Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. STURZ DER TITANEN
    1. Widmung
    2. Personenverzeichnis
      1. AMERIKANER
      2. DEUTSCHE UND ÖSTERREICHER
      3. ENGLÄNDER UND SCHOTTEN
      4. FRANZOSEN
      5. RUSSEN
      6. WALISER
    3. PROLOG – Initiation
      1. KAPITEL 1
    4. ERSTER TEIL – Schatten am Himmel
      1. KAPITEL 2
      2. KAPITEL 3
      3. KAPITEL 4
      4. KAPITEL 5
      5. KAPITEL 6
      6. KAPITEL 7
      7. KAPITEL 8
      8. KAPITEL 9
      9. KAPITEL 10
      10. KAPITEL 11
    5. ZWEITER TEIL – Der Krieg der Titanen
      1. KAPITEL 12
      2. KAPITEL 13
      3. KAPITEL 14
      4. KAPITEL 15
      5. KAPITEL 16
      6. KAPITEL 17
      7. KAPITEL 18
      8. KAPITEL 19
      9. KAPITEL 20
      10. KAPITEL 21
      11. KAPITEL 22
      12. KAPITEL 23
      13. KAPITEL 24
      14. KAPITEL 25
      15. KAPITEL 26
      16. KAPITEL 27
      17. KAPITEL 28
      18. KAPITEL 29
      19. KAPITEL 30
      20. KAPITEL 31
      21. KAPITEL 32
      22. KAPITEL 33
    6. DRITTER TEIL – Eine neue Weltordnung
      1. KAPITEL 34
      2. KAPITEL 35
      3. KAPITEL 36
      4. KAPITEL 37
      5. KAPITEL 38
      6. KAPITEL 39
      7. KAPITEL 40
      8. KAPITEL 41
      9. KAPITEL 42
    7. HISTORISCHE PERSÖNLICHKEITEN
    8. DANKSAGUNG
  7. WINTER DER WELT
    1. Widmung
    2. Personenverzeichnis
      1. Amerikaner
      2. Deutsche und Österreicher
      3. Engländer
      4. Russen
      5. Spanier
      6. Waliser
    3. Erster Teil – Die andere Wange
      1. Kapitel 1
      2. Kapitel 2
      3. Kapitel 3
      4. Kapitel 4
      5. Kapitel 5
    4. Zweiter Teil – Zeit des Blutes
      1. Kapitel 6
      2. Kapitel 7
      3. Kapitel 8
      4. Kapitel 9
      5. Kapitel 10
      6. Kapitel 11
      7. Kapitel 12
      8. Kapitel 13
      9. Kapitel 14
      10. Kapitel 15
      11. Kapitel 16
      12. Kapitel 17
      13. Kapitel 18
      14. Kapitel 19
      15. Kapitel 20
    5. Dritter Teil – Der kalte Frieden
      1. Kapitel 21
      2. Kapitel 22
      3. Kapitel 23
      4. Kapitel 24
      5. Kapitel 25
    6. Danksagungen
    7. Karte: Europa vor dem 2. Weltkrieg
  8. KINDER DER FREIHEIT
    1. Widmung
    2. HAUPTPERSONEN
      1. AMERIKANER
      2. BRITEN
      3. DEUTSCHE
      4. POLEN
      5. SOWJETS
      6. ANDERE NATIONEN
    3. ERSTER TEIL – DIE MAUER – 1961
      1. KAPITEL 1
      2. KAPITEL 2
      3. KAPITEL 3
      4. KAPITEL 4
      5. KAPITEL 5
      6. KAPITEL 6
      7. KAPITEL 7
      8. KAPITEL 8
      9. KAPITEL 9
      10. KAPITEL 10
    4. ZWEITER TEIL – DIE WANZE – 1961 BIS 1962
      1. KAPITEL 11
      2. KAPITEL 12
      3. KAPITEL 13
    5. DRITTER TEIL – DIE INSEL – 1962
      1. KAPITEL 14
      2. KAPITEL 15
      3. KAPITEL 16
      4. KAPITEL 17
      5. KAPITEL 18
      6. KAPITEL 19
      7. KAPITEL 20
    6. VIERTER TEIL – DIE WAFFE – 1963
      1. KAPITEL 21
      2. KAPITEL 22
      3. KAPITEL 23
      4. KAPITEL 24
      5. KAPITEL 25
      6. KAPITEL 26
      7. KAPITEL 27
      8. KAPITEL 28
      9. KAPITEL 29
      10. KAPITEL 30
    7. FÜNFTER TEIL – DER SONG – 1963 BIS 1967
      1. KAPITEL 31
      2. KAPITEL 32
      3. KAPITEL 33
      4. KAPITEL 34
      5. KAPITEL 35
      6. KAPITEL 36
      7. KAPITEL 37
      8. KAPITEL 38
      9. KAPITEL 39
      10. KAPITEL 40
    8. SECHSTER TEIL – DIE BLUME – 1968
      1. KAPITEL 41
      2. KAPITEL 42
      3. KAPITEL 43
      4. KAPITEL 44
      5. KAPITEL 45
    9. SIEBTER TEIL – DAS BAND – 1972 BIS 1976
      1. KAPITEL 46
      2. KAPITEL 47
      3. KAPITEL 48
      4. KAPITEL 49
      5. KAPITEL 50
    10. ACHTER TEIL – DIE WERFT – 1976 BIS 1983
      1. KAPITEL 51
      2. KAPITEL 52
      3. KAPITEL 53
      4. KAPITEL 54
    11. NEUNTER TEIL – DIE BOMBE – 1984 BIS 1987
      1. KAPITEL 55
      2. KAPITEL 56
      3. KAPITEL 57
      4. KAPITEL 58
    12. ZEHNTER TEIL – DIE MAUER – 1988 BIS 1989
      1. KAPITEL 59
      2. KAPITEL 60
      3. KAPITEL 61
      4. KAPITEL 62
    13. EPILOG – 4. NOVEMBER 2008
      1. KAPITEL 63
    14. ZITAT
    15. DANKSAGUNGEN
    16. DIE FAMILIEN ZU BEGINN VON STURZ DER TITANEN
    17. DIE FAMILIEN ZU BEGINN VON WINTER DER WELT
    18. DIE FAMILIEN ZU BEGINN VON KINDER DER FREIHEIT
    19. DIE FAMILIEN AM ENDE DER JAHRHUNDERT-SAGA

Über dieses Buch

Erstmals die große Jahrhundert Trilogie in einem eBook!

Sturz der Titanen

England. Ethel Williams, Kind einer Bergmannsfamilie aus Wales, ist Dienerin im Haus von Earl Fitzherbert. Als sie von ihm ein Kind erwartet, wird sie in Schande entlassen. Aber Ethel lässt sich nicht entmutigen und beginnt für die Rechte der Frauen zu kämpfen.

Russland. Grigori und Lew Peschkow wachsen als Waisen auf. Während Grigori zum Revolutionär wird, gelangt sein Bruder in Amerika zu Reichtum – bis er sich zur Armee melden muss und so als Soldat in die Heimat zurückkehrt.

Deutschland. Anders als sein Vater sehnt sich Walter von Ulrich nach einem demokratischen Deutschland. In London verliebt er sich Hals über Kopf in die emanzipierte Lady Maud. Am Tag vor der deutschen Kriegserklärung an Russland heiraten sie heimlich. Doch der beginnende Konflikt reißt die Liebenden auseinander.

Winter der Welt

Seit dem Ersten Weltkrieg ist eine neue Generation herangewachsen. Nun spitzt sich die Lage in Europa erneut gefährlich zu. In dieser dramatischen Zeit versuchen drei junge Menschen heldenhaft ihr Schicksal zu meistern.

Der Engländer Lloyd Williams wird Zeuge der Machtergreifung Hitlers und der Nationalsozialisten. Er entschließt sich, gegen den Faschismus zu kämpfen, und meldet sich freiwillig als Soldat im Spanischen Bürgerkrieg.

Die deutsche Adelige Carla von Ulrich ist entsetzt über das Unrecht, das im Namen des Volkes geschieht. Sie geht in den Widerstand und bringt damit sich und ihre Familie in höchste Gefahr.

Die lebenshungrige Amerikanerin Daisy hingegen träumt nur vom sozialen Aufstieg. Sie heiratet einen englischen Lord – aber ihr Mann steht auf Seiten der Faschisten …

Kinder der Freiheit

Der Krieg ist zu Ende, doch die Welt ist noch immer in Aufruhr. In Berlin wird eine Mauer errichtet, die Ost und West trennt und Millionen Familien zerstört. Nicht alle finden sich damit ab – trotz der Gefahr für Leib und Leben. Zur gleichen Zeit kämpfen die Schwarzen in Amerika für ihre Bürgerrechte, und die USA und die Sowjetunion stürzen sich in eine Auseinandersetzung, die die Welt an den Rand der Katastrophe führt. Wem kann man noch trauen in dieser Zeit, in der die Welt mehr als einmal am Abgrund steht?

Über den Autor

Ken Follett, geboren 1949 in Cardiff, Wales, gehört zu den erfolgreichsten Autoren der Welt. Berühmt wurde er mit Die Säulen der Erde und deren Fortsetzung Die Tore der Welt, die beide auch erfolgreich verfilmt wurden. Kinder der Freiheit ist nach Sturz der Titanen und Winter der Welt der Abschluss seiner groß angelegten Jahrhundertsaga, in der er meisterhaft die spannende Chronik des 20. Jahrhunderts anhand der Geschichte von fünf miteinander verbundenen Familien aus Amerika, Deutschland, Russland, England und Wales erzählt. Neben seinem Interesse für Geschichte engagieren sich Ken Follett und seine Frau Barbara auch politisch. Außerdem spielt er zum Vergnügen Bass-Gitarre in einer Bluesband und setzt sich im Rahmen einer Stiftung für die Leseförderung ein.

Ken Follett

DIE JAHRHUNDERT-SAGA

Aus dem Englisch von Dietmar Schmidt
und Rainer Schumacher

BASTEI ENTERTAINMENT

Ken Follett

STURZ DER TITANEN

DIE JAHRHUNDERT-SAGA

Roman

Übersetzung aus dem Englischen
von Dietmar Schmidt und Rainer Schumacher

Dem Andenken meiner Eltern
Martin und Veenie Follett.

PERSONENVERZEICHNIS

AMERIKANER

Familie Dewar

Senator Cameron Dewar

Ursula Dewar, seine Frau

Gus Dewar, ihr Sohn

Familie Vyalov (vormals Wjalow)

Joseph Vyalov, Geschäftsmann

Lena Vyalov, seine Frau

Olga Vyalov, ihre Tochter

Andere

Rosa Hellman, Reporterin

Chuck Dixon, Schulfreund von Gus

Marga, eine Nachtclubsängerin

Nick Forman, ein Dieb

Ilya, Schläger

Theo, Schläger

Norman Niall, verschlagener Buchhalter

Brian Hall, Gewerkschaftsführer

Historische Persönlichkeiten

Woodrow Wilson, 28. Präsident der Vereinigten Staaten

William Jennings Bryan, Außenminister

Joseph Daniels, Marineminister

DEUTSCHE UND ÖSTERREICHER

Familie von Ulrich

Otto von Ulrich, Diplomat

Susanne von Ulrich, seine Frau

Walter von Ulrich, ihr Sohn, Militärattaché der deutschen Botschaft in London

Greta von Ulrich, ihre Tochter

Graf Robert von Ulrich, Walters Cousin zweiten Grades, Militärattaché der österreichischen Botschaft in London

Andere

Gottfried von Kessel, Kulturattaché der deutschen Botschaft in London

Monika von der Helbard, Gretas beste Freundin

Historische Persönlichkeiten

Fürst Karl Lichnowsky, deutscher Botschafter in London

General der Infanterie Paul von Hindenburg

Generalmajor Erich Ludendorff

Theobald von Bethmann Hollweg, Reichskanzler

Arthur Zimmermann, Außenminister

ENGLÄNDER UND SCHOTTEN

Familie Fitzherbert

Earl Edward Fitzherbert, genannt Fitz

Fürstin Elizabeta, genannt Bea, seine Frau

Lady Maud Fitzherbert, seine Schwester

Lady Hermia, genannt Tante Herm, ihre verarmte Tante

Die Herzogin von Sussex, ihre reiche Tante

Gelert, Pyrenäenberghund

Grout, Fitz’ Butler

Sanderson, Mauds Zofe

Andere

Mildred Perkins, Ethels Mieterin

Bernie Leckwith, Sekretär der Unabhängigen Arbeiterpartei in Aldgate

Bing Westhampton, Fitz’ Freund

Marquess von Lowther, »Lowthie«, zurückgewiesener Freier von Maud

Albert Solman, Fitz’ Bevollmächtigter

Dr. Greenward, ehrenamtlicher Arzt in der Armenklinik

Lord »Johnny« Remarc, Staatssekretär im Kriegsministerium

Colonel Hervey, Adjutant von Sir John French

Mannie Litov, Fabrikbesitzer

Jock Reid, Schatzmeister der Unabhängigen Arbeiterpartei in Aldgate

Jayne McCulley, Soldatenfrau

Historische Persönlichkeiten

König George V.

Queen Mary

Mansfield Smith-Cumming, genannt »C«, Direktor des britischen Auslandsgeheimdienstes (des späteren MI6)

Sir Edward Grey, Außenminister

Sir William Tyrrell, Privatsekretär von Sir Edward Grey

Frances Stevenson, Geliebte von Lloyd George

Winston Churchill, liberaler Abgeordneter

H. H. Asquith, Premierminister

Field Marshal Sir John French, Oberbefehlshaber des britischen Expeditionskorps

FRANZOSEN

Gini, ein Barmädchen

Colonel Dupuys, Adjutant von Général Galliéni

Général Lourceau, Adjutant von Général Joffre

Historische Persönlichkeiten

Général Joffre, Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte

Général Galliéni, Militärgouverneur der Garnison von Paris

RUSSEN

Familie Peschkow

Grigori Peschkow, Metallarbeiter

Lew Peschkow, Stallbursche

Putilow-Werke

Konstantin, Industriedreher, Vorsitzender der bolschewistischen Diskussionsgruppe

Isaak, Kapitän der Werksfußballmannschaft

Warja, Arbeiterin, Konstantins Mutter

Sergej Kanin, Fertigungsleiter der Gießerei

Graf Malakowski, Direktor

Andere

Michail Pinsky, Reviervorsteher

Ilja Koslow, sein Handlanger

Nina, Zofe von Fürstin Bea

Fürst Andrej, Beas Bruder

Katherina, ein Bauernmädchen, neu in der Stadt

Mischka, Wirt

Trofim, ein Gangster

Fjodor, korrupter Polizist

Spirja, Passagier auf der Erzengel Gabriel

Jakow, Passagier auf der Erzengel Gabriel

Anton, Beamter in der russischen Botschaft in London und deutscher Spion

Sergeant Iwanow

Leutnant Tupolew

Historische Persönlichkeiten

Wladimir Iljitsch Lenin, Führer der bolschewistischen Partei

Lew Davidowitsch Trotzki

WALISER

Familie Williams

David Williams, Gewerkschafter, genannt »Dah«

Cara Williams, seine Frau, genannt »Mam«

Ethel Williams, ihre Tochter

Billy Williams, ihr Sohn

Gramper, Mams Vater

Familie Griffiths

Len Griffiths, Atheist und Marxist

Mrs. Griffiths

Tommy Griffiths, Lens Sohn und Billy Williams’ bester Freund

Familie Ponti

Mrs. Minnie Ponti

Giuseppe »Joey« Ponti

Giovanni »Johnny« Ponti, sein jüngerer Bruder

Bergleute

David Crampton, »Dai Crybaby«

Harry »Suet« Hewitt

John Jones the Shop

Dai Chops, Metzgerssohn

Pat Pope, Anschläger

Micky Pope, Pats Sohn

Dai Ponies, Pferdetreiber

Bert Morgan

Bergwerksleitung

Perceval Jones, Generaldirektor von Celtic Minerals

Maldwyn Morgan, Grubendirektor

Rhys Price, Steiger

Arthur »Spotty« Llewellyn, Sekretär

Dienerschaft in Ty Gwyn

Peel, Butler

Mrs. Jevons, Haushälterin

Morrison, Diener

Andere

Dai Schiss

Mrs. Dai Ponies

Mrs. Roley Hughes

Mrs. Hywel Jones

Private George Barrow, B-Kompanie

Private Robin Mortimer, degradierter Offizier, B-Kompanie

Private Owen Bevin, B-Kompanie

Sergeant Elijah »Prophet« Jones, B-Kompanie

Second Lieutenant James Carlton-Smith, B-Kompanie

Captain Gwyn Evans, A-Kompanie

Second Lieutenant Roland Morgan, B-Kompanie

Historische Persönlichkeiten

David Lloyd George, liberaler Parlamentsabgeordneter

PROLOG

Initiation

1 KAPITEL

22. Juni 1911

An dem Tag, als George V. in der Westminster Abbey den Thron bestieg, fuhr Billy Williams zum ersten Mal in die Grube von Aberowen ein.

Es war Billys dreizehnter Geburtstag.

Sein Vater weckte ihn mit einer eher zweckmäßigen als sanften Methode: Rhythmisch klatschte er den Handrücken gegen Billys Wange. Billy, aus dem Schlaf geholt, versuchte anfangs, die unsanfte Behandlung nicht zu beachten, doch Dah hörte einfach nicht damit auf. Billy wollte schon wütend werden, als ihm einfiel, dass er aufstehen musste, sogar wollte. Er öffnete die Augen und setzte sich auf.

»Vier Uhr«, sagte Dah und verschwand wieder. Seine Stiefel bollerten auf den hölzernen Stufen, als er die Treppe hinunterstieg.

Billys großer Tag war gekommen. Heute würde er in der Zeche von Aberowen sein Arbeitsleben als Grubenjunge beginnen, so wie vor ihm die meisten Männer in dem südwalisischen Ort, als sie in Billys Alter gekommen waren. Nur hätte Billy sich jetzt gerne ein bisschen mehr wie ein Bergmann gefühlt … Er musste an David Crampton denken, der an seinem ersten Tag in der Zeche geflennt hatte und den man seitdem »Crybaby« nannte, Heulsuse, obwohl er schon fünfundzwanzig war und die große Hoffnung der örtlichen Rugbymannschaft. Billy war entschlossen, sich nicht zum Gespött zu machen.

Gestern war Sommersonnenwende gewesen, und das Licht des frühen Morgens fiel durch das winzige Fenster. Billy blickte auf seinen Großvater, der im gleichen Bett neben ihm lag. Gramper hatte die Augen offen. Er sagte immer, alte Leute bräuchten nicht viel Schlaf. Wahrscheinlich war er deshalb immer wach, egal, wann Billy aufstand.

Billy stieg aus dem Bett. Er trug nur seine Unterhose. Bei kaltem Wetter behielt er zum Schlafen auch das Hemd an, doch es war ein warmer Frühsommer in diesem Jahr, und die Nächte waren mild.

Billy zog den Nachttopf unter dem Bett hervor, nahm den Deckel ab und zog seinen »Peter« aus der Hose, wie er ihn bei sich nannte, um zu pinkeln. Traurig betrachtete Billy das noch immer kindlich kleine Ding. Seine stille Hoffnung, sein Peter würde in der Nacht vor seinem Geburtstag wachsen oder dass da unten wenigstens irgendwo ein schwarzes Haar sprießte, wurde bitter enttäuscht. Neidvoll dachte Billy an seinen besten Freund, Tommy Griffiths, der auf den Tag genauso alt war wie er selbst. Tommy hatte schon dunklen Flaum auf der Oberlippe, seine Stimme wurde tiefer, und sein Peter sah aus wie der eines Mannes. Es war niederschmetternd.

Während Billy so in den Topf pinkelte, schaute er aus dem Fenster auf die Halde, ein schmutzig graues Massiv, gewachsen aus dem Abraum aus der Zeche, hauptsächlich Schiefer und Sandstein. So muss die Erde am zweiten Tag der Schöpfung ausgesehen haben, überlegte Billy, bevor Gott die Pflanzen erschaffen hatte, indem er sprach: »Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut.« Ein leichter Wind trieb feinen schwarzen Staub von der Halde zu den Häuserreihen.

Im Zimmer war noch weniger zu sehen als draußen. Es lag im hinteren Teil des Hauses, ein winziger Verschlag, gerade groß genug für ein Bett, eine Kommode und Grampers alte Kiste. An der Wand hing ein gestickter Spruch:

GLAUBE AN JESUS CHRISTUS
UNSEREN HERRN
UND DU SOLLST
ERRETTET WERDEN

Einen Spiegel gab es nicht.

Eine Tür führte zum Fuß der Treppe, eine weitere zu dem zweiten Schlafzimmer, das nach vorn rausging und nur durch Billys Kammer betreten werden konnte. Das andere Zimmer war größer und hatte Platz für zwei Betten, in denen Dah und Mam schliefen. Auch Billys Schwestern hatten in dem Zimmer geschlafen, aber das war lange her. Ethel, die Älteste, hatte das Haus verlassen, und die anderen drei waren gestorben: eine an den Masern, eine am Keuchhusten, eine an Diphtherie. Billy hatte auch einen älteren Bruder gehabt, Wesley, mit dem er in einem Bett geschlafen hatte, ehe Gramper zu ihnen gezogen war. Wesley war unter Tage von einem Hunt überrollt worden, einem der Förderwagen, in denen man die Kohle transportierte.

Billy streifte sich sein Hemd über, das gleiche, das er gestern noch zur Schule angehabt hatte. Heute war Donnerstag, und er wechselte sein Hemd nur sonntags. Doch Billys Hose war neu – seine erste lange Hose. Sie war aus Englischleder, einem dicken, Wasser abweisenden Baumwollstoff. Stolz streifte Billy die Hose über, verkörperte sie doch so etwas wie den Eintritt in die Welt der Männer. Der schwere Stoff fühlte sich derb und irgendwie männlich an. Billy schnallte sich den dicken Ledergürtel um, stieg in die Stiefel, die er von Wesley geerbt hatte, und ging nach unten.

Den größten Teil des Erdgeschosses nahm die Wohnküche in Beschlag – ein bescheidenes Zimmer, fünfzehn Fuß im Geviert. In der Mitte stand ein Tisch, an einer Wand war ein Kamin, und auf dem Steinfußboden lag ein selbst geknüpfter Teppich. Dah saß am Tisch, die Brille auf der langen, spitzen Nase, und las in einer alten Ausgabe der Daily Mail. Mam goss Tee auf. Als sie Billy erblickte, setzte sie den dampfenden Wasserkessel ab und küsste ihren Sohn auf die Stirn. »Und wie geht’s meinem kleinen Mann an seinem Geburtstag?«

Billy, leicht verärgert, antwortete nicht. Das »klein« verletzte ihn, denn er war klein, und das »Mann« war nicht weniger schmerzlich, weil er eben noch kein Mann war. Er schlurfte in die Küche an der Hinterseite des Hauses, tauchte eine Blechschüssel ins Wasserfass und wusch sich Hände und Gesicht; dann goss er das Wasser in den flachen Spülstein. Der Waschkessel über dem Feuerrost wurde nur benutzt, wenn am Samstagabend das Badewasser erhitzt wurde.

Aber bald sollten sie fließendes Wasser bekommen. Mehrere Bergmannshäuser, darunter das von Tommy Griffiths’ Familie, waren schon an die Leitung angeschlossen. Billy hatte Bauklötze gestaunt, als Tommy ihm gezeigt hatte, wie man eine Tasse kaltes klares Wasser bekam, indem er einfach nur am Hahn drehte, ohne dass man einen Eimer zum Standrohr auf der Straße tragen musste. Doch bis zur Wellington Row, wo die Williams wohnten, war das fließende Wasser noch nicht vorgedrungen.

Billy kehrte in die Stube zurück und setzte sich an den Tisch. Mam stellte ihm eine große Tasse Tee mit Milch hin, in den sie bereits Zucker eingerührt hatte. Dann schnitt sie Billy zwei dicke Scheiben selbst gebackenes Brot ab und holte Schmalz aus der Speisekammer unter der Treppe. Billy faltete die Hände, schloss die Augen und sagte: »Danke-o-Herr-für-diese-Speise-Amen.« Dann trank er einen Schluck Tee und strich dick Schmalz auf sein Brot.

Dahs hellblaue Augen blickten über den Rand der Zeitung. »Tu dir Salz drauf«, sagte er. »Unter Tage schwitzt du.«

Billys Vater war Funktionär der südwalisischen Bergarbeitergewerkschaft, der stärksten Gewerkschaft in Großbritannien, wie er bei jeder Gelegenheit hervorhob. Das hatte ihm den Namen »Dai Union« eingetragen, wobei Dai die Kurzform für David war – oder »Dafydd« auf Walisisch, ein beliebter Name in Wales, war der heilige David doch der Schutzpatron des Landes. Die vielen »Dais« unterschied man nicht an ihren Nachnamen – in der Stadt hießen fast alle Jones, Williams, Evans oder Morgan –, sondern anhand eines Spitznamens, wobei eine humorvolle Variante bevorzugt wurde. Billy zum Beispiel hieß William Williams, also nannten ihn alle »Billy Twice«, den »doppelten Billy«. Und Mam wurde »Mrs. Dai Union« genannt, da Frauen oft den Spitznamen ihres Mannes bekamen.

Gramper kam herunter, als Billy seine zweite Schnitte Brot aß. Trotz des warmen Wetters trug er Jacke und Weste. Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, setzte er sich Billy gegenüber an den Tisch. »Nun guck nicht so bang«, sagte er. »Ich war zehn, wie ich das erste Mal eingefahren bin. Mein Vater war noch jünger, erst fünf, und er musste von sechs am Morgen bis sieben am Abend schuften. Von Oktober bis März hat er kein Mal das Tageslicht gesehn.«

»Ich bin nicht bang«, widersprach Billy, obwohl ihm die Angst im Magen wühlte.

Aber Gramper, freundlich wie immer, ging nicht weiter darauf ein. Billy mochte Gramper sehr, denn er behandelte ihn wie einen erwachsenen Mann. Dah hingegen war streng und konnte ziemlich scharfzüngig sein, und Mam behandelte ihn wie ein Baby.

»Hört euch das mal an«, sagte Dah und löste den Blick von der Zeitung. Er hätte sich niemals eine Mail gekauft – in seinen Augen war sie ein konservatives Käseblatt –, doch wenn jemand ein Exemplar liegen gelassen hatte, brachte er es mit nach Hause und las dann mit verächtlicher Stimme daraus vor, voller Spott für die Dummheit und Unehrlichkeit der herrschenden Klasse. »›Lady Diana Manners, jüngere Tochter des Herzogs von Rutland, zog Unwillen auf sich, als sie auf zwei verschiedenen Bällen das gleiche Kleid trug. Für ihr Ensemble aus schulterfreiem Fischbeinstäbchenoberteil und Reifrock hatte Lady Diana auf dem Savoy Ball zweihundertfünfzig Guineas Preisgeld erhalten …‹« Dah senkte die Zeitung und sagte: »Dafür musst du fünf Jahre schuften, Billy-Boy.« Dann fuhr er fort: »›… was sie jedoch nicht daran hinderte, in demselben Gewand zum Empfang Lord Wintertons und F. E. Smiths im Hotel Claride zu erscheinen, worauf sie sich das Naserümpfen der Kenner zuzog. Man kann des Guten auch zu viel tun, sagten die Leute.‹« Wieder hob Dah den Blick. »Schlüpf bloß in ’n anderes Ensemble, Mam«, sagte er. »Oder willste dir das Naserümpfen der Kenner zuziehen?«

Mam fand das gar nicht komisch. Sie trug ein altes braunes Wollkleid mit Flicken auf den Ellbogen und fleckigen Achseln. »Ich weiß zwar nicht, was ’n Ongsombel ist, aber wenn ich zweihundertfünfzig Guineas hätte, würde ich besser aussehen als Lady Diana Dingsbums«, erwiderte sie nicht ohne Bitterkeit.

»Da hat se recht«, sagte Gramper. »Cara war immer schon die Hübscheste, genau wie ihre Mutter.« Gramper schaute Billy an. »Deine Großmutter war ’ne Italienerin, weißte. Maria Ferrone hat sie geheißen.« Das wusste Billy längst, aber Gramper erzählte gerne die alten Familiengeschichten, immer und immer wieder. »Von der ha’m deine Mam und deine Schwester ihre schwarzen Haare und die schönen dunklen Augen. Und deine Oma war das schönste Mädchen in ganz Cardiff, und ich hab sie gekriegt.« Plötzlich blickte er traurig drein. »Ach, war’n das Nächte!«, fügte er wehmütig hinzu.

Dah runzelte missbilligend die Stirn, schwangen in solchen Worten doch fleischliche Gelüste mit, aber Mam freute sich über die Komplimente und lächelte, als sie Gramper das Frühstück vorsetzte. »Ja«, sagte sie. »Ich und meine Schwester, wir hätten den feinen Pinkeln schon gezeigt, was ein schönes Mädchen ist, wenn wir Geld für Seide und Spitze gehabt hätten.«

Billy staunte. Er hätte seine Mutter nie als schön angesehen, musste aber einräumen, dass sie ganz nett aussah, wenn sie sich für das Gemeindetreffen am Samstagabend herausputzte, besonders mit Hut. Vielleicht war sie wirklich mal hübsch gewesen, doch irgendwie konnte Billy es sich schwer vorstellen.

»Und die Familie von deiner Oma, Billy-Boy, das waren alles kluge Leute«, fuhr Gramper fort. »Mein Schwager war Bergmann, weißte, bis er in Tenby ein Café eröffnet hat. Das is’ mal ’n Leben – immer frische Seeluft und den ganzen Tag nix anderes tun als Kaffee kochen und Geld zählen!«

Dah sagte: »Hört mal, was hier steht. ›Im Rahmen der Krönungsvorbereitungen hat der Buckingham Palace ein Anleitungsbuch von zweihundertzwölf Seiten Umfang herausgegeben.‹« Er blickte über den Zeitungsrand. »Sag das den Jungs unter Tage, Billy-Boy. Die werden erleichtert sein, dass unser Königshaus nichts dem Zufall überlässt.«

Billy interessierte sich nicht besonders für das Königshaus, eher schon für die Abenteuergeschichten, die ab und zu in der Mail standen, Geschichten über tapfere, Rugby spielende Eliteschüler, die hinterhältigen deutschen Spionen das schmutzige Handwerk legten. Glaubte man der Mail, wimmelte es in jeder britischen Stadt von deutschen Agenten. Nur um Aberowen schienen sie zu Billys Enttäuschung einen weiten Bogen zu machen.

Billy stand auf. »Ich geh mal die Straße runter«, verkündete er und verschwand durch die Vordertür. »Die Straße runtergehen« bedeutete, dass man zum öffentlichen Abort ging. Auf halber Höhe der Wellington Row stand über einem tiefen Erdloch ein niedriger Ziegelbau mit Wellblechdach. Der Bau war in zwei Hälften geteilt, eine für Männer, die andere für Frauen. Jede Hälfte hatte zwei Sitze, sodass man jeweils zu zweit aufs Klo ging. Niemand wusste, weshalb die Erbauer diese Anordnung gewählt hatten, aber alle machten das Beste daraus: Die Männer blickten stier nach vorn und hüllten sich in Schweigen, während die Frauen munter drauflos schwatzten. Der Gestank war pestilenzialisch, selbst dann noch, wenn man ihn sein Leben lang kannte. Wenn Billy auf dem Donnerbalken saß, versuchte er jedes Mal, so lange wie möglich den Atem anzuhalten; wenn er dann ins Freie kam, schnappte er nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Regelmäßig wurde die Jauche von einem Mann aus dem Loch geschaufelt, den man folgerichtig »Dai Schiss« nannte.

Als Billy wieder ins Haus kam, sah er zu seiner Freude seine Schwester Ethel am Tisch sitzen. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Billy!«, rief sie. »Ich musste einfach kommen und dir ’nen Kuss geben, ehe du einfährst.«

Ethel war achtzehn, und anders als bei Mam fiel es Billy überhaupt nicht schwer, sie als hübsch einzustufen. Ihre mahagonibraunen Locken ließen sich kaum bändigen, und in ihren dunklen Augen funkelte der Schalk. Vielleicht hatte Mam früher auch so ausgesehen. Ethel trug das schlichte schwarze Kleid und das weiße Baumwollhäubchen eines Hausmädchens, und es stand ihr gut.

Billy vergötterte Ethel. Sie war nicht nur hübsch, sie war auch lustig, klug und tapfer, und manchmal bot sie sogar Dah die Stirn. Sie erzählte Billy von Dingen, die ihm sonst niemand erklären wollte, zum Beispiel, dass Frauen jeden Monat ein paar Tage lang den »Fluch« hatten, wie Ethel es nannte, oder was die »öffentliche Unzucht« gewesen war, die den anglikanischen Pfarrer gezwungen hatte, fluchtartig die Stadt zu verlassen. In der Schule war Ethel immer die Klassenbeste gewesen; mit ihrem Aufsatz »Mein Heimatort« hatte sie bei einem Wettbewerb des South Wales Echo sogar den ersten Preis gewonnen: ein Exemplar von Cassells Weltatlas.

Sie küsste Billy auf die Wange. »Ich hab unserer Haushälterin gesagt, dass uns die Stiefelwichse ausgegangen ist und dass ich welche aus der Stadt hole.« Ethel wohnte und arbeitete auf Ty Gwyn, dem Herrenhaus von Earl Fitzherbert eine Meile den Hügel hinauf. »Hier.« Sie reichte Billy ein sauberes Tuch, in das etwas eingeschlagen war. »Ich hab ein Stück Kuchen für dich geklaut.«

»Oh, danke, Eth!«, rief Billy. Kuchen aß er für sein Leben gern.

Mam fragte: »Soll ich den Kuchen in deine Brotdose tun, Billy?«

»Ja, bitte, danke.«

Mam holte eine Blechdose aus dem Schrank und legte den Kuchen hinein. Dann schnitt sie noch zwei Brotscheiben ab, bestrich sie mit Schmalz, streute Salz darauf und legte sie zu dem Kuchen. Alle Bergleute hatten Brotdosen aus Blech. Hätten sie ihr Essen in ein Tuch eingehüllt mit unter Tage genommen, hätten die Mäuse es ihnen noch vor dem ersten »Buttern« – der ersten Pause – weggefressen.

»Wenn du deinen ersten Lohn nach Hause bringst«, sagte Mam, »kriegst du eine Scheibe gebratenen Speck aufs Brot.«

Viel würde Billy anfangs nicht verdienen, doch seine Familie konnte das Geld gut gebrauchen. Er fragte sich, wie viel Mam ihm als Taschengeld lassen würde und ob er jemals genug sparen könnte, um sich das Fahrrad zu kaufen, das er sich mehr wünschte als alles andere auf der Welt.

Ethel setzte sich wieder an den Tisch.

»Wie geht’s denn so zu im großen Haus?«, fragte Dah.

»Oooch, ganz ruhig«, antwortete Ethel. »Der Earl und die Fürstin fahren zur Krönung nach London!« Sie schaute zu der Uhr auf dem Kaminsims. »Sie müssen gleich aufstehen, damit sie früh genug in der Abbey sind. Na, das wird ihr gar nicht gefallen, weil sie immer lange im Bett liegt, aber beim König darf nicht einmal sie zu spät kommen.« Die Frau des Earls, Bea, war eine russische Fürstin und überaus vornehm.

»Sie wollen bestimmt vorne sitzen, damit sie den ganzen Zirkus sehen können, was?«

»Nein, nein, man kann sich nicht einfach hinsetzen, wo man will«, sagte Ethel. »Jeder hat einen eigenen Mahagonistuhl mit seinem Namen in Goldschrift hintendrauf. Für die Feier sind eigens sechstausend Stühle gemacht worden.«

»Na, datt nenn ich Verschwendung!«, rief Gramper. »Watt machen se denn nachher damit?«

»Weiß nicht. Vielleicht tut jeder seinen Stuhl als Andenken mit nach Hause nehmen.«

Dah meinte trocken: »Sag ihnen, wenn einer übrig bleibt, sollen sie ihn uns schicken. Wir sind nur fünf, und deine arme alte Mam muss stehen.«

Wenn Dah sich flapsig gab, steckte manchmal eine Stinkwut dahinter. Ethel sprang auf. »Oh, tut mir leid, Mam, ich hab nicht nachgedacht.«

»Bleib nur sitzen.« Mam winkte ab. »Ich hab sowieso keine Zeit.«

Die Uhr schlug fünf. »Am besten, du bist ein bisschen früher da, Billy-Boy«, sagte Dah. »Damit von vornherein alle wissen, dass du dabeibleiben willst.«

Billy erhob sich widerstrebend und nahm seine Brotdose.

Ethel küsste ihn noch einmal, und Gramper schüttelte ihm die Hand. Dah reichte ihm zwei rostige, verbogene Sechszollnägel. »Steck sie dir in die Hosentasche.«

»Wozu?«, fragte Billy.

»Tust schon sehen«, entgegnete Dah lächelnd.

Mam reichte Billy eine Literflasche aus Blech mit Schraubverschluss, in der kalter Tee mit Milch und Zucker war. »Vergiss nicht, dass der Herr Jesus immer bei dir ist, auch unten in der Grube.«

»Ja, Mam.«

Billy sah Tränen in ihren Augen und wandte sich rasch ab, weil auch ihm plötzlich zum Heulen zumute war. Er nahm seine Mütze vom Haken. »Bis dann«, sagte er so leichthin, als wollte er zur Schule, und ging zur Vordertür hinaus.

Der Frühsommer war bisher sonnig gewesen, doch heute war es bedeckt, und es sah nach Regen aus. Tommy lehnte an der Hauswand und wartete. »Aye, aye, Billy«, sagte er.

»Aye, aye, Tommy.«

Seite an Seite gingen die Jungen die Straße hinunter.

Aberowen, hatte Billy in der Schule gelernt, war früher ein Marktflecken für die Bauern der Umgegend gewesen. Vom höchsten Punkt der Wellington Row blickte man auf den alten Markt mit den offenen Pferchen für das Vieh, die Wollbörse und die anglikanische Kirche, die alle auf der gleichen Seite des Flusses Owen lagen, der eigentlich kaum mehr war als ein Bach. Jetzt durchschnitt ein Eisenbahngleis die Stadt wie eine hässliche Wunde und endete an den Tagesanlagen der Zeche. Die Häuser der Bergleute standen auf den Talhängen. Hunderte grauer Steinhäuschen mit Dächern aus dunklem walisischem Schiefer reihten sich in langen Serpentinen an den terrassenartig ansteigenden Hügeln. Kürzere Straßen querten die Häuserreihen und führten hinunter zur Talsohle.

»Was glaubste, bei wem du arbeiten tust?«, fragte Tommy.

Billy zuckte mit den Schultern. Die Neuen wurden einem Steiger zugeteilt. »Kann man nich’ wissen.«

»Ich hoffe, mich tun se in die Ställe.« Tommy mochte Pferde, und im Bergwerk gab es mehr als fünfzig Ponys. Sie zogen die kohlegefüllten Hunte über die Gleise. »Und was für ’ne Arbeit willst du machen?«

Billy hoffte, dass er in keine der »Knochenmühlen« kam, wie Dah es nannte. »Ich würde gerne Hunte schmieren.«

»Warum?«

»Ist nich’ so schwer, glaub ich.«

Sie gingen an der Schule vorbei, die sie gestern noch besucht hatten – ein viktorianisches Gebäude mit spitzen Fenstern wie in einer Kirche. Die Schule war von der Familie Fitzherbert errichtet worden, wie der Rektor die Schüler immerzu erinnerte. Der Earl ernannte die Lehrer und gab auch den Lehrplan vor. An den Wänden hingen Gemälde, die Szenen aus Englands glorreicher Vergangenheit zeigten, und jeder Schultag begann mit einer Religionsstunde, in der den Schülern die strenge anglikanische Doktrin eingebläut wurde, obwohl fast alle aus Freikirchler-Familien kamen. Die Schule hatte einen Verwaltungsausschuss, der aber gar nichts verwalten durfte, sondern nur beratende Funktion hatte. Dah, der dem Ausschuss angehörte, sagte immer, der Earl behandle die Schule wie sein persönliches Eigentum.

In ihrem letzten Jahr waren Billy und Tommy in den Grundlagen des Bergbaus unterrichtet worden, während die Mädchen das Nähen und Kochen lernen mussten. Zu seinem Erstaunen hatte Billy erfahren, dass der Boden unter ihren Füßen aus unterschiedlichen Erdschichten bestand, wie ein Berg gigantischer Butterbrote. Auch ein Kohlenflöz – ein Begriff, den Billy sein Leben lang gehört hatte, ohne ihn richtig zu verstehen – war eine solche Erdschicht. Die Kohle selbst, hatte Billy gelernt, bestand aus totem Laub und anderen Pflanzenresten, die sich in Tausenden von Jahren angesammelt hatten und vom Gewicht der Erde zusammengepresst worden waren. Für Tommys Vater, einen Atheisten, war dies der Beweis, dass die Bibel unrecht hatte, während Billys Dah sich auf den Standpunkt stellte, dies sei nur eine von vielen möglichen Erklärungen.

Die Schule war um diese Zeit noch leer, der Hof verlassen. Billy war stolz, die Schule hinter sich zu haben, hegte jetzt aber den heimlichen Wunsch, dorthin zurückzukönnen, statt in die Grube einzufahren.

Je näher sie den Tagesanlagen kamen, desto mehr Bergleute waren auf der Straße. Jeder hatte seine Brotdose und seine Teeflasche dabei, und alle trugen die gleichen alten Anzüge, die ausgezogen wurden, sobald die Kumpel vor Ort waren. In manchen Bergwerken herrschte unter Tage bittere Kälte; Aberowen jedoch war eine warme Kohlenmine, und die Männer arbeiteten in Unterwäsche und Schuhen oder in den kurzen Hosen aus grobem Leinen, die sie »Bannickers« nannten. Jeder trug die ganze Zeit eine gepolsterte Kappe, weil die Decken niedrig waren und man sich am »Hangenden« leicht den Kopf stoßen konnte.

Über die Häuser hinweg sah Billy die Hängebank am oberen Schachtende und die beiden großen Räder am Förderturm, die sich in entgegengesetzte Richtungen drehten und die Seile bewegten, an denen der Korb in die Tiefe gesenkt oder heraufgezogen wurde. Was die Kirchtürme in den Bauerndörfern, waren die Fördertürme in den Bergbaugemeinden der südwalisischen Täler.

Andere Gebäude scharten sich um die Tagesöffnung, wie achtlos dorthin geworfen: die Schachtkaue mit Lampenraum und Grubendirektion, die Schmiede und die Magazine. Schienen schlängelten sich zwischen den Bauten. Auf dem Schrottplatz lagen zerbrochene Hölzer, aufgerissene Futtersäcke, ausrangierte Förderwagen und verrostete Maschinenteile, alles von einer Schicht aus Kohlenstaub bedeckt. Dah sagte immer, es würde weniger Unfälle geben, wenn die Bergleute mehr Ordnung hielten.

Billy und Tommy betraten die Grubendirektion. Im Vorzimmer saß Arthur Llewellyn, ein Schreiber, der kaum älter war als die beiden Jungen. Wegen seines Pickelgesichts wurde er »Spotty« genannt. Kragen und Manschetten seines weißen Hemds waren schmutzig. Billy und Tommy wurden bereits erwartet. Spotty trug ihre Namen in ein Buch ein, ehe er sie ins Büro des Direktors führte, wo er sie mit den Worten ankündigte: »Der junge Tommy Griffiths und der junge Billy Williams, Mr. Morgan.«

Maldwyn Morgan war ein großer Mann in einem schwarzen Anzug. Kein Kohlenstaub verunzierte seine Manschetten; keine Bartstoppeln störten die Glätte seiner rosigen Wangen. Sein Ingenieursdiplom hing gerahmt an der Wand, und seine schwarze Melone – ein weiteres Abzeichen seines Standes – lag auf dem Kleiderständer neben der Tür.

Zu Billys Überraschung war Morgan nicht allein. Neben ihm stand eine noch beeindruckendere Gestalt: Perceval Jones, Generaldirektor von Celtic Minerals, dem Bergbauunternehmen, dem die Zeche in Aberowen und andere Minen gehörten. Jones war ein kleiner, reizbarer Mann, den die Bergleute »Napoleon« nannten, wenn sie unter sich waren. Er trug Morgenkleidung, einen schwarzen Frack, einen hohen Zylinderhut von gleicher Farbe und gestreifte graue Hosen.

Generaldirektor Jones musterte die Jungen voller Abscheu. »Griffiths«, spie er hervor. »Dein Vater ist ein Sozialist und Revolutionär.«

»Jawohl, Mr. Jones«, sagte Tommy.

»Und Atheist noch dazu.«

»Jawohl, Mr. Jones.«

Jones wandte sich Billy zu. »Und dein Erzeuger ist Gewerkschaftsfunktionär bei der South Wales Miners’ Foundation.«

»Jawohl, Mr. Jones.«

»Sozialisten hasse ich. Atheisten droht die ewige Verdammnis. Und Gewerkschafter sind die Schlimmsten von allen!«

Er starrte die Jungen drohend an, hatte aber keine Frage gestellt, also sagte Billy nichts.

»Ich will hier keine Unruhestifter!«, polterte Jones. »Im Rhondda-Tal wurde dreiundvierzig Wochen gestreikt, weil Rabauken wie eure Väter die Arbeiter aufgewiegelt haben.«

Billy wusste, dass der Streik im Rhondda-Tal keineswegs von Unruhestiftern, sondern von den Besitzern der Grube Ely bei Penygraig verursacht worden war, die ihre Arbeiter ausgesperrt hatten. Doch er hielt den Mund.

»Seid ihr ebenfalls Unruhestifter?« Generaldirektor Jones zeigte mit einem knochigen Finger auf Billy, worauf dieser zu zittern begann. »Hat dein Vater dir gesagt, du sollst auf deine Rechte pochen, wenn du für mich arbeitest?«

Billy versuchte nachzudenken, auch wenn es ihm schwerfiel, weil Jones ihn so finster anstarrte. Dann fiel ihm ein Ratschlag ein, den Dah ihm gestern Abend erteilt hatte: »Bitte, Sir, er hat zu mir gesagt: ›Sei nicht frech zu den Bossen, das ist mein Job.‹«

In Billys Rücken kicherte Spotty Llewellyn.

Generaldirektor Jones fand die Bemerkung gar nicht komisch. »Unverschämter Bengel! Am liebsten würde ich dich davonjagen, aber dann streikt mir noch das ganze Tal.«

Auf den Gedanken wäre Billy nie gekommen. War er so wichtig? Nein, das wohl nicht. Aber vielleicht würden die Bergleute tatsächlich dafür streiken, dass die Kinder ihrer Vertreter keine Nachteile erlitten. Es war erstaunlich: Da währte sein Arbeitsleben noch keine fünf Minuten, und schon schützte ihn die Gewerkschaft.

»Raus mit den beiden«, sagte Jones.

Morgan nickte. »Schaffen Sie die Bengel raus, Llewellyn«, sagte er zu Spotty. »Rhys Price soll sich um sie kümmern.«

Billy stöhnte innerlich auf. Rhys Price war einer der unbeliebten Steiger. Vor einem Jahr hatte er ein Auge auf Ethel geworfen, doch sie hatte ihn genauso abblitzen lassen wie die Hälfte aller Junggesellen in Aberowen. Price allerdings hatte diese Abfuhr gar nicht gut aufgenommen.

Spotty machte eine Kopfbewegung. »Raus«, sagte er. »Wartet draußen auf Mr. Price.«

Billy und Tommy verließen das Gebäude und lehnten sich neben der Tür an die Wand. »Napoleon ist ein kapitalistischer Hundesohn«, schimpfte Tommy. »Ich würde ihn gern in den Arsch treten.«

»Ich auch«, sagte Billy, dem so etwas noch nie in den Sinn gekommen war.

Kurz darauf erschien Rhys Price. Wie alle Steiger trug er einen flachen runden Filzhut, den man »Billycock« nannte und der teurer war als eine Bergmannskappe, aber billiger als eine Melone. In den Taschen seiner Weste steckten ein Notizbuch und ein Bleistift; außerdem hatte er einen Messstab dabei. Auf seinen Wangen sprossen dunkle Bartstoppeln, und zwischen seinen Schneidezähnen klaffte eine Lücke. Billy wusste, dass dieser Mann hinterhältig und gerissen war.

»Guten Morgen, Mr. Price«, sagte er.

Price musterte ihn argwöhnisch. »Wie kommst du dazu, mir einen Guten Morgen zu wünschen, Billy Twice?«

»Mr. Morgan sagt, wir sollen mit Ihnen einfahren.«

»Ach ja? Sagt er das?« Price hatte die Gewohnheit, ständig Blicke nach links und rechts zu werfen, manchmal auch über die Schulter, als rechnete er ständig mit Ärger aus irgendeiner unerwarteten Richtung. »Na, das werden wir noch sehen.« Er blickte zum Seilscheibengerüst hinauf, als suchte er dort nach einer Erklärung. »Ich hab keine Zeit, Kindermädchen zu spielen.« Damit verschwand er im Direktionsgebäude.

»Hoffentlich nimmt uns jemand anders mit unter Tage«, sagte Billy. »Mr. Price hasst meine Familie, weil meine Schwester nicht mit ihm gehen wollte.«

»Deine Schwester glaubt, sie ist zu gut für die Männer von Aberowen«, erwiderte Tommy; offensichtlich wiederholte er etwas, das er anderswo gehört hatte.

»Ist sie ja auch«, entgegnete Billy unbeirrt.

Price kam aus dem Gebäude. »Los, hier lang«, sagte er und gab einen raschen Schritt vor.

Die Jungen folgten ihm in die Lampenstube. Der Lampenmann reichte Billy eine Sicherheitslampe aus funkelndem Messing, und Billy hakte sie sich an den Gürtel, so wie alle Bergleute. Er hatte in der Schule gelernt, wie wichtig die Grubenlampen waren: Zu den größten Gefahren unter Tage gehörte Methan, ein entzündliches Gas, das den Flözen entströmte. Die Kumpel nannten es »schlagendes Wetter«; es war die Ursache für die verheerenden Explosionen unter Tage. Besonders die walisischen Zechen waren wegen ihrer schlagenden Wetter gefürchtet. Die Sicherheitslampe war so konstruiert, dass das Grubengas sich nicht an der Flamme entzünden konnte. Stattdessen veränderte die Flamme ihre Gestalt, wenn sie mit Methan in Berührung kam: Sie wurde länger, sodass der Bergmann gewarnt war, denn schlagende Wetter waren geruchlos.

Wenn die Lampe erlosch, konnte der Kumpel sie nicht selbst wieder anzünden, zumal es streng verboten war, Streichhölzer mit unter Tage zu nehmen. Außerdem ließ die Lampe sich nur mit einem speziellen Werkzeug öffnen, sodass der Bergmann mit einer erloschenen Lampe zur Lampenkammer musste, die sich meist am Füllort beim Schacht befand. Das konnte einen Marsch von einer Meile und mehr bedeuten, aber das war es wert, wenn dadurch eine Schlagwetterexplosion verhindert werden konnte.

Nachdem die Kumpel sich ihre Lampen geholt hatten, standen sie zur Seilfahrt an. Neben der Warteschlange hing eine Anschlagtafel, an der Ankündigungen der Sportvereine, des Männerchors von Aberowen und der Freien Bibliothek hingen, in der ein Vortrag über Karl Marx’ Theorie des Historischen Materialismus gehalten werden sollte. Daneben hingen handgeschriebene Zettel der Hauer, auf denen es um verlorene persönliche Gegenstände und Ähnliches ging. Steiger brauchten nicht in der Schlange zu warten, und so drängte Price sich nach vorn, die beiden Jungen im Schlepptau.

Wie die meisten Zechen hatte Aberowen zwei Schächte. Ein Lüfter presste die Luft in den einen Schacht, während der zweite Schacht das »Wetter« – also die Luft und sämtliche Gase in der Grube – aus dem anderen heraussaugte. Oft trugen die Schächte eigenwillige Namen; in Aberowen hießen sie »Pyramus« und »Thisbe«. Als Price die Jungen zum Pyramus führte, wehte Billy die warme Luft entgegen, die aus der Grube hinaufgeblasen wurde.

Im Jahr zuvor war es Billy und Tommy gelungen, einen Blick in die unergründlichen Tiefen des Schachts zu werfen. Am Ostermontag, als niemand arbeitete, hatten sie sich am Wachmann vorbeigeschlichen, waren über die Brache zu den Tagesbauten geflitzt und über den Absperrzaun geklettert. Die Schachtöffnung war nicht vollständig von der Kaue abgedeckt, und so legten die Jungen sich auf den Bauch und spähten über den Rand der Grube in die Tiefe, starrten gebannt in das grauenhafte Loch. Billy drehte sich der Magen um. Die Schwärze erschien unendlich. Bei dem Gedanken, dass er irgendwann hier würde einfahren müssen, packte ihn eisiges Entsetzen. Er warf einen Stein in den Schacht; dann lauschte er den Geräuschen, als der Stein von der hölzernen Führung für den Korb und der Backsteinauskleidung des Schachts abprallte, während er in die Tiefe sauste. Es schien unendlich lange zu dauern, bis das leise, ferne Platschen zu vernehmen war, als der Stein in das Wasser des Grubensumpfs fiel.