sie fälschlich abgelegt hatten.

»Klopek! Ich habe ihn hier auf meinen Schreibtisch gelegt.«

Dieses Durcheinander, diese Unordnung galt es jeden Tag, jede Stunde, jeden Moment zu bändigen, und Klopek war allein. Er war allein in diesem aussichtslosen Kampf gegen die Unordnung der Welt. Er war der Held der verlegten Dinge.

Es kam auch vor, dass sich der vorbestimmte Ort eines Dinges änderte. Ob das Schuld des Gegenstandes war, bleibt offen. Dieses Wissen um eine Ortsveränderung eröffnete sich Klopek manchmal schlagartig ohne Vorankündigung. Es war dann, als sähe er diesen Gegenstand mit einem Mal völlig neu. Das Ding gab sich ihm preis, und das Verlangen, diesen Gegenstand seinem neuen Ort zuzuführen, wurde immer größer und stärker. Was anfangs eine Art Verführung war, wurde zu einem Flehen. Bring mich heim. Die Stimme wurde immer fordernder, immer drängender. Nimm mich – mit. Schließlich war Klopek nicht mehr in der Lage, diesem Zwang zu widerstehen. Er erlag. So war es jedes Mal. Ein Tick.

    »Klopek! Diesmal sind Sie zu weit gegangen! Mein Goldener Kormoran ist heilig!«

Und dieses eine Mal war Klopek wirklich sehr weit gegangen, denn er hatte in einem unbeobachteten Moment, aber er tat es eigentlich immer heimlich, den Goldenen Kormoran, ein riesenhaftes Schreibgerät, den Goliath unter den Füllfederhaltern, genommen. Er hatte Notar Kälberzähms Goldenen Kormoran entwendet, um ihn seinem wahren Aufenthaltsort zuzuführen.

Einem Ort, der sich ihm heute überraschend offenbart hatte, denn dreiundzwanzig Jahre lang hatte der Goldene Kormoran auf Kälberzähms Schreibtisch gehört, weshalb Klopek ihn auch nie angerührt hatte.

Dieser neue Ort musste nicht immer zwangsläufig logisch nachvollziehbar sein, was war schon logisch? Und auch diesmal näherte sich Klopek mit dem entwendeten Ding einem unerwarteten Bestimmungsort. Er beförderte den Goldenen Kormoran, diesen gigantischen Schreibschwengel, den nur ein Bergmassiv von Mann wie Notar Kälberzähm in seinen Pranken zu führen vermochte, den Kormoran, der schwer und groß war, in ein Loch.

Ja, in ein Loch, in eine Öffnung. In eine heiße, feuchte, noch dampfende Öffnung, welche nach dem phallischen Tintenbock zu schreien schien: Kor-mo-ran! Nimm-mich-ran! Klopek versenkte Kälberzähms bestes Stück, das dem Notar über alles ging, in der großen silbernen Thermoskanne, die auf dem Teewagen stand.

»Klopek, wenn Sie dem Kormoran auch nur einen Kratzer zufügen!«

Der innere Glaskolben zerbarst unter dem ungewohnten Gewicht des schweren Füllers und ein wenig Luft drang, kaum hörbar, seufzend in das Vakuum zwischen Außen- und Innenwand der Kanne. Klopek war zufrieden, seine Genugtuung enorm. Wieder hatte sich ein Puzzleteil in seinem Bild der Welt in die Ordnung der Dinge eingefügt.

»Herr Kälberzähm.« Fräulein Rosenau, eine unauffällige, schlicht gekleidete Dame, hatte das große Büro betreten. »Herr Kälberzähm, der Schriftsatz in der Sache Scharisch ist schon wieder retourniert worden.« Sie sagte dies in einem Ton persönlichen Beleidigtseins, als wolle sie die gesamte postzustellende Welt für diese Unfähigkeit verantwortlich machen. Sie kannte Kälberzähms Ausbrüche und hatte im Vorfeld klugerweise jegliche Schuldzuweisung von sich gewiesen. Kälberzähm, sowieso bereits schwer erregt wegen des Goldenen Kormorans, hieb mit seiner riesigen Faust krachend auf den Tisch, so dass alle Gegenstände in die Höhe flogen. Und noch einmal, und immer wieder hieb er auf den Schreibtisch ein, als wolle er einen Nagel in das Eichenholz treiben. Mit jedem Schlag wurde die Rosenau ein wenig blasser. Klopek, der unbemerkt aufgetaucht war und nun auch vor dem Schreibtisch stand, zeigte keine Reaktion. Nicht die kleinste Wimper zuckte. Es war eine schweigende Versammlung. Kälberzähm haute sprachlos weiterhin den Lukas. Die Rosenau versuchte Haltung zu bewahren. Und Klopek? Er stand unbeteiligt da und zählte die Bände in der Bücherwand hinter Notar Kälberzähm.

Schließlich hielt Kälberzähm inne und setzte sich erschöpft auf seinen riesigen Stuhl, eine Spezialanfertigung, deren ausgeklügelte Pneumatik stöhnend nachgab.

»Ist denn niemand auf dieser gottverdammten Welt in der Lage«, zischte er bösartig, »diesen dreimal verfluchten Brief in dieses gottlose Bormen zuzustellen?« Kälberzähm erwartete keine Antwort. Kälberzähm erwartete im Augenblick gar nichts vom Leben. Eine Art Katalepsie setzte ein, die ihn fürs Erste erstarren ließ.

Ohne den Kopf zu senken, blickte Klopek nach unten auf den Schreibtisch, wo der Brief lag. Es war ein großer Umschlag, zum Schutz in Packpapier eingeschlagen, der dort vor ihm lag und dem man seine Odyssee ansah. Die Ecken waren abgestoßen, teilweise eingerissen und wieder repariert worden. Das Packpapier war überall zerknittert und fleckig. Das Paketband, das alles zusammenhalten sollte, war an mehreren Stellen gerissen und wieder verknotet worden. Übersät war der Umschlag mit Stempeln und Bemerkungen in vielen Sprachen und Schriften, die Zeugnis gaben von der Unmöglichkeit, diesen Brief seinem Empfänger in Bormen zuzustellen.

Wo lag dieses Bormen überhaupt? Klopek hatte noch nie von diesem Land gehört. Den vielen Unbekannt- und Unzustellbar-Stempeln nach zu urteilen war dieser Brief durch Süd-, Südost- und Osteuropa gereist, als hätte er eine unsichtbare Mitte umkreist, ohne den Mittelpunkt je zu erreichen. Da es sich um eine Priorität-A-Zustellung mit Sonderstatusmarke handelte, hatten verzweifelte Postboten den Brief erst nach umfangreicher Adressrecherche als unzustellbar an andere europäische Postämter weiterleiten dürfen, bis ein serbischer Postmann, dem letzten Datum nach zu urteilen, die Chuzpe besessen hatte, den Brief an den Absender zurückzuschicken.

Der Empfänger des Briefes war Klopek dem Namen nach bekannt. Die Familie des Shlomel Abd Scharisch war seit Gründung des Notariats durch Kälberzähms Großvater Gerntodt Kälberzähm Klient und hatte immer wieder bis heute die Dienste des Notars in Anspruch genommen. Aus welchen Gründen war Klopek unbekannt. Auch wenn er in seinen dreiundzwanzig Jahren Dienstzeit fast jedes Dokument im Notariat abgeschrieben hatte, sein träge dahinfließender Geist hatte während der Tätigkeit des Kopierens nie auch nur ein Wort behalten von dem, was er Tag für Tag abschrieb. Um was es sich also in diesem Brief handelte, blieb ein Rätsel, dessen Lösung Klopek auch nicht sonderlich interessierte. Sein Interesse galt eigentlich nur SEINER Ordnung der Dinge. Er betrachtete die Bücherwand hinter Kälberzähm. In der dritten Reihe von unten, siebter von rechts, stand ein Ordner, der dort nicht hingehörte. Es war Band vier der Sammlung Aus dem Notariat, der zwischen Band drei und fünf stand. Aber das war nicht sein wahrer Ort. Der Drang, ans Regal zu treten und den Band seinem wahren Ort zuzuführen, war stark und Klopek konnte kaum an etwas anderes denken.

Mit einem Mal kam wieder Bewegung in den riesigen Kälberzähm. Als wäre er aus einem traumlosen Kurzschlaf erwacht, sah sich der Mann langsam um. Die Rosenau war unbemerkt in ihr Zimmer verschwunden. Von dort vernahm man nun das rhythmische Tippen einer Olympia Vierzack mit Perlschrift. Klopek starrte auf die Bücherwand. Da kam etwas Glanz in des Notars Augen. Sie verengten sich kurz, wahrscheinlich, weil ihm der verlustig gegangene Goldene Kormoran wieder einfiel, dann weiteten sich die leicht hervorstehenden Augen beunruhigend. Kälberzähm fixierte Klopek, schnaufte dabei mit der Pneumatik seines Sessels um die Wette und sprach dann einen äußerst folgenschweren Satz aus: »Klopek, Sie machen eine Dienstreise.«

Klopek auf Dienstreise schicken. Da konnte man auch gleich ein Kamel durchs Nadelöhr treiben, dazu auch noch ein fußkrankes Kamel, denn Klopek zog das rechte Bein nach. Ein Umstand, der ihn stets die kürzeste Verbindung zweier Orte nehmen ließ und die Auswahl an Orten möglichst gering hielt. Er nahm stets nur ihm bekannte Wege, ausgetretene Pfade und immer gleiche Strecken zu immer gleichen Orten. Nach Hause, ins Notariat, ins Lebensmittelgeschäft und täglich in den Ratskeller, wo er jedes Mal in derselben dunklen Ecke Platz nahm, um den unweigerlichen Pferdesauerbraten zu sich zu nehmen. Andere Wege mied Klopek. Umwege waren ihm ein Greuel. Unbekanntem begegnete er mit Abscheu, fremden Menschen mit äußerster Reserviertheit. Wie sollte Klopek eine Reise antreten? Dieses Vorhaben war undenkbar. Es war absurd.

Bormen. Eine Dienstreise. Kälberzähms folgenschwerer Satz hatte Klopek in eine Art Lähmung versetzt. Noch lange hatte er regungslos vor dem riesigen Schreibtisch gestanden, als versuche er, diese Anweisung durch hartnäckiges Nichtbeachten unausgesprochen zu machen. Da war er bei Notar Kälberzähm an den falschen Mann geraten. Dieser arbeitete einfach weiter, schichtete Papiere, ordnete, strich mal was an … Bei seiner Größe und seinem Körpergewicht wurde jede Bewegung von Schnaufen und Stöhnen kommentiert. Erst als Kälberzähm einen Schriftsatz schwungvoll unterschreiben wollte, fiel ihm der Goldene Kormoran wieder ein, und somit auch Klopek. Es konnte nur Klopek gewesen sein. Hatte ihn natürlich wieder keiner dabei beobachtet. Wie machte der Kerl das bloß?

»Was stehen Sie hier noch herum, Klopek? Bieten Sie Maulaffen feil? Kümmern Sie sich, eruieren Sie. Recherche, Klopek, Recherche! Gottverdammich, dieser verfluchte Brief muss ausgeliefert werden. Sie sind jetzt für ihn verantwortlich. Ist mal was anderes als abschreiben. Wenn Scharisch den Brief nicht bekommt, bin ich geliefert. Dann können wir alle einpacken. Seit mehr als sechzig Jahren stehen wir der Familie Scharisch schon zu Diensten. Die reißen mir den dreifaltigen Sack ab, wenn das hier schiefgeht, und Ihren gleich mit, Klopek. Mit Shlomel Abd Scharisch ist weiß Gott nicht zu spaßen.« Kälberzähm lehnte sich in seinem gewaltigen Bürosessel nach hinten. Die ausgeklügelte pneumatische Konstruktion hielt geschickt die zentnerschwere Last des riesigen Mannes im Gleichgewicht. Kälberzähm sah aus dem Fenster. Zwei Elstern stritten sich lautstark auf einem Ast.

»Ich kann unmöglich einfach Scharischs letzte Anweisung ignorieren! Nach Bormen sei sein letzter Wille zu senden. Nach Bormen! Was soll das überhaupt sein? Böhmen kennt man, Bayern, ja. Beide schon abwegig genug, aber Bormen? Beim Achselhaar des Gekreuzigten, wir kommen in Teufels Küche, wenn dieser Brief nicht zugestellt wird.« Kälberzähm starrte düster vor sich hin. »Wahrscheinlich ein gottverlassenes Dreckloch, dieses Bormen, das kein reudiger Postbote in Europa betreten möchte. Das muss man sich mal vorstellen. Ein Land, das kein Schwein kennt!«

Klopek starrte vor sich hin.

»Ich gebe Ihnen zehn Tage, um diesen Brief zu überbringen. Eine Weigerung Ihrerseits wäre inakzeptabel. Und jetzt Tee. Rosenau!«

Klopek stand vor einem neuen Abschnitt in seinem geordneten Leben. Vor dem schrecklichsten Abschnitt, den er sich überhaupt vorstellen konnte. Reisen bedeutete genau das Gegenteil dessen, was sein Leben bisher ausgemacht hatte. Es bedeutete das Ende der Ordnung, des Bekannten und Gewohnten. Reisen bedeutete, sich dem Fremden zu stellen. Klopek würde mit Menschen reden, sich fortbewegen und in fremden Betten nächtigen müssen. Er schüttelte sich vor Abscheu. Aber Kälberzähm hatte recht. Man schlug einem Kälberzähm nichts ab. Außerdem hatte Klopek mit dem Goldenen Kormoran wirklich über die Stränge geschlagen, auch wenn er immer noch davon überzeugt war, dass der Tintenfüller mit der Thermoskanne seinen wahren Bestimmungsort gefunden hatte.

Ein entsetzter Schrei aus der Teeküche beendete schlagartig Klopeks Erstarrung. Er nahm den Brief und humpelte, so gut es ging, durchs Treppenhaus hinunter auf die Friedrichsallee, einen breiten lauten Boulevard mit Händlern, die Handkarren schoben. Kutschen und Fuhrwerke rollten Pferdeäpfel platt, und auch das eine oder andere Automobil knatterte ohrenbetäubend und stinkende Abgaswolken ausstoßend vorbei. Ein Sonnenstrahl bahnte sich gerade seinen Weg durch die Wolkendecke und fiel auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf ein Firmenschild, wo das Licht stark reflektierte und eine Art Korona um die Firmierung Opaz Ltd. schuf. Geblendet, aber unwiderstehlich davon angezogen, stolperte Klopek über die Friedrichsallee dem Licht entgegen. Die Sicherheit, mit der er Pferdemist und Fahrzeugen auswich, war unerklärlich. War es das gleißende Licht des Schildes, das ihm den Weg wies – wie dereinst die Feuersäule Moses den Weg und ihm göttliche Unversehrtheit gewährte? Kurz vor dem Schild ließ die Reflektion nach, so dass Klopek das eher säkulare Wort Handelsroutengesellschaft entziffern konnte. Das hörte sich gut an. Hier schien man vom Fach zu sein, sich in der Welt auszukennen. Vielleicht würde die Gesellschaft sogar Briefe befördern? Dass Kälberzähm nicht selbst darauf gekommen war!

Klopek betrat das rote Backsteingebäude, das sich gotisch über unzählige Stockwerke in den Himmel bohrte. In der hohen Eingangshalle war es dunkel, kühl und still wie in einer Kathedrale. Fehlte nur noch der Eunuchengesang jungfräulicher Chorknaben und Weihrauchgewölk. Als sich seine geblendeten Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, erkannte Klopek Vitrinen mit Ausstellungsstücken aus aller Welt. Es war die typisch koloniale Zurschaustellung fremder Kulturen anhand von schauerlichen Objekten wie Macheten, Totenmasken, Penisrohren und Schrumpfköpfen, die den europäischen Betrachter beeindrucken sollte. Klopek war jedoch nur von der Nicht-Ordnung der Exponate beeindruckt, und er hätte zu gerne sofort Hand angelegt und die Ausstellung umgeräumt. Die zerknautschten Gesichter der Schrumpfköpfe würden nichts mehr sagen können. Da erinnerte er sich an seinen unangenehmen Auftrag, weshalb er sich zur Empfangstheke wandte. Dort stand reglos ein Dienstmann, der einen sehr kleinen Kopf hatte. Klopek, von äußerst schweigsamer Natur, legte wortlos den Brief auf den Tresen und wartete. Der auch noch kahlköpfige Dienstmann steckte in einer schwarzen Uniform, die Arme korrekt hinter dem Rücken verschränkt. Er beugte sich quälend langsam vor, um den Brief in Augenschein zu nehmen. Was er sah, entlockte ihm keine Reaktion. Quälend langsam richtete er sich auch wieder auf und sah durch Klopek hindurch auf die Ausgangstür. Klopek schob den Brief noch ein wenig weiter in Richtung des Dienstmannes.

»Is' hier nich’«, durchbrach es die sakrale Stille.

Klopek hatte wohl Worte gehört, den Dienstmann jedoch nicht sprechen gesehen. Er blickte sich um, aber da war sonst niemand. Ein Bauchredner, hätte man denken können. Ein verirrter Zirkusmensch, der da vor ihm stand.

»Barmen«, krächzte Klopek. Ein Frosch hockte auf seinen ungeübten Stimmbändern. Schon als Kind hatte er es vorgezogen, nichts zu sagen. Lieber zählte er im Stillen die Johannisbeeren in seiner Nachtischschüssel und verglich sie mit den Zahlen des Vortags. Sein angeborenes Desinteresse an Mitmenschen war auch wenig dazu angetan gewesen, seine Sprachkompetenz zu schulen. Seine Stimmbänder glichen schlaff gespannten Geigensaiten, die nur grässlichste Töne hervorbringen konnten.

»Erbarmen? Wollen mich wohl auf ’n Arm nehm«, kam es aus der Richtung des Dienstmanns, dessen Mund nicht mal gezuckt hatte.

»Meinte Bormen. Bormen. Dieser Brief muss nach Bormen«, stammelte Klopek, verwirrt über des Dienstmanns Stimmenzauberei.

»Sind ’ne Handelsroutengesellschaft und nich’ die verdammten Thurn un’ Taxis.«

Ein Clown war er auch noch, ein bauchredender Possenreißer.

»Sie müssen doch … ich meine … wo liegt denn … dieses … also … Bormen?«

»Nich’ hier.«

Klopek starrte auf seinen Brief. Dem Dienstmann war nichts mehr zu entlocken, die Zirkusvorstellung war beendet. Klopek sah ihn verstohlen an. Reglos stand er da, als hätte kein Wässerchen ihn je getrübt. Das Ganze blieb rätselhaft. Klopek trat hinaus in das gleißende Licht. Es schien, als ob der Sonnenstrahl auf ihn gewartet hatte. Wer würde ihm helfen können? Wen könnte er fragen? Die Vorstellung, einen fremden Menschen anzusprechen, war bereits abwegig. Wo sollte er also hingehen? Wie denn recherchieren?

Buch, fiel ihm ein. Ein Buch erschien ihm als der ideale Informant. Verschwiegen, zurückhaltend und voll des Wissens, ohne dass man mit ihm reden musste. Klopek erinnerte sich, dass es im Notariat eine große Enzyklopädie gab. Band drei Ber-Bra stand in der Besenkammer auf dem Putzbord. Das wusste Klopek genau. Aber dorthin zurückzugehen, daran war nicht zu denken. Der Goldene Kormoran. Erst wenn Klopek den Brief abgeliefert hatte, würde es möglich sein, Kälberzähm wieder unter die Augen zu treten.

Bibliotheken als Hort des Wissens, fiel Klopek ein, doch Klopek war ein Fremder in seiner eigenen Stadt. Er wusste nicht einmal, wo die Bibliothek war. Er kannte sich eigentlich nur in den Straßen seines Viertels aus.

»Sehn mächtig ratlos aus.«

Klopek glaubte nicht richtig gehört zu haben und sah sich vorsichtig um. Keine drei Meter entfernt stand der Dienstmann. Er schaute in die andere Richtung die betriebsame Allee hinunter, als hätte er Klopek nicht bemerkt, und rauchte.

»Fahrn Se doch zum Bahnhof. Bring’n Brief selbs’ hin. Da, wo’r hin soll.«

Dieser seltsame Kirmesgaukler hatte wieder seinen Mund nicht bewegt, aber er hatte recht. Am Bahnhof würde man ihm helfen können. Fuhr man von dort nicht mit Zügen in alle Welt hinaus? Gleise verbanden sich mit anderen Gleisen, und irgendwie waren doch alle miteinander verbunden, ein riesiges Netz, das die Welt umspannte und kein Land ausließ. Und eines dieser Gleise würde ihn nach Bormen führen. Klopek würde bequem reisen, in Bormen den Brief abgeben und den nächsten Zug zurück nehmen. Kälberzähm würde ihn mit offenen Armen empfangen, und die Sache mit dem Goldenen Kormoran wäre vergessen. Vielleicht könnte Klopek den Kormoran sogar ersetzen. Alles war auf einmal möglich, und schon in kurzer Zeit würde sein Leben wieder in geordneten Bahnen verlaufen.

Nur wusste er nicht einmal, wo der Bahnhof war. Wie auch? Bis zum heutigen Tag wäre ein Bahnhof der letzte Ort gewesen, den er aufgesucht hätte.

»Mann! Die Tram! Fährt durch bissum Bahnhof.« Der Dienstmann war ein Quell des Wissens. Er zertrat seine Zigarette und verschwand im Gebäude der Opaz Ltd. Damit war dieser Born versiegt.

Notgedrungen und mehr als widerwillig hatte Klopek die Tram genommen, die zu seiner Erleichterung direkt vor dem Notariat abfuhr und ihn bis zum Bahnhof bringen würde. Klopek nahm in der Bahn auf einer leeren Bank Platz und schloss die gesamte Fahrt die Augen. Verschloss sie vor den fremden Straßen und Vierteln, vor all den Dingen, die sich nicht an ihrem wahren Platz befanden. Er wusste wohl wohin mit ihnen, aber seine ruhelosen Hände hatte er zwischen die Knie zwängen müssen, damit sie nicht alte Fahrkarten, abgerissene Knöpfe und vertrocknete Wurststücke aufnahmen und in die Taschen steckten, um sie heimzubringen. An Orte, die für sie gedacht waren. Die Versuchung war immens, und Klopek konnte ihr nur durch Ablenkung Herr werden, indem er lateinische Possessivpronomen vor seinem inneren Auge mantrahaft durchkonjugierte. Ego-mei-mihi-me-a me-mecum. Wieder und wieder. Ego-mei-mihi-me-a me-mecum.

Endlich am Hauptbahnhof angekommen, stolperte er aus der Tram und mitten hinein in die Vorhölle des Bahnhofsplatzes. Das Geschrei unzähliger Gepäckträger und das Rappeln ihrer maroden Handkarren empfingen ihn. Reisende brüllten nach Droschken. Schmutzige Bengel wuselten durch Beine in der Hoffnung, heruntergefallene Münzen zu ergattern. Pferde wieherten und schissen auf den Platz, fliegende Händler boten lautstark Plunder feil. Klopek rempelte und drängelte sich durch die Menschenmenge. Doch dies war ja erst das Vorspiel zur Bahnhofshaupthalle gewesen. Kaum war er durch das mächtige Portal getreten, brachte ihn die wahnwitzige Akustik der riesigen Haupthalle einer Ohnmacht nahe. Schweiß rann seinen Rücken und noch tiefer hinab. Das hin- und hergeworfene Echo Tausender Stimmen und Geräusche nahm ihm einen Moment die Orientierung. Lokomotiven stießen Dampf und Rauch aus, was sich mit dem Schweißgeruch erregter Reisender und hysterischer Händler zu einer infernalischen Melange verband. An diesem Ort schien nichts an seinem Platz zu sein. Die Unordnung der Dinge war überwältigend. Benommen bahnte sich Klopek seinen Weg durch das unerfreuliche Spektakel und fand sich schließlich in einer Warteschlange wieder. Vor ihm wartete ein knorriger Zwergenmensch, hinter Klopek schnaufte ein Hüne mit Pelzkragen feuchtwarm in seinen Nacken. Nach endlosem Warten konnte Klopek immerhin das Schalterfenster erkennen, kaum größer als ein Klodeckel, mit einer kleinen runden Sprechklappe in der Mitte. Der brüchige Gnom, als er endlich an der Reihe war, langte bei weitem nicht ans Sprechloch heran und musste laut krächzend sein Fahrtziel nennen. Hinter dem Fenster bewegte sich irgendetwas hin und her, dann wurde durch einen kleinen Schlitz eine winzige Fahrkarte gereicht. Zufrieden zog der Alte ab. Klopek war endlich an der Reihe. Er beugte sich wegen seiner Größe leicht zur Öffnung herab. Auf einem Schreibtisch hinter dem Fensterchen lag ein gewaltiges Manual, die Altarbibel unter den Kursbüchern. Ein ebenso gewaltiger Beamter thronte feist dahinter und starrte Klopek mit gelblichen Augen an.

»Bormen. Wie gelange ich nach Bormen?«, stieß Klopek seine Frage hastig aus.

Die Äuglein weiteten sich, Augenbrauen schnellten nach oben und verharrten dort.

»Bormen. Bitt’ Sie. Bormen«, versuchte Klopek weiter.

Diesmal zogen sich die gelben Augen zu Schlitzen zusammen, dann begann der Beamte zu arbeiten. Er befeuchtete seine dicken Finger und begann, das gigantische Kursbuch durchzublättern. Die Quartseiten, jede sicherlich zwei Ellen breit, flappten ihrer Größe wegen hin und her und machten eine Menge Wind, der muffig aus dem Sprechloch quoll. Klopek wartete ungeduldig und sah dem Beamten bei seiner Arbeit zu. Von der Warteschlange hinter ihm drangen erste Unmutsäußerungen herüber. Klopek war mehr als nervös. Situationen wie diese war er nicht gewohnt. Die vielen Geräusche, Gerüche und Gesichter verwirrten ihn. Die wurstigen Finger des Beamten fuhren erstaunlich behende durch das Manual, als spielten sie eine Fuge auf einer Kirchenorgel, doch die Suche nahm kein Ende.

»Haben Sie mich richtig verstanden? Bormen. Muss nach Bormen.« Der Menschenberg hinter dem Schalter sah nicht einmal auf.

»Bormen! Bormen! Bormen!« Klopek wurde immer lauter. Seine Stimme kiekste bedrohlich. Er entdeckte neue Seiten an sich, die ihn sichtlich beunruhigten. »Kann doch nicht so schwer sein. Es ist wichtig, müssen Sie wissen. Sehr wichtig.«

Ein Geräusch drang durch das Sprechloch und unterbrach Klopeks Jeremiade. Hatte der dicke Mann etwas gesagt? Hatte der Beamte zu ihm gesprochen? Nicht weit entfernt stieß jemand einen Schrei aus, ein kleiner Tumult brach aus. Bahnvorsteher und Gepäckträger liefen hinzu, Reisende reckten die Hälse, Stimmen wurden laut, irgendwo krähte ein Hahn. Dann wurde es wieder ruhiger in der Menge.

»Nicht richtig verstanden habe ich Sie. Wiederholen Sie sich«, flehte Klopek.

»Der Nächste bitte«, quäkte der Beamte.

Klopek sah ihn ungläubig an. »Sie verstehen mich falsch. Nach Bormen. Bitte.«

»Gibt keine Destination Bormen.« Der Fleischberg erhob sich etwas zum Sprachloch hin und brüllte: »Der Nächste!«

Klopek wollte nicht glauben, was er da gehört hatte. Der schnaufende Hüne mit dem Pelzbewurf drängte ihn zur Seite und schob sich an den Schalter. Sein Pelzkragen war ein toter Marder, der nach Klopek zu schnappen schien. Klopek taumelte etwas und wurde in einen lärmenden Pulk hineingeschoben, der gerade an der Warteschlange vorbeistolperte, und wurde einfach vom Schalter fortgeschoben. Diese vielen Menschen, alle mussten irgendwohin. Ständiges Sichbewegenmüssen, von einem Ort zum anderen. Er verstand gar nichts und ließ sich notgedrungen mit dem Pulk durch den Bahnhof treiben, bis der ihn schließlich in der Nähe des Ausgangs wieder freigab. Wie Klopek den Bahnhof verlassen hatte, konnte er nicht mehr rekonstruieren. Vom Rückweg ganz zu schweigen.

Es hatte leicht zu nieseln begonnen, als er in die Straße seines Wohnblocks einbog. Die Dämmerung begann. Klopek, der stets starren und geraden Blicks die immer gleichen Wege abschritt, übersah einfach alles, was ihn nicht unmittelbar betraf. Wenig überraschte es also, als er nur wenige Hausnummern von seiner Wohnung entfernt vor einem Buchgeschäft stand, welches er noch nie zuvor bemerkt hatte.

Die triste Auslage im Schaufenster des Buchkontors Achelbayes lud nicht zum Stöbern ein. Die Bücher waren lustlos hineingeworfen worden, einige lagen mit der Rückseite nach oben. Stapel reihten sich uninspiriert aneinander. Überall hatten sich Staubmäuse breitgemacht. Die Keramikbüste eines gelockten Dichters lag umgekippt dazwischen. Einige Bücher waren aufgeschlagen, das Papier bereits gelblich vom Sonnenlicht und leicht gewellt. Ein Bügeleisen stand erstaunlicherweise in der Ecke, als wolle es den Betrachter auffordern, die Seiten zu glätten. Lieblos zusammengestellte Titel wie Der Maschinist, Heimat, liebe Heimat mein oder Das Jägerlatein im Wandel der Zeit schienen mit ihrer verstockten Fleckigkeit ein Betreten des Ladens eher verhindern zu wollen.

Doch hatte sich ein leises Drängen bei Klopek eingestellt, ein ihm wohlbekanntes Gefühl. Es war das leise Rufen eines Gegenstandes, der sich in diesem Laden befand. Eines Gegenstandes, der nicht an seinem angestammten Platz war. Klopek betrat widerwillig das Buchkontor Achelbayes.

Betritt man eine fremde Wohnung oder ein Geschäft, heißt einen noch vor dem Bewohner ein unverwechselbarer Geruch willkommen. Stürmisch stürzt dieses Gemisch auf den Gast ein. Und aus diesem Mief lässt sich bereits nach wenigen Augenblicken auf Ess- und Lebensgewohnheiten des Bewohners schließen. Ein Bohnenliebhaber wird seine Vorliebe nicht verleugnen können. Gerüche sind überwältigend, weil sie sich ohne Umwege und Filterung des Großhirns ins Stammhirn bohren und dort ein unfreiwilliges Feuerwerk der Bilder und Assoziationen auslösen. Die Mischung allerdings aus dem Muff alter Bücher und Bratfett löste nichts in Klopek aus. Er schwankte und suchte an einem wackligen Regal Halt. Ein Buch fiel hinunter. Bratfett? Klopek wunderte sich. Auch wenn er nie fremde Geschäfte betreten hatte: Bratfett gehörte seiner Meinung nach nicht unbedingt zu den olfaktorischen Sensationen einer Buchhandlung. Aber noch ein weiterer Geruch umwehte ihn leicht, kaum auszumachen, unangenehm und unpassend. Er konnte ihn nicht bestimmen.

Der Gegenstand.

Er musste schnell diesen Gegenstand finden, um DIE Ordnung wiederherzustellen. Dann wollte er schleunigst wieder hier raus.

»Der Herr ist ein Buchliebhaber, das habe ich gleich erkannt«, knarzte es plötzlich hinter einem Bücherstapel hervor.

Klopeks Augen gewöhnten sich nur langsam an das Dämmerlicht. Durch das schmutzige Schaufenster drang spärlich Tageslicht, eine einsame Leuchtstoffröhre brummte über allem. Was Klopek erkennen konnte, war nicht erfreulich. Deckenhohe krumme Regale, darin Böden, die schief saßen, Staubschichten, die sich wie Pelz auf die Bücher gelegt hatten. Auf Tischen in der Mitte des Raumes türmten sich unordentliche Bücherberge, und am Boden stolperte man über Haufen hingeworfener Folianten. Ein Bücherfreund war hier nicht zu Hause. Zu lieblos war alles zusammengestellt, teilweise waren Bücher zweireihig in die Regale gestopft worden, mal liegend, mal schrägstehend. Die alten Bücher schienen verzweifelt aneinander Halt zu suchen in der Hoffnung, schon bald aus dieser bibliophoben Hölle befreit zu werden. Über allem der Geruch von Essen wie in einer Garküche. Und ein Hauch von Harn. Das war es. Klopek witterte einen leichten Hauch von Urin, erkennbar an seiner beißend bittersüßen Note. Wie konnte das sein?

»Der Herr wird entschuldigen, ich schmore gerade Nierchen im Hinterzimmer.«

Hinter einem schweren Schreibtisch war ein Hutzelmännchen hervorgekommen und sah mit kleinen Äuglein zu ihm hinauf.

»Ein Bücherfreund, sieh da. Lesender, ich verbeuge mich vor Eurer Bildung.«