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Nr. 2864

 

Die Finale Stadt: Oben

 

Atlan und seine beiden Begleiter auf dem Glazialplateau – auf der Suche nach der Zone Null

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Perry Rhodan ist von einer Expedition in vergangene Zeiten in die Gegenwart zurückgekehrt. Diese wird nicht nur durch die Atopen bedroht, sondern auch durch die brutalen Tiuphoren, die durch einen Zeitriss aus tiefster Vergangenheit zurückgekehrt sind. Immerhin scheint mit dem ParaFrakt eine Abwehrwaffe gefunden zu sein.

Indessen hat sich der Arkonide Atlan ins vermutete Herz der Atopischen Macht begeben – die Ländereien jenseits der Zeit, über die Thez regiert. Mit Thez selbst oder einem seiner Vögte zu sprechen und dadurch die Milchstraße von der Atopischen Ordo zu befreien, ist Atlans Ziel. Sein Weg führt in DIE FINALE STADT: OBEN ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan da Gonozal – Der Unsterbliche betritt das Oben.

Vogel Ziellos – Der Vogelartige wird zum Späher.

Lua Virtanen – Die Unschläferin schließt eine ungewöhnliche Freundschaft.

Leylecc Hotnoyar – Der Bewohner von Oben hat Träume.

Im Oben, so sagt man, gäbe es Städte aus Gold und Seen mit klarem Wasser. Schmackhafte Fische schwämmen an der Oberfläche, sprängen den Fischern mit Freude in die Netze. An den Bäumen wüchsen mehr Früchte, als man essen kann. Die Luft wäre warm und frisch.

Es gäbe keinen Hunger und keine Armut, weder Angst noch Leid.

Doch wir sind im Unten, in der Kloake des Oben, und müssen von den Abfällen der Reichen leben. Thez hat unsere Namen vergessen.

Klagen von Unten

 

 

1.

Leylecc

 

Er hatte Hunger. Müde öffnete Leylecc Hotnoyar die Augen, blinzelte in das matte Talglicht des Caldariums. Die Wärme im Raum reichte kaum bis zu dem Außenbezirk, in dem er lag. Wäre das weiche Eisrutscherfell nicht, er hätte gefroren.

Schlaftrunken richtete Leylecc sich auf, schob dabei Maynurrs Kopf von seinem Oberschenkel. Der Junge benutzte das Bein als Kissen. Er murrte, als Leylecc sich bewegte, setzte sich dann ebenfalls hin und streckte die Arme aus, sorgsam darauf bedacht, unter dem schützenden Fell zu bleiben.

Die anderen fünf Mitschläfer waren nicht da. Sie hatten die Schlafmulde bereits verlassen. Thissja hatte sie hinausgeworfen, damit sie sich auf die Jagd vorbereiteten und das Gelände um die sechs Eigencaldarien des Großcaldariums Svanem sicherten. Nur Maynurr und Leylecc durften nicht mit, waren angeblich noch Kinder. Auf Maynurr traf das sogar zu. Er reichte Leylecc gerade bis zur Brust. Leylecc dagegen war längst erwachsen, doch Thissja erkannte das nicht an. Die Traumwandlerin hatte ihre ganz eigene Vorstellung davon, wie man im Rudel die Altweiche erreichte.

Das Grummeln in seinem Magen erinnerte Leylecc daran, wie lange er nichts gegessen hatte. Er musste sich dringend die nächste Ration abholen. Am liebsten hätte Leylecc nach einer der Dämmerpillen gegriffen, die er immer in der Overalltasche trug. Zuerst aber musste er sich seine Ration abholen, falls Thissja sie ihm nicht brachte. Wenn Leylecc zu lange wartete, verfiel sein Tagesrecht.

Maynurr hatte dasselbe Problem, deswegen beschwerte er sich nicht, dass Leylecc ihn geweckt hatte. Der Bauch des Jüngeren gab Geräusche von sich wie ein Eisrutscher in der Brunftzeit.

Der Junge schaute erschrocken, das Emot auf der Stirn verfärbte sich bleich. »Denkst du, mein Magen frisst mich von innen her auf?«

Leylecc verfärbte sein Emot in das intensive Grün der Belustigung. »Nein. Ganz sicher nicht.«

»Das ist gut. Ich habe einen Kohldampf, ich würde selbst Weißwurmfleisch essen.«

»Komm!« Leylecc streifte die Decke ab, stand auf. Es war empfindlich kühl. Er beeilte sich, aus der hölzernen Schlafmulde zu steigen, um näher an den warmen Kohleofen heranzukommen.

Der alte Khelltofar winkte ihm gutmütig von seinem Schlackensessel. Der Pyzhurg überwachte den Ofen, sorgte dafür, dass weder zu wenig noch zu viel Kohle verwendet wurde und wies die Pyzträger wenn nötig an, frischen Schnee zu bringen, den sie schmelzen konnten, um die Luftfeuchtigkeit zu erhöhen. Eine noch wichtigere Aufgabe war die Abzugkontrolle, bei der er überprüfte, dass keine Dämpfe aus dem Ofenrohr ins Caldarium drangen.

»Willkommen, Sohn aus dem Hungervolk von Oben. Angeschwemmt vor der Zeit, vergessen von derselben. Sei mir gegrüßt.«

»Auch hallo«, sagte Leylecc, den es nervte, zu jedem Glimmer mit derselben Litanei angesprochen zu werden. Vor allem deshalb, weil sie so negativ war. Vergessen von der Zeit. Vergessen von Thez. Vergessen von der Wärme. Warum sagte der Alte nicht ein einziges Mal etwas Hoffnungsvolles?

Maynurr sprang an Leylecc vorbei und setzte sich auf Khelltofars Schoß. »Ich hatte einen Traum, Khellto. Einen schönen!«

Eine säuselnde Stimme erklang. Sie kam hinter dem Ofen hervor, aus dem Schatten einer anderen Schlafmulde. »Einen Traum? Dann erzähl!«

Leylecc spürte einen Stich im Emot. Das war Thissja, ihre Rudelgründerin, die zugleich das Amt als Traumwandlerin innehatte und den über hundert Onryonen im Caldarium Svanem half, durch Träume zu lernen. Sie näherte sich wie ein Eisrutscher auf Fresszug.

Dicht hinter ihr ging Gerruk, der ihr so treu folgte, dass man ihn für Thissjas Schatten halten konnte. Dabei überragte Gerruk Thissja um zwei Kopflängen. Leylecc hätte eines seiner Felle dafür hergegeben, um so groß und muskulös wie Gerruk zu sein. Auf Gerruks Gesicht lag ein lauernder Ausdruck, als wartete er darauf, dass Maynurr sich blamierte.

Langsam rutsche Maynurr von Khelltofars Beinen. Er wagte es nicht, zu Thissja aufzuschauen. Stattdessen fixierte er eine Maserung auf dem Holzboden. »Ich habe geträumt, ich wäre im Unten. Es war warm und weich, und es roch gut. Da waren Häuser, groß und behaglich. Freundlich, mit gläsernen Dächern, unter denen Bäume wuchsen. Es war wie in einem Garten, geflutet von Licht. Überall gab es Früchte und gebratenes Fleisch, weit mehr, als ich essen konnte.«

Thissja trat näher. Ihre bleiche Haut war heller als die anderer Onryonen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Phantastereien! Verschwendung von Schlafzeit! Habe ich dir nicht aufgetragen, im Traum deine Knüpffertigkeiten zu verbessern? Wir brauchen mehr Netze für die Fallen!«

Maynurr senkte den Kopf.

»Unnützes Balg!«, sagte Gerruk. »Wir sollten dich ins Eis stürzen.«

Die Augen des Jungen weiteten sich. »Bitte nicht! Ich ... ich träume gewiss bald von den Netzen. Ganz bestimmt!«

Gerruk zog eine Grimasse, als setzte er zu einer neuen Gemeinheit an, doch Leylecc kam ihm zuvor, um von Maynurr abzulenken. »Ich hatte auch einen Phantast-Traum, der Schlafzeit verschwendet hat. Ich träumte von einem der versiegelten Tore zum Hof. Ein Fremder kam, der sie weit aufstieß und mich bat, mit ihm zu kommen. Er sagte, wir wurden vor der Zeit angeschwemmt, doch es gäbe eine bessere Zukunft.«

Angewidert blickte Gerruk ihn an. Es fiel Leylecc schwer, unter diesem Blick ruhig zu bleiben. »Dich hätte ich bereits vor Jahren ins Eis geworfen, wenn ich gedurft hätte. Du verbrauchst nur unnütz Luft und Fleisch.«

Das Graublau der Missbilligung auf Thissjas Emot war schwer zu ertragen. Es traf Leylecc mehr als Gerruks einfallslose Worte, die sich wiederholten wie das Weiß der Lande auf Armlänge.

Die Traumwandlerin verengte die Augen. »Eine bessere Zukunft? So ein Unsinn! Und das von dir! Hast du noch immer keinen Eispiraten im Traum getötet?«

»Nein.« Sie hatte ihm diese Aufgabe vor langer Zeit gestellt. Es war die Bedingung, um die Altweiche zu erreichen, doch die Wahrheit war, dass Leylecc es nicht konnte. Elf Mal waren ihm im Traum Eispiraten begegnet, das Übel und der Albtraum des Oben, und immer hatten sie mit ihm geredet, statt ihn anzugreifen.

Doch das wagte Leylecc der Traumwandlerin nicht zu erzählen. Im Großcaldarium Svanem waren Träume heilig, und die seinen verletzten ein Tabu unter den Hungervölkern. Die Eispiraten waren der Grund, warum die Tore zum goldenen Unten und zum Überfluss des Hofs verschlossen waren. Die anderen Facetten der Finalen Stadt fürchteten die grausamen Piraten und schützten sich vor ihnen – selbst wenn sie damit das Oben der Kälte und dem Hunger preisgaben. Deshalb erwarteten die anderen, dass Leylecc die Piraten hasste.

Thissja schnaubte, zog zwei winzige Beutel hervor. »Du lebst durch deinen Vater, Junge. Nie wird aus dir ein Anführer werden wie Gerruk, der sein eigenes Rudel aus innerer Kraft gründet. Du wirst jung bleiben, Glimmer für Glimmer ins Eis hinausstarren und hoffen, dass das Wehrschiff Ahhavs zurückkommt, damit du von seinen Depotzügen und seiner Großzügigkeit schmarotzen kannst. Würdest du etwas taugen, hätte Ahhav dich längst mit hinausgenommen.«

Stumm griff Leylecc nach dem Beutel, den Thissja ihm hinhielt – seiner Tagesration, die verschwindend gering war. Dabei versuchte er, sich die Wut im Bauch nicht anmerken zu lassen. Obwohl Thissja oft auf diese Art mit ihm redete, schmerzte es, als könnte er sich nie daran gewöhnen. Wie gerne hätte Leylecc einen Piratentraum, in dem er tötete, wenn Thissja ihn dann mit ihren Gehässigkeiten in Ruhe ließe.

Thissja beachtete ihn nicht weiter. Sie drückte Maynurr den zweiten Beutel in die Hand, drehte sich um und ging in die Nähe der Ausgangstür zu den Haken mit den Überfellen. Gerruk folgte ihr, hängte einen Schutzmantel ab und half ihr hinein, ehe er nach dem eigenen Überwurf griff. Kurz darauf verließen beide das Caldarium.

»Zum Glück sind sie weg.« Maynurr riss den Beutel auf, stopfte sich seine Ration Trockenfleisch in den Mund und wankte kauend zur Schlafmulde zurück, als wollte er sich zum Essen verstecken.

Leylecc öffnete seinen Beutel, drehte ihn um und hielt den gedörrten Fleischklumpen in der Hand. Sein Blick suchte den des alten Khelltofar. »Warum hat Thissja dir nichts zu essen mitgebracht? Ist sie nicht deine Enkelin?«

Der Alte winkte ab. »Ich habe keinen Hunger.«

Das war sicher eine Lüge. Jeder Onryone hatte Hunger. Sogar sein Vater, der viel Leid ertragen konnte. Er hielt Khelltofar den Batzen hin. »Hier. Ich habe noch meine letzte Ration.«

»Du hast sie aufgehoben, statt sie zu essen?«

»Ja. Nimm!«

»Nein. Iss beide Portionen. Du brauchst deine Kraft. Was willst du tun, wenn die Eispiraten kommen und du ausrücken musst? Die Ordnung ist nicht umsonst die Ordnung, mein Junge. Sie hat einen Sinn.«

»Ich will nicht, dass du stirbst. Du bist der Einzige, der nicht mit mir schimpft.«

Der Alte lachte, dass Leylecc die Lücken zwischen den schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. »Ich bin zäh wie ein Weißwurm. Je kälter, desto älter. Mach dir um mich keine Sorgen. Schau lieber zu, wie du Thissja beeindrucken kannst. Sie hält wenig von dir, und ihre Meinung hat großes Gewicht, sowohl bei uns als auch bei den anderen Hungervölkern in Svanem.«

»Mir ist egal, was Thissja von mir denkt.«

»Stolz und dumm.« Der alte Pyzhurg tätschelte Leyleccs Schulter. »Warum nur habe ich einen Narren an dir gefressen?«

Leyleccs Ohrspitzen glühten vor Freude. Er senkte die Hand und kehrte zu Maynurr in die Schlafmulde zurück. Dabei aß er eine der Portionen. Die zweite verstaute er in seiner Tasche. Stattdessen nahm er ein Dämmerdragee, das die Körperfunktionen herabfuhr und den Hunger dämpfte. Erschöpft kroch er unter die Felle. Vielleicht würde es ihm gelingen, von einem Eispiraten zu träumen und ihn im Zweikampf zu töten.

Nein.

Während die Bitterkeit der zergehenden Pille sich in seinem Mund ausbreitete, wusste Leylecc, dass er vergeblich hoffte. Er war ein schlechter Onryone. Anders als die anderen. Seine Träume lagen außerhalb der Norm. Es kam kein Streit darin vor und schon gar kein Zweikampf, bei dem er einem anderen ein Stück Metall durch den Körper rammte, ihm einen Harpunenhaken oder ein Projektil in den Kopf schoss.

Im Oben war der Raum für ihn enger als der innerste Kreis um den Ofen, in dem die wertvollen Mitglieder der Caldarien auf der gläsernen Bank sitzen durften. Er würde nie dort hocken, nie ein eigenes Schlafrudel führen.

Es stimmte: Die Zeit hatte ihn vergessen.

Litanei der Finalen Stadt: Oben (Faszikel 1)

 

Die Letzte Stadt ist auch

die Stadt der Letzten.

Hier wohne ich;

es ist kein anderswo.

 

 

2.

Atlan

 

Ich rematerialisierte in einer mehrere Meter durchmessenden Blase aus oszillierendem Gewebe, das sich leicht im Wind bauschte. Bei mir waren Lua Virtanen und Vogel Ziellos. Wir hatten das Unten verlassen, einen Weg ins Oben gefunden. Jedenfalls hoffte ich, dass es funktioniert hatte. Vom Unten war nichts mehr zu sehen, allerdings ebenso wenig vom Oben. Die Blase spiegelte mein vom Helm eingeschlossenes Gesicht mit den weißen, halblangen Haaren, zog es in die Länge. Das Land außerhalb blieb hinter diesem Spiegel verborgen.

»Vatermörder!«, schien mein Abbild zu wispern.

Narr!, wies mich mein Extrasinn zurecht. Du musstest den Bacctou töten. Nur dadurch seid ihr freigekommen.

Ich stimmte ihm zu, legte das Geschehen ab in eine der zahlreichen Erinnerungsschubladen meiner Vergangenheit. Was zählte, war, dass Lua und Vogel es geschafft hatten! Meine beiden Freunde hatten dank ihrer Geniferenausbildung tatsächlich die Kloake des Unten verlassen können und waren gemeinsam mit mir ins Oben vorgestoßen – ins gelobte Land, wenn man den Bewohnern des Unten glaubte, die das Oben wie das Paradies in den Mythen Terras beschrieben.

»Schaut nur!« Lua deutete auf den Boden.

Die Fläche unter unseren Füßen spiegelte ebenfalls.

Erkennst du nicht, was das ist?, fragte der Extrasinn.

Ich erkannte es: Eis. Zumindest bis auf die Membran, durch die wir ins Oben gekommen waren. Doch auch sie schien nach und nach zuzufrieren. Sie wurde stumpfer, blind.

Erstaunt bemerkte ich die Anzeigen, die mir der Schutzanzug ins Visier spielte. Es musste kalt sein außerhalb – empfindlich kalt. Waren wir in einer Art gekühltem Lagerhaus herausgekommen? In der Blase waren es vier Grad Celsius.

Vogel streckte den Arm aus, berührte mit der Hand die oszillierende Wandung.

»Der Weg ins Unten ist geschlossen«, murmelte Lua. »Ich finde keinen Durchgang mehr. Wie kann das sein? Und wo ist die Mülldeponie, die das Unten mit all dem Unrat beschickt? Ich messe da draußen nichts an. Weder eine Deponie noch eine Stadt. Spinnen die Anzüge wieder?«

»Finden wir es heraus.« Ich trat durch die Blasenwand in ein diffuses Weiß. Es reichte in alle Richtungen, schier endlos selbst dort, wo die Lande auf Armlänge enden mussten. Schnee bedeckte die Erde. Die Landschaft war eintönig, zeigte keine Erhebungen, Farben oder auch nur eine andere Nuance von Weiß.

Eine Eiswüste, kommentierte der Extrasinn. Sonnenlos.

Es stimmte. Ich entdeckte nirgendwo einen Stern oder etwas, das wie ein Stern aussah. Stattdessen hing in einiger Entfernung ein wolkenförmiges Gebilde in der Luft, das der Landschaft schwaches Licht spendete. Es war in diesem Teil der Finalen Stadt kaum heller als auf Arkon in der Abenddämmerung.

Vogel und Lua traten zu mir. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln.

»An den Anzügen liegt es nicht«, stellte Vogel fest. »Sie arbeiten und heizen. Vielleicht sind wir in einem besonders extremen Gebiet herausgekommen. An einer Art Pol. Wie auf einem Planeten.«

»Vielleicht.« Auf dieser Insel der Hiesigkeit oder in anderen Bereichen der Jenzeitigen Lande mochte das möglich sein, doch ich glaubte nicht daran. Ich berührte den Anzug und tastete nach Schleier, dem Balg von Matan Addaru, den ich seit einiger Zeit wie einen Umhang mit mir trug. Die Exuvie war leblos. Man hätte sie für ein einfaches Stück Stoff halten können.

In meinem Bauch grummelte ein ganz mieses Gefühl. Das hier war kein Pol. Es war das Oben. Die zweite Facette der Finalen Stadt, in die es uns auf unserem Weg zum Atopischen Hof verschlagen hatte.

»Wohin sollen wir gehen?«, fragte Lua.

Ich schaute zur Blase zurück. Der Weg nach Unten war verschlossen. Uns blieb der Weg nach vorn.

Es gibt Ortungssymbole, die dir helfen könnten, sagte der Extrasinn. Mein Gedankenbruder wies mich auf etwas hin, das mir bereits aufgefallen war: Der Schutzanzug zeigte mehrere Wärmequellen an. Sie waren weit gestreut. Heiße Dämpfe, die aufstiegen, oder warmes Wasser? Lebewesen? Leider war die Anzeige nicht allzu genau.

In einer Richtung konzentrierten sich die Reflexe. Womöglich lag dort eine Siedlung.

»Versucht, die Flugfunktion zu starten. Bleibt dicht über dem Boden!« Ich hob vom Schnee ab und flog einige Meter voraus. Vogel und Lua folgten mir, aber bald darauf setzte zuerst der Antrieb von Luas Anzug aus, dann der meines eigenen. Er stockte und ruckte, wodurch ich unsanft in einer Schneeverwehung landete.

»Wir müssen nah zusammenbleiben und langsam machen. Wenn ein Schutzanzug nicht funktioniert, tragen die beiden anderen den Dritten.« Ich startete wieder. Kurz darauf mussten Lua und ich Vogel auffangen, was Lua ohne die kraftverstärkende Anzugunterstützung Schwierigkeiten gemacht hätte.

Es drohte jederzeit ein neuer Ausfall, dennoch kamen wir voran, wechselten uns beim Tragen ab. Die thermischen Quellen rückten Minute für Minute näher.

Ich fragte mich, was aus Pashnard und seiner Mutter werden mochte. Ob wir je ins Unten zurückkamen? Die Bewohner dort hatten gehofft, im Oben Hilfe zu finden. Bisher sah ich nichts, das Hilfe oder ein besseres Leben versprach.

»Meine Heizfunktion setzt aus«, meldete Lua. Sie sagte es eher genervt als besorgt, überspielte vermutlich die Angst, die ihr das einjagte. Es war empfindlich kalt, weit unter null. Ohne Heizfunktion hatte sie ein Problem.

»Check die Systeme!«

»Schon dabei«, gab sie zurück.

»Meine Thermofunktion ist ebenfalls ausgefallen«, sagte Vogel.

»Genau wie meine«, schloss ich mich an.

Der Flugmodus muckte. Bald mussten wir landen, da kein Anzug mehr flog. Ich kniff die Augen zusammen. Konnte es sein, dass es Abschnitte gab, in denen die Störstrahlung – oder was immer höhere Technik im Unten wie offensichtlich im Oben behinderte – stärker war? Falls ja, durchquerten wir gerade ein ausgesprochen ungünstiges Gebiet.

»Bleibt in Bewegung! Vielleicht springen die Aggregate gleich wieder an, aber wir dürfen nichts unnötig riskieren.«

Eine Weile stapften wir schweigend durch den Schnee. Es wurde kälter.

Bedrohlich kalt. Unruhe packte mich. Die Wärmequellen waren noch mindestens drei Kilometer entfernt. Mit jedem Schritt nagte sich die Kälte tiefer in den Anzug hinein, eroberte meinen Körper Stück für Stück wie eine kriechende Armee.

Vogels Schnabelhälften klapperten hörbar gegeneinander.

»Das ist verrückt!«, sagte Lua. »Im Unten haben sie uns gesagt, dass es warm im Oben wäre. Dass dort Wohlstand und Überfluss herrschen würde.«

Ich ging schneller. »Vielleicht wurden sie betrogen.«

»Betrogen? Von wem?«

»Vom Konglomerierten Bacctou, von Matan Addaru oder einer dritten Fraktion, die wir nicht kennen.«

Der Konglomerierte Bacctou hatte im Auftrag von Matan Addaru ein Fragment seiner selbst auf mich angesetzt und mich in Versuchung geführt, meine Suche nach Antworten über das Tribunal und mein Ziel, die Atopen aufzuhalten, aufzugeben. Laut dieses Sediments betrachtete Matan Addaru die Veste Tau als sein Lehen.

Es war mir unangenehm, dass es dem Konglomerierten Bacctou beinahe gelungen wäre, mich von meinem Weg abzubringen. Kurzzeitig hatte ich darüber nachgedacht. Es war über siebenhundert Jahre her, dass ich die Milchstraße verlassen hatte. In manchen Momenten musste ich mir trotz aller Erfahrung und Willensstärke gewaltsam ins Gedächtnis zurückrufen, dass ich eines Tages zurückkehren würde – idealerweise so, dass in meiner Heimat seit meinem Aufbruch kaum Zeit verstrichen war.

»Aber warum werden sie betrogen?« Vogels Worte waren durch das Schnabelklappern kaum zu verstehen.

»Kontrolle. Hoffnung kann eine mächtige Leine sein. Sie lenkt die Aufmerksamkeit, lässt anderes vergessen.« Was ich selbst erst vor Kurzem erfahren hatte, denn genau darauf hatte der Bacctou gesetzt: dass die Hoffnung auf ein neues Arkonidisches Imperium an der Seite meines Vaters mich wie eine Fessel band.

»Ich kann meine Zehen nicht mehr spüren«, sagte Lua.

Durch die Helmscheibe sah ich, wie blau ihre Lippen waren.

»Wir haben es bald geschafft«, log ich.

Es wurde mit jedem Schritt schlimmer. Ich merkte meinen jungen Begleitern an, wie sie um Fassung kämpften. Sie wollten vor mir keine Schwäche zeigen.

Dir wird wärmer, machte mich der Extrasinn aufmerksam.

Ich blinzelte, fühlte in den eisigen Anzug hinein. Es stimmte. Von irgendwoher floss mir Wärme zu, doch sie kam nicht aus dem Anzug. Von den georteten Wärmequellen konnte sie unmöglich stammen, dafür waren sie zu weit entfernt.

»Spürt ihr das auch?«, fragte ich.

»Was? Dass ich sterbe?«, schlotterte Lua. »Wenn das so weitergeht, müsst ihr mich noch mal zu einem Marionettenmeister bringen!«

»Ich ... glaube kaum ... dass es hier einen in der Nähe gibt ...« Vogel klang desorientiert, als würde er gleich einschlafen.

Ihnen ist kälter statt wärmer geworden, vermutete der Extrasinn.

Lua und Vogel fielen zurück.

»Es geht nicht mehr«, jammerte Lua. »Jeder Schritt ist eine Qual!«

»Aber ...« Ich verstummte. Warum wurde mir wärmer, doch meinen Begleitern nicht?

Der kristalline Staub des Bacctou, mutmaßte der Extrasinn. Vom Bruderteil des Konglomerierten Bacctou. Der sich bei seinem Tod in deine Schulter gelegt hat. Vielleicht will dieser Bacctou dich schützen. Immerhin war er dein Vater.

Ich spürte in meine Schulter. Da war kein Anzeichen von Wärme. Das wohlige Gefühl hüllte mich ein wie ein Mantel. Es hatte keine punktuelle Quelle. Konnte es trotzdem von dem Staub kommen, der beim Tod des Bacctou entstanden war und sich als schillernde, regenbogenfarbene Wolke unter meine Haut um den Zellaktivator geflüchtet hatte?

Nichts wies darauf hin. Gleichzeitig war da eine andere Empfindung, unterschwellig, am Rande der Wahrnehmung. Als würde mich jemand aus einem Versteck heraus beobachten. Ein mächtiges, gefährliches Geschöpf, das einen starken Willen hatte.

Vogels Knie knickten ein, er stürzte zu Boden. »Ich fühle mich ... ausgelaugt.«

Lua packte ihn, zog ihn hoch. »Weiter, verdammt! Jammer und lauf, wie ich! Dann bleibst du wenigstens wach!«

»Ausgelaugt ...« Das Wort löste etwas in mir aus. »Geht es dir auch so, Lua? Zehrt die Kälte an dir – oder vielleicht etwas anderes?«

Ich griff ihre Hand, stützte mit dem anderen Arm Vogel.

»Ich ... keine Ahnung ... Es ist einfach nur kalt. Am liebsten würde ich mich hinlegen.«

Der Balg!, warnte der Extrasinn. Die Exuvie! Wenn sie es ist, die ihnen die Wärme entzieht, damit dir wärmer wird, werden die beiden erfrieren!

Traumhafte Aussichten. Ich wusste nicht, wie ich zu dem Balg eine mentale Verbindung herstellen sollte, doch ich versuchte es.

Hör auf!, rief ich der Exuvie gedanklich zu. Sofort! Sie sind meine Freunde!

Mir blieb gleichbleibend warm, während Lua und Vogel stolperten, kaum mehr gehen konnten.

Nimm sie unter den Umhang, riet der Extrasinn. Dann finden wir heraus, ob es der Balg ist.

Ich zog Lua und Vogel enger an mich. »Wir müssen alle drei unter die Exuvie! Es kann sein, dass sie euch Kraft und Wärme entzieht. Vogel, kannst du das Ende fassen?«

Vogel nickte, griff jedoch daneben. Erst beim dritten Versuch packte seine zitternde Hand einen Zipfel. Lua schnappte sich ihr Ende schneller, doch es entzog sich ihr. Für mich war es der Beweis, dass meine Vermutung stimmte: Schleier, die abgelegte Haut des Atopen Matan Addaru, zeigte zum ersten Mal, seit ich sie trug, deutlich ihren Willen – zu meinen Gunsten. Der Exuvie mochte der Tod meiner Freunde gleichgültig sein.

Hör auf!, herrschte ich den Balg mental an. Schleier war ein furchtbarer Gegner. Wenn er Lua und Vogel ernsthaft angriff, würden die beiden sterben.

Zu meiner Erleichterung stellte die Exuvie die Gegenwehr ein. Wir gingen dicht aneinandergedrängt weiter.

»Besser«, sagte Lua. »Es strengt nicht mehr so an.«

Ich spürte, wie mir kälter wurde, aber darum sorgte ich mich kaum. Im Gegensatz zu Lua und Vogel hatte ich einen Zellaktivatorchip, der mir helfen würde, am Leben zu bleiben.

»Dann weiter!«, trieb ich die beiden an. »Wir müssen die Siedlung erreichen. Dort könnt ihr ausruhen.«

Ich blickte voraus. Ein Ende der Eiswüste war nicht abzusehen. Ich hoffte, dass es wirklich eine Siedlung war, die da vor uns lag, dass sie Wärme und Schutz bot.

»Was ist das?«, murmelte Vogel.

Alarmiert drehte ich den Kopf, suchte nach dem, was er meinen könnte. »Was?«

»Da war eine schwebende, blaue Röhre. Ich glaube, sie hat sich überschlagen. Aber nun ist sie weg. Wie eine Fata Morgana.«

»Vielleicht etwas aus den Landen des Hörensagens, falls es die im Oben genauso gibt wie im Unten.«