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Inhalt

Impressum

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2015 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-016-8

ISBN e-book: 978-3-99048-017-5

Lektorat: Eva Ebenhoch

Umschlagfoto: Oleksii Sergieiev | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Einleitung

Es ist ein ungemütlicher Tag in Berlin. Es regnet und ich sitze hier auf einer Bank im Tiergarten, direkt unter einer großen, altehrwürdigen Trauerweide in Ufernähe.

Vor mir, auf dem zermatschten Rasen, spielt meine Freundin mit unserer etwas zu langbeinig geratenen Hündin. Beiden scheint der matschige Boden nichts auszumachen und die endlosen Heb-auf-und-werf-weg-Stöckchen-Spiele ebenso wenig.

Mit etwas Melancholie beobachte ich die beiden, denn viel mehr gibt es bei diesem Wetter nicht zu sehen. Bisher …! Meine Gedanken werden plötzlich von lauten Rufen zerrissen. Eine tiefe, kräftige Frauenstimme, mit unverkennbarer „Berliner Schnauze“, dringt an mein Ohr. Ein Hund, groß, dunkel und sehr schön, schießt wie aus dem Nichts an meiner Bank vorbei, haltlos auf unsere wie zu Stein erstarrte Hündin zu. Ich weiß nicht, wo ich zuerst hinsehen soll, in Richtung Stimme oder zu den Hunden, mit der Angst im Gepäck, dass unsere Hündin jeden Moment gefressen wird. Ich entscheide mich für die Hunde. Doch bis ich eine weitere Reaktion folgen lassen kann, hat sich unsere Hündin offensichtlich schneller gefangen, denn sie begrüßt springend und schwanzwedelnd den Fremdling. Die Situation scheint nicht bedrohlich und so wende ich mich der aufgeregt wirkenden Frau zu, die mit großen Schritten aus dem Regen herbeieilt.

„Mein Bac ist ganz friedlich, Sie brauchen keine Angst zu haben …“, spricht es laut in unsere Richtung. Sie lacht und erscheint aus der Nähe gar nicht mehr so aufgeregt. Und auch meine Freundin kommt auf mich zu, da sie nun niemanden mehr zum Spielen hat, denn beide Hunde sind gut miteinander beschäftigt. Sie jagen vergnügt über die nassen Wiesen und durch das flache Wasser.

Meine Freundin ist inzwischen an meiner Bank angekommen, wie auch die fremde Frau, die uns direkt anspricht.

„Was machen Sie beide denn hier auf einer Bank im Regen, Sie haben wohl kein schönes Zuhause, was?“ Ein herzliches Lachen folgt und ebenfalls ein neugieriger Blick ihrerseits. Wir schauen etwas überrascht, da für uns die Berliner Offenheit noch fremd ist, doch meine Freundin fängt sich schneller als ich, grinst und sagt: „Nee, von einem schönen Zuhause kann man nicht sprechen. Wir halten uns lieber hier im Regen auf als in unserer Dunkelkammer.“ Die fremde Frau schaut uns verwundert an, geht aber auf unsere Antwort nicht weiter ein. „Ich habe Sie noch nie hier im Park gesehen und ich gehe hier jeden Tag mit meinem Hund spazieren. Sie kommen wohl auch nicht aus Berlin, oder, ich meine, wegen Ihres Dialektes?“ „Nein, wir sind erst vor zwei Monaten aus beruflichen Gründen hierher gezogen. Im Park sind wir erst das zweite Mal“, erzählt ihr meine Freundin bereitwillig. Ich wundere mich über sie, da sie Fremden gegenüber sonst nie sehr viel über uns erzählt. Danach mustere ich die Frau und vom Alter her könnte sie meine Mutter sein, allerdings hat sie sich besser gehalten als meine Mutter sich. Sie wirkt auf mich wie ein in die Jahre gekommenes Modell. Groß, schlank, sportlich, sehr gepflegt und nicht unattraktiv. Meine Freundin und sie kommen schnell ins Gespräch und ich wünschte mir, ich könnte so offen sein wie die beiden. Die Hunde toben immer noch und ich besinne mich auf meine Kinderstube, rücke auf der Bank beiseite und biete den beiden Platz an. Die Frau nimmt dankend an und auch meine Freundin rückt an meine Seite. „Ach. übrigens, ich heiße Claudia“, stellt sich die Frau vor. „Was haltet ihr davon, wenn wir uns hier öfter sehen würden? Die Hunde verstehen sich doch prima. Bac hat nicht immer gleichwertige Spielgefährten. Wäre doch schön, wenn sie sich beide auspowern könnten!“ Ich ergreife nun mutig das Wort und stelle mich auch vor. „Ich heiße Tina und sie ist meine Lebensgefährtin Carola und gerne kommen wir wieder, für unsere Hündin wäre das wunderbar. Ich arbeite von zu Hause aus und kann mir meine Zeit einteilen. Wenn Sie mir sagen, wann Sie hier sind, lässt sich das einrichten. Zumindest, bis wir eine andere Wohnung gefunden haben, denn lange halten wir es in der jetzigen nicht mehr aus.“ War ich das? So viel rede ich sonst nie am Stück, schon gar nicht so direkt, aber diese Frau strahlt etwas Vertrauensvolles aus.

Claudia schaut mir offen ins Gesicht. „Sie beide sind ein Paar? Bisher hab ich noch kein Frauenpaar kennengelernt. Aber das ist kein Problem für mich und für Bac sicher auch nicht.“ Sie lacht. „Und keine Sorge“, sagt sie, „in unserem Wohnhaus und in der Nachbarschaft gibt es noch einige freie Wohnungen, die wirklich schön sind. Ich kann meinen Hausverwalter fragen, ob etwas Passendes für euch dabei ist, wenn ihr das möchtet, da lässt sich bestimmt etwas machen und es ist gar nicht weit von hier. Gebt mir doch eure Telefonnummer, ich melde mich dann bei euch, wenn ich Näheres weiß.“

Ich bin leicht verunsichert. Träume ich? Natürlich möchten wir. Ein Blickwechsel mit meiner Freundin, das Strahlen in ihren Augen und wir wissen beide, alles wird gut.

Zwei Wochen später meldete Claudia sich tatsächlich bei uns und wir hatten eine neue Wohnung, zusätzlich eine wunderbare neue Bekannte und unsere Hündin einen neuen Spielgefährten.

Wir hatten interessante Spaziergänge mit Claudia und verlebten einige schöne Jahre in Berlin, bevor wir unsere Hündin, ihr Spielzeug und unsere Sachen wieder packten und zurück nach Hamburg zogen.

Ich bin voll mit Eindrücken vom alten und neuen Berlin und den Geschichten einer echten Berliner Pflanze, deren sonniges Gemüt noch bis heute in mir nachwirkt. Einige Stationen ihres bewegten Lebens möchte ich gern erzählen.

*

1

Juni 1939, ein Jahr mit historischen und für viele Menschen schicksalshaften Tiefgang.

Stars wurden geboren, wie Tina Turner und Lily Tomlin in den USA, Terence Hill in Venedig und John Cleese in England. Doch man kann sich nicht aussuchen, wann und wo man zur Welt kommt, und somit erblickte in diesem Jahr ein Mädchen namens Claudia das Licht der Welt in Berlin. Abgesehen von den Wandlungen und Querelen, die Berlin in den kommenden Jahren mitmachte, wuchs Claudia in ihren ersten sieben Lebensjahren, wohlbehütet und zufrieden in einem sicheren Nest der gutbürgerlichen Gesellschaft Berlins auf.

Dem äußeren Anschein nach eine glückliche Familie. Doch die Zeiten änderten sich und die kleinen Streitereien mit ihrem drei Jahre älteren Bruder Jörg und die größeren mit ihrem Vater spielten inzwischen hinter der verschlossenen Wohnungstür eine wirklich ernst zu nehmende Rolle. Trotz Kriegsbeteiligung ist Vater Friedrich der Familie erhalten geblieben. Vor dem Krieg war er ein viel beschäftigter Malermeister und auch danach liefen die Geschäfte nicht schlecht. Und er sorgte gut für seine Familie, zudem, wie damals üblich, hauptsächlich in Naturalien bezahlt wurde. Für ausreichend Essen und auch sonstige Annehmlichkeiten war also gesorgt.

Bis zu dem Moment, als die Kinder an einem trüben Novembertag von der Trennung ihrer Eltern erfuhren. Ihre Mutter Elisabeth brachte es den beiden nicht gerade schonend bei, sondern auf ihre direkte Berliner Art, kurz und knapp.

Für Claudia war es eine schöne Überraschung. Denn ihr Vater war ein jähzorniger Mann, der sie und ihren Bruder gnadenlos mit dem Siebenstriemer schlug, um seine Kinder zu „erziehen“, wie er immer betonte. Die Striemen hielten sich lange und brennend auf ihren Hinterteilen und Elisabeth stand der Gewalt ihres Mannes machtlos gegenüber. Größtenteils entwickelten sich seine Gewaltausbrüche durch Stress im eigenen Geschäft. Er ließ sich von jedem Kunden auf der Nase herumtanzen, nur um gut angesehen zu sein. Das jähzornige Ergebnis bekamen letztendlich Frau und Kinder zu spüren.

Nachdem Friedrich die Scheidung eingereicht hatte, zog er aus der gemeinsamen Wohnung aus und überließ sie seiner Frau, den beiden Kindern und dem Hund Bienchen. Zu dieser Zeit wurde das Scheitern einer Ehe schuldig oder nicht schuldig geschieden und Friedrich besaß zweifelhafte Bekannte, die für ihn aussagten, dass Elisabeth ein Haustyrann gewesen sei. Obwohl sie keinen dieser selbst ernannten Zeugen kannte, glaubte das Gericht ihnen, und somit wurde ihr die alleinige Schuld zugesprochen. Das Recht auf Unterhalt für sich und ihre Kinder fiel somit weg. Das war es, worum es Friedrich ging.

Für Elisabeth hieß es mit diesem Urteil, sie musste die Familie allein ernähren, was ihr kaum möglich war. Von ihrem geringen Sekretärinnen-Gehalt lebten die drei und ihr Hund mehr schlecht als recht. Aber sie ließ es die Kinder nie spüren und eher verzichtete sie auf einige Mahlzeiten, bevor es ihren Kindern schlecht ging.

Doch ihr war klar, lange würde es ohne geregelte Mahlzeiten oder neue Bekleidung für die Kinder nicht gut gehen und sie überlegte fieberhaft, wie sie die Situation ändern könne.

*

2

An einem ganz normal verlaufenden Morgen machte sich Elisabeth auf den Weg zur Arbeit, nichts Schlimmes ahnend und mit dem Wissen, Kinder und Hund gut versorgt zu haben. Sie wusste, dass sie sich auf ihre Kinder verlassen konnte, wenn es darum ging, dass sie sich pünktlich auf den Weg zur Schule machten oder nach der Schule wieder nach Hause kamen. Sie gehörten nicht zu den Kindern, die sich irgendwo herumtrieben. Mit diesen Gedanken verließ sie in der Früh ihre Wohnung.

Am Mittag, nach der Schule, spielten die Geschwister mit ihrem Hund und Jörgs Freunden auf der Straße Fußball. Nach einigen Stunden forderte Jörg seine Schwester auf, in die Wohnung zu gehen, um einige Kopftücher zu besorgen, damit er und seine Freunde Cowboy und Indianer spielen konnten. Er selbst war zu faul dazu, und da er Claudia gegenüber ein ebenso aggressives Verhalten zeigte wie auch schon ihr Vater, machte sie sich widerwillig auf den Weg in den vierten Stock.

Da es schon schummrig wurde und wieder einmal Stromsperre herrschte, nahm sie eine Kerze aus dem Schubfach der Flurgarderobe, zündete sie an und leuchtete in den Schlafzimmerschrank. Sie fand einige Tücher, pustete die Kerze aus und legte sie zurück auf die Ablage im Flur und rannte nach unten.

Elisabeth kam kurze Zeit später nach Hause. Sie begrüßte ihre Kinder und Bienchen auf der Straße und ließ sie noch spielen, da die Essensvorbereitung noch etwas dauern würde, und so machte sie sich auch auf den Weg in den vierten Stock. Als sie oben ankam, bemerkte sie sofort diesen beißenden Geruch, der unter ihrer Wohnungstür hervorquoll, den nur Qualm eines Feuers erzeugen kann, und sie schloss eilig die Tür auf. Brandgeruch kam ihr entgegen.

Sie lief den Flur entlang in die Richtung, aus der der Brandgeruch kam, und stand im verqualmten Schlafzimmer. Sie nahm die Hitze in der Nähe des Kleiderschrankes wahr und gegen jede Vorsicht öffnete sie die Schranktür. Eine Stichflamme schoss ihr entgegen.

In dem Moment, in dem die Flammen Besitz von Elisabeth nehmen wollten, drehte sie sich reaktionsschnell zur Seite, schloss hastig die Tür und alarmierte die Feuerwehr.

Die schnell eintreffenden Feuerwehrmänner konnten den Brand zügig löschen. Doch beim Abrücken des schweren Schrankes von der Wand trauten die Männer ihren Augen nicht. Durch die Hitze hatte sich die Tapete von der Wand gelöst und ein großes Loch kam zum Vorschein.

Wie gebannt starrten die Feuerwehrmänner auf das Loch, und keiner wagte sich zu bewegen. In dem Loch befand sich eine Bombe. Ein Blindgänger aus vergangenen Kriegsjahren.

Alle Mieter des Hauses mussten umgehend ihre Wohnungen verlassen und Zuflucht bei Freunden oder Familienmitgliedern aus der Umgebung suchen oder auf der Straße ausharren. Es dauerte bis spät in die Nacht, bis die Bombe entschärft werden konnte und die Bewohner zurück in ihre Wohnungen durften. Bei der Klärung der Brandursache fiel den Männern die Kerze auf der Flurgarderobe auf und sie befragten Elisabeth und deren Kinder. Claudia erzählte den Männern, dass sie die Kerze benutzt hatte, um im Schrank besser sehen zu können, sie wieder ausgeblasen und weggelegt hatte. Den beim Ausblasen entstandenen Funkenflug, der die Kleidung erfasste und sie in Brand setzte, musste sie übersehen haben, denn sie wollte doch nur schnell zurück zu ihrem Bruder, damit sie sich keine Ohrfeige von ihm einfangen würde, weil sie so lange weg geblieben war. So ihre Erklärung.

Es machte niemand der Elfjährigen einen Vorwurf, denn im Nachhinein waren alle sogar froh über diesen Vorfall, weil auf diesem ungewöhnlich Weg, die Bombe erst entdeckt werden konnte. Doch ihr Bruder hatte kein Verständnis für sie und machte Claudia dafür verantwortlich, dass sie die halbe Nacht auf der Straße verbringen mussten.

Jörg bestrafte sie wieder auf seine Weise. Er schlug seiner Schwester mit der Faust so heftig ins Gesicht, dass sie noch tagelang Schmerzen am Jochbein verspürte.

Das Erziehen ihres Sohnes neben ihrer Arbeit zehrte an Elisabeths Nerven, denn Jörgs Verhalten wurde für sie, so wie für ihre Tochter, unerträglich.

Einige Wochen später ergab sich die Möglichkeit, Jörg zu Freunden nach Frankfurt am Main zu schicken. Als Grund erklärte Elisabeth ihm, dass er an einem Praktikum in einer Versicherung teilnehmen könnte und es eine große Chance für ihn sei, in ein paar Jahren einen guten Beruf erlernen zu können. Obwohl Jörg nicht begeistert von der Idee seiner Mutter war, setzte Elisabeth ihren inzwischen fünfzehnjährigen Sohn, in den Zug nach Frankfurt. Doch ihr Hauptgrund war, zu verhindern, dass er ihr Vorhaben verraten könnte, mit dem sie sich seit einiger Zeit befasst hatte, falls er Veränderungen im Tagesablauf bemerken sollte, denn sie traute ihrem Sohn einfach nicht mehr über den Weg. Denn für Elisabeth stand fest, es musste ein Neuanfang her. Ohne ihren Sohn. Und ihr Ziel war der Westteil Berlins.

*

3

Um gefahrlos in den Westteil zu kommen, bedurfte es ein wenig Glück. Und das hatte sie. Elisabeth kannte flüchtig einen sehr netten Grenzpolizisten, der in der Nähe wohnte. Der junge Mann absolvierte täglich seinen Dienst, morgens und abends, bei ihr um die Ecke an einem Schlagbaum, der den Osten vom Westen Berlins trennte. Er ließ Elisabeth problemlos pendeln und stellte auch keine Fragen. Ohne ihren Bürojob zu kündigen, indem sie sich krank meldete, verließ Elisabeth den Ostteil, um sich im Westteil eine neue Wohnung und Arbeitsstelle zu suchen. Und das Glück blieb ihr treu, denn nach drei Tagen pendeln zwischen Ost und West fand sie ein Zimmer und eine Arbeitsstelle.

Claudia, die in die Pläne ihrer Mutter eingeweiht war, sollte zwei Wochen in ihrer Wohnung verbleiben, damit kein Verdacht der Republikflucht aufkam, und dann nachkommen.

Während dieser Zeit, in der Elisabeth pendelte, kam sie jeden Abend nach Hause und versorgte ihre Tochter mit Lebensmitteln. Sie überließ Claudia zwei Groschen und eine Telefonnummer, unter der sie ihre Mutter im Notfall anrufen konnte. Doch Elisabeth glaubte nicht, dass Claudia sie benutzen musste, denn sie wollte ihre Tochter bald nachholen.

Einige Tage später spielte Claudia mit ihrem Hund vor der Haustür, als ein dort patrouillierender Volkspolizist sie zu sich rief. Er befahl ihr in den Westteil zu gehen, um ihm eine Packung Zigaretten zu kaufen. Nervös hantierte er an seinem Maschinengewehr herum, weil er sich dessen bewusst war, dass sein Vorhaben verboten war. Claudia wusste das nicht.

Während sie noch überlegte, ob sie seiner Aufforderung nachkommen sollte, löste sich plötzlich ein Schuss. Die dabei aufwirbelnden Steine flogen durch die Luft und trafen Claudia am Oberschenkel. Zutiefst erschrocken bemerkte sie den Schmerz nach ein paar Sekunden, und im festen Glauben, erschossen worden zu sein, lief sie hysterisch schreiend ins Haus und schrie immer wieder, „Ich bin tot, ich bin tot, ich bin tot …!“

Die vier Stockwerke stolperte Claudia voller Panik, immer noch schreiend und unter Schock stehend, nach oben zur Wohnung und Hund Bienchen hastete ihr eilig hinterher. Als sie in der Wohnung ankam und spürte, dass sie noch am Leben war, blieb ihr nicht viel Zeit sich zu erholen. Eine neugierige und republiktreue Nachbarin bekam den Zwischenfall auf der Straße und natürlich auch Claudias Geschrei im Treppenhaus mit. Da sie zu wissen glaubte, dass Claudia schon seit einigen Tagen allein in der Wohnung wohnte und auch jetzt von ihrer Mutter keine Spur war, rief sie umgehend die Polizei.

Claudia hatte sich gerade beruhigt und das Blut vom Bein gewischt, als es an der Haustür klingelte. Ihr war sofort klar, dass sie in Schwierigkeiten steckte, denn es kam um diese Zeit nie jemand zu Besuch. Sie schaute durch den Türspion und sah einen Mann im dunklen Anzug und zwei Polizisten. Sie schrak zurück und überlegte fieberhaft, was zu tun war, indes stieg Panik in ihr auf. Es gab keine Möglichkeit mehr, die Wohnung so herzurichten, als wenn Mutter und Tochter dort gemeinsam leben würden. Und ihr war bewusst, dass sie verhindern musste, dass ihre Mutter, die ihr gewöhnlich zu dieser Zeit das Essen brachte, den Männern begegnete. Claudia sah nur eine Möglichkeit ihre Mutter zu warnen, sie musste auf den Balkon gelangen. Sie ließ die Männer herein.

*

4

Die Beamten brachten einen Mann vom Jugendamt mit, der ihr viele Fragen stellte, auch zu den im Flur stehenden gepackten Koffern. Claudia erklärte ihm, dass sie und ihre Mutter die Wohnung demnächst renovieren wollten und sie ihre Bekleidung in die Koffer gepackt hatten, weil es sonst keinen Platz für sie gab. Die Männer glaubten ihr, da sie sehr überzeugend war.

Während sich die Beamten weiter in der Wohnung umsahen und der Mann vom Jugendamt mit seinen Unterlagen beschäftigt war, ergab sich für Claudia eine gute Möglichkeit auf den Balkon zu gehen. Als sie die Balkontür öffnete, trat einer der Beamten hinter sie und wollte sie begleiten.

Unsicher betrat sie den Balkon, doch als sie Elisabeth kommen sah, konnte Claudia mit viel Geschick und etwas Glück den Beamten so weit ablenken, dass sie hinter seinem Rücken Handzeichen geben und somit auf den Mann aufmerksam machen konnte.

Als Elisabeth von Weitem ihre winkende Tochter und einen Mann in Uniform auf ihrem Balkon sah, erkannte sie sofort die Gefahr, und noch bevor sie ihr Haus betrat, entkam sie Richtung Schlagbaum, der zurück in den Westen führte. Doch ihre Tochter musste sie schweren Herzens vorerst ihrem Schicksal überlassen. Ohne eingeladen worden zu sein, betrat die Nachbarin die Wohnung und erzählte den Beamten, dass sie die Mutter nur sehr selten in den Abendstunden sähe und noch vor einigen Monaten der Vater des Mädchens hier gelebt hatte. Claudia wurde von den Beamten auf der Stelle befragt, wo sich ihre Eltern aufhalten würden. Diesem Druck konnte die Zwölfjährige nicht lange standhalten und sie verriet, dass ihre Mutter im Westen sei, die Adresse ihres Vaters wusste sie nicht. Die Polizisten brachten Claudia zum Jugendamt, dort fand der Beamte nach einigen Recherchen die neue Adresse des Vaters heraus.

Friedrich wurde kurze Zeit später informiert.

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5

Obwohl er nicht glücklich war, seine Tochter bei sich aufnehmen zu müssen, beugte sich Friedrich dem Beamten vom Jugendamt und nahm Claudia, samt Hund Bienchen, zu sich. Er war zumindest froh darüber, dass er nicht auch noch seinen Sohn beherbergen musste. Friedrichs neue Frau Ulla hasste Kinder und Tiere und sie ließ es Claudia direkt spüren. Es war ein schreckliches Gefühl für das Mädchen so unerwünscht zu sein, und nach vier Wochen teilte Friedrich seiner Tochter mit, dass sie nicht länger bei ihnen leben könne. Ihr Vater erklärte ihr, dass sie nach Alt-Stralau in ein schönes Übergangslager für Jugendliche kommen würde, und versprach ihr, Elisabeth zu informieren, damit sie schon bald zu ihrer Mutter in den Westen könnte. Der Gedanke, dass es schlimmer als beim Vater nicht werden würde, stimmte Claudia sogar etwas fröhlich, und so packte sie wieder einmal ihre Koffer und fuhr, Bienchen eng umschlungen, in eine ungewisse Zukunft.

Als sie in Alt-Stralau ankamen, erkannte Claudia recht schnell, dass es sich nicht um ein schönes Übergangslager für Kinder handeln konnte, die auf die Ankunft ihrer Mütter warteten. Es musste etwas Schlimmeres sein, denn das Gebäude glich einem Gefängnis.

Als sie in das Büro der Heimleiterin traten, fragte Claudia, wo sie denn sei, ob es sich um ein Gefängnis handeln würde, obwohl sie doch gar nichts getan hätte. Die Leiterin schmunzelte und teilte ihr mit, dass es sich bei dieser Einrichtung um ein Heim für schwer erziehbare Mädchen handelte. Claudia stand unter Schock. Sie war doch nicht schwer erziehbar! Was sollte sie hier?

Ihr Vater drängte zum Aufbruch und es folgte eine emotionslose Verabschiedung von Friedrich, aber eine herzzerreißende von Bienchen. Claudia wurde plötzlich bewusst, dass sie ihren geliebten Hund vielleicht nie wieder sehen würde. Dann waren sie weg. Eine Aufseherin brachte Claudia zu ihrem Schlafplatz. Das andauernde Klappern der Schlüssel am Schlüsselbund, die die Aufseherinnen ständig mit sich trugen, schüchterte sie sehr schnell ein. Als sie im Schlafsaal ankamen und die Aufseherin ihr das Bett zeigte, in dem sie ab jetzt schlafen sollte, wurde sie von den älteren Mädchen begrüßt wie alle Neuen: Sie schlugen Claudia und stahlen ihr ihre persönlichen Sachen. Die Aufseherinnen sahen nur amüsiert zu. Claudia wusste, dass sie es nicht ewig dort aushalten würde, und nach drei Wochen unternahm sie ihren ersten Fluchtversuch. Sie kletterte am Blitzableiter herunter.

Doch der Traum, zu flüchten, scheiterte an der Wirklichkeit, denn bereits wenige Meter vom Haus entfernt wurde sie gefasst und als Bestrafung in den Bunker gesteckt. Der Bunker war klein wie eine Hundehütte, so empfand es Claudia jedenfalls. Er war feucht, es gab kein Fenster, kein Licht und auch zu essen und zu trinken bekam sie nichts. Sie hatte große Angst.

Am nächsten Tag durfte Claudia wieder auf ihr Zimmer, doch zur Schule ließ man sie vorerst nicht gehen, da die Anstaltsleitung mit weiteren Fluchtversuchen rechnete. Somit erfüllte nun auch Claudia den Status, ein schwer erziehbares Kind zu sein.

In dieser furchtbaren Zeit hielt sie lediglich die Hoffnung aufrecht, dass ihre Mutter bald kommen und sie abholen würde, denn ihr Vater wollte ihrer Mutter doch sagen, wo sie sie finden konnte. Das hatte er ihr jedenfalls versprochen. An einem sonnigen Tag, inzwischen waren einige Wochen vergangen, kam eine der boshafteren Aufseherinnen zu Claudia und teilte ihr mit, dass sie Besuch hatte.

Sie sprang vor Freude auf und rannte in den Besuchsraum, weil sie sich sicher war, dass ihre Mutter endlich da sei. Sie wunderte sich schon länger, warum sich Elisabeth so lange nicht gemeldet hatte.

Ihre Enttäuschung war nicht zu übersehen, als sie Ulla, die Frau ihres Vaters, sah. Ulla sagte ihr in knappen Worten, dass sie Bienchen nicht länger behalten konnten und den Hund zu netten Leuten gegeben hatten.

Eine Welt brach für Claudia zusammen und sie fing an zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Auch noch lange nicht, nachdem Ulla gegangen war. Erst Jahre später erfuhr Claudia, dass Bienchen nicht zu netten Leuten, sondern ins Tierheim zum Einschläfern gebracht worden war.

*

6

Nach sechs Wochen Aufenthalt in Alt-Stralau, einem missglückten Fluchtversuch, keinem Besuch ihrer Mutter, dafür einem unerfreulichen ihrer Stiefmutter, ging es für den Rest des Sommers nach Erkner in ein Sommerlager.

Die Hoffnung, es könnte sich um ein Kindercamp mit Gesang und Lagerfeuer handeln, entpuppte sich als großer Irrtum. Es war ein hartes Arbeitslager.

Um 05:00 Uhr in der Früh wurde zum Appell gerufen, anschließend gab es ein karges Frühstück. Vor Arbeitsbeginn mussten sich alle Mädchen mit Blick zum Bild von Erich Honecker aufstellen und die Nationalhymne der DDR singen. Von 07:00 Uhr bis 16:00 Uhr wurde ohne Pause gearbeitet. Es wurden alte Strümpfe zerschnitten und am Spinnrad zu Garn verarbeitet, denn Recycling war damals schon sehr modern.

Es war Hochsommer, und obwohl die Hitze am Spinnrad unerträglich war, trug Claudia ihre dicken Socken, in denen sie ihren größten Schatz versteckt hatte. Zwei Groschen und die Telefonnummer ihrer Mutter im Westen. Die Aufseherinnen hatten ihren Schatz bis jetzt nicht gefunden, aber sie musste vorsichtig sein. Sie hatte zwar nur dieses eine Paar, doch die Aufseherinnen wären sicher misstrauisch geworden, wenn Claudia öfter in ihren Fokus geraten wäre, denn die meisten Kinder trugen bei diesem Wetter natürlich gar keine Socken in ihren Sandalen.

Um 16:00 Uhr wurde die Arbeit beendet, und wenn keines der Kinder auffällig geworden war, gab es Freizeit. Sie bestand darin, dass alle Kinder im Speisesaal auf ihren Plätzen sitzen mussten und auf ihr Abendessen warteten, um danach zu Bett zu gehen. Es war eine schlimme Zeit.

Die Nächte waren noch schlimmer, von viel Angst geprägt und oft sehr lang. Es war bei allen Aufseherinnen bekannt, dass die Volkspolizisten, die nachts das Lager bewachten, sich an den Mädchen vergingen.

Claudia, die Jüngste im Camp, vergaß oft zu atmen, wenn sie die Polizisten in den Gemeinschaftsschlafsaal kommen hörte. Sie stellte sich dann schlafend, geplagt von Angst und schrecklichem Heimweh. Doch sie hatte Glück, sie blieb immer verschont. Wenn die Männer wieder gegangen waren, musste Claudia oft weinen, wie andere Mädchen neben ihr auch, und es dauerte lange, bis sie alle wieder einschlafen konnten.

Nach drei Wochen harter Arbeit kam eine Aufseherin nach dem Morgenappell in die gemeinsamen Unterkünfte und kündigte den Mädchen eine Überraschung an. Claudia war gespannt und aufgeregt zugleich, und obwohl Neuigkeiten in den letzten Wochen nie etwas Gutes bedeutet hatten, hoffte sie doch, dass es diesmal anders wäre.

Die Aufseherin teilte den Mädchen mit, dass sie alle, als Belohnung für ihre Arbeit der letzten Wochen, am nächsten Tag mit der S-Bahn nach West-Berlin fahren würden, um einen Zirkus zu besuchen. Die Mädchen freuten sich so sehr über diese Abwechslung, dass sie sämtliche Strapazen der letzten Wochen für einen Moment vergaßen. Doch Claudia traute niemandem mehr und wollte sich erst so richtig freuen, wenn sie bei dem Zirkus ankämen.

Am nächsten Tag ging es tatsächlich los. Sie fuhren mit der S-Bahn Richtung Westen und es wurde viel unter den Mädchen geredet und gelacht. Nach so vielen kaputten Strümpfen, die sie verarbeitet hatten, waren alle froh über diesen tollen Ausflug.