Cover

Andrea Hackenberg

Abgeferkelt

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Andrea Hackenberg

Andrea Hackenberg studierte Geisteswissenschaften und arbeitete danach bei einer Tageszeitung in Lüneburg als Journalistin. Nebenbei machte sie eine Ausbildung zur Kosmetikerin, bevor sie in ihren eigentlichen Beruf zurückkehrte. Zurzeit ist sie als Redakteurin für ein Fachmagazin in Frankfurt am Main tätig.

Über dieses Buch

Die Beauty-Redakteurin Kati heuert bei einem Zeitungsverlag in der Lüneburger Heide als Lokalredakteurin an – sehr zum Unwillen ihrer Macho-Kollegen, die der »Reporter-Barbie« die unbeliebtesten Aufträge zuschanzen. Bei ihrem ersten Termin soll sie einen Bericht über den Tag der offenen Tür bei einer Schweinezüchter-Initiative schreiben – und landet höchst unelegant im Mist. Doch zum Glück gibt es noch den attraktiven Chefredakteur Jonas …

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Knaur Taschenbuch Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Alexandra Baisch

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: GettyImages/Tatsuhiko Sawada (0455-000487); FinePic®, München

ISBN 978-3-426-41295-4

Hinweise des Verlags

Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren spannenden Lesestoff aus dem Programm von Knaur eBook und neobooks.

Auf www.knaur-ebook.de finden Sie alle eBooks aus dem Programm der Verlagsgruppe Droemer Knaur.

Mit dem Knaur eBook Newsletter werden Sie regelmäßig über aktuelle Neuerscheinungen informiert.

Auf der Online-Plattform www.neobooks.com publizieren bisher unentdeckte Autoren ihre Werke als eBooks. Als Leser können Sie diese Titel überwiegend kostenlos herunterladen, lesen, rezensieren und zur Bewertung bei Droemer Knaur empfehlen.

Weitere Informationen rund um das Thema eBook erhalten Sie über unsere Facebook- und Twitter-Seiten:

http://www.facebook.com/knaurebook

http://twitter.com/knaurebook

http://www.facebook.com/neobooks

http://twitter.com/neobooks_com

 

 

 

Für meine wunderbaren Eltern

Prolog

Der Sarg hing schief. Jonas Larsen stand auf dem Hauptfriedhof und sah irritiert dabei zu, wie die sterblichen Überreste seines Verlegers in Schräglage über einem Erdloch baumelten. Der Sargträger hinten links, so schien es, hatte Angst vor Insekten. Jedenfalls schlug er panisch nach der kleinen Heidebiene vor seiner Nase, statt beide Hände an den Gurt zu legen, mit dem der Leichnam hinabgelassen werden sollte. Wind kam auf. Nicht viel, nur ein Lüftchen, doch es reichte aus, um die sorgsam über die Glatze des Mannes gekämmte Haarsträhne steil nach oben aufzurichten. Und dort wehte sie, während die Biene entschwebte und das Modell »Pietät kompakt« aus Eichenholz mit Glattwulst und Naturlasur endlich so waagrecht im Erdreich versank, wie sich das gehörte.

Jonas schob die Hände in die Jackentaschen und malte sich aus, wie Friedrich Amberg über diese kleine Panne geflucht hätte. Der verstorbene Verleger war ein Perfektionist gewesen, anspruchsvoll und ungnädig gegen sich und andere. Zu Lebzeiten hatte er sich so gründlich mit seinen Angehörigen überworfen, dass jetzt niemand am Grab stand, dem man hätte kondolieren können. Selbst Jonas fiel es schwer, sich im Guten an den Mann zurückzuerinnern, dem er eigentlich viel zu verdanken hatte: Als er vor zwei Jahren seinen Job als Ressortleiter einer großen Wirtschaftszeitung verlor, bot Amberg ihm unverzüglich den Posten als Chefredakteur in seiner Heimatstadt an.

»Du kennst unser Haus, seit du dein erstes Schülerpraktikum hier gemacht hast«, hatte er damals gesagt. »Komm zurück nach Grümmstein und lass meine Zeitung von dem profitieren, was du anderswo gelernt hast.«

Jonas konnte sich noch genau an die Vorbehalte erinnern, die ihm als Erstes in den Sinn kamen. »Sie haben die publizistische Linie hier in der Stadt jahrzehntelang vorgegeben, und die stimmt nicht mit meinen Vorstellungen überein«, hatte er eingewandt. »Meine Leitartikel würden Ihnen nicht gefallen.«

»Im Gegenteil, das, was ich von dir gelesen habe, gefällt mir sogar sehr. Ich bin zwar nicht in allem deiner Meinung, aber so ein bisschen frischer Wind täte meiner Zeitung zur Abwechslung mal ganz gut.«

»Das sagen Sie nur so lange, bis die ersten Anzeigenkunden ihre Aufträge zurückziehen, weil ihnen die Berichterstattung nicht mehr passt«, hatte Jonas erwidert, doch Friedrich Amberg hatte nur gelacht.

»Glaub mir, was die Anzeigenkunden angeht, hab ich einen langen Atem. Und abgesehen davon: Hast du nicht vier Kinder zu versorgen? An deiner Stelle würde ich nicht lange zögern und mein Angebot annehmen. Denn die Chance, eine Zeitung inhaltlich neu auszurichten, bekommt man nicht alle Tage.«

Und so hatte Jonas sich ködern lassen. Gegen seinen Instinkt, der ihn warnte, dass ein traditionell konservatives Haus wie der Amberg Verlag sich nicht über Nacht für liberale Werte öffnen würde. Und gegen den Willen seiner Frau, die sich bis zum Schluss weigerte, Hamburg zu verlassen und ihm und den Kindern in die Provinz zu folgen.

Inzwischen musste er sich eingestehen, dass seine anfänglichen Zweifel berechtigt gewesen waren: Die Widerstände gegen jede Form des kritischen Journalismus waren innerhalb des Verlages noch immer genauso groß wie in den politischen Zirkeln der Stadt. Seine Ehe bestand nur noch auf dem Papier. Und Friedrich Amberg war tot – gestorben an den Folgen einer Krebserkrankung, die er lange unterschätzt hatte. Was blieb, war ein Scherbenhaufen, der größer nicht sein konnte, und ein Verlag, in dem Jonas schon bald nicht mehr willkommen sein würde. Die Gerüchteküche brodelte seit Tagen: Angeblich hatte ein großes Medienhaus in Hamburg Interesse daran, sich die Grümmsteiner Zeitung einzuverleiben. Die Konsequenzen eines solchen Verkaufs waren offensichtlich: Zwei Chefredakteure würde sich der neue Inhaber nicht leisten, schon gar nicht, wenn der eine davon als unbequemer Querkopf galt.

Als die Trauergemeinde sich nun auflöste, bemerkte Jonas aus den Augenwinkeln, dass zwei Gestalten auf ihn zukamen: Oberbürgermeister Harald Martens, bekennender Konservativer und seit Jahren unangefochten an der Spitze der Stadt, sowie Dr. Cedric Buddington, Haus-Jurist und Leiter des Amberg Verlags.

»Wie sieht’s aus, Larsen?«, fragte Martens. »Kommen Sie mit zum Leichenschmaus?«

Jonas schüttelte den Kopf. »Ich fahre in die Redaktion zurück. Die Arbeit ruft, trotz allem.«

»Verständlich. Nun, die Nachricht vom Tod des alten Amberg kam für uns alle überraschend. Ich meine, zu erfahren, dass er Krebs hatte, war ja schon tragisch genug, aber dass es so schnell gehen würde …« Der Oberbürgermeister beugte sich vertraulich vor. »Man munkelt, dass der Verlag an die Tredbeck-Gruppe in Hamburg verkauft werden soll. Was sagen Sie dazu?«

»So wenig wie möglich«, gab Jonas zurück. »Als Chefredakteur bin ich lediglich für die journalistische Qualität der Zeitung zuständig.«

»Die Frage ist, wie lange noch«, sagte Martens leichthin. »Und über Qualität lässt sich ja bekanntlich streiten.«

»Sie sagen es. Aber dazu fehlt mir im Moment leider die Zeit. Guten Tag, die Herren.« Damit verabschiedete er sich und schlug den Weg zum Parkplatz ein.

Der Oberbürgermeister blickte ihm nach. »Sehen Sie zu, dass Sie diesen arroganten Hund bald loswerden.«

»Aber Herr Amberg hielt große Stücke auf ihn«, warf Buddington ein.

»Ein fataler Fehler, wenn Sie mich fragen. Larsens Artikel strotzen vor Sozialromantik, und der Linksruck, den das Blatt unter seiner Regie gemacht hat, verdirbt mir schon beim Frühstück den Appetit. Die Leute hier in der Stadt wollen so was nicht lesen, das höre ich von allen Seiten.«

»Aber die Abonnenten-Zahlen sind erstmals wieder leicht nach oben gegangen, seit Larsen …«

»Unsinn, das sagt doch überhaupt nichts aus!« Martens riss ein Papiertuch aus seiner Manteltasche und schnaubte geräuschvoll hinein. »Die Tredbeck-Gruppe steht für einen Journalismus, wie wir ihn hier in Grümmstein traditionell gewohnt sind: gemäßigt und zurückhaltend. Die Art, wie neuerdings verdiente Mitglieder des Stadtrats durch die Lokalredaktion aufs Korn genommen, ja, geradezu gehetzt werden, kann ich nicht gutheißen. Aber der alte Amberg war in den letzten Monaten seines Lebens nicht mehr zugänglich für konstruktive Kritik. Von daher wird es höchste Zeit, dass dieser Verlag endlich wieder in vertrauenswürdige Hände fällt.«

»Noch ist es zu früh für derartige Spekulationen«, gab Buddington zu bedenken. »Ambergs Erbe hat sich schließlich noch nicht dazu geäußert, was mit der Zeitung geschehen soll.«

»So? Und wer ist dieser geheimnisvolle Erbe, wenn man fragen darf?«

»Sie wissen, dass ich dazu im Moment nichts sagen kann. Die Schweigepflicht …«

»Und Sie wissen, dass es als Oberbürgermeister von großer Bedeutung für mich ist, wer den einzigen Zeitungsverlag in meiner Stadt besitzt.«

»Das verstehe ich. Aber mir sind die Hände gebunden …«

»Ich will Sie nicht in Gewissensnöte bringen«, lenkte Martens ein. »Nur so viel: Ich habe gute Kontakte zur Tredbeck-Gruppe, nicht zuletzt deshalb, weil mein Sohn im Vorstand sitzt. Daher weiß ich aus sicherer Quelle, dass man in Hamburg wirklich großes Interesse hat, unsere kleine Grümmsteiner Zeitung zu einem Teil des Konzerns zu machen. Aus Sicht der Stadt hätte diese Übernahme nur Vorteile.«

»Tatsächlich? Gehen nicht bei jeder Fusion Arbeitsplätze verloren …?«

»Aber, aber – verehrter Buddington! Davon wären Sie doch nicht persönlich betroffen. Außerdem: Was ist schlecht daran, Synergie-Effekte besser zu nutzen? Glauben Sie mir, wenn ein Unternehmen sich wirtschaftlich effizienter aufstellt, profitiert die ganze Stadt davon. Insbesondere, wenn eine Neubesetzung der Chefredaktion damit verbunden ist.«

»Trotzdem müssen wir abwarten, wie der Erbe sich entscheidet«, wandte Buddington ein.

»Natürlich müssen wir das, gar keine Frage. Nur … Da könnten Sie doch sicher ein wenig nachhelfen, oder?«

»Wie bitte?«

Der Oberbürgermeister sah ihm ins Gesicht. »Unterbreiten Sie dem Amberg-Erben das Angebot der Tredbeck-Gruppe mit dem nötigen Enthusiasmus, und es wird Ihr Schaden nicht sein.« Martens blickte sich nach allen Seiten um, bevor er weitersprach. »Konkret heißt das: Wenn der Deal zustande kommt und der Erbe den Verlag an Tredbeck verkauft, winkt Ihnen ein Posten im Aufsichtsrat und eine großzügige Prämie.«

»Sie reden von Bestechung?«

»Ich rede von einer kleinen Aufwandsentschädigung für die großen Mühen, die Sie auf sich nehmen«, stellte Martens klar. »Nur dass wir uns da richtig verstehen: Offiziell habe ich das nie gesagt.«

»Verstehe«, sagte Buddington. »Ich denke darüber nach.«

»Machen Sie das, mein Lieber, machen Sie das. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich schon mal vorausgehe? Mein Fahrer holt mich am Tor ab.«

Der Oberbürgermeister verabschiedete sich mit einem schlaffen Händedruck und schritt in Richtung Ausgang davon. Dass er dabei eine Abkürzung nahm und kurzerhand über zwei Gräber stieg, hielt Buddington für kein gutes Omen. Dennoch war sein Entschluss gefasst: Er würde so bald wie möglich nach Frankfurt fahren und mit dem Mädchen reden.

1.

Beim Zuschrauben des Tankdeckels kam es zu einem Lackschaden. Kati Margold hielt ihre sorgfältig manikürte Hand hoch und fluchte leise: Ein hässlicher Riss zog sich durch die Nuance »Particulière 505« auf ihrem Daumennagel, die sie am Abend zuvor peinlich genau aufgetragen hatte. Mist.

Sie warf ihr dichtes, blondes Haar über die Schulter zurück, schnappte sich ihre Handtasche und stöckelte mit ärgerlichen kleinen Schritten auf das Tankstellengebäude zu. Hoffentlich fand sich im Kosmetik-Fundus der Redaktion ein halbwegs passender Nagellack, mit dem sich diese Beauty-Panne schleunigst beheben ließ. Sie bezahlte, verkniff sich angesichts des horrenden Benzinpreises ihr obligatorisches Schoko-Croissant und fuhr mit knurrendem Magen zur Arbeit. Einen katastrophaleren Einstieg in einen Montag konnte es aus ihrer Sicht gar nicht geben.

Doch als sie zwanzig Minuten später ihr Büro im Verlag der Frauenzeitschrift Herzwoche betreten wollte, wurde sie schon auf dem Flur von ihrer Kollegin abgefangen.

»Da ist Besuch für dich«, sagte Rebekka mit kaum verhohlener Neugier. »Ein Anwalt aus Norddeutschland – hast du was angestellt?«

»Ja, vorhin an der Tankstelle.« Kati hielt ihr den ruinierten Daumennagel hin.

»Oh, mein Gott!« Zutiefst beeindruckt starrte Rebekka auf den schlammfarbenen Nagellack. »Ist das der Echte von Chanel oder eine Kopie?«

»Der Echte natürlich, was denkst du denn?«

»Aber der ist doch seit Wochen überall ausverkauft!«

»Unsinn, beim Kaufhof auf der Zeil gibt’s den haufenweise.«

»Okay, damit fällt meine Mittagspause ins Wasser. Ich muss da hin.«

»Erzählst du mir vorher noch, was es mit diesem Anwalt auf sich hat?« Kati schälte sich aus ihrem taillierten Wollmantel, unter dem sie einen knielangen Rock, Stiefeletten und einen hautengen Pullover trug.

»Würde ich ja gerne, aber er hat gesagt, es handelt sich um eine Privatangelegenheit. Und dass er dich nur ganz kurz sprechen will.« Rebekka kam ein Gedanke. »Nicht dass Ralf dir diesen Typ auf den Hals gehetzt hat.«

»Wieso sollte er? Wir haben uns im Guten getrennt. Außerdem hat er mich verlassen, nicht umgekehrt.«

»Was ich ja nach wie vor für den Oberhammer halte. Ich meine – ausgerechnet mit unserer Chefin ins Bett steigen? Wie krank ist das denn?«

»Nicht so laut«, erwiderte Kati mit warnendem Blick auf Chantals halb geöffnete Bürotür. »Sie könnte uns hören.«

»Und wennschon – ich find’s unmöglich, wie sie sich in eure Beziehung gedrängt hat. Und ich frage mich, wie du bei der ganzen Sache so ruhig bleiben kannst.«

»Ich bin nicht ruhig. Nur auf meinen Job angewiesen.«

»Als ob du nichts Besseres finden würdest als das hier.«

»Klar, vor lauter Headhunter-Anrufen komme ich kaum dazu, meine Artikel fertigzuschreiben.«

»Kein Mensch zwingt dich, dein Leben lang Beauty-Redakteurin zu bleiben«, beharrte Rebekka. »Du könntest dir was anderes suchen, in einer anderen Stadt.«

»Um dir die Kosmetik-Pakete zu überlassen, die ich jeden Tag zugeschickt bekomme? Vergiss es.« Kati öffnete die Tür zu ihrem Büro und warf ihren Mantel auf den nächstbesten Stuhl. »Ich bringe die Sache mit diesem Anwalt besser hinter mich. Wo hast du ihn hingesetzt?«

»In den großen Konferenzraum. Aber denk dran, dass wir da um zehn unser Meeting haben – bis dahin solltest du den Typ abgewimmelt haben, sonst wird Chantal stocksauer.«

»Wann ist die eigentlich nicht stocksauer?«, brummelte Kati vor sich hin, während sie sich auf den Weg zum Konferenzraum machte. Es schien nichts zu geben, womit sie es ihrer Chefin recht machen konnte. Seit ihrem Amtsantritt vor knapp einem Jahr mäkelte Chantal Ahlers pausenlos an Katis Texten sowie an der Auswahl ihrer Bilder und Themen. Das Einzige, was ihr jemals gefallen hatte, war Katis Freund Ralf, der als Rätselredakteur auf demselben Flur arbeitete. Von dem war Chantal so angetan gewesen, dass sie ihn bei der letzten Weihnachtsfeier mit nach Hause genommen und seither nicht wieder zurückgegeben hatte.

Vor dem Besprechungszimmer angekommen, holte Kati tief Luft, gab sich einen Ruck und trat ein. Der Mann, der auf sie wartete, mochte Ende fünfzig sein, war hochgewachsen und hager und wirkte irgendwie angespannt. Kati war sich sicher, ihm noch nie begegnet zu sein.

»Guten Morgen«, begrüßte sie ihn. »Ich bin Katharina Margold. Sie wollten mich sprechen?«

»In der Tat. Mein Name ist Buddington. Dr. Cedric Buddington.« Er reichte ihr seine Karte. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie hier an Ihrem Arbeitsplatz überfalle, aber bei Ihnen zu Hause war in den letzten Tagen niemand zu erreichen.«

»Stimmt, da wohne ich nicht mehr«, entgegnete Kati. Nach Ralfs Seitensprung war sie überstürzt zu ihrem Halbbruder gezogen, und Ralf selbst schien sich neuerdings fast ausschließlich bei Chantal aufzuhalten.

»Ich will mich kurz fassen«, fuhr Buddington fort. »Es geht um Ihren Vater, Herrn Friedrich Amberg.«

Kati spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. »Das ist nicht mein Vater.«

»Wie bitte?«

»Das ist nicht mein Vater. Bestenfalls mein Erzeuger. Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm.«

Buddington räusperte sich. »Er ist gestorben, Frau Margold. Schon vor drei Wochen.«

»Was? Aber, wieso …?«

»Krebs. Er hat niemandem etwas gesagt.«

Kati sank auf einen Stuhl, und die Gedanken in ihrem Kopf rasten. Friedrich war tot. Doch alles, was sie fühlte, war eine seltsame, teilnahmslose Leere.

»Wir haben Ihnen eine Traueranzeige geschickt und Sie mehrfach angeschrieben«, sprach Buddington weiter. »Als daraufhin keine Reaktion kam, habe ich mich entschlossen, Ihnen die traurige Botschaft persönlich zu überbringen. Mein herzlichstes Beileid.«

»Ich habe keinen der Briefe bekommen«, stieß Kati hervor.

»Haben Sie denn keinen Nachsendeantrag gestellt?«

»Dazu war keine Zeit. Meine … private Situation ist im Moment etwas schwierig … Ich habe mich von meinem Freund getrennt und bin kurzfristig ausgezogen, wissen Sie.«

»Verstehe. Nun, Frau Margold – ich würde mich gern mit Ihnen über den Nachlass Ihres Vaters unterhalten.«

»Über seinen – was?«

»Über das, was er Ihnen hinterlassen hat – die Grümmsteiner Zeitung.«

Kati klappte der Unterkiefer herunter. »Nie im Leben.«

»Wieso überrascht Sie das? Der Amberg Verlag ist seit seiner Gründung durchgehend in Familienbesitz. Da war es Ihrem traditionsbewussten Vater natürlich ein Anliegen, dass seine einzige Tochter seine Nachfolge antritt.«

»Mein traditionsbewusster Vater hat mir nicht mal meine Ausbildung finanziert«, gab Kati zurück. »Außerdem fand er, dass Frauen im Journalismus nichts verloren haben. Wieso sollte er mir da also gleich einen ganzen Verlag vererben?«

»In der Tat hatte Herr Amberg gewisse Vorbehalte, was Ihre Qualifikation betrifft …«

Kati lachte auf. »Er hielt mich für strunzdumm, weil ich mein Abitur nicht geschafft habe.«

»Sagen wir lieber, dass er Sie nicht überfordern wollte. Daher hat er entsprechende Vorkehrungen für Sie und den Verlag getroffen.«

»Ach, inwiefern?«

»Es gibt da dieses große Medienhaus in Hamburg, die sogenannte Tredbeck-Gruppe. Dort ist man sehr daran interessiert, die Grümmsteiner Zeitung zu kaufen – zu einem überaus fairen Preis.«

»Ich soll verkaufen?«, wiederholte Kati ungläubig. »Das hat Friedrich gewollt?«

»In letzter Konsequenz wollte er die Entscheidung natürlich Ihnen überlassen. Doch er wusste, dass schwierige Zeiten auf den Verlag zukommen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Das Zeitungsmachen ist nicht einfacher geworden, seitdem es das Internet gibt«, erklärte Buddington. »Es werden inzwischen mehr Anzeigen auf Onlineportalen geschaltet als auf bedrucktem Papier. Da hat auch der Amberg Verlag empfindliche Einbußen hinnehmen müssen. Und das hat natürlich auch Auswirkungen auf Ihr Erbe.«

»Heißt das, der Verlag ist verschuldet?«

»Nein, aber Umsätze und Gewinne sind rückläufig. Auch die Zahl der Zeitungsabonnenten sinkt stetig, und so musste Herr Amberg kurz vor seinem Tod einen drastischen Sparkurs einschlagen.«

»Sparkurs?«

»Wir haben den Seitenumfang der Zeitung auf ein Minimum reduziert, um die Papierkosten zu senken, und außerdem sozialverträglich Personal abgebaut, indem wir die Leute, wann immer es ging, in Rente geschickt haben.« Der Anwalt machte eine bedeutungsvolle Pause. »Über eines sollten Sie sich jedoch keine Illusionen machen: All diese Vorkehrungen sind auf Dauer keine Lösung für den Verlag. Wir bräuchten neue Einnahmequellen, damit uns die Kosten nicht weiter aus dem Ruder laufen. In einer strukturschwachen Gegend wie der Lüneburger Heide wird es allerdings nicht einfach sein, solche zu finden. Herr Amberg war sich darüber völlig im Klaren. Im Übrigen auch darüber, was er Ihnen mit diesem Erbe zumuten kann und was nicht. Daher wäre es sicher in seinem Sinne gewesen, wenn Sie das Angebot der Tredbeck-Gruppe wohlwollend prüfen.«

Kati starrte ihn an. »Mit anderen Worten: Friedrich hat mir sowieso nicht zugetraut, den Verlag halten zu können. Ist es das, was Sie sagen wollen?«

»Ich würde mir niemals anmaßen …«

»Schon gut.«

Das minutenlange Schweigen, das daraufhin einsetzte, bereitete Buddington Unbehagen. »Ich bleibe noch ein paar Tage in der Stadt«, sagte er schließlich. »Wir können uns also noch einmal in Ruhe über alles unterhalten.«

»Das … das wäre wahrscheinlich das Beste. Ich muss nämlich so langsam an die Arbeit, wissen Sie.«

»Das verstehe ich vollkommen. Sie haben ja meine Karte.«

»Ich melde mich. Versprochen.«

Nachdem der Anwalt sich verabschiedet hatte, schloss Kati sich in der Damentoilette ein und lehnte sich gegen die gekachelte Wand.

Friedrich.

So fühlte es sich also an, wenn jemand starb, ohne dass man seinen Frieden mit ihm gemacht hatte. Kati stützte die Hände auf dem Rand des Waschbeckens ab und betrachtete sich im Spiegel.

»Ich verlange von meiner Tochter, dass sie mehr kann, als sich anzumalen!«, hatte er sie damals angebrüllt, als sie wegen schlechter Noten vom Gymnasium geflogen war. Ihr Wunsch, eine private Kosmetikschule zu besuchen, bewies seiner Ansicht nach nur, dass sie »den Tiefgang einer Pfütze« besaß. »So dämlich kann doch kein Mensch sein!« – Wie oft hatte sie diesen Satz von ihm gehört? Spätestens mit 15 war Kati durch seine unnachgiebige Strenge so eingeschüchtert gewesen, dass sie sich weigerte, die allmonatlichen Pflichtbesuche bei ihm in Grümmstein anzutreten. Da Heiner Margold, der neue Mann an der Seite ihrer Mutter, außerdem ein wundervoller Adoptivvater war, hätte es ihr eigentlich zunehmend egal sein können, was Friedrich Amberg von ihr hielt. Doch der Schmerz darüber, von ihm abgelehnt zu werden, saß so tief, dass sie in den folgenden Jahren alles tat, um ihn zu beeindrucken: Sie finanzierte sich die Ausbildung an der teuren Kosmetikschule selbst, indem sie kellnern ging. Sie ergatterte mit viel Hartnäckigkeit ein Praktikum im Beauty-Ressort der Frauenzeitschrift Herzwoche. Und weil es ihr dort gelang, als Auszubildende und schließlich als Redakteurin übernommen zu werden, glaubte sie zunächst, dass Friedrich gar nicht umhinkönnte, endlich stolz auf sie zu sein. Immerhin hatte sie es doch geschafft, auch ohne Abitur Journalistin zu werden, und war in seine Fußstapfen getreten.

Doch ihr Vater sah das anders, wie immer. »Das, was du da machst, ist kein Journalismus«, hatte er gesagt, nachdem er einen Blick auf ihre ersten Beauty-Texte in der Herzwoche geworfen hatte.

»Ich werde aber als Journalistin bezahlt.«

»Ach, und wofür? Du machst doch nichts anderes, als Pressemitteilungen von Kosmetikfirmen abzutippen und dafür auch noch Geschenke zu kassieren.«

»Aber nur zu Recherche-Zwecken«, hatte Kati widersprochen. »Ich muss doch wissen, wie die Produkte wirken, über die ich schreibe!«

»Recherche ist, wenn man auf der Suche nach der Wahrheit unbestechlich durch den Schlamm kriecht. Das, was du da veranstaltest, ist nichts anderes als Augenwischerei mit Faltencreme, merk dir das!«

Irgendwann hatte Kati es aufgegeben, ihrem Vater imponieren zu wollen. Der Kontakt zu ihm war mit den Jahren spärlicher geworden und schließlich, begünstigt durch die Entfernung zwischen Frankfurt und Grümmstein, ganz abgebrochen. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie zuletzt einen Gedanken an Friedrich verschwendet hatte.

Bis heute.

Kati atmete tief durch. Ein Zeitungsverlag – was sollte sie damit nur anfangen? Noch immer fiel es ihr schwer, zu begreifen, was der Anwalt vorhin gesagt hatte. »Ihr Vater wollte Sie nicht überfordern und wusste, was er Ihnen mit diesem Erbe zumuten kann und was nicht.«

Ganz offenkundig war Friedrich noch weniger von ihren Fähigkeiten überzeugt gewesen, als sie es sich je hätte träumen lassen.

Mechanisch riss sie ein paar Papierhandtücher aus dem Behälter neben dem Waschbecken und tupfte sich die leicht glänzende Partie um ihre Nase ab. Und jetzt? Sie wusste es nicht. Und das war ein wirklich mieses Gefühl.

2.

Chantal Ahlers hasste Unpünktlichkeit. Keine guten Voraussetzungen angesichts der Tatsache, dass die Besprechung bereits seit 20 Minuten in vollem Gange war, als Kati in den Konferenzraum zurückkehrte. Dort wurde sie dann auch prompt von einem bedrohlichen Knurren in Empfang genommen: Chantals Hund, ein unsympathischer Mops namens »Kongo«, dessen Halsbänder stets farblich passend zur Handtasche seines Frauchens ausgewählt wurden, schoss unter dem Tisch hervor und bleckte die Zähne.

»Komm zurück, Schatz, ganz ruhig, es ist alles in Ordnung.« Diesen zuckersüßen Ton reservierte die Chefredakteurin der Herzwoche ausschließlich für ihren Hund. Klein, dunkelhaarig und drahtig, saß sie in einem knallroten Kostüm am Kopfende des Tisches und schenkte Kati so lange keine Beachtung, bis Kongo wieder schwer atmend zu ihr zurückgetapst war. »Brav, Liebling, und jetzt ab ins Körbchen.« Sie tätschelte dem Tier den Hals, hob den Kopf und warf ihrer unpünktlichen Mitarbeiterin einen bitterbösen Blick zu. »Schön, dass du es doch noch einrichten konntest«, sagte sie eisig. »Ich hoffe, unsere kleine Routine-Veranstaltung hier hält dich nicht allzu lange davon ab, deine privaten Gespräche fortzuführen.«

Woher wusste Chantal das nun wieder? Kati warf Rebekka einen fragenden Blick zu, doch die zuckte nur mit den Achseln. Offensichtlich waren sie vorhin auf dem Flur doch zu laut gewesen. Es war ein immer wiederkehrendes Phänomen, dass Chantal minutiös über alles informiert zu sein schien, was ihre Untergebenen gerade trieben – anders hätte sie es wohl auch nicht geschafft, sich mit nur 35 Jahren zur Chefredakteurin hochzuarbeiten.

Da es keinen Sinn hatte, ihr Zuspätkommen mit irgendeinem dienstlichen Vorwand zu entschuldigen, trat Kati die Flucht nach vorn an: »Tut mir leid. Ich habe einen Todesfall in der Familie.«

»Ein Todesfall? Nun, das ist bedauerlich.« Chantal wandte sich bereits den Unterlagen auf dem Tisch zu. »Vielleicht könnten wir ja trotzdem mit der Heftkritik weitermachen? In der letzten Ausgabe haben sich extrem viele ärgerliche Fehler eingeschlichen, die ich jetzt einzeln mit euch allen durchgehen möchte …«

Gelangweilt ließ Kati den Blick durch den Raum schweifen. Den Kollegen, die mit ihr in der Runde saßen, schien es nicht anders zu gehen – Rebekka feilte sich unter dem Tisch heimlich die Nägel, und Herbert, der korpulente Reiseredakteur, nutzte den ausschweifenden Vortrag seiner Chefin, um sich mit Hilfe eines Kugelschreibers endlich mal die Ohren zu säubern. Janine, die Auszubildende, ließ Kaugummiblasen vor ihrem Gesicht zerplatzen, und auch Gertrud, die stets eingeschnappte Schlussredakteurin, wusste ihre Zeit besser zu nutzen, als sich Chantals Kritik zu Herzen zu nehmen: Da sie demnächst einen Malkurs in der Toskana belegen würde, skizzierte sie einen kleinen Olivenhain in ihr mitgebrachtes Notizbuch.

Nur Ralf schien wie gebannt an Chantals Lippen zu hängen, schrieb eifrig mit und wirkte dadurch wie ein Streber, der sich im Schulunterricht um eine noch bessere Note bemühte. Wenn er dabei mit seinem blonden Haar und den ebenmäßigen, gebräunten Gesichtszügen nicht so verdammt gut ausgesehen hätte, wäre Kati geneigt gewesen, ihn für ein schleimendes Arschloch zu halten. Da sie aber immer noch an ihm hing, hielt sie ihn nur für ein trauriges Arschloch. Und das reichte schon, um ihrer Stimmung einen weiteren Dämpfer zu verpassen.

»Was mache ich eigentlich hier?«, fragte sie sich im Stillen. Sollte sie die nächsten Jahre wirklich damit zubringen, Chantal bei ihrer Wichtigtuerei und Ralf bei seiner Unterwürfigkeit zuzusehen? Eigentlich war das Leben doch viel zu kurz für ein derart schlechtes Schauspiel. Man musste nur mutig genug sein, aufstehen und die Vorstellung verlassen – doch genau das war Katis Problem: Sie war noch nie besonders mutig gewesen.

Ob sie diesen Hang zu bequemer Feigheit von Friedrich geerbt hatte? Ihre Mutter war als 19-Jährige in seinem Verlag als Sekretärin angestellt gewesen und hatte sich geschmeichelt gefühlt, als ihr Chef plötzlich Interesse an ihr zeigte. Dass er deutlich älter, vermögend und außerdem verheiratet war, hatte anfangs einen zusätzlichen Reiz dargestellt: Heimliche Ausflüge in fremde Städte, Hotelübernachtungen unter falschem Namen und verstohlene Treffen nach Einbruch der Dunkelheit verliehen der Affäre den nötigen Schuss Abenteuer und täuschten darüber hinweg, wie wenig sich die junge Frau aus einfachen Verhältnissen und der konservative Verleger in der Midlife-Crisis zu sagen hatten.

Da er sich weder scheiden lassen noch in der Öffentlichkeit zu seiner Geliebten stehen wollte, war das Ganze nicht lange gutgegangen. Katis impulsive Mutter flüchtete sich auf Vermittlung einer Tante nach Frankfurt in einen neuen Job, stellte dort aber sehr bald fest, dass sie schwanger war. Friedrich reagierte alles andere als erfreut, versprach jedoch, sie und das Kind finanziell zu unterstützen. Allerdings unter der Bedingung, dass sie »unsichtbar« blieb: »Ich will hier keinen Staub aufwirbeln«, sagte er damals zur Begründung. »Es geht schließlich keinen etwas an, dass ich eine uneheliche Tochter habe.«

Diesen Hang zu verklemmter Heimlichtuerei legte er auch in den folgenden Jahren nie gänzlich ab – weder nach dem Tod seiner Frau, noch nachdem Kati von Heiner Margold, der großen Liebe ihrer Mutter, adoptiert worden war. Zwar entspannte sich Friedrich insofern, dass er Kati regelmäßig besuchte, sie nach Grümmstein holte und sogar mit in den Verlag nahm, damit sie sich ansehen konnte, »wie eine Zeitung gemacht wird«. Allerdings schärfte er ihr jedes Mal ein, bloß nicht »Papa« zu ihm zu sagen. Ein Wort, das ihr in Gegenwart dieses herrischen, autoritären Fremden ohnehin nie über die Lippen gekommen wäre.

»… und damit komme ich zum letzten Punkt, einem riesigen Patzer auf der Beauty-Seite.« Chantals durchdringende Stimme ließ Kati zusammenfahren. Ihre Chefin hielt die jüngste Ausgabe der Herzwoche hoch und sah sie herausfordernd an. »›Zehn Tipps für einen kackigen Po‹«, las sie vor. »Was zum Teufel hast du dir bei dieser Überschrift gedacht?!«

Kati spürte, dass ihr schlagartig schlecht wurde. »Mein Gott, da … da fehlt ein Buchstabe«, stammelte sie. »Es hätte doch eigentlich knackiger Po heißen müssen …«

»Steht hier aber nicht!« Chantal knallte das Heft auf den Tisch. »Hier steht kackig! Wie in einer gottverdammten Windelwerbung!«

»Tut mir leid, das muss ich übersehen haben …«

»Offensichtlich!« Chantal griff nach unten und streichelte den Mops, der angesichts ihres Wutausbruchs winselnd zu ihr herangerückt war. »Ich weiß zwar, dass sich hier jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten bemüht, seinen Job zu machen«, sagte sie und fügte mit einem Seitenblick auf Kati hinzu: »Bei einigen sind diese Möglichkeiten offenbar weniger stark ausgeprägt als bei anderen.«

»Ähm … wäre die Endkontrolle der Seiten nicht eigentlich Aufgabe der Schlussredaktion?«, meldete sich Ralf plötzlich zu Wort.

Sofort ließ Gertrud ihren Zeichenstift fallen. »Also, das finde ich jetzt total unkollegial«, ereiferte sie sich. »Als ob ich dazu da wäre, jeden eurer Fehler auszubügeln!«

»Entschuldige mal, Korrekturlesen ist dein Job«, sagte Rebekka. »Für was anderes bist du doch gar nicht hier.«

»Zumal der Fehler dick und fett in der Überschrift stand«, fügte Herbert hinzu, der sich seinen Kugelschreiber mittlerweile fast ins Trommelfell gebohrt hatte.

»Ich frage mich gerade, was unsere Leserinnen denken, wenn sie das sehen«, meinte Janine zwischen zwei Kaugummiblasen. »Kackiger Po – unterstellen wir denen damit nicht mangelnde Hygiene auf dem Klo?«

»Dürfte insgesamt nicht zur Leser-Blatt-Bindung beitragen«, sagte Rebekka trocken.

»Ach, und daran soll ich allein schuld sein, ja?« Gertrud war fast den Tränen nahe.

»Unsinn, das habe ich verbockt«, beeilte sich Kati zu versichern. »Das ist ärgerlich, aber so etwas kann doch mal passieren …«

»Nicht in meinem Heft!«, schaltete sich Chantal ein. »Solange ich hier das Sagen habe, verlange ich, dass redaktionell alles gemieden wird, was dem Verdauungstrakt entweichen könnte …« Kaum hatte sie ihren Satz beendet, stieß Kongo unter dem Tisch ein rhythmisches Furzen aus. Betretenes Schweigen senkte sich über den Raum, gefolgt von einer merklichen Verschlechterung der Luft.

»Schönes Schlusswort«, sagte Herbert schließlich, zog den Stift aus dem Ohr und stand auf. »Na dann: Frohes Schaffen allerseits!«

Nach und nach verließen die Redakteure das Konferenzzimmer, doch bevor Kati die Tür erreichte, trat Ralf auf sie zu.

»Tut mir echt leid mit deiner Familie«, sagte er leise. »Ist es jemand, den ich kenne?«

Sie zögerte. Seit der Trennung sprachen sie nur das Nötigste, und eigentlich sah Kati keinen Grund, ausgerechnet jetzt etwas daran zu ändern. Trotzdem antwortete sie: »Mein leiblicher Vater ist vor ein paar Wochen in Norddeutschland gestorben.«

»Willst du darüber reden?«

»Ralf – du und ich, wir haben nichts mehr zu reden.«

»Das sehe ich anders. Immerhin haben wir zumindest offiziell noch eine gemeinsame Wohnung.«

»Wo du gerade davon sprichst: Ist in letzter Zeit Post für mich gekommen?«

»Keine Ahnung, ich bin im Moment selbst wenig da. Warum?«

»Da müssten Briefe vom Anwalt meines Vaters im Postkasten liegen. Könntest du sie mir morgen mit zur Arbeit bringen?«

»Komm doch einfach vorbei und hol sie ab«, schlug er stattdessen vor. »Dann könnten wir …«

»Ach, Schatz, hier bist du!« Mit ihrem Mops an der Leine schwebte Chantal auf sie zu und hängte sich demonstrativ bei Ralf ein. »Könntest du mir einen riesengroßen Gefallen tun? Ich muss dringend mit der Grafik die Layouts für die nächste Ausgabe durchgehen. Sei so lieb und geh mit Kongo eine Runde um den Block. Er muss irgendwas Falsches gegessen haben …«

»Äh, ich …«

»Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann«, fiel ihm Chantal ins Wort. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, gab ihm einen Kuss auf die Wange und drückte ihm die Hundeleine in die Hand. »Beeil dich bitte, ich glaube nicht, dass er es noch lange aushalten kann. Ihr wart doch ohnehin fertig mit eurem Gespräch, oder?«

»Also, eigentlich …«, versuchte es Ralf erneut, kam jedoch nicht weit.

»Ich weiß, dass Kati eine Menge zu tun hat«, unterbrach ihn Chantal mit Nachdruck. »Meine Korrektur-Wünsche für die aktuelle Beauty-Seite hast du gesehen, denke ich? Und bitte – versuch diesmal, alle Buchstaben an den richtigen Platz zu setzen, okay?«

»Ich werd mich bemühen. Im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten.«

»Das hoffe ich. Das hoffe ich sogar sehr für dich.« Mit diesen Worten machte Chantal auf dem Absatz kehrt und verließ mit wiegenden Hüften den Raum. Kati und Ralf blieben in unbehaglichem Schweigen zurück.

»Tja«, sagte er schließlich und deutete auf den Hund. »Ich sollte dann mal …«

»Unbedingt. Lass dich von mir nicht aufhalten.«

Er lächelte verlegen, ging zur Tür und drehte sich ein letztes Mal um. »Kati? Es tut mir leid.«

»Und mir erst«, murmelte sie leise.

3.

An diesem Abend überraschte Kati ihren Bruder vor der offenen Kühlschranktür, wie er einen Schluck Milch aus der Tüte nahm. »Hey«, sagte sie. »Lass mir auch noch was drin.«

Wortlos reichte Micha ihr die Tüte weiter und inspizierte den Inhalt des Kühlschranks. »Was hältst du von Omelett mit Käse?«, fragte er dann.

»Viel, solange du es machst.«

»War ja klar.« Micha nahm vier Eier aus dem Seitenfach und legte sie vorsichtig auf die Arbeitsplatte. Er trug noch immer seinen Blaumann aus der Autowerkstatt, wo er neben seinem Jura-Studium stundenweise arbeitete. »Gibt’s was Neues aus der Welt der Tiegel und Tuben?«

»Friedrich ist tot«, platzte Kati heraus.

Abrupt drehte Micha sich zu ihr um. »Friedrich? Du meinst deinen …?«

»Genau den. Sein Anwalt ist heute bei mir in der Redaktion aufgetaucht, nachdem er drei Wochen lang vergeblich versucht hat, mich in der Wohnung drüben zu erreichen.«

»Scheiße. Wie kam das so plötzlich?«

»Friedrich hatte Krebs und wollte das Ganze wohl mit sich allein ausmachen.« Kati starrte ins Leere. »Er hat niemandem etwas gesagt.«

Micha schwieg einen Moment, bevor er fragte: »Hättest du ihn gerne noch mal gesehen?«

»Darauf hat er ja offensichtlich keinen Wert gelegt«, antwortete sie und fand selbst, dass es bitter klang. »Stattdessen hat er mir unaufgefordert seinen verdammten Verlag hinterlassen.«

»Er hat was getan?«

Kati schilderte ihrem Bruder, was der Anwalt ihr erzählt hatte. »Diese Tredbeck-Gruppe scheint jedenfalls sehr daran interessiert zu sein, die Zeitung zu kaufen«, schloss sie ihren Bericht. »Aber ehrlich gesagt frage ich mich, was mit den Arbeitsplätzen in Grümmstein passiert, wenn ich darauf eingehe.«

»Die werden zu einem großen Teil sicherlich wegfallen«, gab Micha zurück. »So etwas nennt man auf Neudeutsch dann Synergie-Effekt.«

»Mich wundert, dass Friedrich das gewollt hat. Privat war er natürlich ein Riesen-Arschloch, aber der Verlag war sein ganzer Stolz.« Sie seufzte. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich jetzt machen soll. Am liebsten würde ich mir das Ganze aus der Nähe ansehen und die Mitarbeiter erst mal kennenlernen, bevor ich mich entscheide.«

»Warum machst du’s dann nicht?«

»Mal abgesehen davon, dass ich keine Ahnung davon habe, wie man einen Verlag leitet: Was soll ich den Leuten denn sagen, wenn ich mich doch zum Verkauf entschließe? Dass ich nur mal ausprobieren wollte, wie man sich als Verlegerin so fühlt?«

Micha überlegte. »Musst du überhaupt irgendwas sagen?«

»Wie meinst du das?«

»Du willst keine falschen Hoffnungen wecken, richtig?«

»Richtig.«

»Gleichzeitig willst du dir in aller Ruhe ein möglichst umfassendes Bild vor Ort machen, um dann die beste Entscheidung treffen zu können.«

»Stimmt, aber wie …?«

»Das schreit nach der Robert-Redford-Nummer, wenn du mich fragst.«

Kati warf ihrem Bruder einen fragenden Blick zu. »Könntest du dich etwas klarer ausdrücken?«

»Du kennst doch diesen Film, in dem Redford einen Gefängnisdirektor spielt, der sich als Gefangener in seinen eigenen Knast einschleusen lässt.« Michas Augen leuchteten. »So bekommt er alles hautnah mit: den Mief in den Zellen, das verdorbene Essen in der Gefängniskantine, die Brutalität der Wärter. Genial.«

»Und was hat das mit meiner Erbschaft zu tun?«

»Du könntest dich als Redakteurin bei deinem eigenen Verlag anstellen lassen. Undercover, meine ich.«

Seine Schwester sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Warum um alles in der Welt sollte ich das tun?«

»Um die Lage auszubaldowern. Nervigen Fragen aus dem Weg zu gehen. Und um einzuschätzen, was es für deine Mitarbeiter bedeuten würde, wenn du den ganzen Laden wirklich an diese Tredbeck-Gruppe verkaufst.« Micha zuckte mit den Achseln. »Falsche Hoffnungen weckst du mit der Strategie jedenfalls nicht.«

Allmählich ging Kati ein Licht auf. »Ich würde Zeit gewinnen«, überlegte sie laut.

»Außerdem hält dich im Moment sowieso nichts hier, wenn du ehrlich bist. Ich meine – das mit Ralf und dir ist doch gelaufen, oder?«

Nervös nagte Kati am Gelenk ihres linken Daumens. Frankfurt gegen die Lüneburger Heide eintauschen? Schon vor dem Gedanken graute ihr. »Eigentlich will ich nicht von hier weg. Wäre es nicht einfacher, den Verlag zu verkaufen, mich über das Geld zu freuen und meiner Wege zu gehen?«

»Klar wäre das einfacher«, stimmte Micha ihr zu. »Aber wahrscheinlich würdest du dich dann dein Leben lang fragen, ob Friedrich recht gehabt hat.«

»Recht womit?«

»Damit, dass du es sowieso nicht gepackt hättest, diesen Verlag zu halten. Das ist es doch, was dich umtreibt, oder?«

Kati ließ die Schultern hängen. »Ich weiß, es ist erbärmlich, dass ich nach all den Jahren noch immer nicht darüber hinweg bin. Aber alles in mir sträubt sich, als die Versagerin dazustehen, die Friedrich immer in mir gesehen hat.«

»Dann solltest du nach Grümmstein gehen und rausfinden, was du kannst.«

»Allein?«

»Was sonst? Wobei ich dir natürlich beim Umzug helfen würde.«

»Und wie stelle ich es an, mich undercover in den Verlag zu schmuggeln?«

»Wozu hast du diesen Anwalt?«, fragte Micha zurück. »Der wird schon eine Möglichkeit finden, dir diskret einen Posten als Redakteurin zuzuschanzen.«

»Die Frage ist nur, ob er davon so begeistert sein wird«, erwiderte Kati und kramte Buddingtons Visitenkarte hervor.

»Da er auf deiner Gehaltsliste steht, kann es dir streng genommen ziemlich egal sein, was er denkt.« Micha reichte ihr das Telefon. »Am besten, du rufst ihn gleich an, bevor dich der Mut verlässt.«

Kati zögerte. Sollte sie wirklich? Dann fiel ihr ein, wie weh es tat, Chantal und Ralf jeden Morgen zusammen zur Arbeit kommen zu sehen. Und wie wenig Lust sie darauf hatte, die Launen ihrer Chefin auch nur einen Tag länger zu ertragen. Vielleicht wäre so eine kleine Auszeit gar nicht schlecht, um endlich ein bisschen Abstand zu gewinnen. Aber musste es ausgerechnet die Lüneburger Heide sein?

»Muss es ausgerechnet die Lüneburger Heide sein?«, wiederholte sie laut.

»Wieso denn nicht? Ist doch ein putziger Landstrich.«

»Schon mal da gewesen?«

»Nö«, antwortete Micha. »Aber ich hab diesen Film gesehen, wo drei Musikanten singend durch die Heideblüten stapfen und das offensichtlich ganz toll finden.«

»Du hängst eindeutig zu viel vor der Glotze rum.«

Ihr Bruder ließ sich nicht beirren. »Grün ist die Heide, das war der Titel!«, rief er aus. »Ein echter Straßenfeger in den Fünfzigern. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war die Gegend nämlich total hip.«

»Was man heute nicht mehr behaupten kann.«

»Komm schon, jetzt werd nicht ungerecht.«

»Wieso ungerecht?«, ereiferte sich Kati. »Ich habe nun mal nicht vor, singend durch die Heideblüten zu stapfen – was also kann dieser putzige Landstrich mir bieten außer Einöde?«

»Frischluft.«

»Wenn ich frische Luft haben will, mache ich mein Fenster auf.«

»Es wäre doch nur für ein paar Monate …«

»Ein paar Monate? Da gehe ich kulturell gesehen doch total vor die Hunde!«

»Jetzt tu nicht so, als ob du hier ständig ins Theater gehen würdest«, widersprach Micha. »Kultur bedeutet für dich doch in erster Linie, plündernd auf der Zeil einzufallen und dich bei Zara um Sonderangebote zu prügeln.«

»Ich möchte aber zumindest theoretisch die Möglichkeit haben, mir was anzusehen.«

»Kannst du doch. Die Lüneburger Heide ist geradezu vollgestellt mit Sehenswürdigkeiten.«

»Zum Beispiel?«, fragte Kati herausfordernd.

»Hm, mal überlegen. Haben die da im Zuge der Expo nicht einen Hundertwasser-Bahnhof in die Pampa gepackt?«

»Einen Hundertwasser – was?«

»Als kulturbeflissener Feuilleton-Leserin muss man es dir wahrscheinlich nicht extra erklären, aber Friedensreich Hundertwasser war ein österreichischer Künstler, der nicht nur gemalt, sondern auch Gebäude entworfen hat«, entgegnete Micha, zückte sein Smartphone und googelte drauflos. »Hier haben wir’s doch. Der Hundertwasser-Bahnhof im schönen Uelzen. Schau mal.«

Kati beugte sich über das Display und erkannte die rötlich-gelb verklinkerte Front eines Bahnhofsgebäudes. Seitlich ragten kunterbunt glasierte Säulen mit goldenen Kugeln in die Höhe, während sich auf dem Dach eine Art Kuppel zu wölben schien. Eigenwillig sah das aus, aber hübsch. »Na, toll. Und wo liegt Uelzen?«

»Wie ich schon sagte: in der Pampa.«

»Aber was soll ich da?«

»Ich bitte dich. Man fährt viel zu selten nach Uelzen.«

»Aus gutem Grund, nehme ich an.«

»Hey, du kannst das Ganze auch lassen.« Micha holte eine Rührschüssel aus dem Schrank und fing an, die Eier hineinzuschlagen. »Verkauf den Verlag, kassier die Knete und bleib in vertrauten Gefilden – es ist völlig legitim, wenn du dich so entscheidest.«

Kati nagte an ihrer Unterlippe. »Legitim, aber feige.«

»Solange du selbst damit leben kannst, steht es niemandem zu, darüber zu urteilen.«

Sie schwieg einen Moment. »Ich fürchte aber, dass ich das nicht kann«, sagte sie schließlich. »Damit leben, meine ich.«

»Das heißt, die Heide darf mit dir rechnen?«

Kati zögerte. War das wirklich das Richtige? Andererseits: Was hatte sie schon zu verlieren? Länger als ein paar Monate musste sie nun wirklich nicht in Grümmstein bleiben, und wenn sie eine Lösung für den Verlag gefunden hatte, konnte sie sich ja immer noch überlegen, was sie mit dem Rest ihres Lebens anstellen wollte.

Kurz entschlossen griff sie nach dem Telefon und tippte eine Nummer ein, bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte.

»Hallo, Dr. Buddington?«, fragte sie, nachdem der Anwalt sich gemeldet hatte. »Katharina Margold hier. Kennen Sie eigentlich den Film, in dem Robert Redford einen Gefängnisdirektor spielt …?«

4.

Wenige Tage später schritt Buddington mit einer schwarzen Plastikmappe unter dem Arm über den Redaktionsflur der Grümmsteiner Zeitung. Er bedachte die korpulente Sekretärin, die ihm entgegengewatschelt kam, mit einem süßlichen Lächeln und ließ sich nicht im Entferntesten anmerken, wie sehr ihm die Mission missfiel, auf die man ihn geschickt hatte. Vor dem Zimmer des Chefredakteurs blieb er stehen, holte tief Luft und klopfte.

»Herein!« Jonas Larsen blickte zunächst nur flüchtig von seinem Computerbildschirm auf, verspannte sich aber augenblicklich, sobald er den Anwalt erkannte. »Was führt Sie zu mir, Buddington?«, sagte er und richtete seine volle Aufmerksamkeit auf den ungebetenen Besucher. »Gibt es Neuigkeiten in der Eigentümer-Frage?«

Buddington verzog das Gesicht. »Nichts, was ich Ihnen offiziell mitteilen könnte.«

»Und inoffiziell?«

»Inoffiziell habe ich mit Ihnen erst recht nichts zu besprechen, verehrter Larsen. Sie wissen doch, dass ich als Nachlassverwalter von Friedrich Amberg an meine Schweigepflicht gebunden bin.«