Cover

Evelyn Sanders

Advent fängt im September an

Geschichten vom Herbst bis zum Winter

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Evelyn Sanders

Evelyn Sanders’ Fähigkeit, den Alltag auf die Schippe zu nehmen, ist unerreicht. Die geborene Berlinerin, gelernte Journalistin, fünffach gestählte Mutter und vielfach gekrönte Bestsellerautorin lebt in der Nähe von Heilbronn.

Über dieses Buch

Die kirchliche Tombola, bei der es vor allem Feinstrumpfhosen in Größe 48 zu gewinnen gibt; die beiden verliebten Weihnachtsmänner vor dem Warenhaus, von denen einer sich als Weihnachtsfrau entpuppt; der so romantisch gedachte Hüttenurlaub in den Bergen, der zur Katastrophe gerät – Bestsellerautorin Evelyn Sanders versteht es, typische vorweihnachtliche Erscheinungen in zwölf vergnüglichen Geschichten amüsant aufs Korn zu nehmen.

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2007 Knaur Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Susanne Frank

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Nikolaus Reitze de la Maza

ISBN 978-3-426-41586-3

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Weihnachten in Sicht

Adventszeit ist Fernsehzeit!

Das ist schon so gewesen, als meine Kinder noch an den Weihnachtsmann geglaubt beziehungsweise die Älteren versucht hatten, ihren jüngeren Geschwistern zu erklären, dass es den Weihnachtsmann eben nicht gibt. Nur stand dieser ausgerechnet jetzt in voller Lebensgröße vor jedem dritten Kaufhaus, womit seine Existenz ja bewiesen war. Die Vielzahl der Weihnachtsmänner einschließlich jener, die abends auf dem Bildschirm Rasierwasser, Daunenbetten und Modeschmuck anpriesen, ließ sich mit der Notwendigkeit von Hilfskräften erklären. »Das kann doch der Weihnachtsmann allein gar nicht schaffen!«

Vierjährigen kann man so etwas noch erzählen, sie glauben es.

Zwei Jahre später glauben sie es nicht mehr, aber sie tun so, denn offensichtlich glauben nun die Eltern an den Weihnachtsmann. Oder weshalb hat Mami zu Papi gesagt, der Weihnachtsmann könnte endlich mal einen neuen Geschirrspüler bringen?

 

Grundsätzlich habe ich nichts gegen Weihnachten; mich stören lediglich diese festgefahrenen Rituale nach der Devise: Das haben wir schon immer so gemacht!

Das haben wir noch nie so gemacht! Da könnte ja jeder kommen …!

Was wir schon immer gemacht haben: am ersten Advent mit der Plätzchenproduktion angefangen. Ist ja ein Sonntag, also wollen alle helfen, tun es auch mit großer Begeisterung, und wenn die halbe Küche einschließlich Fußboden klebt, beginnt im Fernsehen Peterchens Mondfahrt, worauf die gesamte Hilfstruppe unter Mitnahme zweier Hände voll Haferflockenplätzchen im Wohnzimmer verschwindet.

Zweiter Advent: Basteln. Buntpapier reicht nicht, Stefanie hat vergessen, die Strohhalme zu bügeln, die Tube mit dem Klebstoff ist unauffindbar, anfängliche Begeisterung auf dem Tiefpunkt, und überhaupt muss man ja nicht jedes Jahr etwas Neues an den Christbaum hängen. Im Fernsehen beginnt Der kleine Lord.

Am dritten Advent ist endlich genug Schnee gefallen (doch, das hat es seinerzeit noch gegeben!), da geht man natürlich rodeln, kommt aber pünktlich zum Beginn von Cinderella nach Hause. Ist zwar kein ausgesprochen weihnachtlicher Film, wird aber immer wieder gern gezeigt. Die nassen Kleidungsstücke liegen im Keller vor der Waschmaschine – vorweihnachtliches Entgegenkommen, normalerweise finde ich sie im Bad verteilt.

Vierter Advent: Karten schreiben! Mama schreibt den Text, Papa die Umschläge, die Kinder kritzeln je nach Alter nur ihren Namen darunter oder »Fiele Grüse fon Kati«.

Im Fernsehen beginnt die Weihnachts-Episode mit Michel aus Lönneberga, ist auch nicht mehr so ganz neu!

So weit also jenes »… schon immer so gemacht«.

 

»… noch nie so gemacht« geht anders: Wir haben noch nie Weihnachten in der Karibik erlebt, aber auch noch nie in einem Iglu am Nordpol. Soll unvergesslich sein. Das glaube ich sogar, von Frostbeulen soll man ja jahrelang etwas haben.

Heiligabend auf einem Luxus-Liner irgendwo zwischen Sansibar und Madagaskar hätte bestimmt etwas für sich, Neuseeland würde mich auch reizen, da werden die Weihnachtsgeschenke schon ausgepackt, während sie bei uns erst eingewickelt werden, der Weihnachtsmann heißt Santa Claus, und er trägt auch keinen langen Mantel, sondern einen roten Anzug mit künstlichem Pelzbesatz.

I’m dreaming of another Christmas …

 

Jetzt könnte man sich diesen Traum sogar erfüllen, müsste ja nicht gleich Neuseeland sein, Vorarlberg im Schnee würde schon genügen, nur sind Omas und Opas in der Adventszeit und erst recht zu Weihnachten noch genau so unabkömmlich wie früher, als sie bloß Eltern waren. Besonders gern werden sie zur Beaufsichtigung der Enkel abkommandiert, wenn Mama und Papa jene Geschenke besorgen, die der Weihnachtsmann später persönlich abliefern soll. Und genau dazu wird Opa gebraucht, der schon seit einer Woche versucht, die aufgelisteten Ermahnungen zwei Oktaven tiefer anzulegen; er hört sich aber immer noch an wie gerade im Stimmbruch.

Oma wiederum ist zuständig für jene Geschenke, mit denen die Enkel ihre Eltern beglücken werden. Begonnen im Kindergarten, mangels Talent und Begeisterung nie über das Anfangsstadium hinausgekommen, muss sie sich um die Fertigstellung bemühen, vorausgesetzt, sie findet heraus, was es mit den 17 Zentimetern gehäkelter Luftmaschen auf sich hat.

»Das muss man noch mal genauso lange zurück häkeln und dann noch mal und noch mal und dann macht man da eine Schnecke draus, und wenn man das genäht hat, ist der Untersatz fertig«, erläutert der gerade mal Sechsjährige, recht geschickt im Umgang mit winzigen Plastikteilchen, völlig untalentiert für Handarbeiten, die im Zeitalter der Gleichberechtigung aber auch Männer in bescheidenem Umfang beherrschen sollten, und damit kann man natürlich nicht früh genug anfangen.

Nachdem Oma gemäß den Angaben dreimal hin und her gehäkelt, das fertige Teil zusammengerollt und festgenäht hat, stülpt es sich rundherum hoch und würde allenfalls als Untersatz für ein Schnapsglas reichen bzw. ein solches sogar zur Hälfte umhüllen. Also häkelt Oma etwas Neues, das nach Fertigstellung keinen Zweifel mehr an seinem Verwendungszweck aufkommen lässt, allerdings auch noch nie benutzt worden ist. Mama sagt immer, dafür sei es viel zu schade.

Enkel Nr. 3 hat erst etwas ge-klebt, das nun be-klebt werden muss, nur hat sich die ganze Konstruktion als ziemlich instabil erwiesen, der Deckel passt auch nicht so richtig drauf … zur Aufbewahrung von Manschettenknöpfen und ähnlichen Kleinteilen männlicher Garderobe wird sich das Kästchen nicht eignen. Onkel Sven übernimmt die Anfertigung eines neuen Behälters, Oma schneidet die Einzelteile der vorgesehenen Dekoration aus Buntpapier, Enkel klebt sie drauf und ist maßlos stolz auf sein Geschenk für Papi.

 

Das Geschenk für Mami besteht aus einer ehemaligen Käseschachtel, was sich trotz mehrmaligem Einsatz von Eau de Toilette nicht ganz verbergen lässt, aber der sehr schön beklebte Deckel schließt verhältnismäßig dicht, und überhaupt sollen ja nur Briefmarken rein. Mami schreibt allerdings E-Mails, Rabattmarken gibt es auch nicht mehr, aber es wird sich schon was finden zum Aufbewahren; Gummibänder zum Beispiel braucht man immer mal, wenn man aus einer gerollten Zeitung eine Fliegenklatsche machen will oder beim Gänseblümchenstrauß die kurzen Stiele zusammenbinden muss, damit sie nicht einzeln aus dem Eierbecher fallen.

Enkel Nr. 1, bereits Taschengeldempfänger mit regelmäßigen Zulagen für fehlerfreie Klassenarbeiten, fühlt sich über Selbstgebasteltes erhaben und verschenkt lieber Angebote von jenem Laden, in dem Restposten jeglicher Art relativ preiswert verhökert werden. Zum Glück bevorzugt er Kleinteile, hat sich also noch nie an einer ovalen Zierdecke für den Couchtisch vergriffen oder an einem hellblauen Blumenübertopf mit Zwergen darauf. Kaffeebecher kann man jedoch nie genug haben, da geht immer mal einer kaputt, und Gutscheine für dreimal Spülmaschine ausräumen und zweimal Unkraut zupfen im Erdbeerbeet sind ja auch nicht zu verachten, zumal die Einlösung einer derartigen Zusage saisonabhängig ist und mitunter auch in Vergessenheit gerät.

Mit verschenkter Musik kann man angeblich nie etwas verkehrt machen, trotzdem wäre es mir lieber gewesen, wenn von dem umgestürzten Lkw-Anhänger nicht so viele CDs mit Melodien aus den Anden heruntergefallen wären; die Panflöte gehört nicht gerade zu meinen Lieblingsinstrumenten.

Opa muss sich über ein Sortiment unterschiedlich großer Schraubendreher freuen. Tut er auch, denn nun ist das dritte Dutzend endlich voll.

 

Eine ebenfalls schon Wochen vor dem Fest zu klärende Frage ist, wer mit wem wo den Heiligen Abend verbringen wird, denn es gibt ja nicht mehr nur den Sanders-Clan, bei dem sich früher alles abgespielt hat, sondern es sind drei neue Familien dazu gekommen, mit Omas und Opas und sogar einer unverheirateten Großtante, die 270 Kilometer entfernt lebt, das ganze Jahr über nichts von sich hören lässt, aber gerade zu Weihnachten von verwandtschaftlichen Gefühlen übermannt wird und »nur für ein paar Tage« kommen möchte. »Es kann mich doch bestimmt jemand abholen?«

Genau genommen ist es nur die Keimzelle der Sanders-Sippe (man kann auch »Elternhaus« sagen), die noch dort zu finden ist, wo sich die Familie vor etlichen Jahrzehnten angesiedelt hatte, denn die Nachkommen wohnen jetzt viele Autobahn-Kilometer weit auseinander. Deshalb gibt es auch eine vorweihnachtliche Konferenzschaltung über Festnetz und diverse Handys.

Katja: »Also, im letzten Jahr waren wir alle bei euch zu Hause, aber diesmal will Toms Vater unbedingt dabei sein, nur verträgt dessen Mutter mit ihren 90 Jahren die lange Autofahrt nicht mehr, also müssen wir rauf nach Hessen. Aber wir können uns am zweiten Feiertag sehen!«

Nicki: »Nee, da sind wir bei Jörgs Eltern eingeladen. Die sind Heiligabend bei uns, aber der andere Termin steht auch schon lange fest.«

Sascha: »Sehen wir uns denn in diesem Jahr überhaupt noch mal?«

Ich: »Wie wär’s mit Silvester?«

Sascha: »Da kommt meine Schwägerin samt Mann und Kindern aus Hamburg runter!«

Ich: »Wie lange bleiben sie?«

Sascha: »Garantiert zu lange!«

Katja: »Wie wär’s denn gleich nach den Feiertagen? Es sind doch Ferien!«

Sascha: »Ja, für Lehrer. Ich bin aber keiner!«

Nicki: »Das wird doch in diesem Jahr nichts mehr! Vielleicht sollten wir schon mal was für Ostern ausmachen!«

Katja: »Quatsch! Wir telefonieren uns nächste Woche noch mal zusammen! Da sieht vieles schon wieder anders aus!«

Ich: »Stimmt! Dann sind’s nur noch sechs Tage bis Heiligabend!«

 

Nachdem die Hörer aufgelegt und die Handys abgeschaltet waren, schüttelt Sven den Kopf: »Määm, sind wir früher nicht mal eine ganz normale Familie gewesen?«

»Doch, aber das ist lange her!«

Reif für die Insel

Eine Insel aus Träumen geboren …«, tönte es aus dem Radio, während ich mit der zusammengeknüllten Zeitung von gestern die frisch geputzte Fensterscheibe trocken rieb (ja, ich weiß, es gibt effektivere Methoden, aber die mit Zeitungspapier klappt bei mir am besten!), »… ist Hawaii, ist Hawaii …«, schnulzte der inzwischen auch in die Jahre gekommene Sänger. Ob er überhaupt weiß, wovon er singt?

Natürlich ist diese Insel schön! Zumindest auf dem Bildschirm, denn ich kenne Hawaii lediglich aus jener mindestens 20 Jahre alten TV-Serie, in der ein sportlicher Mann namens Magnum das riesige Anwesen eines Multimillionärs betreut und nebenbei Verbrechen aufgeklärt, Gangster zur Strecke gebracht, Katastrophen verhindert und jedes Mal eine attraktive Frau im Arm gehalten hatte. Dabei hätte mich der Multimillionär viel mehr interessiert, aber der war ja nie zu sehen.

Trotzdem wäre ich jetzt liebend gerne auf Hawaii. Bekanntlich scheint da immer die Sonne, es ist warm, überall gibt es breite weiße Strände, und wenn im Film doch mal am Horizont richtig dicke dunkle Wolken aufzogen, hatte das dramaturgische Gründe. Bei Flaute kentert nämlich kein Segelboot, und dann gibt es auch keine Blondinen zu retten.

Ich hatte gerade die Leiter weggeräumt und das nasse Zeitungspapier in der Mülltonne entsorgt, als die ersten Schneeflocken vom Himmel trudelten. Wieso auch nicht? Erstens hatte ich Fenster geputzt, was erfahrungsgemäß in acht von zehn Fällen einen Regen- beziehungsweise Schneeschauer nach sich zieht, und zweitens fing morgen der Weihnachtsmonat an und damit auch der Zeitpunkt, zu dem ich jedes Jahr ans Auswandern denke – ungefähr bis Mitte März.

In diesem Augenblick läutete das Telefon. Stefanie war dran. »Wie schnell kannst du einen Koffer packen?«

»Für Hawaii in einer Stunde, da genügen Shorts und Shirts, aber …«

»Wie kommst du auf Hawaii?«, unterbrach sie mich, »wir fliegen doch bloß nach Mallorca!«

»Wer ist wir?«

»Na, wir beide.«

»Du und Hannes?«

»Nein, du und ich! Für vier Tage! Zur Belohnung!«

Belohnung wofür? Wahrscheinlich für fast einen Monat Arbeitseinsatz in jener Heidelberger Firma, die den meisten Lesern meiner Bücher inzwischen bekannt sein dürfte. Dort ist der November der verkaufsträchtigste Monat des Jahres, jede Hand wird gebraucht, aber mehr noch die Beine, die Halle ist 50 Meter lang, und das, was gerade vorne an der Kasse verlangt wird, steht meistens ganz hinten. Andere Menschen gehen ins Fitnessstudio – ich fahre nach Heidelberg!

»Warum sagst du nichts?«, tönte es aus dem Hörer. »Hast du keine Lust auf Mallorca?«

»Doch, aber lohnt sich das denn für die kurze Zeit?«

»Natürlich! Die haben da unten jetzt 18 Grad plus, blauen Himmel und Sonne pur. Der Flug nach Palma dauert zwei Stunden, ein Mietwagen ist schon gebucht, bis nach Paguera rechne ich zirka 50 Minuten … also können wir mittags schon Paella essen. Und haben immer noch einen halben Tag vor uns. Und vier ganze!«

»Wo auf der Insel liegt denn dieses Pa … Paga … wie heißt der Ort noch mal?«

»Paguera. Ist nicht weit weg von Andratx, wo die ganzen Promis wohnen, das kannste immer in den bunten Blättchen lesen!«

»Ich gehe nicht so oft zum Friseur wie du!« Und weil ich nicht die geringste Ahnung hatte, wo ich Andratx suchen müsste, geschweige denn dieses Pa … sowieso, ich wusste ja gerade mal, wo Mallorca liegt, war es also völlig zwecklos, Steffis geografische Erläuterungen nachzuvollziehen.

»Auf der Karte ist es halblinks unten«, begann sie von neuem.

»Danke! Die habe ich auch gerade vor mir liegen!«

Da endlich platzte ihr der Kragen. »Kommst du nun mit oder nicht? Ich finde bestimmt jemanden, der für dich einspringt.«

So weit kommt’s noch!

»Natürlich fliege ich mit! Ich kann dich doch nicht allein diesen heißblütigen spanischen caballeros ausliefern!«

»Die haben jetzt keine Saison, wahrscheinlich machen sie selber Urlaub. Zwecks Regenerierung! Was sich um diese Jahreszeit auf Mallorca aufhält, sind verheiratete Einheimische und deutsche Pensionäre, die ihren Zweitwohnsitz auf der Insel haben beziehungsweise Langzeitmieter sind mit Winterrabatt in sonst leer stehenden Hotels. Und natürlich Dieter Bohlen.«

»Wozu zählen wir denn?«

»Zu den ganz normalen Touristen mit Doppelzimmer und Halbpension im Hotel Tres Palmes

»Eben! Außer buenos dias und gracias kann ich kein einziges spanisches Wort. Kennst du ein paar Vokabeln?«

»Nein, woher denn? Aber bekanntlich kommt man mit Englisch überall durch, und auf Mallorca genügt Deutsch!«

 

Das war der erste Irrtum.

Der zweite betraf das Wetter. Bei unserer Ankunft regnete es nämlich. Spanischer Regen ist natürlich ganz anders als deutscher, er fällt sanfter vom Himmel, ist nicht so kalt, und überhaupt saßen wir ja in einem Auto Marke Schuhkarton, von Stefanie nach der ersten Umrundung dieses Gefährts als »nicht klein, sondern kompakt« bezeichnet.

 

Dass Flugplätze außerhalb einer Stadt angesiedelt sind, ist vernünftig, Taxifahrer wollen auch leben, und grasende Kühe haben sich noch nie über Lärmbelästigung beschwert, nur muss man nach der Ankunft auch den Weg in bewohnte Gebiete finden.

»Auf’m Rücksitz soll eine Karte liegen«, sagte Steffi und fädelte sich in den Verkehr Richtung Zentrum ein, »guck mal rein! Es wird ja wohl irgendwo einen Abzweig zur Küstenstraße geben.«

Gab’s auch, aber wer weiß denn schon, dass salida Ausfahrt heißt?

Die nächste verpassten wir aber nicht mehr, ohnehin hatte sich unser spanisches Vokabular schon um einige verkehrstechnische Begriffe vergrößert, und nun lernten wir schon wieder einen neuen dazu, nämlich tráfico giratorio. Bei uns heißt das Kreisverkehr.

 

Die Bewohner von Paguera hatten sich offenbar alle zur mittäglichen Siesta zurückgezogen, kein Mensch war zu sehen, nur drei Katzen, und überhaupt schien der ganze Ort – touristisch betrachtet – bereits im Winterschlaf zu liegen, angefangen von der Zimmervermittlung über den Bootsverleih bis zum Eiscafé und den meisten Shops, Restaurants und Kneipen. Cerrado heißt übrigens »Geschlossen«.

»Na wennschon«, meinte Steffi achselzuckend, »wir sind ja nicht zum Essen hier, sondern zum Erholen!«

»Einschließlich Fastenkur?«

 

Quadratisch! Praktisch! Gut! Das war mir sofort beim Anblick unseres Hotels eingefallen; aber man soll sich ja nicht von Äußerlichkeiten abschrecken lassen. Das Zimmer im zweiten Stock war in Ordnung, der Fahrstuhl zurzeit außer Betrieb, macht nichts, Treppensteigen ist gesund, und überhaupt wollten wir hier doch lediglich schlafen. Und essen, aber nur morgens und abends. Doch nachdem wir die Koffer ausgepackt, Fläschchen und Döschen im Bad verteilt und uns geeinigt hatten, welche Kleidungsstücke jeweils einen der fünf vorhandenen Bügel beanspruchen durften, verschoben wir den geplanten Spaziergang auf später, fielen »nur für ein halbes Stündchen« in die Betten und wachten erst auf, als es draußen schon dunkel war und das Zimmermädchen die Vorhänge schließen wollte.

»Jetzt haben wir drei Stunden Sightseeing verpennt«, beschwerte sich Stefanie, »warum hast du uns nicht geweckt?«

 

Weshalb der uns zugewiesene Tisch in der Mitte vom Speisesaal stand, wurde mir klar, als sich sämtliche Blicke auf uns richteten; wir waren nicht nur gerade angekommen, sondern richtige Fremde, die man hier noch nie gesehen hatte und die eigentlich gar nicht zu den bereits vorhandenen Gästen passten.

Die meisten Tische waren nämlich von jeweils zwei Paaren im schon fortgeschrittenen Rentenalter beziehungsweise von drei oder vier offenbar allein reisenden Damen irgendwo zwischen Ende 50 bis Anfang 80 belegt – gut gekleidet, gut frisiert und anscheinend auch gut zu Fuß, denn nachdem man uns ausreichend besichtigt hatte, wurden die unterbrochenen Gespräche wieder aufgenommen.

»Du hättest dich uns anschließen sollen, Eli«, tadelte die Blondine am Nebentisch, »der Weg zu dem Anwesen war wirklich nicht beschwerlich.«

»Ich laufe doch nicht eine Stunde lang über Trampelpfade, nur um von hinten über den Gartenzaun von Claudia Schiffer zu gucken!«, konterte Eli. »Habt ihr denn wenigstens was gesehen?«

»Nicht viel«, musste die Dame, die offenbar Helma hieß, zugeben, »die Hecke ist viel zu hoch, aber durch eine Lücke konnten wir dann doch den Pool erkennen und ein bisschen was vom Haus.«

Am Vierertisch hinter uns stritten sich Albert und Willi, ob Weißbier besser schmeckt als Pils, dabei hatten beide Wein vor sich stehen, und schräg gegenüber wurde man sich nicht einig, ob man sich vor sieben oder doch schon vor acht Jahren hier auf der Insel kennengelernt hatte. »Das war 1999«, sagte die mit der schwarzen Pudelfrisur, »da hat nämlich mein Otto noch gelebt. Im Frühjahr darauf ist er ja gestorben.«

Nach einer pietätvollen Schweigeminute Themawechsel. »Wer ist eigentlich der Mann, mit dem die lange Dürre aus Dortmund hier ist, mir fällt ihr Name nicht ein. Das letzte Mal hat sie doch einen ganz anderen dabeigehabt …«

»Ja, und außerdem war sie da noch brünett! Jetzt hat sie rote Haare!«

Es half nichts, ich musste noch mal zum Büfett und irgendetwas auf den Teller laden, sonst wäre ich herausgeplatzt! Prompt kam Steffi hinterher. »Wo sind wir bloß hingeraten?« Kichernd löffelte sie Obstsalat in ein Schüsselchen. »Mir kommt das hier vor wie ein Klassentreffen aus den dreißiger Jahren.«

»Geburtsjahrgang oder Schulabschluss?«

»Irgendwas dazwischen. Ich habe ja gleich vermutet, dass das hier ein Rentnerhotel zum Überwintern ist.«

»Schon kapiert! Ich werde es für später in Betracht ziehen!«

 

»Das kurze ist Palma, das lange Valldemossa!«

Ich zog das lange Streichholz. Gesättigt vom reichhaltigen Frühstück saßen wir im Auto, Steffi hatte die Straßenkarte auf den Knien und ich das kleine Büchlein mit den mallorquinischen Insidertipps.

»Hinter jeder Kurve überraschen bedrückende Kompositionen aus tiefblauem Meer, den silbergrauen Häuptern alter Olivenbäume und …«

»Was für Kompositionen überraschen uns?«, unterbrach mich Steffi und faltete die Karte zusammen.

»Bedrückende«, wiederholte ich, »vielleicht sollten wir uns doch ein anderes Ziel suchen!«

»Warum denn? Wenn ich mit einem kranken Komponisten irgendwo auf’m Berg in einem alten Gemäuer hausen müsste, dann würde ich das auch bedrückend finden. George Sand war doch Dichterin oder so was Ähnliches …?«

 

Eine weitere Erörterung dieses Themas war wenig ergiebig, außerdem hatte ich inzwischen festgestellt, dass in der blumigen Schilderung der vor uns liegenden Strecke nicht von bedrückenden, sondern von berückenden Kompositionen die Rede war. Nun ist solch eine Beschreibung natürlich ziemlich subjektiv; meine würde weniger euphorisch als die des Verfassers klingen. Ich finde nämlich eine sich aufwärts windende Serpentinenstraße ohne Leitplanken an der Seite alles andere als berückend; im Falle eines Falles würden lediglich jene silbergrauen Olivenbaumhäupter eine gewisse Bremswirkung haben.

Valldemossa ist ein entzückender kleiner Ort, in dem man vermutlich erst gegen Abend die bunten Kachelbilder an den Häusern und den üppigen Blumenschmuck vor Fenster und Türen richtig wahrnehmen kann, weil dann endlich die Ausflugsbusse mit den Touristenschwärmen wieder abgefahren sind. Am Spätnachmittag wurde es zwar zusehends leerer, aber nun wollte Steffi auch nicht mehr länger warten. »Die Serpentinen im Dunkeln? Kommt nicht in Frage! Zinksärge für die Rückführung unserer sterblichen Überreste sind im Reisepreis nämlich nicht enthalten!«

Die Sonne war gerade ins Meer gefallen, als wir vor dem Hotel eintrafen, keinen Parkplatz mehr fanden, schließlich auf einem solamente habitante hielten und am nächsten Morgen ein Knöllchen unter dem Scheibenwischer hervorzogen. Bei uns darf man ja auch nicht parken, wenn da Nur für Anwohner steht.

Der Speisesaal war schon fast leer, als wir frisch geduscht und geföhnt an unserem Tisch Platz nahmen, doch das war verständlich, denn wir waren schon am Morgen von Portier Alfonso informiert worden, dass am Abend im Kleinen Saal eine Quizshow mit wertvollen Preisen und anschließend Tanz stattfinden werde.

»Da müssen wir doch nicht hin, oder?«, hatte Stefanie abgewinkt, schien aber jetzt ihre Meinung geändert zu haben. »Natürlich gehen wir mal gucken, oder hast du was Besseres vor?«

»Ja, die letzten 117 Seiten von meinem Buch.«

»Kannste nachher auch noch lesen!«

Das Nachher war sogar ziemlich bald, weil der Maître de Plaisir den Zettel mit den Fragen nicht finden konnte und man gleich zum gemütlichen Teil des Abends mit 3-Mann-Kapelle und Damenwahl überging. Also wechselten wir hinüber in die Bar, wo ein Schweizer Ehepaar sich langsam, aber stetig volllaufen ließ.

»Haben wir im Zimmer eigentlich eine Minibar?«, flüsterte Steffi mit Blick auf das schweigend vor sich hinstarrende Paar.

»Ja, aber da steht kein Campari drin.«

»Dann trinkst du den Orangensaft mal pur«, bestimmte meine Tochter, »ist sowieso viel gesünder. Und billiger!«

Dritter Tag. Himmel bedeckt, Temperatur 16 Grad plus, Benzin preiswerter als zu Hause, und immer nur besichtigen kann man ja auch nicht. Kurz gesagt: Steffi wollte nach Palma. Natürlich wegen der Kathedrale; sie zu bewundern ist mindestens so unerlässlich wie ein Besuch des Doms, wenn man gerade in Köln ist, oder des Hofbräuhauses in München, das Uneingeweihte gar nicht auf Anhieb finden und schlimmstenfalls sogar Einheimische fragen müssen. Die nehmen das aber ziemlich übel, weil »des woaß a jeder«.

Palma hat aber auch sehr viele und sehr schöne Geschäfte, und wenn man genug Altes beguckt hat, Stadtmauer und Park und Jugendstilbauten – die Kathedrale war noch geschlossen –, dann braucht man zwischendurch auch mal einen Stuhl und einen Cappuccino.