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Nr. 2880

 

Tod im Aggregat

 

Jagd auf den Operator – der Untergang des Widerstands droht

 

Michelle Stern

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Allein im Aggregat

2. Geißel der Galaxis

3. Wyhdomadrs Weg

4. Tod auf der TAYMISS

5. Spuren und Spione

6. Sonden und Süßspeisen

7. Fallen und Finten

8. Tanz in den Tod

Report

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Im Januar 1519 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) verändert sich die Situation in der heimatlichen Milchstraße grundlegend: Die Herrschaft des Atopischen Tribunals, das aus der Zukunft agiert, wird abgeschüttelt. Gleichzeitig endet der Kriegszug der Tiuphoren, die aus der Vergangenheit aufgetaucht sind.

Viele Folgen dieser Ereignisse werden sich erst in den kommenden Jahren und Jahrhunderten abzeichnen. Wie es aussieht, werden die Milchstraße und die umliegenden Sterneninseln künftig frei sein, was den Einfluss von Superintelligenzen und anderen kosmischen Mächten angeht.

Allerdings kosten die Erfolge einen hohen Preis: Perry Rhodan muss sterben. Sein körperloses Bewusstsein geht in ein sogenanntes Sextadim-Banner ein. In dieser Form verlässt er mit den Tiuphoren die Milchstraße – er tritt die Reise in die ferne Galaxis Orpleyd an.

Der Mausbiber Gucky verschreibt sich dem Ziel, den alten Freund zurückzuholen, und organisiert eine Rettungsexpedition. Die RAS TSCHUBAI bricht nach umfangreichen Reparaturen in die weit entfernte Heimatgalaxis der Tiuphoren auf. Dort kommt es zum TOD IM AGGREGAT ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Gucky – Der Mausbiber spioniert im Staubgürtel.

Vogel Ziellos – Der Schnabelmann macht sich einen Feind.

Lua Virtanen – Die Haarsträhne der Geniferin entwickelt ein Eigenleben.

Farye Sepheroa – Die Enkelin Rhodans legt einen Köder aus.

Pedcos – Der Aysser fürchtet den Untergang.

1.

Allein im Aggregat

 

Die faustgroße Pyramide schwebte auf mich zu, senkte sich auf meinen Hals. Ich lag am Boden, konnte mich nicht bewegen. Meine Flaumfedern stellten sich auf, der Schnabel wurde kalt. Eine Nadel berührte meine Haut, durchstieß sie. Warme Flüssigkeit strömte in mein Blut. Die Sicht verschwamm.

Es gab ohnehin kaum etwas zu sehen: ein braunschwarzes Stück Rohrwandung, mehrere Meter breit und mit Schimmelflecken bedeckt. Es lag knapp drei Meter über mir, bildete die Decke eines schlauchartigen Gangs.

Wie konnte an einem Ort wie diesem Schimmel wachsen? Meine Gedanken und Erinnerungen zerfaserten. Es blieb Verwirrung, die sich immer weiter ausbreitete. Was war das überhaupt für ein Ort? Wie war ich hierhergekommen?

Ich spürte die Substanz, die in meinem Blutkreislauf schoss, fühlte mich benebelt. Auf einmal lag ich nicht mehr unter einer schimmelbefallenen Decke, traktiert von einer Antigrav-Roboteinheit, die kaum größer als mein Schnabel war. Ich war ein Vogel, ein echter Vogel, der seine Schwingen ausbreitete und flog. Unter mir lag Land. Es bereitete mir Unbehagen, immer noch. Von Kindheit an war ich die Gänge und Sektoren der ATLANC gewohnt, dem Generationenraumschiff, auf dem Lua und ich geboren und zu Geniferen ausgebildet worden waren. Wir hatten dieses stolze Schiff gesteuert, waren mit ihm durch die Synchronie in die Jenzeitigen Lande gereist.

Lua und ich. Ich konnte sie sehen. Sie war ebenfalls ein Vogel, flog neben mir. Ihre Federn waren scharlachrot, wie die besondere Haarsträhne, die sie in Menschengestalt hatte.

Lua kann nicht fliegen, dachte ich. Ich bin der Vogelartige, nicht sie.

Meine Logik ergab keinen Sinn. Fliegen wie die Vögel konnten wir beide nicht. Auch ich hatte keine Flügel. Jedenfalls nicht, wenn ich wach war.

Ich lächelte Lua zu, griff nach ihrer Hand. Wir waren verbunden, mehr als jedes Paar, das wir kannten. Zusammen. Für immer. Wir würden uns niemals trennen. Weil die Trennung meinen Tod bedeutete.

Ein widerwärtiges, schmatzendes Geräusch holte mich auf den Boden unter der Schimmeldecke zurück.

»Soll ich ihn töten?«, fragte eine Stimme in einer Sprache, die mir der Translator in meinem Ohr übersetzte. Ich kannte sie erst seit Kurzem: Anliit.

Eine andere Stimme antwortete: emotionslos, beinahe gelangweilt. »Nein. Warte ein wenig. Ich will erst das Weibchen untersuchen. Die biochemischen Prozesse im Gehirn der beiden Niederkreaturen sind abweichend. Sie scheinen ihren Geist auf spezielle Weise trainiert zu haben. Ich will mehr darüber wissen.«

Das »Weibchen«? Er musste Lua meinen! Meine Lua! Wie konnte er so von ihr sprechen? Und was sollte das heißen: »ihn töten«? Meinte der arrogante Widerling mich?

Der Wirkstoff in meinem Blut schien nachzulassen, die Verwirrung wurde schwächer.

Ich riss mich zusammen, versuchte mich daran zu erinnern, was geschehen war.

 

*

 

Vogel Ziellos schluckte. Die Erinnerungen kamen schubweise, wie Tritte in den Magen. Er war weit fort von der Milchstraße, im Aggregat, einer Zuflucht des Widerstands gegen die Gyanli, die die Galaxis Orpleyd beherrschten.

Er war mit der RAS TSCHUBAI in diese vereiste Galaxis gereist, die weit entfernt von der Milchstraße lag und ihm fremder vorkam als die Jenzeitigen Lande. Die Mission, der alle Besatzungsmitglieder sich verschrieben hatten, lautete, Perry Rhodan und Pey-Ceyan zu finden – falls die beiden entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch lebten. Gucky beharrte darauf, dass Rhodans Tod nicht endgültig gewesen war – und wie hätten ausgerechnet Lua und Vogel das anzweifeln dürfen? Zum einen kannten sie sich im Universum dieser Tage so gut wie nicht aus, zum anderen wussten sie aus eigenem Erleben, dass sich dem Tod ein Schnippchen schlagen ließ.

In Orpleyd angelangt, sah sich die Besatzung der RAS mit seltsamen Phänomenen konfrontiert, und recht schnell kam die Erkenntnis hinzu, dass die Galaxis offenbar von den despotischen Gyanli beherrscht wurde. Auf so gefährlichem Terrain war es gut, Verbündete zu suchen, und alsbald hatten sie dank Gucky, Lua und Farye Sepheroa das Aggregat gefunden: eine geheime Station für alle, die den Gyanli zu entkommen versuchten.

Doch nun waren eben diese Gyanli an Bord des Aggregats!

Ganz in seiner Nähe lagen zwei Leichen, auch wenn Vogel sie aus seiner Position nicht sehen konnte: To'a-Anum-Che, das Pflanzenwesen, und dessen insektoider Träger.

Nun, da Vogel sich erinnerte, roch er das Sekret, das den Gangboden bedeckte.

Er und Lua waren mit To'a-Anum-Che im Aggregat unterwegs gewesen und hatten sich weismachen lassen, es gäbe Geschöpfe ihrer Art – mithin: Menschen – in der riesigen Raumstation. Die irrationale Hoffnung, Überlebende der ATLANC vorzufinden, hatte sie direkt in die Falle laufen lassen. Vier Gyanli hatten ihnen den Fluchtweg abgeschnitten, Lua und ihn außer Gefecht gesetzt und sie mit Fesselfeldern fixiert. Zwei Gyanli waren beim Kampf gegen To'a-Anum-Che und dessen Träger gestorben. Auch ihre Leichen mussten ganz in der Nähe sein. Die überlebenden Angreifer hatten ihrerseits zugeschlagen und die gerade erst gewonnen Verbündeten getötet.

Vogel bebte vor Zorn. Er drehte den Kopf. Anders als seinen übrigen Körper konnte er sich bis zum Hals bewegen. Nun sah er Lua. Sie lag unter einem dunkelroten Flimmern gefangen, wahrscheinlich einer Energiehülle. Vogels Fesselfeld schimmerte im gleichen Farbton. Es lag wie eine zweite Haut um ihn, engte ihn ein. Zu atmen war anstrengend.

Zwischen Luas Beinen stand eine mehrere Zentimeter hohe graue Pyramide. Vogel vermutete darin die Energiequelle für das Fesselfeld. Spektakulärer war jedoch seine Beobachtung, wie Luas scharlachrote Haarsträhne sich bewegte: Sie ringelte sich ein und streckte sich danach wie ein überlanger Wurm, der aus dem blonden Haar fortkriechen wollte. Winzige Verschiebungen auf der Oberfläche reflektierten das flackernde, schwache Licht der Wandbeleuchtung.

Lua schaute zu ihm und kniff ein Auge zu, so wie er es tat, wenn er nachdachte.

Vogel tat es ihr gleich. Lua startete offenbar einen Befreiungsversuch!

Sie nickte kaum merklich in seine Richtung. Sicher hieß das, dass sie nach Möglichkeit auch sein Fesselfeld aufheben wollte. Im vergangenen Jahr war es ihr gelungen, Teile aus ihrer Haarsträhne abgekoppelt zu lenken. Sie konnte einen winzigen Bereich abtrennen und fortschicken, damit er Aufträge für sie erfüllte.

Ein Teil der roten Haarspitze zerrieselte wie Sand. Eine dünne Wolke aus roten Körnern bildete sich, kaum drei Zentimeter groß, die über den Boden auf Vogels Beine zuwaberte. Zeitgleich schwebte die Antigraveinheit auf Lua zu, die Vogels Hals traktiert hatte.

Vogel hielt den Atem an. Die Pyramide landete auf Luas Schulter. Bläuliches Licht flammte auf, erlosch sofort wieder. Lua blinzelte, verdrehte die Augen. Sie schien benommen. Hatte die Roboteinheit ihr etwas injiziert, wie ihm zuvor?

»Ist es nicht herrlich?«, fragte der Gyanli, der Lua als »Weibchen« bezeichnet hatte.

Ruckartig fuhr Vogels Kopf herum, doch der Schlächter To'a-Anum-Ches meinte nicht ihn oder Lua. Er sprach mit seinem Verbündeten. Zwischen den beiden Daumen der blauhäutigen Sechsfingerhand hielt er ein Plättchen, das Vogel an die archivarischen Aufzeichnungen der ATLANC über Münzen denken ließ. Es war der Datenträger, auf den dieser arrogante Mistkerl das Zellgedächtnis To'a-Anum-Ches kopiert hatte. Vogel hatte es mit ansehen müssen.

»Ja!« Erneut erklang das obszöne Schmatzen. »Endlich haben wir die Grundlagen für eine Landkarte. Wir werden im Staubgürtel navigieren können. Bald wird dieser armselige Bausatz aus Schrott und Raumschiffen auseinanderfliegen. Wir werden das Aggregat auslöschen und den Widerstand für alle Zeiten brechen. Ich werde bei den Sturmhäutlern sein, die ...«

»Du?«, unterbrach der andere Gyanli. Er war schlanker und größer als sein Begleiter. »Ich wüsste nicht, dass du wie ich aus dem Shod-Clan stammtest. Und dennoch willst du wichtig sein?« Er legte den kahlen Kopf zurück, drehte sich ein Stück. Unter der blassblauen Haut pulsierten Adern.

Vogel erkannte helle Linien und Muster, die den hinteren Teil des Schädels umspannten wie Intarsien. Versuchte der Fremde, sich größer zu machen? War es eine Drohgebärde oder eine Geste der Verachtung?

Der Gyanli verengte die Augen, bis das Dunkelblau der Iris schwarz erschien. »Du wirst gar nichts. Wenn einer den Angriff leiten wird, werde ich das sein. Hinter meinen Drifthäuten werden Flottenverbände kommen, um das Aggregat dieses Abschaums in seine Atome aufzulösen.«

»Das ist unser gemeinsamer Triumph! Ohne mich wärst du gescheitert, Wyhdomadr. Lass mich dein Folger sein! Ich will an deiner Seite atmen, wenn das Aggregat untergeht!«

»Ich überlege es mir.«

Vogel schaute zurück zu Lua. Ihr Gesicht war gerötet, winzige Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, doch ihre Augen waren klar. Wenn sie etwas gespritzt bekommen hatte, vertrug sie es erstaunlich gut.

Es war Zeit, sich bereit zu machen. Sein Körper war steif vom Liegen, die Füße taub durch das eng anliegende Fesselfeld. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Yilld-Auge, den Punkt tief in seinem Unterbauch, den Atlan ihm während der Dagor-Lektionen im Sturmland gezeigt hatte. Nach und nach spürte er, wie seine Arme und Beine wacher wurden. Er rief sich die Umgebung ins Gedächtnis, die scharfen Zacken, die an manchen Stellen aus der schimmelbefleckten Wand ragten, die Löcher im Boden, die er vor seiner Gefangenschaft in diesem verfallenen Bereich bemerkt hatte.

Trotz geschlossener Augen nahm Vogel jeden Laut wahr. Wenn Lua aufsprang oder etwas flüsterte, würde er es hören.

 

*

 

Lua Virtanen spürte, wie die tt-Progenitoren ihrer Haarsträhne mit dem Fesselfeld verschmolzen. Die totipotenten technischen Progenitorzellen waren anorganische Stammzellen aus hochkomplexer Formenergie, die ihren Energiebedarf eigenständig aus dem Hyperraum deckten. Sie konnten sich teilen, vermehren und regenerieren.

Manchmal war Lua, als verstünde sie die Kommunikation zwischen den Zellen ihrer Haarsträhne. In ihr war ein intuitives Wissen verankert, mit dem sie die Progenitoren in ihrer Haarsträhne zu beeinflussen vermochte.

Die Zellen hatten das Feld berührt, waren eins mit seiner Struktur geworden und bereit, zuzuschlagen. Ein Impuls von ihr würde genügen, damit die lähmende zweite Haut, die kaum einen Atemzug erlaubte, erlosch. Doch zuerst musste sie Vogels Fesselfeld unter Kontrolle bringen. Zu zweit hatten sie eher eine Chance zu entkommen.

Einige ihrer winzigen Helfer hatten sich nahezu unsichtbar in Bewegung gesetzt, krochen in Form einer schwachen, rötlichen Wolke auf die Pyramide zwischen Vogels Beinen zu. Bald würden sie das technische Gerät erreichen und ebenfalls zuschlagen können.

Der pyramidenförmige Roboter auf ihrer Schulter glitt vor, dichter an den Hals heran. Zwei winzige Greifarme fuhren aus und öffneten den silbernen Anzugkragen über Luas Kehlkopf.

Panik stieg in Lua auf. Was hatte dieses Ding vor? Wollte es ihr erneut etwas injizieren?

Bleib ruhig!, mahnte sie sich. Vielleicht will es sich nur das Genolutionszeichen genauer ansehen.

Auf dem Hals trug Lua ein Symbol aus Schuppen. Es war das erste Geschenk ihres Lebens, eines, das der Vater ihr schon vor der Geburt gemacht hatte. Es zeigte eine sich verbreiternde Spirale, das Zeichen der Genolution, deren Anhänger ihr Vater auf der ATLANC gewesen war.

Lua versuchte, den Roboter zu ignorieren und sich zu konzentrieren. Gab sie ihrer Angst nach, würde sie die Rückmeldungen der tt-Progenitoren möglicherweise überhören – oder besser: überfühlen. Wie genau es funktionierte, wusste sie selbst nicht. Vieles tat sie intuitiv, wie in ihrer Ausbildung zur Geniferin. Sie hatte ein Gespür für höherdimensionale Technik, wusste einfach, wie sie tickte.

Es musste eine Kombination aus ihrer erlernten Geniferenfähigkeit zur Steuerung von Technik und ihrer angeborenen besonderen Affinität zu höherdimensionalen Bereichen sein.

Letztere verdankte sie genetischen Manipulationen: Das ANC hatte sie – wie ihr Vater – lange vor der Geburt manipuliert, ihr einen eigenen Stempel aufgedrückt, ein ganz eigenes Genolutionssymbol, das sie einzigartig machte: die Fähigkeit, sich dort zu orientieren, wo niemand sonst es konnte, in verborgenen, höherdimensionalen Schiffsbereichen. Früher hatte sie das stolz gemacht und ihr Mut gegeben. Doch nun war sie nicht mehr auf der ATLANC. Sie befand sich weit fort von der Synchronie oder der Milchstraße in einem muffigen Gang, und die Angst drohte sie zu überwältigen.

Es lag nicht nur an der Robotereinheit, die mit metallenen Fingern das Genolutionszeichen an ihrem Hals abtastete, als überlegte sie, es wegzuschneiden. Es lag auch an den Bildern, die ungewollt wie Ausbrecher in ihrer Erinnerung aufstiegen. Lua sah den Balg, die Haut des Atopen Matan Addaru, die ihre und Vogels ÜBSEF-Konstanten miteinander verwoben hatte. Ihretwegen wirkte Luas Zellaktivator automatisch auch auf Vogel, und darum waren die beiden nun für immer aneinander gebunden – seit Luas Wiederauferstehung in den Jenzeitigen Landen, die den Tod ungeschehen gemacht hatte.

Sie sah die entsetzlichen Mnemo-Korsaren, die sie und Vogel in den Jenzeitigen Landen überwältigt hatten. Ihre Mörder. Wäre sie an einem anderen Ort gestorben, wäre es endgültig gewesen.

»Ist die Untersuchung endlich fertig?«, fragte einer der Angreifer. »Es ist Zeit, zu verschwinden.«

»Gleich«, beschied der Zweite.

Lua wollte mit den Lippen einen Countdown formen. Sie wusste, dass Vogel bereit war und dass die tt-Progenitoren in Stellung waren. Sie hatte den Progenitoren vorab gedanklich mitgeteilt, was zu tun war, und ihre Helfer hatten es im Rahmen ihrer Möglichkeiten umgesetzt. Was nun geschah, stand und fiel mit ihr.

Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Da war diese große Waffe, die einer der beiden amphibienartigen Außerirdischen trug. Sie war lang wie ein Arm. Unheilvolle Lichtblitze huschten auf einer Seite darüber. Was, wenn der Gyanli damit auf sie schoss? Würde es genauso wehtun wie die Energiepeitsche des Mnemo-Korsaren?

Damals hatten Vogel und Atlan sie aus dem Tod zurückgeholt. Aber Atlan war nicht da, und Lua befand sich weit außerhalb der Ländereien von Thez.

Du hast den Zellaktivator, sagte die Stimme ihres Vaters. Vertrau auf dich. Los!

Eine zweite Stimme fiel ein, ein tonloser Hauch: Das MEIN, das ANC, glaubt an dich.

Doch warum sollte Lua auf Stimmen aus ihrer Vergangenheit hören, die keine Bedeutung mehr hatten? Ihr Vater war tot. Das ANC erloschen. Sie war allein.

»Lua!«, zischte Vogel.

Seine Stimme riss Lua aus der Angst. Sie war nicht allein. Sie würde nie mehr allein sein. Vogel war da.

»Zehn«, formte sie lautlos mit den Lippen. »Neun, acht, sieben.«

Bei »sechs« schauten sie einander an. Sie zählten in einem Rhythmus, im Takt ihrer Herzen, die nun gleich schlugen.

Der Gyanli mit der Waffe kam näher. Er hielt das Strahlengewehr locker in der Hand.

»Fünf.«

Der Blauhäutige erreichte Vogel, legte den Kopf schief. Sein kahler Schädel war durchgängig frei von Intarsien. Er war breiter und kleiner als der andere Gyanli. »Ist dieser hier nicht besonders hässlich? Schau dir den Schnabel an. Widerwärtig. Wann darf ich ihn töten und die Galaxis von ihm befreien?«

Während er sprach, löste sich der Roboter von Lua, schwebte in die Höhe und flog auf den waffenlosen Gyanli zu.

Vier, drei, zwei.

»Du bist ungeduldig«, sagte der größere der beiden. »Du ...«

Eins!

Lua schickte den mentalen Impuls. Die Fesselfelder erloschen zeitgleich. Das rote Flimmern erstarb.

Der Gyanli vor Vogel blies die Wangen auf. »Was ...?«

Vogel sprang auf die Füße, stieß die Strahlenwaffe mit einem Arm zur Seite und schlug mit der Faust des anderen Arms unter das Kinn des Gyanli. Gleichzeitig hämmerte er dem Blauhäutigen den Schnabel in die Körpermitte, auf den dünnen Schutzanzug.

Wie schnell er sich bewegte! Lua dagegen schaffte es kaum, auf die Beine zu kommen. Ihre Muskeln waren steif, die Waden schmerzten. Sie torkelte und wäre beinahe gestürzt.

Der attackierte Gyanli zuckte zusammen, doch er blieb aufrecht, wich lediglich zurück, um einem weiteren Schnabelstoß zu entgehen. Er überragte Vogel um zwei Kopflängen. Mit einem Ruck wollte er die Waffe auf Vogel richten.

Ihr Freund machte die Bewegung mit, blieb an seinem Gegner, als würde er an ihm kleben. Gemeinsam zielten er und der Gyanli mit der Waffe dahin, wo Vogel kurz zuvor gestanden hatte. Ein heller Lichtblitz surrte davon, dem zweiten Gyanli entgegen, der auf sie zueilte. In dessen Hand lag eine kleinere Waffe.

Der Lichtblitz traf seinen Unterarm, die Waffe fiel zu Boden.

Lua fing sich, machte zwei Schritte und trat die Waffe fort. Der Strahler schlitterte mehrere Meter weit.

Der größere Gyanli kam heran. Blauviolette Flüssigkeit lief aus seinem Unterarm, wo der Energiestrahl ihn getroffen hatte. Er trat nach Lua, traf sie an der Hüfte. Schmerz raste durch ihre linke Seite. Mit einem Aufschrei stürzte sie zu Boden. Von dieser Position sah ihr Gegner erst recht aus wie ein Gigant, der auf sie zukam um sie zu zertreten wie den hilflosen To'a-Anum-Che.

Lua robbte zurück, tastete mit der Hand nach der Waffe, die irgendwo hinter ihr liegen musste. Sie war zu entsetzt und fasziniert, um den Gyanli aus den Augen zu lassen.

Der Fremde setzte aber zu ihrem Erstaunen nicht nach, im Gegenteil, er wich zurück. »Bring diese Niederkreaturen um!«, herrschte er seinen Verbündeten an.

Jener hatte allerdings seine liebe Mühe mit Vogel. Obwohl ihr Freund kleiner und schwächer war, teilte er in rascher Folge Hiebe und Tritte aus. Immer wieder drosch er dem Gyanli in die Seite, dass dieser nach Luft schnappte, und hackte zugleich mit dem Schnabel Löcher in den Schutzanzug. Der Gyanli klammerte sich an seine Waffe, versuchte, den richtigen Schussabstand zwischen sich und Vogel zu bringen.

Lua ertastete die Strahlenpistole hinter sich, hob sie auf und richtete sie auf den Gegner. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie sich auf die Beine.

Der Gyanli beobachtete sie. Seine Hand berührte eine Tasche des Schutzanzugs. Dorthin hatte er den Datenträger mit der Kopie des Zellgedächtnisses gesteckt. Jene Kopie, von der Hunderttausende Leben abhingen, weil sie den Weg zum Aggregat eröffnete.

Todesmutig machte Lua einen Schritt auf ihn zu. »Hey, du! Gib den Datenträger her, oder ich erschieße dich!«

Ein Geräusch wie ein Quaken antwortete ihr. Die blauen Augen waren Schlitze. Verspottete der Gyanli sie? War er wütend?

Langsam drehte der Fremde sich um, wandte Lua den Rücken zu. »Ich überlasse sie dir, Fythomir. Enttäusch mich nicht.« Er ging davon, unbeeindruckt von der Waffe, die Lua auf ihn richtete.

Lua drückte auf das, was sie für den Auslöser hielt, doch nichts geschah. So ein Mist! Konnte die Waffe nur von einem Gyanli benutzt werden? Oder vielleicht nur von ihrem Besitzer?

Sie wollte dem arroganten Kerl folgen, doch der Schmerz in Hüfte und Bein hielt sie ab. Mit zitternden Fingern versuchte Lua, an ihrem Armbandgerät eine Verbindung mit Gucky herzustellen.

»Keine Verbindung möglich«, teilte ihr die Positronik mit. »Es liegt eine Störung vor.«

»Mist, Mist, Mist!«

Fythomir ließ die Waffe fallen, schnalzte mit der Zunge und stieß Vogel ein Stück von sich. Er blutete aus mehreren Armwunden. Mit einem der langen Beine trat er nach Vogel.

Lua schauderte, als sie Vogels Gesichtsausdruck sah. Sie hätte sicher in dieser Situation nicht nach ihm getreten. Ihr Freund war die Ruhe selbst. Unheimlich.

Vogel packte das Bein, brachte den Gyanli zu Fall und schnappte sich das Gewehr. Mit dem breiteren Ende versetzte er Fythomir einen Schlag gegen den Kopf.

Fythomir brach zusammen.

»Der andere!«, rief Lua. »Er hat die Daten!«

Ruckartig schaute Vogel auf. Er blinzelte, als erwachte er aus einer Trance. »Schnappen wir ihn uns!« Er rannte los, das Gewehr in der Hand.

Lua folgte ihm. Der Zellaktivator schickte angenehme Impulse, die Schmerzen klangen bereits ab. Sie schaffte es, zu Vogel aufzuschließen.

Hinter ihnen klackerte es auf dem Metallgrund. Verdammt!

Fythomir war aufgesprungen, hetzte ihnen mit riesigen Schritten nach und warf sich auf Vogel, der herumfuhr und das Gewehr hob. Der Gyanli schlug ihm die Waffe aus der Hand.

Beide prallten gegen die Wand, stießen sich davon ab und torkelten auf eines der Löcher im Boden zu. Der Untergrund gab nach. Es krachte und ächzte. Schnalzen und Schnabelklappern vermischten sich mit einem intensiven Geruch nach vermoderten Algen.

Vogel und Fythomir stürzten eine Etage tiefer, fort aus Luas Sicht.

2.

Geißel der Galaxis

 

Gucky starrte auf das, was im Labor vor ihm auf präparierten Liegen ruhte: die Körper dreier fixierter Gyanli. Sie waren betäubt oder lagen in einer Art künstlichen Komas. Ein Stück silbrig weißer Stoff umwickelte die Hüften und einen Teil des Bauchs, ansonsten war die blassblaue Haut unbedeckt. Zwischen den Armen und dem Rumpf lagen eingefaltete Häute, die fahl waren und kränklich wirkten. Trotz der Betäubung waren die Arme und Beine der Gefangenen mit Bändern aus Kunststoff fixiert. Auch am Hals verlief eine drahtige Linie, die mit der Liege verschmolz. Offenkundig hatten die Rebellen Orpleyds vor ihren Tyrannen sogar Furcht, wenn sie bewusstlos waren.