Cover

Elfriede Sattler / Ulaya Gadalla

Nabelfrei

Mein Leben, kein Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Elfriede Sattler / Ulaya Gadalla

Elfriede Sattler, 1931 in Hals im Passauer Land geboren, gelangte mit Mitte 20 unter dem Namen »Ulfat Sherif« als Tänzerin zu Weltruhm. Im Orient fand sie eine geistige Heimat, die sie in Deutschland nie hatte, und kehrt seitdem regelmäßig dorthin zurück. Heute lebt sie in Aschheim bei München und gibt mit über achtzig noch immer Privatkurse in Freestyle Oriental Dancing.

Ulaya Gadalla studierte angewandte Sprachwissenschaft und ist ausgebildete Tänzerin. Ihre eigene Fernsehserie »Rhythmus und Lebensgefühl aus dem Morgenland« in ARD und ZDF war ein großer Erfolg. Sie ist Verfasserin mehrerer Bücher zum Thema Bauchtanz und betreibt das Tanzstudio Morgenland in München. Mit Elfriede Sattler alias Ulfat Sherif verbindet sie eine langjährige Freundschaft.

Über dieses Buch

Von der lieblosen Mutter erniedrigt, erlebt Elfriede Sattler in Bayern eine bedrückende Kindheit zwischen harter Stallarbeit und Missbrauch durch den Stiefvater. Mit zwanzig flieht die bildhübsche Frau nach München und ergreift eine einmalige Chance – sie reist mit einer Tanzgruppe nach Zypern und Ägypten. Die orientalische Musik und der Tanz sind wie eine Offenbarung für Elfriede Sattler und wecken eine unbändige Lebenslust in ihr. Ihre Anmut und ihr Können machen sie unter dem Namen Ulfat Sherif bald zu einer der gefragtesten Tänzerinnen des Orients. Sie genießt ihr neues selbstbestimmtes Leben zwischen prunkvollen Palästen und mondänen Nachtclubs. Am jordanischen Königshof findet sie in Prinz Mohammed schließlich ihre große Liebe. Doch als das geheime Verhältnis auffliegt, bleiben ihr zum Verlassen des Landes nur noch zwei Stunden Zeit …

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Knaur Verlag

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Angela Troni

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Privatarchiv Elfriede Sattler

ISBN 978-3-426-41617-4

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»Unsere Träume können wir erst dann verwirklichen, wenn wir uns entschließen, einmal daraus zu erwachen.«

JOSEPHINE BAKER

Prolog – Auf dem Höhepunkt der Verzweiflung

Ich rannte und rannte und rannte. Nur weg vom Hof, querfeldein, über die frisch gemähte Wiese, das Feld, durch das Gestrüpp, barfuß, die abgetretenen Holzpantoffeln in der Hand. Im Laufen spürte ich weder die Kratzer der Dornen auf Beinen und Armen noch meine schmerzenden Füße. Ich fiel hin, stand wieder auf, fiel wieder hin, stand wieder auf und erreichte endlich den schützenden Wald. Dort stürzte ich erschöpft in das Dickicht.

Das weiche Moos federte den Aufprall sanft ab. Ein Reh und sein Kitz schreckten auf und preschten davon. Sie gaben die Mulde neben mir frei, in der sie beide geruht hatten. Nahezu willenlos glitt ich in die kleine, warme Grube und krümmte mich zusammen wie ein Embryo.

Dieser Platz würde mein Grab sein. Hier würde ich endlich Ruhe finden. Endstation. Ich wollte nicht mehr weiterleben.

Die Behaglichkeit des Ortes und die Dunkelheit umfingen mich zärtlich. Mutter Erde nahm mich tröstend in ihre Arme. Weder in meiner Kindheit noch in meiner Jugend hatte mir meine eigene Mutter auch nur ansatzweise diesen Schutz gewährt.

Wie ein Vulkan hatte sich heute das Innerste meiner gepeinigten Seele entladen. Nun war der Lavastrom versiegt, und ich war mit meinen kaum zwanzig Jahren des Lebens müde. Unendlich müde. Nicht zum ersten Mal. Endlich Schluss mit all den Qualen und Erniedrigungen!

Das Ereignis von heute Mittag war der Zündfunke, der das Pulverfass meiner Seele zum Explodieren gebracht hatte. Ich war gebrochen. Die jahrelangen Verbrechen meines Stiefvaters, die Demütigungen durch meine Mutter und weiteres Unglück hatten mich zermürbt. Wie eine Bombe war ich heute hochgegangen und hatte mich erfolgreich gegen die Absicht meines Stiefvaters gewehrt, mich wie schon so viele Male davor zu vergewaltigen. Erfolgreich?

Gewiss suchen sie längst überall nach mir, dachte ich. Wenn mich der Mann dieser Frau, die unerklärlicherweise meine leibliche Mutter ist, zu fassen kriegt, wird er mich umbringen. Das wäre diesem Unmenschen immerhin schon mal fast gelungen. Vielleicht holen sie auch die Polizei, die mich zurück auf den Ödmannhof bringen wird. Schließlich bin ich noch keine einundzwanzig und damit nicht volljährig. Hilfe von außen darf ich in meiner Situation nicht erwarten.

Ein heftiges Zittern ergriff meinen Körper, und ich begann, vor Angst mit den Zähnen zu klappern.

Sollen sie doch! Ich habe nichts mehr zu verlieren. Und hier finden sie mich gewiss nicht!

Eine unendliche Erschöpfung kroch in mir hoch. Einfach nur ausstrecken und wegdämmern. In die Unendlichkeit. Wie lange hatte ich nicht mehr ungestört schlafen dürfen. Ohne Angst! Plötzlich durchströmte ein Gefühl absoluter Ruhe mein Herz. Mein Bewusstsein schwebte wie schwerelos über meinem Körper, den ich von oben geborgen in meinem Waldbett eingerollt daliegen sah.

Binnen Sekunden glitt ich in einen tiefen, traumlosen Zustand. Ich schlief und schlief und schlief.

Als ich erwachte, sah ich zwischen den jungen Tannenzweigen hindurch die Sterne des Nachthimmels langsam verblassen. In die Stille des Waldes sang die erste Amsel ihr Lied. Wieder schloss ich die Augen und sog den unbeschreiblich frischen Duft des Waldes ein. Es roch nach morschem Holz und feuchtem Moos. Wie schön die Welt sein könnte! Oder befand ich mich etwa schon ganz woanders? An ein Paradies jedoch glaubte ich nicht. Die Klosterschwestern, bei denen ich meine frühe Kindheit verbracht hatte, hatten hauptsächlich von der Hölle gesprochen. Der Himmel war ganz sicher nicht für Kinder wie mich reserviert.

In der Ferne vernahm ich Kirchenglocken. Waren es die von Rotthalmünster? Kurz darauf setzte aus einer anderen Richtung weiteres Geläut ein, wenig später von einem dritten Ort. Vielleicht von Weiwörthing?

Heute muss Sonntag sein. War es nicht Donnerstag, als ich von zu Hause fortgelaufen bin? Ist etwa schon so viel Zeit verstrichen? Ich muss bewusstlos gewesen sein. Wie hätte ich sonst so lange ohne Essen und Trinken aushalten können?

Jetzt erst bemerkte ich, dass mein Mund trocken wie Pergament war. Meine Kehle schnürte sich allmählich so eng zusammen, dass ich nicht mehr schlucken konnte. Auf allen vieren kroch ich aus dem Dickicht. Nein, ich war noch nicht bereit zu sterben, zumindest nicht durch Verdursten! Erst musste ich etwas trinken, nichts als trinken, um jeden Preis.

Geschwächt wie ich war, fühlte ich mich außerstande aufzustehen und robbte orientierungslos eine Weile vorwärts, bis ich eine Böschung mit Himbeeren entdeckte. Mit beiden Händen schob ich mir die saftigen Früchte in den Mund und stillte so den schlimmsten Durst.

Die Kräfte kehrten nicht wieder, doch als ich mich auf einen Baumstumpf niederließ, fühlte ich mich schon etwas besser.

»Du bist jetzt frei! Du brauchst niemanden mehr. Du wirst nicht zurückkehren. Dieses Mal nicht. Dir kann keiner mehr was befehlen«, murmelte ich halblaut vor mich hin.

Allein bei dem Gedanken, dass ich hier seit ein paar Minuten saß, ohne dass mich jemand anschrie und ohrfeigte, weil ich mich nicht augenblicklich an die Stallarbeit machte, überkam mich eine unbeschreibliche Lebensfreude. Spontan lachte ich laut auf und hörte mein Echo aus dem Wald hallen. Sofort mäßigte ich mich wieder, da ich fürchtete, jemand könnte mich hören.

Ja, ich war frei. Vogelfrei. Nur was sollte ich mit meiner Freiheit anfangen? Als ungeliebtes Kind geboren, jahrelang hin- und hergeschoben, gedemütigt und voller Ängste, besaß ich weder Bildung noch Umgangsformen und erst recht kein Geld. Nicht mal Papiere oder ein paar Mark hatte ich dabei. Nichts als mein abgetragenes Kleid am Leib. Keinen noch so geringen Geldbetrag hätte ich aus meiner Ecke im Dachboden holen können, selbst wenn ich noch Zeit dazu gehabt hätte. Schließlich hatte ich nie einen Lohn für meine schwere Arbeit als Stallmagd auf dem Hof meiner sogenannten Eltern erhalten.

Eine einzige jämmerliche Mark hatte dazu geführt, dass ich mir ab jetzt nichts mehr gefallen lassen wollte. Oder vielmehr der unmittelbar bevorstehende Jahrmarkt in Rotthalmünster. Schon Monate vorher hatte ich mich nach dieser harmlosen Abwechslung gesehnt. Tatsächlich hatte ich mir leise Hoffnungen auf die Erlaubnis machen können, dort für ein paar Stunden herumbummeln zu dürfen. Immerhin war die eiserne Kette der Unterdrückung auf dem Ödmannhof ein wenig gelockert worden, nachdem mich der Stiefvater zwei Jahre zuvor fast totgeprügelt hätte. Er verhielt sich nun vorsichtiger. So überwand ich mich vor kurzem dazu, ihn zu fragen, wie ich mir dafür ein wenig Geld verdienen könne.

»Wenn du mir einen Monat lang täglich die Stiefel putzt, kriegst du eine Mark«, antwortete er. Grinsend stand er vor mir, mit seiner stinkenden Pfeife, die er nie aus seinem blutleeren, lippenlosen Mund nahm. Einem Mund, der sich nie, wirklich nie, auch nur zu dem kleinsten Lächeln verzog. Stets brachte er nur dieselbe spöttische Grimasse zustande.

Mein Stiefvater war sehr hager, aber nicht besonders groß. Wenn er jedoch im Jähzorn ausrastete, entwickelte er schier übermenschliche Kräfte, gegen die sich zu wehren sinnlos war. Allein seine äußerliche Erscheinung mit dem bleichen Schädel verkörperte Tod und Unheil. Das Unheimlichste an ihm aber waren seine Augen, blassblau und stechend wie fluoreszierende Glassteine. Im Gegensatz zu anderen Menschen schien er niemals zwinkern zu müssen. Mit diesem kalten Blick verfolgte er mich pausenlos. Dass er jemals einen menschlichen Zug gezeigt hätte, Traurigkeit etwa, Erschöpfung, Freude oder eine Geste, die ihn als fühlendes Wesen ausgezeichnet hätte, das seine Taten wenigstens gelegentlich bereut, irgendetwas, das ihn hin und wieder als Menschen mit normalen Empfindungen gezeigt hätte – alles Fehlanzeige.

Nichts als abgehackte, kurze Satzfetzen brachte er mit seinen vom exzessiven Tabakkonsum angegriffenen Stimmbändern zustande.

Eine Mark hätte gerade gereicht, um mir ein Stranitzl zu kaufen, eine papierene, mit Süßigkeiten gefüllte Spitztüte, während ich auf dem Volksfest herumschlenderte.

War ich nicht ganz bei Trost? Hatte ich mich wirklich auf einen derart erbärmlichen Handel eingelassen? Nach allem, was passiert war?

Egal! Eifrig putzte ich seither täglich seine Schuhe. Nicht der kleinste Lehmbatzen sollte zu sehen sein, damit es nichts zu reklamieren gab, jede Stelle polierte ich blitzblank. So sehr erniedrigte ich mich selbst, nur weil ich für ein paar Stunden weg von diesem Einödhof und unter ein paar fröhliche Menschen kommen wollte.

Dann war der Monat endlich vorbei. Ich kam gerade vom Plumpsklo hinter dem Hühnerstall und ging an der Scheune entlang zum Mittagessen. Da schnitt mir der Stiefvater den Weg ab. Nie war ich wirklich allein, ständig lauerte er mir irgendwo auf. Er musterte mich in meinem kurzärmeligen weinroten Kleid und der geblümten Schürze von Kopf bis Fuß, woraufhin es mir wieder einmal eiskalt den Rücken herunterlief.

Dennoch stieß ich, am ganzen Leib bebend, mutig hervor: »Kann ich nun bitte schön die eine Mark bekommen, die mir versprochen wurde?«

Ich erntete ein verächtliches Schnauben, weiter nichts. Dann streckte er den Arm aus, und sein langer, dürrer Finger wies zur Scheune. Sofort wusste ich, was er von mir verlangte.

»Nein!« Es zerriss mich innerlich. »Nein!«, schrie es in mir. »NEIN!«, brüllte ich so laut ich konnte.

Woher hatte ich bloß diesen Mut, diese Kraft? Mein Körper bäumte sich auf, wurde größer und größer, schien geradezu in den Himmel zu wachsen. Mein Mund öffnete sich wie von einer fremden Macht gesteuert, und ich posaunte die Worte hinaus, die ich schon seit Jahren jedem ins Gesicht schleudern wollte. Besonders meiner Mutter, die auf einmal hinter ihrem Heini stand. Mein Schrei hatte sie offenbar aus dem Hause gelockt.

»Du Drecksau! Du elendes Schwein! Schon damals in Passau, als ich keine dreizehn war, hast du mich angemacht und dich zu mir ins Bett gelegt. Hast schamlos ausgenutzt, wenn ich tief geschlafen habe.«

Der Gesichtsausdruck meiner Mutter spiegelte ein einziges dämliches Erstaunen. Wunderte sie sich wegen der Ungeheuerlichkeiten, die ich da gerade über ihren Ehemann enthüllte, oder über die Frechheit, die ich mir herausnahm?

»Mach deinen Dreck in Zukunft alleine, du Schwein!«, schmetterte ich ihm entgegen.

Ich sah noch, wie er in seinem blanken Hass fahl wurde, fahler als je zuvor. Dann machte er einen Satz auf mich zu. Binnen Sekunden würde er mir den Hals umdrehen und mich brutal niederschlagen. Doch so weit sollte es nicht kommen. Diesmal nicht!

Ehe er sich rühren konnte, war ich losgerannt. Und gelaufen, bis ich nicht mehr konnte.

 

Mühsam erhob ich mich von dem Baumstumpf. Zum Durst kam nun elender Hunger hinzu. Kraftlos schleppte ich mich durch das Unterholz, setzte mechanisch einen Fuß vor den anderen. Meine Vergangenheit musste ich abwerfen, wenn ich nicht zugrunde gehen wollte. Nur wie sollte es weitergehen?

»Du bist jetzt wirklich frei«, flüsterte meine innere Stimme mir zu. »Bisher hattest du nichts, warst nichts. Es kann also nur besser werden. Arbeit als Stallmagd findest du überall, und sicher zu besseren Bedingungen. Hiermit beginnt heute, im Sommer des Jahres 1951, dein zweites Leben.«

Wie viele Leben das Schicksal noch für mich bereithalten sollte – das ahnte ich damals freilich noch nicht …

Ziellos irrte ich weiter, ohne jedes Zeitgefühl. Dann ging auch dieser Tag zur Neige. Ich folgte der Sonne Richtung Westen, streifte geduckt am Waldrand entlang und kam schließlich an ein Rübenfeld. Gierig riss ich die reifen Feldfrüchte aus der Erde und schob sie mir in den Mund. Am Horizont sah ich Gewitterwolken aufziehen. Hin- und hergerissen zwischen Entschlossenheit und tiefer Mutlosigkeit fasste ich einen Plan: Ich würde fürs Erste Zuflucht bei meiner Tante Maria suchen, in Birnbach.

Die Schwester meiner Mutter hatte einen sanften Charakter und war bei ihren seltenen Besuchen auf dem Ödmannhof immer nett zu mir gewesen. Dennoch hatte ich es nie geschafft, all meinen Mut zusammenzunehmen und ihr mein Leid anzuvertrauen. Die Welt der Erwachsenen und jene der Kinder waren damals Lichtjahre voneinander entfernt. Dass ein Erwachsener meine Kümmernisse anhörte und vielleicht sogar verstand, lag außerhalb allen Hoffens.

Tante Maria würde mir sicher helfen. Nur wo lag dieses Birnbach, in dem ich noch nie gewesen war? Egal, jetzt hieß es erst mal, eine beträchtliche Entfernung zwischen mich und den Ödmannhof zu bringen. Alles andere würde sich schon ergeben.

Nach einer Weile erreichte ich eine kleine Kapelle, die von einem wilden Rosenstock fast komplett zugewachsen war.

In meiner katholischen Heimat finden sich überall einsame Stellen mit Altären, an denen die Gottesmutter verehrt wird, die Überreste eines Mutterkultes aus vorchristlichen Zeiten. Wie elementar doch das Bedürfnis nach mütterlichem Schutz in den Religionen aller Völker zum Ausdruck kommt! Das wusste ich damals natürlich nicht, denn ich war schrecklich ungebildet, hatte die Schule nur drei Jahre lang besucht.

»Wasser! Endlich Wasser!« Mit einem Freudenschrei stürzte ich mich auf die kristallklare Quelle, die ich hinter der Kapelle entdeckte.

Die Umgebung war mir unbekannt, woraus ich schloss, dass ich schon recht weit von zu Hause weg war. Andererseits: Der Radius meiner Welt, in der ich mich bisher rund um den Ödmannhof orientiert hatte, war dermaßen klein, dass das verhasste Anwesen sich möglicherweise doch noch hinter der nächsten Anhöhe befand. Ich stieg einen schmalen, von hohen Buchen gesäumten Pfad nach oben, bis ich die Gegend überblicken konnte. Wie lieblich sich das Rotthaler Land vor mir ausbreitete: die sanfte Hügellandschaft, die Flussauen und Blumenwiesen und am Horizont die blaue Bergkette des Bayerischen Waldes.

Der Himmel war jetzt kohlrabenschwarz zugezogen, und erneut überwältigte mich tiefe Verzweiflung. Als sich das Gewitter kurz darauf in einem heftigen Wolkenbruch entlud, stürzte ich in den Vorraum der kleinen Marienkapelle und sank auf die Gebetbank nieder. Hinter einem schmiedeeisernen Gitterwerk blickte die Gipsmadonna mit nachdenklich gesenktem Haupt von einem gewundenen Marmorsockel auf mich herab, in den gefalteten Händen einen Rosenkranz. Der Tabernakel des mit weißen Lilien und dunkelroten Rosen geschmückten Altars schimmerte golden im Schein einer Kerze, die fast niedergebrannt war.

Wer weiß, wer heute hier schon Trost gesucht und ein Licht entzündet hat, dachte ich. Wahrscheinlich eine der zahlreichen Flüchtlingsfrauen aus dem Osten, eine der Kriegerwitwen mit ihren kleinen Kindern, die sich seit Kriegsende auf den Höfen der Umgebung durchschlugen. Nahtlos hatten die Bauern sie anstelle der Zwangsarbeiter übernommen und behandelten sie entsprechend.

Ich stieß ein bitteres Lachen aus. Warum sollten sich die Leute um solch feine Unterschiede kümmern? Schließlich behandelten sie ihr eigen Fleisch und Blut wie rechtlose Sklaven, manchmal sogar schlimmer als das Vieh.

»Du bist nichts. Du bist im Rausch gezeugt. Und können tust du auch nichts. Ein Rauschdepp, das bist du.«

Wie oft hatte mich die Mutter mit diesem üblen niederbayerischen Schimpfwort betitelt, das man für geistig Zurückgebliebene verwendet, weil sie angeblich im Vollrausch gezeugt wurden. Nur primitive Menschen benutzen diesen Ausdruck, der weitaus verletzender ist als Vollidiot. Doch welche Mutter nennt schon ihr eigenes Kind so?

»Rauschdepp, geh an die Arbeit«, dröhnte es in meinen Ohren. Ich konnte es nicht mehr abstellen.

Dann übermannte mich die Wut, und ich rüttelte an dem Gitter. »Warum liebst du mich nicht wenigstens? Warum lässt du mich auch immer im Stich? Du, die Mutter Gottes, sogar du! Alle flehen um deinen Beistand. Warum verweigerst du ihn ausgerechnet mir?«

»Hilf dir selbst!«

Wie ein Sturzbach brachen meine Tränen hervor.

»Heute Nacht will ich dich in meinem Haus beschützen.«

»Was, wenn sie mich hier finden?«

»Gottlose Menschen wie dein Stiefvater kommen gewiss nicht hierher, aber du kannst den Riegel von innen vorschieben, wenn du magst.«

Draußen tobte noch immer das Unwetter, aber hier drinnen hatte sich die Wärme des Tages gehalten. Ich kauerte mich in eine Ecke und begann wie von selbst, halblaut zu beten. Das war wohl aus meiner Zeit bei den Klosterschwestern noch so in mir drin. Ich leierte ein Ave-Maria nach dem anderen herunter, bis ich über den Worten »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade« in einen fiebrigen Schlaf fiel. Der war allerdings lange nicht so erquickend wie letzte Nacht. Oder waren es doch mehrere Nächte?

Mein ganzes bisheriges Leben zog in traumähnlichen, halbwachen Zuständen an mir vorüber – genau wie es einem Sterbenden in seinen letzten Minuten ergehen soll.

Teil 1: 19311955

Geboren und ungeliebt

In jener Nacht in der kleinen Kapelle dachte ich, mein Leben sei zu Ende. Aber dem war noch lange nicht so, vielmehr stand ich damals an einem bedeutenden Wendepunkt. Wenn ich heute, sechzig Jahre später, als Achtzigjährige auf mein Leben zurückblicke, beurteile ich die Ereignisse unter vielen verschiedenen Gesichtspunkten. Heute nehme ich mein Schicksal hin, mit allem, was es für mich bereithielt, und bin überzeugt, dass alles einen höheren Sinn hat. Damals als junges Mädchen war ich dazu jedoch nicht in der Lage.

Der Film, der in meinem fiebrigen Zustand in jener unruhigen Nacht ablief, begann schon vor meiner Geburt. Wer weiß schon, wie viel ich von dem Streit und den Zwistigkeiten meiner Eltern bereits im Mutterleib mitbekommen hatte? Davon und von den widrigen Umständen während meiner ersten Lebensjahre sollte mir viel später meine Tante Maria erzählen, einiges andere mit sadistischem Vergnügen auch meine Mutter selbst.

Meine Mutter Katharina, von allen nur Kathi genannt, stammte vom Streicherhof, einem wohlhabenden Bauernhof in Sulzbach am Inn. Ihre Eltern, die ich erst mit dreizehn Jahre als freundliche, ehrbare Leute und liebevolle Großeltern kennenlernen sollte, konnten mir auch nicht bei der Lösung des Rätsels helfen und mir erklären, weshalb meine Mutter einen solch unberechenbaren Charakter besaß.

An der Wirtschaftsschule in Kloster Neuhaus erhielt Kathi als Älteste von vier Geschwistern eine Ausbildung zur Köchin. Meinen Vater, den Schreinergesellen Johannes Sattler, heiratete sie nicht etwa aus Liebe, sondern weil sie der Nachbarbauer zurückgewiesen hatte und sie sich an ihm rächen wollte. Wenn mein Vater für Katharina auch nicht die große Liebe war, so hatte sie sich dennoch freiwillig für diesen Mann entschieden. Hätte sie sich dann nicht wenigstens um gegenseitigen Respekt bemühen müssen, aus dem vielleicht irgendwann doch noch Liebe entstanden wäre? Oder zumindest eine harmonische Zweckehe?

Nach der Hochzeit zog das junge Paar nach Hals an der Ilz zur Mutter des Johannes Sattler. Keine Frage – nach auf Rosen gebetteten Flitterwochen sahen die ärmlichen Umstände nicht aus. Mit der Schwiegermutter, deren einziger Sohn ihr Ein und Alles war, auf engstem Raum zusammenleben zu müssen, war gewiss auch eine Belastung, die weitaus bessere Ehen nicht so ohne weiteres ausgehalten hätten.

Andere raufen sich in solchen Situationen irgendwie zusammen, aber Katharina weigerte sich von Anfang an, das Familienleben positiv mitzugestalten. Schon in den ersten Wochen fand man die Jungvermählte des Öfteren im Wirtshaus, wohin früher normalerweise keine Frau alleine ging. Mitleid und Spott der Dorfbewohner ergossen sich daraufhin über meinen Vater.

Ihrem Ehemann sexuell verweigern aber tat sich die Kathi bei aller Verachtung für ihn nicht. Die beiden waren in einer unheilvollen Leidenschaft aneinandergekettet. Doch warum nur nahmen sie Kinder in Kauf, die sie verantwortungslos in die Welt setzten?

Zum einen waren Verhütungsmittel damals kaum verbreitet, zum anderen wussten die Menschen über den weiblichen Zyklus sowie die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage schlicht nicht Bescheid. Abgesehen davon wären Eheleute, die irgendetwas in dieser Richtung unternommen hätten, als große Sünder vor dem Herrn abgestempelt worden. Fraglich ist bloß, ob das meiner Mutter etwas ausgemacht hätte.

Damals suchten die Geistlichen in ihrer Gemeinde noch diejenigen Ehepaare auf, bei denen sich nicht jedes Jahr ein Kind ankündigte, um sie zur Rede zu stellen. Selbst eine Frau, die schon viele Kinder hatte – vierzehn und mehr waren keine Seltenheit –, kam bei einer Pause von ein, zwei Jahren in Erklärungsnot. Häufig starben die Mütter nach einigen Schwangerschaften an Entkräftung oder am Kindbettfieber, wodurch sich das Thema irgendwann auf diese Weise erledigte. Der Mann nahm sich danach oft eine zweite Frau und vielleicht auch eine dritte und vierte, und alles ging wieder von vorne los.

Innerhalb eines Jahres nach der Hochzeit wurde 1928 bereits der erste Sohn geboren, mein Bruder Johann Nepomuk, nur elf Monate später folgte mein Bruder Ferdinand. Und bald darauf erwarteten meine Eltern das nächste Kind.

Die werdende Mutter zeigte allerdings keine Freude darüber, sondern zog weiterhin Nacht für Nacht los in eines der Wirtshäuser oder zu ihrem Stammtisch, der nur aus Männern bestand. Es muss zu schrecklichen Szenen gekommen sein, wenn mein Vater mit wachsender Wut sämtliche Gasthäuser abklapperte, bis er seine Frau fand und sie gegen ihren Widerstand an den Haaren herauszerrte.

Die Schwiegermutter versuchte es immer wieder im Guten. Sie, die sich als Witwe und Klostermagd ihr bitterhartes Leben lang tapfer durchgeschlagen hatte, erwarb mit ihren bescheidenen Ersparnissen am Ilzufer drei Tagwerk Grund mit Obstbäumen und einem verfallenen Bruchsteinhaus sowie genügend Platz für eine Schreinerwerkstatt. Ganz alleine richtete die alte Frau alles her, weder die Kathi noch ihr Sohn gingen ihr zur Hand. Immer mehr musste sie auch ihn anschieben, damit er sich in seinem Beruf einsetzte. Doch vergeblich.

Johannes Sattler war der einzige Schreiner im Ort. Er hatte sozusagen das Monopol und hätte es zu beachtlichem Wohlstand bringen können. Möbel zu bauen war und ist eine diffizile Sache, eine richtige Kunst und heutzutage unbezahlbar. Da geht jeder nur noch zu IKEA, aber früher wurde alles vor Ort mit der Hand gefertigt. Selbst die Ärmsten brauchten manchmal den Schreiner, und wenn es nur wegen eines einfachen Schemels war.

Am Schnitzen und Hobeln verlor mein Vater jedoch immer mehr die Lust, besonders für die Feinheiten an den verschnörkelten Kleinteilen, die man mit der Hand mühsam einarbeiten musste. Stattdessen griff er schon morgens zum Maßkrug, um sich einigermaßen zu motivieren. Die Ehe ein großer Irrtum, in kurzer Zeit drei Kinder, für die man aufzukommen hatte, und ein ungeliebter Beruf – da war das Bier ein schnelles, wenn auch trügerisches Heilmittel. Bald liebte mein Vater das Bier so sehr, dass seine Arbeit immer mehr darunter litt. Irgendwann war auch er fast jeden Abend an seinem Stammtisch anzutreffen und kam immer später nach Hause.

Das Geschäft ging schlechter, und eines Tages unterbreitete er seiner Mutter die Idee, er wolle Sargschreiner werden. Gestorben wurde schließlich immer. So kam es, dass zum ganzen familiären Kummer auch noch jene Leute das ärmliche Haus aufsuchten, die zusätzlich ihre eigene Traurigkeit verströmten. Der Unterhalt der Familie war nun von Sterben und Tod abhängig.

Doch auch jetzt, da sich Vaters Arbeit zwar trostloser, aber irgendwie auch einfacher gestaltete, erfüllte er seine Aufträge nicht pünktlich. Noch heute erzählt man sich in Hals, dass sich einst die Leichenträger ihre Anzüge mit dem frischen Lack der Särge verdarben, weil der Tischler erst am Morgen der Beerdigung die Farbe in allerletzter Minute aufzutragen pflegte.

Das war die Welt, in die ich an Michaeli in dem ärmlichen Haus des Sargschreiners Johannes Sattler hineingeboren wurde. Es war der 29. September 1931.

 

Ein herrlicher Herbsttag! Die goldene Sonne verbreitet noch immer wohlige Wärme. Die Bäume verfärben sich bereits. Das Licht spiegelt sich in der Ilz. Ihr blitzsauberes Wasser verdankt sie dem alten Granitgebirge des Bayerischen Waldes und ihre tiefgründig dunkle Färbung dessen Hochmooren und Fichtenwäldern. Wie unzählige schwarze Diamanten flimmert die vom Wind leicht bewegte Wasseroberfläche. Dort, wo der Fluss eine enge Schleife bildet, bevor er sich in Passau kurz nach der Innmündung mit der Donau vereinigt, thront auf einem Felsrücken, dessen beide Seiten steil herab zum Fluss stürzen, wie entrückt die Burgruine Hals.

Auf den Hügeln in der Umgebung brennen Kartoffelfeuer. Der Duft von verbranntem Laub liegt in der Luft. Die Bauern und jeder, der eine Hand zum Helfen frei hat, bringen emsig die Kartoffelernte ein, denn leise und wehmütig liegt bereits der Frühwinter in der Luft, auch wenn in den noch lauen Nächten phosphoreszierende Glühwürmchen kreisen, die wie winzige Sterne in der Erdatmosphäre verschwinden.

Katharina Sattler kommt mit ihrem vierten Kind im vierten Ehejahr nieder. Das dritte war im Jahr zuvor als Siebenmonatskind an Entkräftung gestorben.

Die Hebamme hat noch kurz vorher auf den Feldern mitgeholfen, unter den Nägeln ist noch schwarze Erde, zum Händewaschen kommt sie nicht mehr. Die Presswehen haben bereits eingesetzt. Flink zieht sie ein Messer aus ihrer verbeulten Ledertasche. Nur noch ein geschickter Dammschnitt.

»Ein kleines Burgfräulein für Hals!«

Die Hebamme will der Mutter das Kind in den Arm legen. Aber die dreht sich zur Wand und weigert sich, das Mädchen mit den schwarzen Haaren und den blauen Augen überhaupt nur anzusehen.

»Ein Rauschdepp halt«, sagt sie bloß.

Während die Hebamme schnell das Thema wechselt und von ihren Leistungen auf dem Kartoffelfeld berichtet, wickelt Katharinas Schwester Maria, die zur Geburt angereist ist, das Kind in ein vorgewärmtes Tuch. Beglückt trägt sie es nach nebenan in die Werkstatt, wo der Vater sich gerade mühsam an der Arbeit zu schaffen macht.

»Schau her, Hans! Nach drei Buben. Es ist ein Mädchen.«

Ein kurzer, verhangener Seitenblick, ein Griff zur Maß Bier, die sich immer in der Nähe befindet, und ein tiefer, ausgiebiger Schluck – das ist die Begrüßung des Vaters.

Maria geht zurück und legt das Neugeborene der Mutter an die Brust. Die Großmutter ruft die beiden Brüderchen herein, die auf der Wiese spielen. Mit großen Augen bestaunen sie ihre Schwester. Nicht einmal ein kleines Lächeln schenkt die Mutter ihnen. Hungrig sucht der Säugling nach Nahrung und der Wärme der Mutter, nach dem Klang ihrer beruhigenden Stimme. Das Kind pendelt mit dem Kopf und macht saugende Schmatzgeräusche. Aber vergeblich.

»Bei mir gibt’s nichts«, sagt die Mutter und schiebt es unwillig weg.

Wieder einmal kann Kathi ihr Kind nicht stillen. Sie hat Schlupfwarzen, die sich zurückziehen, wenn das Neugeborene daran saugen will. Als wäre es ein körperliches Symbol dafür, wie sehr sie die Mutterschaft ablehnt.

»Da hat dir die Natur wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht«, bemerkt der Vater gallenbitter.

»Eine Pumpe muss her, wir müssen die Milch abpumpen«, stellt die Hebamme fest. Allzu viel davon würde vermutlich nicht vorhanden sein, nicht mal am dritten Tage, wenn für gewöhnlich die Milch bei den Wöchnerinnen richtig einschießt. Angebot und Nachfrage: Wo nicht gesaugt wird, da wird auch nichts produziert.

Mit einem überlegenen Gesichtsausdruck schaut die Großmutter die Hebamme an und geht in den Stall, wo die beiden Ziegen der Familie stehen. Sie melkt die eine, verdünnt die Milch, füllt damit ein Leinentuch, das sie zu einer Rolle dreht, und gibt dem kleinen Mädchen aus der Stoffzitze zu trinken. Das ist fürs Erste die Lösung, damit es überlebt.

 

Angesichts des Wunders, welches die Geburt eines Kindes allen begleitenden Umständen zum Trotz jedes Mal darstellt, möchte man meinen, dass in der Sattlerschen Ehe zumindest für ein paar Wochen Waffenstillstand geherrscht hätte. Doch nicht einmal während des Wochenbetts kam Katharinas getriebenes Wesen zur Ruhe. Keine zehn Tage nach meiner Geburt zog meine Mutter schon wieder allabendlich durch die Wirtshäuser, während Tante Maria mich versorgte. Mein Vater konnte es nicht fassen und betrank sich in seinem Kummer selbst manchmal bis zur Besinnungslosigkeit.

»Es gehören immer zwei dazu«, beschwor die Großmutter ihren Sohn, als er ihr sein Leid klagte. »Versuch es mit Geduld. Du trägst mit deiner Trunksucht ebenso deinen Anteil zu diesem Verdruss bei.«

Es war an einem Freitagabend im Januar 1932, ich war gerade drei Monate alt, als das Verhängnis für die Ehe meiner Eltern endgültig seinen Lauf nahm.

Der Sargschreiner Johann landete auf seiner Odyssee im Schwarzen Ochsen in Passau. Dort verkehrten neben Ärzten, Notaren, Stadträten, Geschäftsleuten viele andere einflussreiche Männer – eben alle, die sich gerne als die ortsansässigen Honoratioren hofieren ließen. Beim Schafkopfen am Stammtisch, der an jenem verhängnisvollen Abend besonders gut besetzt war, festigte man die alten Seilschaften.

Als nun der hiesige Sargschreiner in seiner schäbigen Kluft verloren am Eingang auftauchte und wie so oft den Blick suchend umherschweifen ließ, stand einer aus der Runde auf, ein aufgeschwemmter, feister Kerl.

»Suchst wohl deine Kathi. Hab keine Sorge, heute ist es noch zu früh, die kommt schon noch. Die dreht erst ihre Runde, bevor sie bei uns landet. Das Beste zum Schluss!«, lästerte er.

Alle am Tisch stimmten in sein dreckiges Gelächter ein.

Johann holte tief Luft, aber er brachte keine schlagfertige Erwiderung heraus. Die feine Männerrunde, selbstgefällig wie eine Horde Paviane, musterte ihn von oben bis unten.

»Kellnerin, bring mal eine Halbe für den armen Mann!«, sagte einer.

»Setz dich halt her«, bot ihm gönnerhaft herablassend ein anderer an.

Zögernd nahm Johann auf der Eckbank unter dem hölzernen Kruzifix im Herrgottswinkel Platz. Eine Halbe, und er entspannte sich schon etwas. Und noch eine Halbe und noch eine und noch eine … Derweil prahlte die Herrenrunde, die ebenfalls Unmengen an Bier konsumierte, wie üblich über frei erfundene erotische Abenteuer, gab anzügliche Witze zum Besten, rauchte schwarze Zigarren und stieß sich immer wieder verstohlen an, weil sie sich dem Sargtischler Johann ja so überlegen fühlte.

Gegen später gesellte sich ein weiterer Stammgast hinzu, der Staatsanwalt Jakob Reißler vom Amtsgericht Passau. Mein Vater spürte plötzlich eine kleine, feuchte, fettige Hand auf seiner Schulter.

»Grüß Gott miteinander, heute haben wir ja einen Ehrengast«, grüßte der Reißler spöttisch. »Rosi, bring ihm hier noch eine Halbe«, rief er dann nach der Kellnerin und fügte mit geheuchelter Anteilnahme hinzu: »Der ist ja geschlagen mit seiner Frau.«

Der so in der dritten Person Angesprochene wandte sich um und sah in Reißlers feistes Mondgesicht, das von einer pomadigen, graumelierten Frisur eingerahmt war. In den Augen des Staatsanwalts spiegelte sich stets etwas Finsteres, Unberechenbares. Da von kleiner und untersetzter Statur, war er dick und stets kurzatmig, außerdem roch er nach Schweiß und kaltem Zigarrenrauch. In der Bevölkerung galt er als rundum fieser und unsympathischer Amtsschimmel, hier am Stammtisch jedoch empfingen ihn seine Kumpane mit geradezu untertänigem Zuvorkommen.

Reißlers ungeteilte Aufmerksamkeit aber galt an jenem Abend dem Sargtischler, der aufgrund seines übermäßigen Bierkonsums gerade den letzten Rest von Menschenkenntnis verlor. Oder sollte ich besser schreiben, der gerade dabei war, seinen gesamten Verstand zu verlieren?

»Ein schönes Grundstück habt ihr da draußen, bis auf die Hütte jedenfalls«, gab sich der dubiose Jurist jovial. »Aber könnt ihr das noch lang halten?«

Mein Vater sah ihn fragend an.

»Sind denn da nicht noch Belastungen drauf?«

Johann zuckte bloß die Schultern. »Bring mir noch eine Halbe«, wandte er sich der Bedienung zu.

Was genau danach geschah, konnte nicht mehr exakt nachvollzogen werden. Tatsache aber war, dass Jakob Reißler sich nach etlichen Runden Bier und häufigem Zuprosten mit meinem Vater verbrüderte. Die anderen Stammtischbrüder, die hinterher alle furchtbar schlau taten, sich aber nicht eingemischt hatten, um das Unheil abzuwenden, vermochten später nur bruchstückhaft vom weiteren Verlauf des folgenreichen Abends zu berichten.

»Wenn das so weitergeht mit deiner Frau«, soll der Staatsanwalt gestichelt haben, »verlierst du bald dein Hab und Gut, vor allem dein Heim.« Dann machte er meinem Vater einen Vorschlag: »Wenn du mich als Eigentümer einträgst, gebe ich dir für den Rest deines Lebens ein Wohnrecht, und zwar egal was passiert.«

Der Pakt mit dem Teufel wurde geschlossen …

Angeblich hatte der Reißler Papier und Füllfederhalter schon dabei. Andere erzählten, der Jurist habe meinen Vater dazu gebracht, seinen Besitz im Vollrausch beim Kartenspiel zu verwetten.

Einige Tage später klopfte es jedenfalls an der Tür, und als meine Großmutter ahnungslos öffnete, stand Jakob Reißler davor.

»Was wollen Sie denn hier?«, fragte sie mit dünner Stimme.

Reißlers Miene blieb regungslos. Statt einer Antwort schob er die alte Frau brüsk zur Seite und baute sich in dem engen Hausgang auf.

»Das hier gehört jetzt mir.«

Meine Großmutter begriff erst mal nichts. Da trat mein Vater aus der Werkstatt, sagte jedoch kein Wort, sondern stierte bloß auf den Boden. Unterdessen zog der saubere Jurist einen Vertrag aus der Tasche. Nun bestand kein Zweifel mehr, Haus und Grund gehörten jetzt ihm. Das besiegelte die Unterschrift des Johannes Sattler.

Als Reißler zufrieden die Tür hinter sich zuzog, konnte er noch hören, wie sich Katharina kreischend auf ihren Mann stürzte.

»Dir ist doch eh alles egal«, schmetterte er ihr entgegen und packte sie an den Schultern. »Du würdest selbst deine eigenen Kinder verkaufen. Halt doch dein Maul! Als ob dir ein Zuhause irgendetwas bedeuten würde!«

Es dauerte nicht lange, und die beiden stürzten sich Zeter und Mordio schreiend aufeinander. Meine arme alte Großmutter musste dazwischengehen, um Mord und Totschlag zu verhindern.

»Der Wisch ist ungültig, so glaubt mir doch«, verteidigte sie meinen Vater. »Was man jemand im Rausch abhandelt, ist nichts anderes als Gaunerei. Der Reißler käme ja selber ins Gefängnis.«

»Und du glaubst, du könntest es mit einem wie dem aufnehmen?« Katharinas Stimme ätzte vor Spott. Mit halb geschlossenen Lidern betrachtete sie naserümpfend und überheblich ihre Schwiegermutter.

Wir Kinder weinten in der Kammer nebenan.

Ob er den Besitz nun im Rausch verwettet oder anders losgeworden war – was machte das schon für einen Unterschied? Katharina hatte dieses eine Mal sogar recht. Es mit jemandem wie dem Reißler aufzunehmen war nicht nur aussichtslos, sondern auch gefährlich. Möglicherweise hatte er meinen Vater nur deshalb demoralisiert und seine Lebensbasis untergraben, um später weiteren Einfluss auf ihn zu gewinnen. Solche und ähnliche Methoden wandte dieser vermeintliche Ehrenmann nicht nur in unserem Fall an, um seine Position im aufkeimenden nationalsozialistischen Staat zu festigen.

Jedenfalls war dieser Vertrag der Anfang allen Übels. Meine Eltern stritten nur noch, und im Winter darauf gingen sie einmal so hasserfüllt aufeinander los, dass allen Ernstes zu befürchten war, einer von beiden müsse daran glauben.

Man muss sich wundern, weil selbst der Dorfpfarrer für eine Scheidung plädierte. Schließlich galt in der katholischen Kirche kompromisslos das Versprechen »Bis dass der Tod euch scheidet«. Auch die Behörden machten den Scheidungswilligen den Entschluss damals normalerweise so schwer wie möglich. Geschiedene Ehen gab es Anfang der dreißiger Jahre praktisch nicht in Niederbayern.

Der Erstgeborene wurde kurzerhand zu den Großeltern auf den Streicherhof abgeschoben. Ich sollte meinen Bruder Hans erst zehn Jahre später kennenlernen. Wir würden nie ein geschwisterliches Verhältnis entwickeln. Ferdinand und mich, die kleine Elfriede, wollte eigentlich der Vater bei sich behalten. Aber es kam erst mal anders.

»Es wird alles besser, glaub mir.« Als einziger Sohn liebte mein Vater seine Mutter sehr und wollte es ihr unbedingt recht machen. »Ich hab ein gutes Angebot zum Arbeiten bekommen«, beschwor er sie. »Als Fahrkartenkontrolleur bei der Reichsbahn. Da verdiene ich dreimal so viel wie jetzt und bin außerdem unkündbar.«

Meine Großmutter saß nur mit gefalteten Händen bekümmert da und sagte nichts dazu.

Psychisch angeschlagen, wie mein Vater damals war, ging er den Nationalsozialisten als leichte Beute ins Netz. Seine Stammtischbrüder, allen voran Jakob Reißler, überzeugten ihn, sich der SA anzuschließen. Nach einiger Zeit werde er zum Zugführer befördert, versprach man ihm, dann verdiene er noch viel mehr. Er ahnte freilich nichts von den Greueltaten, die Deutschland noch begehen sollte. Und dass er die Todeszüge nach Dachau fahren musste – wenigstens davor bewahrte ihn das Schicksal.

Ich kam erst mal im Säuglingsheim in der Heilig-Geist-Gasse und mein Bruder in Büchlberg bei den Klosterschwestern unter. Unsere Mutter fand eine Stelle als Köchin im Schwarzen Ochsen und übernahm die Unterbringungskosten für uns beide. Von einem Tag auf den anderen wurden wir in eine völlig fremde Umgebung verpflanzt. Die Schwestern im Säuglingsheim konnten den kleinen Kreaturen, die aufgrund wer weiß welchen Schicksalen hierhin geraten waren, nur die allernötigste Zuwendung schenken. Und die beschränkte sich im Wesentlichen aufs Füttern und Windelnwechseln.

Eine solche Einrichtung in den dreißiger Jahren – kein Vergleich zu den Kinderkrippen und deren Erziehungszielen von heute. So hatte es sich unter anderem noch nicht herumgesprochen und galt sogar als schädlich, Neugeborenen oder vielmehr Kindern jeden Alters körperliche Zuwendung zu geben. So gut wie niemand wusste, dass man sie streicheln, wiegen und beruhigen muss, wenn sie weinen. Vielmehr galt die Devise: Schreien kräftigt die Lungen.

Stundenlang ließen die Schwestern daher mich und die anderen in unseren Bettchen liegen, bis nach dem üblichen Vier-Stunden-Rhythmus wieder Zeit für das nächste Fläschchen war. Die Nahrung verabreichten sie uns so schnell wie möglich, die harten Leinenwindeln wechselten sie im Akkord. Alle Kinder waren in einem einzigen riesigen Saal untergebracht, auch die etwas älteren. Irgendein armes Wesen fing immer an zu schreien und steckte prompt die anderen an. Hospitalismus, eine schwere psychische Störung infolge seelischer Vernachlässigung, war damals in Kinderheimen der Normalfall.

Die Schwestern in der Heilig-Geist-Gasse waren mit unserer Pflege dermaßen überlastet, dass sie schlicht keine Zeit gehabt hätten, solche Luxusprobleme der Psychologie zu erörtern. Daher war es ihnen nur recht, wenn meine Mutter ab und zu auftauchte, um nach dem Rechten zu sehen, weil sie ihnen dann für eine halbe Stunde einen der Schreihälse abnahm.

Hatte sie etwa doch ab und zu Sehnsucht nach mir?

Viel Zuneigung kann sie nicht verspürt haben, denn immer wieder kam es zu traumatischen Zwischenfällen.

Eines Tages, ich war damals knapp drei Jahre alt, beklagte sich eine der Schwestern bei meiner Mutter, die wieder mal zu Besuch war.

»Die Friedl ist immer noch nicht sauber«, hörte ich sie jammern. »Die anderen Kinder in ihrem Alter sitzen alle längst auf dem Töpfchen.«

Das Säuglingsheim war damals recht teuer. Jedenfalls behauptete das meine Mutter, die ihr Leben lang dem Geld hinterhergierte. Da der Tagessatz auf drei Reichsmark erhöht werden sollte, hatte sie vor, mich zu meinem Bruder Ferdinand nach Büchlberg zu bringen. Dort würde außerdem mein Vater für die Unterbringung aufkommen, wie es vereinbart war. Das Kloster aber nahm nur Kinder auf, die nicht mehr gewickelt werden mussten.

Die Beschwerde der Kinderschwester genügte meiner Mutter, um sich wie eine Furie zu gebärden. Sie schnappte mich, schlug mir mehrfach auf das nackte Hinterteil und drohte: »Wenn ich das nächste Mal komme, will ich nichts mehr davon hören.«

Die Säuglingsschwester in ihrem grauen Filzkleid nickte zustimmend im Hintergrund.

»Sie ist halt ein Rauschdepp. Die ist ja behindert. Aber das treib ich ihr schon noch aus!«, keifte sie weiter.

Die Säuglingsschwester widersprach ihr nicht.

Nach dem Besuch brachte man mich in einen großen, in trostlosem Beige gekachelten Raum, wo viele arme Würmer streng nach Geschlechtern getrennt nebeneinander auf ihrem Töpfchen saßen. Stundenlang mussten wir dort ausharren, dabei wusste ich gar nicht genau, was wir da sollten.

Neugierig, wie ich war, krabbelte ich eines Tages in den Nebenraum, wo einige kleine Buben im Stehen Pipi in winzige Kloschüsseln machten. Fasziniert beobachtete ich meine Kameraden. Warum ging das nicht auch bei mir? Noch während ich mich das fragte, stürmten zwei tobende Schwestern herein, zerrten mich brutal weg und beschimpften mich.

Seitdem begann ich jedes Mal, wenn meine Mutter zur Tür hereinkam, wie am Spieß zu schreien. Während ihre Schimpftiraden auf mich niederprasselten, prügelte und zerrte sie mich auf den kalten Zinntopf. Doch meine Schließmuskeln waren wie gelähmt.

Eines Tages riss ihr der Geduldsfaden schon nach wenigen Minuten, und sie legte mich gewaltsam über einen Stuhl. Dann schlug sie mir so lange auf den nackten Hintern, bis mein Kopf vom vielen Schreien violett anlief und sie mich mit Schwung auf das Töpfchen setzte. Diesmal ging alles wie von allein. Darm und Blase entleerten sich gleichzeitig, und erbrechen musste ich mich auch noch.

Mit dieser Erziehungsmethode gelangte meine Mutter letztendlich zum Ziel. Immer wenn sie in den nächsten Tagen zu Besuch kam und selbstgefällig ihren »Erfolg« herausposaunte, war mein Töpfchen schon voll. Keine der Schwestern bot ihr jemals Einhalt. Wie weit man sein Kind schlagen und misshandeln durfte, überließ das Gesetz allein dem Ermessen der Eltern.

So schnell wie erhofft ging es dann aber doch nicht mit meinem Wechsel ins Kloster Büchlberg. Denn wenig später bekam ich hohes Fieber und akute Erstickungsanfälle. Erst als die Haut bläulich anlief, holten die Schwestern den Kinderarzt Dr. Bartschmid, der mich im letzten Moment rettete.

»Was habt ihr denn mit dem Kind gemacht?«, fragte er entsetzt.

»Nichts«, lautete die Antwort.

»Das glaube ich nicht. Das Kind hat deutliche Spuren von Blutergüssen im Gesicht und auf dem Gesäß.«

Der Mediziner machte den Schwestern schwere Vorwürfe und versuchte ihnen – garantiert vergeblich – den Zusammenhang zwischen einer geschundenen Psyche und körperlicher Anfälligkeit zu erklären.

»Nasendiphtherie«, diagnostizierte er und ließ sein Stethoskop sinken, »außerdem unregelmäßige Herztöne. Die Krankheit wurde durch einen Schock ausgelöst. Mal sehen, ob die Temperatur sinkt und die Kleine das überlebt.«

»Es liegt alles in Gottes Hand.« Mehr fiel den Schwestern wohl nicht dazu ein.

»Und in Ihrer«, erwiderte der Arzt barsch und fragte sie aus.

Einsilbig schilderten die Schwestern die näheren Umstände.

»Die Mutter muss von dem Kind möglichst ferngehalten werden«, ordnete er an und fügte hinzu: »Die Frau gehört angezeigt.«

Dies alles weiß ich sogar aus dem Munde meiner Mutter selbst, die sich noch Jahrzehnte später über den Arzt mokierte und bei jeder Gelegenheit mit ihrer ureigenen »Methode zur Sauberkeitserziehung« prahlte.

»Danach warst du sauber«, gab sie besonders gerne in größerer Runde zum Besten. »Der Topf war schon voll, bevor ich überhaupt zur Tür rein bin.« Dann gackerte sie mit ihrer durchdringenden Stimme los, und alle wieherten mit.

Ob Dr. Bartschmid den Vorfall den Behörden meldete oder ob die Sache im Sande verlief – meine Mutter blieb jedenfalls unbehelligt. Zumindest wurde meinem Vater darüber nichts zugetragen. Die Schwestern des Säuglingsheims wollten ohnehin so schnell wie möglich zur Tagesordnung übergehen und schwiegen eisern. Ob sie aus dem Vorfall gelernt hatten? Gewiss war ich nicht das letzte Kind, das dort dermaßen leiden musste.

Erst nach einem halben Jahr genas ich langsam, derweil meine Mutter so manches Mal zeternd im Gang der Krankenstation auf und ab lief.

»Wann kann der Fratz endlich raus nach Büchlberg?«, fragte sie dann ungeduldig.

Schnell drängten die Schwestern die Rabenmutter wieder hinaus, denn mein Heulen war bis in die letzten Winkel des Gebäudes zu hören.

Ein paar Jahre bescheidenes Glück

Mit drei Jahren beginnen Kinder, sich ihres Daseins bewusst zu werden. Sie stellen Fragen über Fragen: »Warum ist der Himmel blau?« – »Warum zwitschern die Vögel?« – »Warum kocht die Milch über?« – »Warum?« – »Warum?« Staunend entdecken sie die Welt. Tag für Tag offenbaren sich ihnen mehr Wunder.

Mein Mund jedoch war fest verschlossen. Ich ahnte, dass niemand meine Fragen beantworten würde. Daher waren sie nichts als stumme Gedanken: Warum bin ich hier? Warum wache ich zitternd in der Nacht auf? Warum kommt niemand zu mir?