Maeve Binchy

Der grüne See

Roman

Aus dem Englischen von Christa Prummer-Lehmair, Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert Weiß, Kollektiv Druck-Reif

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Inhaltsübersicht

Über Maeve Binchy

Maeve Binchy wurde in Dublin geboren, studierte Geschichte und arbeitete als Lehrerin. 1969 ging sie als Kolumnistin zur Irish Times. Sie hat zahlreiche Romane, Kurzgeschichten und Theaterstücke geschrieben. Ihre Romane, darunter »Die irische Signora« und »Ein Haus in Irland«, wurden in England, den USA und in Deutschland zu Bestsellern. Auch »Cathys Traum«, »Wiedersehen bei Brenda« und »Insel der Sterne« landeten gleich nach Erscheinen sofort ganz oben auf den internationalen Bestsellerlisten.

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »The Glass Lake« bei Orion Books Ltd., London.

 

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 1994 Maeve Binchy

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 1996 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: laif

ISBN 978-3-426-41466-8

Für Gordon,

mit all meiner Dankbarkeit und Liebe

Kapitel eins

1952

Kit hatte immer geglaubt, der Papst sei bei der Hochzeit ihrer Eltern dabeigewesen. Denn bei ihr zu Hause hing ein Foto von ihm – von einem anderen Papst, einem, der schon tot war –, und darunter stand, daß Martin McMahon und Helen Healy vor ihm den Kniefall getan hatten. Nie war ihr in den Sinn gekommen, auf dem Hochzeitsbild nachzuschauen. Es war sowieso ein gräßliches Bild, mit all den Menschen, die in diesen unmöglichen Mänteln und Hüten nebeneinanderstanden. Hätte Kit darüber nachgedacht, wäre sie wohl zu dem Schluß gelangt, daß der Papst schon gegangen war, als die Aufnahme gemacht wurde – weil er das Postschiff in Dun Laoghaire erwischen mußte, um zurück nach Rom zu kommen.

Deshalb war es für sie ein ziemlicher Schock, als Mutter Bernard erklärte, daß der Papst niemals den Vatikan verlassen dürfe; nicht einmal ein Krieg könne ihn vom Heiligen Stuhl vertreiben.

»Aber er geht zu Hochzeiten, nicht wahr?« fragte Kit.

»Nur wenn sie in Rom stattfinden.« Mutter Bernard kannte sich aus.

»Er war aber bei der Hochzeit meiner Eltern«, beharrte Kit.

Mutter Bernard musterte die kleine McMahon mit dem schwarzgelockten Wuschelkopf und den strahlend blauen Augen. Keine kletterte schneller über die Mauer, und so mancher Streich auf dem Schulhof ging auf ihr Konto, aber phantasiert hatte sie bis jetzt noch nie.

»Das glaube ich nicht, Katherine«, entgegnete die Nonne und hoffte, daß die Sache damit erledigt wäre.

»Doch, er war da«, widersprach Kit. »Sie haben ein gerahmtes Bild von ihm an der Wand hängen, und da drauf steht, daß er dabei war.«

»Das ist der päpstliche Segen, du Hohlkopf«, erklärte Clio. »Jeder hat ihn … den kriegt man doch nachgeschmissen.«

»Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du nicht in solchen Worten vom Heiligen Vater sprechen würdest, Cliona Kelly.« Mutter Bernard war sehr ungehalten.

Doch weder Kit noch Clio lauschten ihren Ausführungen, wie der Papst durch das Konkordat unabhängiger Herrscher seines eigenen winzigen Staates geworden war. Den Kopf dicht über dem Pult und von dem aufgestellten Atlas verdeckt zischte Kit wütend zu ihrer besten Freundin hinüber: »Nenn mich nie wieder Hohlkopf, oder es wird dir leid tun.«

Clio zeigte keine Reue. »Du bist aber ein Hohlkopf. Der Papst bei der Hochzeit deiner Eltern, pah. Ausgerechnet bei deinen Eltern!«

»Und warum hätte er nicht zu ihrer Hochzeit kommen sollen …, wenn man ihn rausgelassen hätte?«

»Ach, ich weiß auch nicht.«

Kit spürte, daß etwas unausgesprochen blieb. »Was hat denn mit ihrer Hochzeit, bitte sehr, nicht gestimmt?«

Doch Clio rückte nicht raus mit der Sprache. »Psst, sie guckt.« Und sie hatte recht.

»Was habe ich gerade gesagt, Cliona Kelly?«

»Sie haben gesagt, daß der Name des Heiligen Vaters Pacelli war, Mutter. Daß er so hieß, bevor man ihn Pius den Zwölften nannte.«

Widerwillig nickte Mutter Bernard. Genau das hatte sie gesagt.

»Woher hast du das gewußt?« fragte Kit voller Bewunderung.

»Ich höre immer mit halbem Ohr hin, egal bei was.«

Clio war hellblond und groß, eine glänzende Sportlerin und sehr gut in der Schule. Sie hatte wunderschönes langes Haar. Clio war Kits beste Freundin, und manchmal haßte sie sie.

 

Auf dem Heimweg versuchte Clios jüngere Schwester Anna oft, sich ihnen anzuschließen, aber sie wurde immer weggescheucht.

»Verschwinde, Anna. Du bist wirklich eine verdammte Nervensäge«, meinte Clio.

»Das sag’ ich Mam, daß du auf der Straße fluchst.«

»Mam hat Wichtigeres zu tun, als sich dumme Märchen anzuhören. Hau ab!«

»Du willst ja bloß mit Kit lästern und kichern …« Anna war gekränkt, daß man sie so barsch abwimmelte. »Ihr tut den ganzen Tag nichts anderes. Neulich hab’ ich gehört, wie Mam gesagt hat … Ich möchte mal wissen, was Clio und Kit nur immer zu lästern und zu kichern haben?«

Darüber mußten sie noch mehr lachen. Hand in Hand rannten sie los und ließen Anna einfach stehen, die das Pech hatte, erst sieben zu sein und keine eigene Freundin zu haben.

 

Es gab so viel, was man auf dem Heimweg von der Schule unternehmen konnte. Das war das Großartige, wenn man in einem Ort wie Lough Glass wohnte, einem kleinen Städtchen am Ufer eines großen Sees. Es war zwar nicht der größte See von Irland, aber doch ziemlich groß. Man konnte nur an klaren Tagen bis zum anderen Ufer sehen, und überall gab es kleine Zuläufe und Buchten, von denen manche mit Schilf und Binsen überwuchert waren. Man nannte ihn Glas-See, was aber eigentlich ein Übersetzungsfehler war, denn Lough Glass hieß grüner See, das wußte jedes Kind. Doch manchmal sah er wirklich wie ein Kristallspiegel aus.

Es ging die Sage, daß man in die Zukunft sehen könne, wenn man am Abend vor St. Agnes bei Sonnenuntergang in sein Wasser schaute. Doch Kit und Clio glaubten nicht an solche Dinge. Die Zukunft? Die Zukunft war morgen oder übermorgen, und außerdem gab es sowieso schon immer zu viele halbverrückte Mädchen und Jungen, ältere, schon an die Zwanzig, die sich gegenseitig aus dem Weg schubsten, um etwas sehen zu können. Als ob sie irgend etwas anderes zu sehen bekämen als die Spiegelbilder von sich und den anderen!

Ab und an schauten Clio und Kit auf dem Heimweg bei McMahons Apotheke vorbei und besuchten Kits Vater, wo sie hofften, ein Malzbonbon aus dem Glas angeboten zu bekommen. Oder sie gingen zu dem Holzsteg, der in den See hineinragte, und beobachteten, wie die Fischer mit ihrem Fang hereinkamen. An anderen Tagen streunten sie am Golfplatz herum und hielten nach verlorengegangenen Bällen Ausschau, die sie den Golfern verkaufen konnten.

Zu Hause besuchten sie einander kaum. Denn dort liefen sie Gefahr, daß man sie aufforderte, Hausaufgaben zu machen. Und um dieser Gefahr so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen, trödelten die Mädchen nach der Schule herum.

Im Postamt gab es nie viel zu sehen, seit Jahr und Tag lagen die gleichen Sachen im Schaufenster: Abbildungen von Briefmarken, Informationen über Postsparbriefe und Kindersparbücher, ein Aushang mit den Portogebühren für Briefe nach Amerika. Dort hielten sie sich nicht lange auf. Bei Mrs. Hanley im Textilgeschäft hingen manchmal hübsche Fair-Isle-Strickjacken, und mitunter sah man auch ein Paar Schuhe, das einem gefiel. Aber Mrs. Hanley hatte nichts übrig für Schulmädchen, die vor dem Schaufenster herumlungerten und mögliche Kunden verschreckten. Also rauschte sie heraus und scheuchte sie fort wie Hühner.

»So ist’s recht. Husch, husch, weg mit euch«, rief sie dann und jagte sie vor sich her.

Danach schlichen sie an Foleys Bar vorbei, aus der ein säuerlicher Geruch nach Porterbier drang; und an Sullivans Autowerkstatt, wo ihnen der alte Sullivan manchmal nachbrüllte, wenn er besoffen war, und damit die Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Da McMahons Apotheke gleich gegenüber lag, war das nicht ungefährlich; irgend jemand wurde von dem Geschrei bestimmt aufgeschreckt. Man konnte auch einen Blick in Walls Haushaltswarenladen werfen, falls dort etwas Interessantes eingetroffen war, wie beispielsweise neue scharfe Scheren. Oder sie beobachteten das Central Hotel auf der anderen Straßenseite, wo man mit ein bißchen Glück Gäste kommen oder gehen sah. Normalerweise sah man allerdings nur Phil O’Briens gräßlichen Vater, der jeden finster anstarrte. Bei der Auslage des Fleischers wurde ihnen beiden ein bißchen flau im Magen. Aber bei Dillons konnte man drinnen die Geburtstagskarten anschauen und so tun, als ob man eine kaufen wollte; leider ließen die Dillons sie nie die Comics oder Zeitschriften lesen.

Wenn sie zu den McMahons gegangen wären, hätte Kits Mutter tausend Dinge zu tun gewußt. Sie konnte ihnen zeigen, wie man Butterkekse buk, und Rita, das Hausmädchen, schaute ebenfalls zu. Oder sie ließ sie einen Blumenkasten bepflanzen und erklärte ihnen, wie man Ableger zog. Die McMahons hatten keinen richtigen Garten wie die Kellys, nur einen Hinterhof. Aber der stand voller Topfpflanzen, die die Mauern hochrankten. Kits Mutter hatte ihnen auch Kalligraphie beigebracht, und sie hatten »Frohes Fest« für Mutter Bernard geschrieben. In Schönschrift, die aussah, als stamme sie von einem Mönch. Mutter Bernard bewahrte die Karte noch immer in ihrem Gebetbuch auf. An anderen Nachmittagen zeigte Mrs. McMahon ihnen ihre Sammlung von Zigarettenbildchen und welches Geschenk sie für jedes vollgeklebte Heft bekommen würde.

Doch Clio stellte häufig Fragen wie: »Was tut deine Mutter eigentlich den ganzen Tag, daß sie soviel Zeit für uns hat?« Es klang wie ein Tadel. Als ob ihre Mutter sich wichtigeren Dingen widmen sollte, Teekränzchen etwa wie Mrs. Kelly. Da Kit Clio keine Gelegenheit zum Kritteln geben wollte, lud sie ihre Freundin nur selten zu sich ein.

Am liebsten aber besuchten sie Schwester Madeleine, die Einsiedlerin in der winzigen Kate am See. Schwester Madeleine führte ein recht angenehmes Leben in ihrer Abgeschiedenheit, weil jeder sich um sie kümmerte und sie mit Lebensmitteln und Feuerholz versorgte. Niemand konnte sich erinnern, wann sie eigentlich hergekommen war, um fortan in der alten verlassenen Kate am Ufer zu leben. Die Leute wußten auch nicht genau, zu welchem Orden Schwester Madeleine einst gehört und warum sie ihn verlassen hatte. Doch niemand zweifelte daran, daß sie eine Heilige war.

Schwester Madeleine sah nur das Gute, in Menschen wie in Tieren. Oft erblickte man ihre gebeugte Gestalt, wie sie Krumen für die Vögel ausstreute oder sogar bösartige, zähnefletschende Hunde streichelte. Sie hatte einen zahmen Fuchs, der allabendlich eine Untertasse voll Brot und Milch ausschlecken kam. Und fast immer hatte sie ein Stöckchen zur Hand, um gebrochene Schwingen von Vögeln zu schienen, die sie bei ihren Ausflügen auflas.

Der Pfarrer, Father Baily, und Mutter Bernard hatten sich mit Bruder Healy von der Knabenschule abgesprochen, Schwester Madeleine eher freundlich als mit Mißtrauen zu begegnen. Nach allem, was man in Erfahrung bringen konnte, glaubte sie an den einen wahren Gott und hatte keine Vorbehalte gegen die hiesige Auslegung Seines Willens. Bei der Sonntagsmesse saß sie still in einer hinteren Bank und enthielt sich jeglicher ketzerischer Rede.

Und selbst Doktor Kelly, Clios Vater, gab zu, daß Schwester Madeleine von manchen Dingen soviel verstand wie er: von der Geburtshilfe oder wie man Sterbende tröstete. In früheren Zeiten hätte man sie für eine weise Frau oder vielleicht sogar für eine Hexe gehalten, meinte er. Unbestritten verstand sie es, Umschläge zu machen und die Wurzeln und Beeren zu nutzen, welche üppig rund um ihr kleines Heim sprossen. Und da sie nie über andere Leute sprach, wußte man seine Geheimnisse bei ihr gut aufgehoben.

»Was sollen wir ihr mitbringen?« fragte Kit. Niemand ging je mit leeren Händen zu Schwester Madeleine.

»Sie sagt doch immer, man soll ihr nichts schenken.« Clio dachte praktisch.

»Ja, schon, das sagt sie.« Kit hielt es dennoch für richtig, ihr etwas mitzubringen.

»Wenn wir bei deinem Dad im Laden vorbeigehen, gibt er uns bestimmt etwas für sie.«

»Nein, er wird uns auf der Stelle nach Hause schicken«, erwiderte Kit. Das war ein Risiko, das sie nicht eingehen durften. »Wir könnten ihr einen Blumenstrauß pflücken.«

Clio war skeptisch. »Na ja, wachsen denn nicht genug Blumen bei ihr ums Haus?«

»Ich weiß was!« Kit hatte einen Geistesblitz. »Rita kocht gerade Marmelade ein. Wir nehmen ein Glas mit.«

Was allerdings bedeutete, daß man sich nach Hause wagen mußte, denn Rita war das Hausmädchen der McMahons. Aber die Marmeladengläser standen zum Auskühlen auf dem Fensterbrett, man konnte einfach von draußen eins stibitzen. Das schien ihnen doch der weitaus sicherste Weg, zu einem Geschenk für die Einsiedlerin Schwester Madeleine zu kommen, ohne ein elterliches Verhör zu riskieren.

Die McMahons wohnten in der Hauptstraße von Lough Glass über der Apotheke. Man konnte über die Vordertreppe neben dem Laden oder von hinten her ins Haus gelangen. Niemand war in der Nähe, als Kit in den Hof und die Hintertreppe hinauf schlüpfte. Zwar hing Wäsche auf der Leine, aber von Rita war weit und breit nichts zu sehen.

Auf Zehenspitzen schlich Kit zu dem Fensterbrett, wo in Gefäßen aller Formen und Größen die Marmelade stand. Sie schnappte sich eins der ganz normalen Gläser. Das würde man am wenigsten vermissen.

Doch da sah sie durchs Fenster eine Gestalt, und der Schreck fuhr ihr in alle Glieder: Ihre Mutter saß, reglos und mit abwesendem Ausdruck, am Tisch. Doch weder hatte sie Kit gehört, noch schien sie sonst irgend etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Entsetzt sah Kit, wie ihrer Mutter Tränen über die Wangen rollten, die sie nicht einmal abwischte.

Leise schlich sie wieder zurück.

Clio wartete am Hintertürchen. »Hat dich jemand gesehen?« fragte sie.

»Nein.« Kit war kurz angebunden.

»Was ist denn los?«

»Nichts ist los. Du denkst immer, daß irgendwas los ist, wenn überhaupt nichts los ist.«

»Weißt du, Kit, du wirst allmählich genauso eine Nervensäge wie die blöde Anna. Meine Güte, sei froh, daß du keine Schwester hast.« Clio stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Ich habe Emmet.«

Doch beide wußten, daß Emmet nicht zählte. Denn Emmet war ein Junge, und Jungen hingen einem nicht ständig am Rockzipfel, um in irgendwelche Geheimnisse eingeweiht zu werden. Nein, um nichts in der Welt hätte sich Emmet zusammen mit Mädchen erwischen lassen. Er ging seiner eigenen Wege und focht seine eigenen Kämpfe aus, und davon nicht wenige, denn er hatte einen Sprachfehler, und die anderen Jungen äfften sein Stottern nach. »Emm … Emm … Emmemm … Emmet«, so riefen sie ihn. Emmet blieb nie eine Antwort schuldig. »Wenigstens bin ich nicht der Schultrottel«, rief er zurück; oder: »Dafür stinken meine Schuhe nicht nach Schweinestall.« Leider dauerte es sehr lange, bis er diese Antworten über die Lippen brachte, und oft hatten sich seine Peiniger in der Zwischenzeit verdrückt.

»Worüber ärgerst du dich?« ließ Clio nicht locker, als sie den Weg zum See einschlugen.

»Ich nehme an, daß dich irgendwer einmal heiraten wird, Clio. Aber der muß sehr viel Geduld haben und am besten stocktaub sein.« Kit McMahon würde sich unter gar keinen Umständen von ihrer besten Freundin Clio aus der Nase ziehen lassen, wie sehr sie der Anblick ihrer weinenden Mutter aus der Fassung gebracht hatte.

Schwester Madeleine freute sich sehr, sie zu sehen.

Ihr Gesicht war von Wind und Wetter gegerbt; das Haar trug sie unter einem kurzen schwarzen Schleier verborgen – eher einem Mittelding zwischen Schleier und Kopftuch. Vorne spitzten ein paar graue Haare heraus, anders als bei den Nonnen in der Schule, die überhaupt keine Haare hatten. Diese wurden ihnen geschoren und für Perücken verkauft.

Schwester Madeleine war steinalt. Kit und Clio wußten nicht, wie alt genau, aber auf jeden Fall sehr, sehr alt. Ganz sicher älter als ihre Eltern. Und älter als Mutter Bernard. Fünfzig oder sechzig oder siebzig. Man konnte es nicht sagen. Clio hatte sie einmal gefragt. Sie erinnerten sich nicht mehr genau, was Schwester Madeleine erwidert hatte, aber ganz bestimmt hatte sie die Frage nicht beantwortet. Sie hatte so eine Art, von etwas ganz anderem zu sprechen … etwas, das nur am Rande mit der gestellten Frage zusammenhing, so daß man nicht das Gefühl hatte, taktlos gewesen zu sein. Aber es brachte einen kein bißchen weiter.

»Ein Glas Marmelade«, freute sich Schwester Madeleine wie ein kleines Kind, das ein Fahrrad geschenkt bekommt. »Man kann sich nichts Besseres wünschen … wie wär’s mit Tee für uns?«

Eine Teestunde dort war aufregend, nicht langweilig wie zu Hause. Es gab ein offenes Feuer, darüber hing an einem Haken ein Kessel. Die Leute hatten Schwester Madeleine in der Vergangenheit immer wieder kleine Öfchen und Kochplatten gebracht, aber sie hatte sie stets an weniger vom Schicksal Begünstigte weiterverschenkt. Zwar schaffte sie es, daß niemand ihr wegen dieser Weiterverwertung böse war, aber man wußte nun, daß alles, was man ihr zu ihrer eigenen Bequemlichkeit überließ – wie ein Teppich oder ein Kissen – im Wohnwagen einer Landfahrerfamilie oder bei sonst jemandem landete, der es dringender benötigte. So waren die Einwohner von Lough Glass dazu übergegangen, der Einsiedlerin nur noch zu schenken, was sie zum Leben brauchte.

Ihre Kate war so schlicht und karg eingerichtet, als ob sie gar nicht bewohnt wäre: keine Habseligkeiten, keine Bilder an der Wand, nur ein einfaches Holzkreuz. Es gab Becher und eine Kanne Milch, die ihr jemand im Lauf des Tages vorbeigebracht haben mußte. Und auch einen Laib Brot, von einer anderen freundlichen Seele gebacken. Sie schnitt ein paar Scheiben herunter und strich Marmelade darauf, als bereite sie ein Festmahl zu.

Noch nie hatte Clio und Kit ein Marmeladenbrot so gut geschmeckt. Kleine Enten watschelten im Sonnenlicht zur Tür herein, und Schwester Madeleine stellte ihren Teller auf den Boden, damit sie die Brösel aufpicken konnten. Hier war es immer so friedlich; selbst die ruhelose Clio sprang nicht ständig auf und rannte herum.

»Erzählt mir, was ihr heute in der Schule gelernt habt. Ich brauche Nahrung für meinen Verstand«, bat Schwester Madeleine.

»Wir haben gelernt, daß Kit McMahon geglaubt hat, der Papst höchstpersönlich sei bei der Hochzeit ihrer Eltern dabeigewesen«, antwortete Clio. Schwester Madeleine wies einen nicht zurecht und sagte auch nie, man sei gemein oder rücksichtslos, aber oft merkten es die Leute in ihrer Gegenwart von selbst. Auch Clio fiel auf, daß sie das Falsche gesagt hatte. »Natürlich ist das ein Irrtum, der jedem mal passieren kann«, brummte sie.

»Vielleicht besucht der Papst ja eines Tages Irland«, meinte Schwester Madeleine.

Sie versicherten ihr, daß dies niemals geschehen könne. Es hatte mit einem Vertrag zu tun. Der Papst hatte versprochen, im Vatikan zu bleiben und nicht wie die Päpste in früheren Jahrhunderten auszuziehen und Italien zu erobern. Allem Anschein nach glaubte Schwester Madeleine ihren Worten.

Dann erzählten sie ihr Neuigkeiten aus Lough Glass und wie der alte Mr. Sullivan droben von der Werkstatt mitten in der Nacht im Schlafanzug herausrannte und nach Engeln haschte. Er behauptete, er müsse vor Morgengrauen so viele wie nur möglich fangen, und klopfte an fremde Türen, um nachzufragen, ob sich drinnen vielleicht Engel versteckt hielten.

Das interessierte Schwester Madeleine. Sie fragte sich, was er wohl geträumt hatte, daß er derart überzeugt von seiner Aufgabe war.

»Er ist eben total plemplem«, erklärte Clio.

»Nun ja, ich denke, wir sind alle ein bißchen verrückt. Das ist es, was uns davor bewahrt, einander allzu ähnlich zu werden, so wie Erbsen in einer Schote.«

Sie halfen ihr abspülen und die Reste vom Tee wegzuräumen. Als Kit den Küchenschrank aufmachte, sah sie noch ein Marmeladenglas, genau so eins, wie sie auch mitgebracht hatte. Vielleicht war ihre Mutter heute hiergewesen. Wenn ja, dann hatte Schwester Madeleine nichts davon erzählt, wie sie auch niemandem von Clios und Kits Besuch erzählen würde.

»Sie hatten ja schon Marmelade«, sagte Kit.

Doch Schwester Madeleine lächelte nur.

 

Seit Kit denken konnte, gab es im Haushalt der McMahons den Tee um Viertel nach sechs. Dad schloß die Apotheke gegen sechs, doch nie auf die Minute pünktlich. Denn immer war noch jemand da, der wegen einer Flasche Hustensaft gekommen war, oder ein Bauer, der für seine Schafe oder Rinder Markierungsfarbe brauchte. Es ging einfach nicht, daß man die Leute drängte. Schließlich war eine Apotheke auch ein Ort, an dem man über einige der großen Geheimnisse des Lebens philosophierte – wie über die eigene Gesundheit oder das Wohlergehen eines Familienmitglieds. Es war kein Besuch, den man auf die leichte Schulter nahm.

Kit hatte ihre Mutter schon oft fragen hören, warum sie nicht im Geschäft mitarbeiten könne. Es wäre ein vernünftiger Vorschlag, argumentierte sie. Wenn die Leute Monatsbinden oder Stilleinlagen kauften, würden sie sich lieber von einer Frau bedienen lassen. Und dann war da noch die Schönheitspflege. Vertreter der verschiedenen Kosmetikfirmen gaben sich in den Landapotheken die Klinke in die Hand, um ihre Wundermittel dort an die Frau zu bringen. Es verging keine Woche, in der ihnen nicht jemand von Ponds, Coty, Dawn oder Max Factor einen Besuch abstattete.

Aber Martin McMahon zeigte wenig Interesse an diesem Geschäftszweig. »Lassen Sie einfach was da«, sagte er und orderte teure Badeseifen oder ein ganzes Lippenstiftsortiment.

Die Sachen wurden dann lieblos eingeräumt, verblichen häufig im Schaufenster und wurden niemals verkauft. Doch Kits Mutter sagte, die Frauen von Lough Glass seien auch nicht anders als anderswo: Sie würden gern so gut wie nur möglich aussehen. Die Kosmetikfirmen boten Kurzlehrgänge an, damit die Apothekengehilfinnen lernten, wie die Produkte am besten präsentiert wurden und wie die Kundinnen sie zu ihrem Vorteil nutzten. Doch Kits Vater blieb hart. Sie würden Leuten, die es sich nicht leisten konnten, doch nicht Schminke, Puder oder sonstige Zaubermittel aufschwatzen, die ewige Jugend versprachen …

»Das habe ich auch nicht vor«, hatte Helen McMahon oft eingewandt. »Ich würde ja nur lernen, wie man das Beste aus sich machen kann, und ihnen Ratschläge geben.«

»Sie wollen keine Ratschläge«, entgegnete ihr Mann. »Und sie wollen auch nicht in Versuchung geführt werden. Sehen sie nicht gut aus, so wie sie sind? … Und außerdem, sollen denn die Leute denken, daß meine Frau mitarbeiten muß, daß ich den Lebensunterhalt für sie und meine Kinder nicht allein bestreiten kann?« Immer wenn Vater das sagte, lachte er und machte ein drolliges Gesicht.

Vater liebte Späße, er beherrschte Kartentricks und konnte Münzen verschwinden lassen. Mutter lachte nicht so viel, aber sie lächelte Vater an und stimmte ihm normalerweise zu. Und sie beklagte sich nicht wie Clios Mutter, wenn er mal länger arbeitete oder mit Doktor Kelly in Paddles’ Bar einen heben ging.

Mutter würde gern in der Apotheke arbeiten, überlegte Kit, aber ihr war klar, daß es sich für Leute ihres Standes nicht schickte, wenn der Mann seine Frau arbeiten gehen ließ. Höchstens Frauen wie die verwitwete Mrs. Hanley, die das Textilgeschäft führte, oder Mona Fitz, die unverheiratete Postmeisterin, oder Mrs. Dillon, deren Mann trank, standen in einem Laden. So war das eben in Lough Glass, und auch sonst überall.

Als sie von Schwester Madeleine nach Hause liefen, wollte Kit das Bild ihrer tränenüberströmten Mutter nicht aus dem Kopf gehen. Langsam, beinahe unwillig stieg sie die Stufen hinauf; sie wollte lieber nicht hinein und erfahren, daß etwas passiert war. Vielleicht waren es ja wirklich schlimme Nachrichten. Doch was konnte es sein?

Dad ging es gut; er schloß gerade die Apotheke ab. Emmet war wohlbehalten zu Hause angelangt, nachdem er sich im Dreck gewälzt hatte – oder was er sonst nach der Schule trieb. Mit der Familie konnte es also nichts zu tun haben. Wie auf Eiern ging Kit in die Küche, wo die Familie beim Essen saß. Alles war ganz normal. Höchstens, daß die Augen ihrer Mutter ein bißchen glänzten, aber das sah man nur, wenn man sehr genau hinschaute. Sie trug jetzt ein anderes Kleid; offensichtlich hatte sie sich umgezogen.

Mutter sah immer wunderschön aus, beinahe wie eine Spanierin. Jemand hatte ihnen einmal eine Ansichtskarte mit dem Bild einer Flamencotänzerin aus Spanien geschickt, auf der das Kleid aus echtem Stoff war, nicht nur fotografiert. Kit fand immer, daß die Frau mit ihrem zum Knoten aufgesteckten langen Haar und den großen dunklen Augen genau wie Mutter aussah.

Dad war bester Laune, also konnte es keinen Krach oder dergleichen gegeben haben. Er lachte und erzählte, wie der alte Billy Sullivan heute bei ihm Melissengeist kaufen war. Nachdem er in keinem anderen Geschäft, das Alkohol führte, mehr bedient wurde, hatte er plötzlich seine Rettung in Gestalt von Melissengeist entdeckt. Dad gab eine großartige Parodie von einem Mr. Sullivan, der versuchte, nüchtern zu wirken.

»Wahrscheinlich sieht er deshalb Engel – weil er trinkt«, überlegte Kit.

»Der Himmel weiß, was er nach dem Melissengeist sehen wird«, erwiderte ihr Vater reumütig. »Ich mußte ihm weismachen, daß er die letzte Flasche erwischt hat und ich das Zeug nicht mehr besorgen kann.«

»Aber das ist eine Lüge«, sagte Emmet.

»Ich weiß, mein Sohn, aber entweder belüge ich ihn, oder der arme Kerl liegt auf der Straße und brüllt sich die Seele aus dem Leib.«

»Schwester Madeleine sagt, daß wir alle ein bißchen verrückt sind, daß es das ist, was uns von anderen Menschen unterscheidet«, erzählte Kit.

»Schwester Madeleine ist eine Heilige«, meinte ihre Mutter. »Warst du schon bei ihr, Rita, wegen dieser anderen Sache?«

»Das werde ich noch tun, Mrs. McMahon, ganz bestimmt«, antwortete Rita und stellte eine große Schüssel Käsemakkaroni auf den Tisch.

Obwohl sie in der Küche aßen, achtete Mutter darauf, daß immer schön gedeckt wurde. Statt einer Tischdecke verwendeten sie bunte Platzdeckchen, für die Kasserolle lag ein großer Bastuntersetzer bereit. Und das Essen war mit Petersilie garniert, damit auch das Auge mitaß, wie Mutter sich ausdrückte.

»Schmeckt es denn nicht immer gleich, egal, wie es aussieht, Ma’am?« hatte Rita einmal gefragt.

»Sorgen wir trotzdem dafür, daß es immer hübsch aussieht«, hatte ihre Mutter freundlich erwidert, und inzwischen war es für Rita zur zweiten Natur geworden, die Tomaten in Achtel und die hartgekochten Eier in dünne Scheiben zu schneiden. Kit wußte, daß bei den Kellys die Mahlzeiten nicht annähernd so stilvoll serviert wurden wie bei ihr zu Hause, obwohl sie in einem Eßzimmer aßen. Noch ein Grund, weshalb sie ihre Mutter für etwas Besonderes hielt.

Rita gehörte praktisch zur Familie, ganz anders als das Dienstmädchen der Kellys. Und Emmet liebte Rita, immer wollte er wissen, woher sie kam und wohin sie ging. »Wegen welcher Sache?« fragte er jetzt.

»Sie soll mir beim Lesen helfen.« Rita hatte unverblümt geantwortet, noch bevor man Emmet ermahnen konnte, nicht so neugierig zu sein. »Weißt du, ich habe es in der Schule nie richtig gelernt. Ich war nicht oft genug dort.«

»Wo warst du denn?« Emmet klang neidisch. Wie wundervoll war es, ganz beiläufig erwähnen zu können, daß man die Schule geschwänzt hatte.

»Meistens habe ich mich um ein Baby gekümmert oder Heu eingebracht oder Torf gestochen«, erklärte Rita sachlich. Sie schien nicht verbittert darüber, daß sie nichts hatte lernen können; daß sie jahrelang Kinder hüten und vor ihrer Zeit erwachsen werden mußte; daß sie zu guter Letzt fremde Kinder hütete und in fremde Häuser putzen ging.

 

Kurz nach dem Tee sah Mr. Sullivan überall Teufel. In der Abenddämmerung entdeckte er, wie sie sich mit Heugabeln bewaffnet in die Häuser entlang der Straße schlichen – auch in das des Apothekers. Vielleicht waren sie ja durch die Dielenbretter oder durch Mauerrisse hereingelangt. Kichernd hörten Kit und Emmet auf dem oberen Treppenabsatz, wie ihr Vater Mr. Sullivan widersprach, während er aus dem Mundwinkel heraus Anweisungen erteilte.

»Es ist alles in Ordnung, Billy. Hier ist kein Teufel außer Ihnen und mir im Raum.

Helen, ruf Peter an, bitte!

Setzen Sie sich, Billy. Kommen Sie, wir reden mal von Mann zu Mann über die Sache.

Sag ihm, wie schlimm es steht, Helen.

Jetzt hören Sie mir mal zu, Billy. Halten Sie mich für einen Mann, der Fremde mit Mistgabeln ins Haus läßt?

Er soll so schnell kommen, wie’s geht. Und mit jedem Beruhigungsmittel, das er in eine Spritze kriegen kann.«

Sie blieben auf der Treppe sitzen, bis Clios Vater eintraf. Die Schreckensschreie verstummten, die Jagd nach den Teufeln fand ein Ende. Dann hörten sie Dr. Kelly sagen, daß jetzt nur noch die Einweisung in die Anstalt bliebe. Billy sei eine Gefahr für sich selbst und für andere.

»Was wird nun aus der Werkstatt?« fragte Dad.

»Einer von seinen prächtigen Söhnen, die er rausgeworfen hat, wird zurückkommen und sie für ihn weiterführen. Wenigstens hat der Onkel die Jungen zur Schule geschickt. Vielleicht schaffen sie es ja, mehr daraus zu machen als eine Ausnüchterungszelle«, meinte Dr. Kelly, der nicht wie Schwester Madeleine der Ansicht war, daß alle Menschen verschieden und deshalb etwas Besonderes seien.

Emmet hatte das Kinn auf die Hände gestützt. Immer wenn er sich fürchtete, kehrte sein Stottern zurück. »Werden sie ihn jetzt einsperren?« fragte er mit großen runden Augen. Er brauchte zehn Anläufe, bis er »einsperren« über die Lippen brachte.

Falls sie jetzt einen Wunsch frei hätte, kam es Kit plötzlich in den Sinn, würde sie sich wünschen, daß Emmet nicht mehr stottern müßte. Manchmal war es ihr Herzenswunsch, langes blondes Haar zu haben wie Clio oder daß Mutter und Vater sich so gut verstehen würden wie Dr. Kelly und Mrs. Kelly. Doch heute abend schien ihr Emmets Sprechvermögen das Wichtigste.

Nachdem man Mr. Sullivan weggebracht hatte, gingen Dad und Clios Vater noch auf ein Bier. Mutter zog sich wortlos ins Wohnzimmer zurück, und Kit sah, wie sie Sachen aufhob und wieder hinlegte, bevor sie in ihr Schlafzimmer ging und die Tür hinter sich schloß.

Kit klopfte an.

»Komm rein, mein Schatz.« Ihre Mutter saß an der Frisierkommode und bürstete sich die Haare. Mit offenem Haar sah sie wie eine Prinzessin aus.

»Ist alles in Ordnung, Mam? Du wirkst ein bißchen traurig.«

Mutter legte ihren Arm um Kit und zog sie an sich. »Mir geht es gut, wirklich. Warum meinst du, daß ich traurig bin?«

Kit wollte ihr nicht erzählen, was sie durchs Küchenfenster beobachtet hatte. »Nun, dein Gesicht.«

»Na ja, wahrscheinlich bin ich auch traurig über manche Dinge – daß der alte Narr in einer Zwangsjacke für den Rest seiner Tage ins Irrenhaus gebracht wird, weil er sich beim Trinken nicht beherrschen kann. Und über Ritas selbstsüchtige, habgierige Eltern, die vierzehn Kinder in die Welt gesetzt haben und die älteren die jüngeren aufziehen ließen, bis sie alt genug waren, daß man sie als Mägde und Knechte beschäftigen und ihnen den halben Lohn abknöpfen konnte … Aber ansonsten geht es mir gut.«

Zweifelnd betrachtete Kit das Spiegelbild ihrer Mutter.

»Und du, meine kleine Kit? Geht es dir gut?«

»Nein, nicht ganz. Nicht richtig gut.«

»Was hättest du denn gern?«

»Ich wär’ gern schneller von Begriff«, sagte Kit. »Ich würde die Dinge gern auf Anhieb verstehen, so wie Clio. Und dann wäre ich gern blond und möchte gleichzeitig reden und zuhören können. Und größer möchte ich sein.«

»Wahrscheinlich wirst du mir jetzt nicht glauben, wenn ich dir sage, daß du zwanzigmal so schön bist wie Clio und viel intelligenter dazu.«

»Oh, Mam, das stimmt nicht!«

»Doch, Kit, ich schwöre es. Clio hat Stil. Ich weiß nicht, woher es kommt, aber sie schafft es, das Beste aus sich zu machen. Schon mit zwölf weiß sie genau, was ihr steht und wie man lächeln muß. Das ist alles. Sie ist nicht schön, so wie du. Vergiß nicht, du hast meine Wangenknochen, Clio hat nur die von Lilian.«

Sie lachten, zwei Frauen, die sich mit Verschwörermiene zublinzelten. Denn Mrs. Kelly hatte ein Vollmondgesicht und ganz und gar keine Wangenknochen.

 

Rita ging nun an jedem Donnerstag, ihrem halben freien Tag, zu Schwester Madeleine. Wenn jemand anderer ebenfalls vorbeikam, erklärte Schwester Madeleine: »Rita und ich lesen gerade ein paar Gedichte. Das machen wir oft am Donnerstag.« Es war ein taktvoller Hinweis, daß diese Zeit Rita gehörte, und die Leute lernten, das zu respektieren.

Rita buk süße Brötchen, oder sie brachte einen halben Apfelkuchen mit. Dann tranken sie zusammen Tee und beugten sich über die Bücher. Wochen verstrichen, und als der Sommer nahte, strahlte Rita ein neues Selbstbewußtsein aus. Jetzt konnte sie lesen, ohne mit dem Finger jedes Wort entlangzufahren; die schwierigsten Wörter erkannte sie aus dem Textzusammenhang. Es wurde Zeit für den Schreibunterricht, und Schwester Madeleine überreichte Rita einen Füllfederhalter.

»Das kann ich nicht annehmen, Schwester. Den hat man doch Ihnen geschenkt.«

»Nun, wenn er mir gehört, kann ich doch damit machen, was ich will.«

Schwester Madeleine behielt kaum ein Geschenk länger als vierundzwanzig Stunden.

»Na ja, dann könnte ich ihn mir vielleicht leihen, für längere Zeit?«

»Ich leihe ihn dir für den Rest deines Lebens«, erwiderte Schwester Madeleine.

Sie quälten sich nicht mit langweiligen Schönschreibübungen; statt dessen schrieben Rita und Schwester Madeleine über Lough Glass und den See und den Wechsel der Jahreszeiten.

»Demnächst kannst du deiner Schwester nach Amerika schreiben«, meinte Schwester Madeleine.

»Nein, keinen echten Brief, nicht an eine wirkliche Person.«

»Warum denn nicht? Ich sage dir, der ist bestimmt nicht schlechter als jeder andere Brief, den sie aus diesem Teil der Welt bekommt.«

»Wird es sie überhaupt interessieren, was ich von hier schreibe?«

»Sie wird so glücklich darüber sein, etwas von zu Hause zu erfahren, daß man ihre Dankesrufe fast über den ganzen Atlantik hören wird.«

»Ich habe noch nie Post bekommen. Ich möchte nicht, daß sie oben bei den McMahons denken, ich zählte mich jetzt zu den Leuten, denen man schreibt.«

»Sie könnte dir ja hierher schreiben.«

»Bringt denn der Briefträger Post bis zu Ihnen, Schwester Madeleine?«

»Tommy Bennet ist der netteste Mann auf der Welt. Er kommt dreimal die Woche mit Briefen zu mir; bei Wind und Wetter fährt er mit seinem Fahrrad hier runter und trinkt eine Tasse Tee mit mir.«

Sie sagte nicht, daß Tommy nie ohne ein Scherflein für ihre Vorratskammer kam. Oder daß sie ihm behilflich gewesen war, seine Tochter schnell und ohne Aufsehen in ein Heim für ledige Mütter zu verfrachten, so daß dieses Geheimnis den neugierigen Augen und Ohren von Lough Glass verborgen geblieben war.

»Soviel Post bekommen Sie?« staunte Rita.

»Die Menschen sind sehr lieb. Sie schreiben mir oft«, sagte Schwester Madeleine, nicht weniger erstaunt.

Clio und Kit hatten schon in sehr jungen Jahren schwimmen gelernt. Damals hatte sich Dr. Kelly bis zum Bauchnabel ins Wasser gestellt, um es ihnen beizubringen. Denn als junger Medizinstudent hatte er einmal drei tote Kinder aus dem Glas-See ziehen müssen, die im seichten Wasser ertrunken waren, nur weil sie nicht schwimmen konnten. Er hatte sich sehr darüber geärgert – und über die dumpfe Schicksalsergebenheit von Menschen, die am Rande eines Gefahrenherds lebten und dennoch keine Vorsichtsmaßnahmen trafen.

Wie die Fischer in Westirland, die sich in zerbrechlichen Nußschalen zum Fischen hinaus auf den tosenden Atlantik wagten. Alle trugen sie unterschiedliche Pullover, damit man wußte, zu welcher Familie einer gehörte, wenn man seinen leblosen Körper aus dem Wasser zog. Jede Familie hatte ihr eigenes Strickmuster. Kompliziert und pervers, fand Dr. Kelly. Warum brachten sie den jungen Fischern nicht einfach das Schwimmen bei?

Also hatte man die kleinen Kellys und McMahons, kaum daß sie laufen konnten, ans Seeufer mitgenommen. Andere Familien folgten diesem Beispiel: Schließlich war der Arzt eine Autorität im Ort. Auch der kleine Philip vom Hotel und die Hanley-Mädchen lernten schwimmen. Wie vorauszusehen war, hatte der alte Sullivan von der Werkstatt dem Arzt allerdings geraten, die Pfoten von anderer Leute Kinder zu lassen. Stevie und Michael konnten wahrscheinlich heute noch nicht schwimmen.

Peter Kelly hatte fremde Länder bereist, in denen Seen wie dieser Touristenattraktionen waren – Schottland beispielsweise. Menschen besuchten Orte oft nur, weil ein See dort war. Auch in der Schweiz, wo er und Lilian die Flitterwochen verbracht hatten, wurden Seen geschätzt. Aber im Irland der fünfziger Jahre schien niemand ihre Bedeutung und ihre Möglichkeiten zu erkennen.

Und so hielten ihn die Leute für verrückt, als er sich zusammen mit seinem Freund Martin McMahon ein kleines Ruderboot zulegte. Damit fuhren sie oft gemeinsam hinaus und angelten – nach Barsch, Brasse und Hecht. Große, häßliche Fische. Aber das Warten, daß einer anbiß, während man in das sich ständig verändernde Gewässer starrte, war ein erholsamer Zeitvertreib.

Die beiden Männer waren schon seit ihrer Kindheit miteinander befreundet. Sie kannten die Verstecke in Schilf und Binsen, wo Moorhühner brüteten und ab und zu sogar Schwäne Unterschlupf suchten. An manchen Tagen hatten sie Gesellschaft auf dem Wasser, wenn sie zum Angeln hinausruderten, da einige wenige Einheimische ihre Leidenschaft teilten; doch normalerweise dümpelten auf dem Lough Glass sonst nur Lastkähne, die Tierfutter oder landwirtschaftliches Gerät von einem Seeufer zum anderen übersetzten.

Die Höfe waren so eigentümlich aufgeteilt, daß ein Bauer oft am schnellsten über den Wasserweg zu seinen weitverstreuten Äckern gelangte. Noch eine irische Besonderheit, pflegte Peter Kelly oft zu sagen, daß wir es zuwege bringen, uns Müh und Plag, die wir keiner Kolonialmacht verdanken, durch ständige Familienfehden und -streitigkeiten selbst aufzubürden. Martin hatte ein sonnigeres Gemüt. Er glaubte an das Gute im Menschen und besaß eine Engelsgeduld. Keine Situation war für ihn je zu verfahren, um sie nicht mit einem herzlichen Lachen zu entspannen. Martin McMahon fürchtete nur eins – den See.

Stets ermahnte er die Leute – auch Besucher von außerhalb, die in seine Apotheke kamen – zur Vorsicht, wenn sie am Ufer entlangspazierten. Und selbst jetzt, da Clio und Kit längst alt genug waren, allein mit dem Boot hinauszurudern – sie hatten es ein Dutzend Male unter Beweis gestellt –, war Martin jedesmal unruhig. Er gestand es Peter einmal bei einem Bier in Paddles’ Bar. »Mein Gott, Martin! Paß auf, daß du nicht ein altes Weib wirst!«

Doch Martin war nicht beleidigt. »Kann gut sein. Laß mich mal nach weiteren Merkmalen suchen: Mir ist zwar noch kein Busen gewachsen, aber ich muß mich nicht mehr so oft rasieren … Du könntest recht haben, weißt du!«

Liebevoll betrachtete Peter seinen Freund. Mit seiner scherzhaften Antwort kaschierte Martin seine tiefe Besorgnis. »Ich habe sie beobachtet, Martin. Mir liegt genauso viel daran wie dir, daß ihnen nichts passiert … aber sie sind auf dem Wasser sehr viel vernünftiger als auf dem Land. Das haben wir ihnen eingebleut. Sieh ihnen doch einmal zu, und überzeug dich selbst.«

»Das werde ich. Sie wollen morgen raus. Helen sagt, wir müssen ihnen ihren Freiraum lassen, wir können sie nicht in Watte packen.«

»Helen hat recht«, stimmte Peter zu, und dann debattierten sie, ob sie noch ein Bier trinken sollten oder nicht. Wie immer bei dieser Frage schlossen sie einen Kompromiß und entschieden sich für ein kleines. Was so voraussehbar war, daß Paddles es schon gezapft hatte, als sie es an der Theke bestellen gingen.

 

»Mr. McMahon, wollen Sie Anna bitte heimschicken«, bat Clio Kits Vater. »Wenn ich es tue, gibt es bloß wieder Streit.«

»Hast du Lust, mit mir spazierenzugehen?« schlug Kits Vater der kleinen Anna vor.

»Ich will auch ins Boot.«

»Ja, ich weiß, aber die zwei sind jetzt große, erwachsene Mädchen, die unter sich sein und ungestört miteinander plaudern wollen. Warum ziehen wir beide nicht los und schauen, ob wir ein Eichhörnchen aufspüren können?« Er zwinkerte den Mädchen im Boot zu. »Ich weiß, daß ich eine alte Glucke bin. Aber es hat mir keine Ruhe gelassen, ich mußte nachschauen kommen, ob alles in Ordnung ist.«

»Na klar doch.«

»Und ihr werdet auch kein Risiko eingehen? Der See ist gefährlich.«

»Daddy, bitte

Er machte kehrt, und sie sahen, wie Anna murrend hinter ihm hertrottete.

»Er ist sehr nett, dein Vater«, meinte Clio, während sie die Ruder gewissenhaft in die Dollen schob.

»Ja, schon, wenn man überlegt, was für einen Vater man hätte abkriegen können«, pflichtete Kit bei.

»Mr. Sullivan in der Trinkerheilanstalt«, nannte Clio ein Beispiel.

»Tommy Bennet, den biestigen Briefträger.«

»Oder Paddles Burns, den Wirt mit den großen Füßen …«

Sie lachten über ihr Glück.

»Obwohl sich die Leute wundern, daß dein Vater deine Mutter geheiratet hat«, meinte Clio.

Kit fühlte, wie ihr die Galle hochstieg. »Nein«, ging sie zum Angriff über. »Darüber wunderst nur du dich. Kein Mensch außer dir findet das irgendwie merkwürdig.«

»Bleib auf dem Teppich. Ich wiederhole doch nur, was ich gehört habe.«

»Wer sagt so was? Wo hast du so etwas gehört?« Kits Wangen brannten vor Zorn. Sie hätte ihre Freundin Clio am liebsten in den dunklen See gestoßen und ihr den Kopf unter Wasser gedrückt. Kit war selbst überrascht von der Heftigkeit ihrer Gefühle.

»Ach, die Leute reden halt so …«, entgegnete Clio von oben herab.

»Was reden die Leute?«

»Na ja, daß deine Mutter eben irgendwie anders ist, halt nicht von hier … wenn du verstehst, was ich meine.«

»Nein, ich verstehe nicht. Deine Mutter ist auch nicht von hier, sie stammt aus Limerick.«

»Aber sie hat hier häufig die Ferien verbracht. Dadurch gehörte sie irgendwie dazu.«

»Meine Mutter ist hierher gekommen, als sie Dad kennenlernte, dadurch gehört sie jetzt auch dazu.« Kit standen Tränen in den Augen.

»Entschuldigung.« In Clios Stimme lag ehrliches Bedauern.

»Wofür?«

»Daß ich gesagt habe, deine Mutter sei nicht von hier.«

Kit aber merkte, daß Clio noch mehr leid tat: Sie hatte mit dem Finger auf eine Ehe gezeigt, die alles andere als vollkommen war. »Ach, sei doch nicht blöd, Clio. Wen kümmert es schon, was du über meine Mutter sagst oder woher sie kommt. Du kannst einem den letzten Nerv töten. Meine Mutter stammt aus Dublin, und das ist zwanzigmal interessanter, als in dem doofen alten Limerick geboren zu sein.«

»Klar doch«, stimmte Clio zu.

Die Dämmerung brach herein, aber Kit hatte der erste Sommerausflug auf den See hinaus keinen großen Spaß gemacht und Clio auch nicht. So waren beide erleichtert, als sie nach Hause zurückkehren konnten.

 

Rita bekam im Juli immer zwei Wochen Urlaub.

»Die Besuche bei Schwester Madeleine werden mir fehlen«, vertraute sie Kit an.

»Komisch, daß man Unterricht vermissen kann«, staunte Kit.

»Tja, das ist wohl, weil ich so etwas nicht kannte. Jeder will eben das, was er nicht hat.«

»Was würdest du denn in den Ferien am liebsten tun?« fragte Kit.

»Nicht nach Hause müssen, wahrscheinlich. Es ist kein Zuhause wie das hier. Meine Mutter schert sich nicht darum, ob ich da bin, außer daß sie natürlich scharf auf mein Geld ist.«

»Na, dann fahr eben nicht hin.«

»Was soll ich denn sonst tun?«

»Kannst du nicht einfach hierbleiben und nicht arbeiten?« schlug Kit vor. »Ich bringe dir dann morgens eine Tasse Tee ans Bett.«

Rita lachte. »Nein, das würde nicht klappen. Aber du hast recht, ich muß nicht unbedingt nach Hause.« Sie meinte, sie würde mit Schwester Madeleine darüber reden. Der Einsiedlerin würde vielleicht etwas einfallen.

Und die Einsiedlerin hatte eine großartige Idee. Mutter Bernard würde bestimmt liebend gern jemanden bei sich im Kloster aufnehmen, der ihr täglich ein paar Stunden beim Großreinemachen half und vielleicht sogar ein paar Wände tünchte. Als Gegenleistung könnte Rita in der Schule wohnen, wo ihr die Nonnen beim Lernen helfen würden.

Sie habe prima Ferien verlebt, erzählte Rita nach ihrer Rückkehr, die schönsten ihres Lebens.

»Du meinst, es hat dir gefallen, bei den Nonnen zu wohnen?«

»Es war einfach wunderbar. Du ahnst ja nicht, wie friedlich es dort ist. Und dann die schönen Gesänge in der Kapelle. Außerdem hatte ich einen Schlüssel und konnte jederzeit in die Stadt ins Kino oder zum Tanzen gehen. Ich habe gut zu essen bekommen, und sie haben mir stundenlang beim Lernen geholfen.«

»Du willst uns doch nicht verlassen, oder?« Kit merkte, wie der Schatten einer Veränderung auf ihr Leben fiel.

Rita war ehrlich. »Nicht, solange ihr noch klein seid und mich braucht.«

»Mam würde tot umfallen, Rita, wenn du gehst. Du gehörst doch zur Familie.«

»Deine Mutter hätte Verständnis dafür, ganz bestimmt. Sie hat sich oft mit mir darüber unterhalten, daß man Gelegenheiten beim Schopf packen muß. Und sie hat mich immer ermutigt, ich sollte mehr aus mir machen. Sie weiß, daß ich eines Tages etwas anderes tun will als nur Böden schrubben.«

Plötzlich schimmerten Tränen in Kits Augen. »Ich habe Angst, wenn du so sprichst. Ich will nicht, daß sich etwas ändert. Alles soll immer so bleiben, wie es ist.«

»Aber so ist es nun mal im Leben. Schau doch nur, wie aus dem kleinen Kätzchen Farouk ein großer Kater geworden ist; dabei hätten wir gerne gehabt, daß er immer ein Kätzchen bleibt. Und denk an die Entenküken von Schwester Madeleine, die eines Tages ausgewachsen waren und davongeschwommen sind. Deine Mutter hätte auch am liebsten, daß du und Emmet klein und niedlich bleiben, aber bald werdet ihr erwachsen sein und sie verlassen. Das ist eben der Lauf der Welt.«

Kit wünschte, es wäre anders, aber sie fürchtete, daß Rita recht hatte.

 

»Hast du Lust auf eine Bootsfahrt mit mir, Mam?« fragte Kit.

»Um Himmels willen, nein, dafür habe ich keine Zeit. Fahr doch mit Clio raus.«

»Ich habe die Nase voll von Clio. Ich möchte, daß du mitkommst. Ich will dir ein paar Stellen zeigen, wo du noch nie gewesen bist.«

»Tut mir leid, Kit, aber es geht nicht.«

»Was tust du eigentlich nachmittags, Mam? Was ist soviel wichtiger, als mit dem Boot rauszufahren?«

Kit fiel nur in den Schulferien auf, wie sehr sich der Tagesablauf ihrer Mutter von dem anderer Mütter unterschied. Clios Mutter fuhr ständig in die Stadt, um dort nach Gardinenstoffen zu schauen oder Kleider anzuprobieren. Oder sie traf sich mit Freundinnen in einem der eleganten Cafés. Mrs. Hanley und Mrs. Dillon arbeiteten in ihren Läden. Und Philip O’Briens Mutter putzte oben in der Kirche das Messing oder steckte Blumen für Father Baily. Es gab Mütter, die regelmäßig zu Mutter Bernard gingen und dort für die verschiedenen Basare und regelmäßigen Wohltätigkeitsveranstaltungen zugunsten der Missionsarbeit des Ordens bastelten.

Doch Kits Mutter tat nichts von alledem. Statt dessen hielt sie sich stundenlang mit Rita in der Küche auf, wo sie zusammen Rezepte ausprobierten und Gerichte verfeinerten – sie verbrachte viel mehr Zeit als andere Mütter mit ihrem Dienstmädchen. Oder sie arrangierte Blätter und Zweige als Zimmerschmuck. Und ihre über zwanzig selbst gerahmten Ansichten vom Lough Glass nahmen eine ganze Wand ein. Noch jeder Besucher hatte sich von dieser Sammlung beeindruckt gezeigt.

Allerdings hatten sie nur selten Besuch.

Und da Mutter schnell und geschickt arbeitete, hatte sie eine Menge Zeit für sich … wahrlich genug Zeit, um mit Kit eine Ruderpartie zu machen. »Sag«, beharrte Kit, »Wozu hast du dann Lust, wenn du schon nicht mit mir rausfahren willst?«

»Ich lebe mein Leben, so gut ich eben kann«, erwiderte ihre Mutter. Und Kit erschrak über den abwesenden Gesichtsausdruck, mit dem Helen McMahon dies sagte.

 

»Dad, warum haben du und Mutter getrennte Schlafzimmer?« fragte Kit.

Sie hatte sich eine Zeit ausgesucht, in der niemand in die Apotheke kam und sie nicht gestört werden würden. Ihr Vater stand in seinem weißen Kittel hinter dem Ladentisch, die Brille nach oben geschoben und das runde, sommersprossige Gesicht in angespannter Konzentration. Nur unter der Bedingung, daß sie ihn nicht ablenkte, hatte er Kit erlaubt, auf dem hohen Hocker zu sitzen.

»Wie?« meinte er zerstreut.

Erneut setzte sie zu der Frage an, aber er unterbrach sie: »Ich habe dich schon verstanden, aber warum fragst du?«

»Einfach nur so, Dad.«

»Hast du deine Mutter schon gefragt?«

»Ja.«

»Und?«

»Sie hat gesagt, weil du schnarchst.«

»Also weißt du es bereits.«

»Ja.«

»Noch irgendwelche Fragen, Kit? Oder kann ich jetzt wieder darangehen, unseren Lebensunterhalt zu verdienen, und weiter Pillen drehen?«

»Warum haben du und Mam geheiratet?«