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M A R C  F R E U N D

Das Haus am Abgrund

E I N  O S T S E E - K R I M I

Boyens Buchverlag
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- 1 -

MIT DEM KREISCHENDEN GERÄUSCH von schlingernden Reifen kam der Wagen zum Stehen. Hinter der rotweißen Absperrung war die Straße aufgerissen.

Ein Mann mit Helm und Spitzhacke sah kurz desinteressiert auf, um sich dann wieder seiner Arbeit zu widmen.

Doktor Eckels fluchte. Er legte den Rückwärtsgang ein und tastete sich wieder auf die Hauptstraße, was der Fahrer des nachfolgenden Wagens mit einem wütenden Hupen quittierte. Eckels kurbelte hektisch am Lenkrad und fädelte sich in den Verkehr ein. Nur wenige Meter weiter entdeckte er am Straßenrand eine Parklücke und bugsierte den Mercedes zielsicher hinein. Er griff nach seinem Notfallkoffer und stieg aus. Zur Mentzelallee gab es keine andere Zufahrt und so blieb ihm nichts anderes übrig, als die Sackgasse zu Fuß hinauf zu laufen.

Ein kräftiger Wind fegte durch die Straße und wirbelte die großen gelben Ahornblätter auf, die Eckels ein Stück auf seinem Weg begleiteten.

Sein Ziel war das große Haus mit den Erkern, das ganz am Ende der Allee auf der linken Seite lag. Es war mit einer hohen Mauer umgeben und auf das Gelände gelangte man nur durch ein großes schmiedeeisernes Tor, an dem eine Gegensprechanlage installiert war.

Ein wenig außer Atem von der ungewohnten Gangart, meldete Doktor Eckels seinen Besuch an. Fast augenblicklich schwang das Tor beiseite.

Er betrat den Plattenweg, der ihn durch einen verwilderten Garten bis zum Eingangsportal der Villa führte.

Angela Vogt stand bereits in der geöffneten Tür und begrüßte ihn mit einem Kopfnicken.

„Ist er oben?“ fragte Eckels.

Die Vogt nickte abermals. „Ich glaube, es geht zu Ende mit ihm.“

Eckels sah sie kurz mit ernstem Blick an, presste die Lippen aufeinander und bewegte sich die breite Treppe hinauf.

Siegfried Waldows Zimmer lag im ersten Stock am Ende des Korridors.

Eckels klopfte dezent und trat ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Leise schloss er die Tür hinter sich.

Die Vorhänge waren aufgezogen, so dass Sonnenlicht in das Zimmer flutete. Die beiden Fenster waren leicht geöffnet, die blütenweißen Gardinen bewegten sich sanft im Wind. Den Mittelpunkt des Zimmers bildete ein breites Himmelbett, das mit dunkelblauer Seide überspannt war.

Darunter, eingesunken in ein Meer aus Kissen, lag Waldow. Sein Gesicht war grau, die Augen weit in die Höhlen zurückgetreten.

Siegfried Waldow, erfolgreicher Unternehmer und Förderer unzähliger gemeinnütziger Verbände, lag im Sterben. Ein Mann, der Zeit seines Lebens viele Freunde um sich gehabt hatte, war in seinen letzten Augenblicken allein.

Eckels stellte seinen Koffer am Fußende des Bettes ab. Er würde ihn hier nicht mehr benötigen.

Waldow atmete flach. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken.

Erst als Eckels sich räusperte, sah der Mann auf. „Kommen Sie, um mich sterben zu sehen, Doktor?“

Eckels überhörte die Frage. „Haben Sie Schmerzen?“ erkundigte er sich.

Der Anflug eines Lächelns huschte über Waldows Gesicht. „Schmerzen waren schon immer ein Teil meines Lebens. Ich habe gelernt, sie hinzunehmen.“ Das Sprechen bereitete ihm sichtlich Mühe.

Eckels half dem Todkranken, sich im Bett aufzurichten.

Waldow hustete. Sein abgemagerter Körper wand sich unter Krämpfen. Als er sich beruhigt hatte, griff sein dünner Arm nach der Hand des Doktors.

„Ich bin bereit“, presste Waldow hervor. „Es ist alles geregelt. Mein Testament, meine Verfügungen. Es gibt nur noch eine Sache für mich zu tun.“

In diesem Moment öffnete sich die Zimmertür erneut und Frau Vogt trat ein. Sie war eine stämmige Person, ausgebildete Krankenschwester und führte Waldow seit vielen Jahren den Haushalt. Sie trat neben Eckels, der sich auf das Bett gesetzt hatte.

Die beiden tauschten einen stummen Blick miteinander.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte Eckels, den Blick auf den Sterbenden gerichtet.

Waldow musste Kraft sammeln, um weiter sprechen zu können. Sein Atem ging nun stoßweise. Es konnte sich nur noch um Augenblicke handeln.

„In meinem Haus“, fuhr er leise fort, „ist … ein Verbrechen geschehen.“

Wiederum sahen sich Eckels und Angela Vogt an. Diesmal eher irritiert als besorgt.

„Ein Verbrechen?“ hakte Eckels nach.

„Mord“, flüsterte Waldow. Seine Hand verkrampfte sich in Eckels Arm. „Sie wurde … umgebracht. Bitte …“

Eckels wirkte alarmiert. Er spürte, wie eine innere Unruhe sich in ihm breit machte. „Ja?“ forderte er den Sterbenden auf.

„Bitte“, wiederholte Waldow. Seine Stimme war zu einem kaum wahrnehmbaren Lufthauch geworden. Dann ging ein kurzer Ruck durch seinen Körper. Ein Seufzen drang tief aus Waldows Brust herauf. Er sank langsam in seine Kissen zurück und war tot.

Eckels schloss ihm mit einer sanften Bewegung die Augen.

Für eine Weile war es so still im Zimmer, dass sogar das leise Ticken des Weckers auf dem Nachtschrank zu hören war.

„Was um alles in der Welt hat er damit gemeint?“ fragte Frau Vogt. Ihre Hände waren in ständiger Bewegung, wussten nicht wohin. Sie begann zu weinen, wandte sich jedoch dabei nicht ab.

Eckels sah ihre Tränen, schien für einen Wimpernschlag etwas sagen zu wollen und überlegte es sich dann anders. Nach einer Weile erhob er sich vom Bettrand und schüttelte langsam den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wovon er gesprochen hat. Sie haben doch hier mit ihm in diesem Haus gelebt. Es ist doch aber nichts Ungewöhnliches vorgefallen, nicht wahr?“

Angela Vogt schnappte erschrocken nach Luft. „Grundgütiger, nein. Schon gar kein Mord. Vielleicht …“ Sie hielt einen Augenblick inne. „Doktor, halten Sie es für möglich, dass er vielleicht unter dem Einfluss von Medikamenten phantasiert hat?“

Eckels blickte zu dem durchsichtigen Fläschchen auf dem Nachtschrank hinüber. „Das ist natürlich nicht ganz von der Hand zu weisen“, sagte er. „Und doch …“

Frau Vogt schien an seinen Lippen zu kleben. „Sie denken auch, dass er die Wahrheit gesagt hat?“

Eckels öffnete seinen Koffer und machte sich daran, den Totenschein auszustellen. Er legte die Todeszeit auf 12:47 Uhr fest.

Dann wurde er sich bewusst, dass die Frage der Haushälterin noch immer im Raum stand. Er drehte sich zu Angela Vogt um.

„Sie kannten Waldow besser als ich“, begann er ruhig. „Ich habe ihn als einen Menschen kennengelernt, der sich Zeit seines Lebens an Zahlen und Fakten orientiert hat. Sein Verstand war bis zuletzt klar. Wenn Sie mich fragen, dann glaube ich nicht, dass er phantasiert hat. Auch wenn ich mit seinen letzten Worten nichts Rechtes anzufangen weiß.“

Frau Vogt löste ihre Blicke von ihrem toten Arbeitgeber und wischte sich eine Träne fort. „Vielleicht wird man aus seinem Testament mehr erfahren?“

Eckels klappte seinen Koffer zu und erhob sich. „Ja vielleicht“, gab er zurück.

Sie verließen das Zimmer.

Eckels leitete alles Weitere in die Wege. In einer Stunde würde der Leichenbestatter da sein, um den Toten zu überführen.

Zurück blieben ein mehr oder weniger leeres Haus und die mysteriösen Worte Waldows, die zu deuten niemand imstande war.

Eckels verabschiedete sich von Frau Vogt und trat wenig später auf die herbstliche Allee hinaus. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen ging er die Straße hinunter.

An der Baustelle blieb er für einen Moment stehen. Ein Gedanke kam ihm dabei in den Sinn: Vielleicht hätte Waldow mehr von seinem Geheimnis preisgegeben, wenn er, Eckels, nur eine Minute früher dort gewesen wäre.

- 2 -

„DOMINIK?“

Angela Vogt starrte ihren Sohn an wie einen Fremden. Die Verwirrung über die jüngsten Ereignisse stand ihr ins Gesicht geschrieben; sie lüftete sich nur langsam, wie ein langer, dunkler Schleier.

Der junge Mann registrierte die Situation mit einem Blick, als er seinen Fuß über die Schwelle setzte. Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass Dominik Vogt das Haus in der Mentzelallee in Hamburg betrat. Obwohl seine Mutter bereits seit fast fünfundzwanzig Jahren hier als Haushälterin arbeitete, hatte sich für ihn nur selten die Gelegenheit ergeben, hierher zu fahren, in Waldows Stadtvilla – seine Residenz. Dann und wann war Vogt von der Schule hierher gekommen, um seine Mutter abzuholen. Damals hatte sie noch zu Hause gewohnt. Als Vogts Vater dann plötzlich starb und Vogt selbst sich eine eigene Wohnung nahm, hatte seine Mutter das Haus verkauft und war auf Bitten Siegfried Waldows hierher gezogen.

Im Innern des Hauses fehlte es an nichts. Die Villa war mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet, ohne dabei überladen oder stillos zu wirken.

Der junge Mann folgte seiner Mutter in die Küche, wo sie damit beschäftigt war, für sie beide ein Mittagessen vorzubereiten.

„Ich bin ja so froh, dass du gekommen bist“, sagte sie zum wiederholten Mal. „Weißt du, dieses Haus ist so still, seitdem er nicht mehr da ist. Und er hätte sicher nichts dagegen gehabt, dass du ein paar Tage bleibst. Ich kann ein bisschen Gesellschaft weiß Gott gut gebrauchen.“

Vogt ließ sich auf einem gepolsterten Stuhl nieder und beobachtete seine Mutter beim Kartoffeln schälen. „Was wird denn jetzt aus all dem hier?“ fragte er beiläufig, obwohl ihn viel mehr interessierte, was nun aus ihr werden würde, falls das Haus innerhalb der Erbmasse verkauft werden sollte.

Angela Vogt zuckte die Achseln. „Die Testamentseröffnung ist schon morgen“, sagte sie, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. „Ich habe letzte Woche ein Schreiben vom Amtsgericht bekommen. Nach dem Termin werden wir mehr wissen.“

Vogt wiegte den Kopf hin und her. „Na, zumindest hat er dich in seinem Testament bedacht, sonst wärst du nicht angeschrieben worden.“

„Ach, die ganze Sache ist mir lästig. Ich mag so etwas nicht. Ist das nicht Leichenfledderei?“

Vogt lachte. „Aber irgendwie muss so ein umfangreicher Nachlass doch geregelt werden, Mutter. Hat er eigentlich Familie gehabt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Es gab einen Bruder, soweit ich weiß. Der ist aber schon vor Jahren gestorben. Kinder hat er keine hinterlassen. Ebenso wenig wie Siegfried selbst.“

Vogt horchte kurz auf. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, wie nahe sich seine Mutter und der Verstorbene wohl wirklich gestanden haben mochten. „Wer bekommt dann sein Erbe? Ich meine, Waldow war doch schwer reich, oder?“

Angela Vogt machte ein säuerliches Gesicht. „Man darf einen Menschen nicht darauf reduzieren, was er zu Lebzeiten besessen hat. Siegfried war ein sehr großzügiger und hilfsbereiter Mann. Er hat jährlich große Summen an die umliegenden Krankenhäuser und karitative Vereine gespendet. Er konnte es sich leisten.“

Vogt dachte kurz an die Geldquellen, die nach seinem Tod vermutlich versiegen würden. „Wer weiß?“ dachte er laut. „Vielleicht bekommst du ja sogar das Haus hier?“

Seine Mutter drehte sich protestierend um, doch Vogt erstickte ihre Empörung im Keim. „Naja, immerhin hast du ihm so lange Jahre den Haushalt geführt. Es fehlte ihm doch an nichts. Du selbst hast immer gesagt, wie dankbar er dafür war. Ich finde, er könnte sich dann auch entsprechend erkenntlich zeigen.“

Angela Vogt legte das Messer nieder und stellte einen großen Topf auf das Kochfeld. „Mir ist das gar nicht recht, dass ich da morgen hin soll.“ Sie wischte sich die Hände in einem Geschirrhandtuch ab. „Kannst du das nicht für mich übernehmen?“

Noch ehe Vogt antworten konnte, fand seine Mutter Gefallen an dem Gedanken.

„Soweit ich mich erinnere, lag dem Schreiben eine Vollmacht bei. Warte, ich muss den Brief doch irgendwo hier haben.“ Sie öffnete eine Schublade und kramte zwischen Quittungen und anderen Papieren herum. „Hier ist er ja“, stieß sie hervor und hielt ihrem Sohn das Dokument hin.

Vogt konnte nicht anders, als es an sich zu nehmen und in dem Augenblick wusste er bereits, wer zu der morgigen Testamentseröffnung erscheinen würde.

Es regnete in Strömen, als Vogt am folgenden Tag das triste Gerichtsgebäude erreichte. Er eilte die Steinstufen hinauf und traf dort mit einer jungen Frau zusammen, die gerade damit beschäftigt war, umständlich ihren Regenschirm zu schließen. Gleichzeitig griffen sie nach der Türklinke und zuckten unwillkürlich zurück. Da sie es eilig hatten, streckten wiederum beide die Hand aus und verharrten in der Bewegung.

„Einer von uns sollte die Tür jetzt öffnen, wenn wir nicht durch und durch nass werden wollen“, sagte Vogt lächelnd. „Gestatten Sie?“ Er zog die Tür auf und ließ der jungen Frau den Vortritt.

Sie trug einen hellen Mantel, der ihr bis zu den Knien reichte. Darunter schimmerten dunkle Strümpfe. Als Schutz gegen den Regen hatte sie sich ein Tuch um den Kopf gebunden. Vogt ertappte sich bei dem Gedanken, dass diese aus der Mode gekommene Art sich zu kleiden bei ihr sehr vorteilhaft wirkte.

Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, löste sie den Knoten unter ihrem Kinn und entfernte die Kopfbedeckung. Zum Vorschein kamen schulterlange rötlichbraune Haare, die ein fein geschnittenes, fast zierliches Gesicht umrahmten. Sie eilte an ihm vorbei und fragte an der Information nach der Testamentseröffnung Waldow.

Der Mann in der Kabine gab eine mürrische Antwort und die Frau wandte sich nach links, wo eine breite Treppe nach oben führte.

Vogt holte sie im ersten Stock ein. Nebeneinander hasteten sie bis in das zweite Geschoss hinauf. Er folgte ihr bis zum Zimmer 235 und öffnete ihr die Tür.

Die Frau sah ihn irritiert an, als er ihr in den Saal folgte. Vogt quittierte ihren Blick mit einem Schulterzucken und einem Lächeln. Sie waren in der Tat die letzten Teilnehmer. Der stickige Raum war mit Menschen gefüllt.

Vogt zwängte sich an der hinteren Wand vorbei und setzte sich auf den letzten freien Platz, direkt neben seine unfreiwillige Begleiterin.

Der Testamentsvollstrecker war ein Rechtsanwalt mit Namen Erik Renner, ein Mann mit Bürstenhaarschnitt und Hornbrille, den Waldow selbst für dieses Amt vorgeschlagen hatte, wie der Advokat mehrfach beteuerte.

Vogt nahm nicht viel von den geschmückten Worten auf, die der Mann von sich gab, zu sehr war er damit beschäftigt, die zusammengekommene Menschenmenge zu mustern. Sein Blick fiel auf eine Fraktion von Anzugträgern, die ganz offensichtlich Vertreter von Waldows unterschiedlichen Unternehmungen waren. Sie tuschelten miteinander, während der Rechtsanwalt sprach. Vogt kannte niemanden von ihnen.

In diesem Moment räusperte sich Renner und kam zum Wesentlichen: Der Verlesung des Testaments. Der Inhalt war alles in allem wenig überraschend. Er bestätigte nochmals, dass Waldow keine lebenden Verwandten hatte, denen auf dem Erbwege etwas hätte zufallen können. Sein Unternehmen ging erwartungsgemäß auf die angetretene Delegation über, die von Waldow bereits zu Lebzeiten zusammengestellt worden war. Sie hatte die Aufgabe, die Geschicke der Firma in seinem Sinne weiterzuführen. Das enorme Barvermögen wurde in verschiedene Summen aufgeteilt, von denen jede einzelne so groß war, dass sie Vogt unwillkürlich ein Kopfschütteln entlockten.

Ein Großteil ging an zwei Krankenhäuser der Stadt und viele kleinere Beträge an Stiftungen und Vereine, die sich im Allgemeinen um das Wohl von Bedürftigen und Minderheiten sorgten. Vogt registrierte amüsiert, dass Waldow seiner Mutter in der Tat das Haus in der Mentzelallee vermacht hatte. Zuzüglich einer monatlichen Rente, die es ihr erlaubte, den Besitz halten zu können.

Der Anwalt legte eine Pause ein und wartete ab, bis sich die teilweise aufgeregten Stimmen gelegt hatten.

„Es verbleibt ein letzter Punkt, auf den ich gesonderten Wert lege“, las er weiter vor. „Den übrig gebliebenen Teil meines Barvermögens, eine Summe von 300.000 Euro, vermache ich Frau Marieke Kielmann, wohnhaft in …“

Die folgenden Worte des Anwalts erreichten Vogts Ohr nicht mehr, denn die Frau neben ihm stieß einen kurzen spitzen Schrei aus. Als ihr dies bewusst wurde, lief sie sofort rot an und zog den Kopf ein. „Oh, mein Gott“, flüsterte sie und sah Vogt fassungslos an.

Anwalt Renner sah strafend in ihre Richtung, rückte seine Brille gerade und nahm die Verlesung wieder auf. „Ihr Wohl lag mir immer schon besonders am Herzen, und ich möchte ihr mit diesem Betrag ein Leben ermöglichen, das sie verdient. Darüber hinaus vermache ich ihr mein Haus in Osterholz an der Ostsee, einschließlich der angeschlossenen Ländereien.“

Vogt erwartete fast einen erneuten Aufschrei, doch dieses Mal behielt die junge Frau die Fassung. Marieke Kielmann, überlegte er. Wo hatte er diesen Namen schon einmal gehört? War ihr Gesicht ihm nicht gleich bekannt vorgekommen?

Die Veranstaltung endete. Einige Vertreter der Delegation hatten noch Detailfragen an den Rechtsanwalt, der diese mit sachlichem Ton beantwortete. Der Raum leerte sich nach und nach.

Vogt wartete noch eine Weile, um die Frau an seiner Seite noch ein wenig in Augenschein zu nehmen. „Darf ich Ihnen meinen Glückwunsch aussprechen?“ fragte er.

Es dauerte einen Moment, bis sie ihn überhaupt registrierte. Dann lachte sie verlegen. „Bin ich vorhin eigentlich sehr peinlich gewesen?“

Vogt schüttelte den Kopf. „Wenigstens stand Ihnen nicht die Gier in die Augen geschrieben, so wie den Herren da drüben.“ Er deutete auf zwei Anzugträger, die sich besonders hervortaten und den Anwalt regelrecht belagerten.

Sie lachte kurz auf, wurde aber sofort wieder ernst. „Darf ich fragen, was Sie hier machen? Haben Sie Waldow näher gekannt?“

„So gut wie gar nicht. Hab’ ihn vielleicht ein oder zweimal gesehen. Meine Mutter ist … war seine Haushälterin. Mein Name ist Dominik Vogt.“

Etwas geschah mit ihrem Gesichtsausdruck. „Sie sind Tante Angelas Sohn?“

„Tante Angela?“ Vogt legte die Betonung auf das erste Wort.

Marieke Kielmann machte eine ungeduldige Handbewegung. „Natürlich ist sie nicht meine Tante. Aber ich kenne Ihre Mutter schon seit Ewigkeiten. Ich bin doch in der Nachbarschaft von Waldow aufgewachsen und habe oft dort im Garten und vor dem Haus gespielt. Unter anderem auch mit Ihnen, wenn ich’s mir recht überlege. Es freut mich, dass Ihre Mutter das Haus bekommen hat. Sie wird es ganz sicher in Ehren halten.“

Vogt lächelte amüsiert. „Wie klein die Welt doch ist. Und ich habe mich schon gefragt, woher ich Sie kenne. Standen Sie in einer besonderen Verbindung zu Waldow?“

„Wir waren Nachbarn“, gab sie zurück. „Wie ich schon sagte, habe ich als Kind dort gespielt. Ich bin auch oft in seinem Haus gewesen.“

„Da haben Sie mir etwas voraus“, warf Vogt dazwischen.

Marieke kommentierte seinen Einwand nicht. „Ich arbeite im Kindergarten, nicht weit davon entfernt. Waldow ging dort gerne spazieren und so brach der Kontakt zwischen uns nie ab. Ich glaube, er hatte Kinder sehr gern.“ Ihr Gesicht hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. Sie drehte sich plötzlich zu ihm um und sah ihm direkt in die Augen. „Sagen Sie, stimmt es eigentlich, dass er kurz bevor er starb, einige seltsame Andeutungen gemacht hat?“

Vogt dachte an die Worte seiner Mutter, als sie ihn vor einigen Tagen anrief. Ganz aufgeregt war sie gewesen, als sie ihm von Waldows letzten Minuten erzählt hatte. Vogt glaubte, dass dieses Unbehagen der hauptsächliche Grund dafür war, dass sie so kurz nach diesem Vorfall nicht allein in dem Haus sein wollte.

„Woher wissen Sie davon?“ fragte er zurück.

„Ihre Mutter hat es mir selbst erzählt. Ich traf sie vor zwei Tagen. Sie war vollkommen aufgelöst. Sie macht sich Sorgen, in einem Haus zu wohnen, in dem ein Verbrechen begangen wurde.“

„Ach“, stieß Vogt hervor. „Darauf dürfen Sie nichts geben. Mutter ist ein lieber Mensch aber auch eine sehr ängstliche Person. Sie hat sich die Sache offenbar sehr zu Herzen genommen.“

„Würden Sie das an ihrer Stelle nicht tun?“

„Nein. Was soll ihr schon passieren? Selbst wenn Waldow Recht hat, muss dieses Verbrechen ja schon Jahre zurück liegen, denn meine Mutter lebte die letzten zehn Jahre fast durchgehend dort und davor war sie zumindest halbtags bei ihm beschäftigt. Sie hätte doch irgendetwas mitbekommen müssen.“

Marieke schien sich nicht sicher zu sein. „Wie auch immer, ein angenehmes Gefühl ist das sicher nicht.“ Sie sah auf ihre Uhr. „Du meine Güte, ich müsste schon längst zurück sein.“ Sie raffte ihren Mantel an sich und stand in einer hektischen Bewegung auf. Im Gehen drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Es hat mich gefreut, Sie wieder zu sehen. Bitte grüßen Sie Ihre Mutter von mir.“

Vogt sah der jungen Frau nach, wie sie den ungemütlichen Saal verließ. Auf dem Weg zu seinem Wagen dachte er über die Testamentseröffnung nach. Waldow, der Wohltäter. Waldow, der Mann, der seiner Mutter ein Haus vermacht hatte. Und ein weiteres Haus einer jungen Frau, für die er offenbar Sympathien gehegt hatte. Das Haus an der Ostsee, grübelte Vogt. Wenige Meter vor seinem Wagen blieb er plötzlich stehen.

Waldow hatte von seinem Haus gesprochen. Aber er hatte zwei besessen.

War es möglich, dass er sich nicht auf das Haus in Hamburg, sondern auf das andere, hoch oben im Norden bezogen hatte?

Vogt hatte das Gefühl, auf etwas Wichtiges gestoßen zu sein. Etwas, das er der jungen Frau hätte sagen können, wenn er nur früher auf den Gedanken gekommen wäre. Jetzt war sie fort. Über Vogts Kopf erhob sich eine Krähe mit lautem Gekrächze aus einem Baum. Er sah ihr mit einer unguten Vorahnung nach.

- 3 -

MARIEKE KIELMANN LIESS das nassgraue Hamburg hinter sich. Je weiter sie auf der A7 in Richtung Norden fuhr, desto freundlicher zeigte sich das Wetter. Gegen Mittag erreichte sie Flensburg und setzte ihren Weg über die Bundesstraße 199 fort.

Vor ihr lagen zwei Wochen Urlaub und sie hatte sich fest vorgenommen, sie zu genießen. Noch immer konnte sie die Entwicklungen kaum in Worte fassen. Vieles erschien ihr nicht real, auch wenn es Beweise gab, die ihr die Wirklichkeit vor Augen führten. Wie zum Beispiel der sechsstellige Betrag auf ihrem Bankkonto. Diese Gewissheit führte aber zu mehr, denn jetzt war sie neugierig geworden, was ihr darüber hinaus noch begegnen würde. Mit jedem zurückgelegten Kilometer steigerte sich dieses Gefühl. Sozusagen über Nacht war sie Hausbesitzerin geworden. Noch eine neue Empfindung. Sie hatte keine Ahnung, um was es sich dabei genau handelte, nirgendwo schienen Fotos zu existieren. Zwischen den Unterlagen, die sie von Renner erhalten hatte, war lediglich die Telefonnummer einer Flensburger Hausverwaltung verborgen gewesen. Sie hatte angerufen und einen Termin mit einem Mann namens Alexander Schönberg vereinbart.

Er würde sie direkt am Haus treffen und ihr bei der Gelegenheit auch die Schlüssel aushändigen.

Die Gegend wurde unterdessen immer ländlicher. Sie fuhr durch eine herbstliche Hügellandschaft, kam durch einen Ort namens Langballigau und bewunderte im Vorbeifahren den malerischen kleinen Hafen, in dem noch vereinzelt kleine Boote lagen. Die nächste Anhöhe, die sie hinauf fuhr, gab den Blick auf die Ostsee frei, bevor ihr einer der vielen Knicks wieder die Sicht versperrte. Alles in allem ein krasser Gegensatz zur gewohnten Großstadt, aber für ein paar Tage Ferien geradezu ideal.

Etwa zehn Minuten später lenkte sie ihren Wagen einen kleinen Berg hinauf. Zu beiden Seiten lagen vereinzelte Bauernhöfe, teils fernab der Straße und hinter weiteren Knicks verborgen.

Marieke verlangsamte das Tempo. In einer scharfen Rechtskurve zweigte ein Sandweg ab, der in einen Wald führte. Diese Stelle hatte ihr Schönberg am Telefon beschrieben. Es sei nicht einfach, sie zu finden, hatte er gesagt. Nun, diese Hürde hatte sie spielerisch gemeistert.

Sie kam an einen verwitterten Wegweiser, der zum einen Wanderwege anzeigte, aber auch die Information einer Hausnummer enthielt. Ihr Herz schlug eine Spur schneller, als sie im Schritttempo weiter fuhr.

Hinter einer leichten Biegung lag ihr Ziel. Es sprang sie geradezu an. Die Zufahrt war verwildert; Brombeerranken überlagerten den schmalen Weg. Gelbes Gras und struppige Halme hatten die Spuren von Kies verschwinden lassen. Auf einem mit Moos bedeckten Holzschild war der Name Haus Seegrund gerade noch zu erahnen.

Marieke ließ den Wagen auf der Zufahrt ausrollen und registrierte einen Landrover, der seitlich zum Wald hin geparkt war. Er gehörte vermutlich zu Schönberg.

Haus Seegrund mochte vor Jahren einen imposanten Eindruck geboten haben. Heute wirkte das ganz aus Holz errichtete Gebäude auf eine nicht zu erklärende Art traurig. Lag es an dem mit Schindeln gedeckten Dach, das weit über die Außenwände hinaus ragte? Oder an den staubigen Fensterscheiben, der abgeblätterten Farbe?

Offenbar hatten seit Jahren weder das Haus, noch das Grundstück eine pflegende Hand zu spüren bekommen.

Marieke stieg langsam aus dem Wagen und blieb einen Augenblick stehen. Sie atmete tief ein. Die Luft roch nach der See, die etwa zwanzig Meter unter ihr gegen die Steilküste schlug. Irgendwo über dem Wasser rief eine Möwe.

Marieke trat auf die Haustür zu. Gerade als sie anklopfen wollte, wurde sie geöffnet. Vor ihr stand ein kleiner Mann mit Halbglatze und Brille, nach Mariekes Schätzung musste er etwa Anfang 50 sein.

„Frau Kielmann?“ fragte er und bleckte dabei zwei Reihen perlweißer Zähne.

Marieke nickte und ergriff seine demonstrativ ausgestreckte Hand.

„Ich hoffe, Sie haben gut hergefunden? Das ist hier draußen manchmal gar nicht so einfach.“

„Sie haben den Weg sehr gut beschrieben“, gab sie zurück und konnte nicht umhin, einen neugierigen Blick an ihm vorbei in das Innere des Hauses zu werfen.

Schönberg war dies nicht entgangen. „So ist es recht, lassen Sie sich vom Äußeren nicht täuschen“, fuhr er lebhaft fort. „Hier ist zwar seit Ewigkeiten nichts erneuert worden, aber das Haus hat eine sehr gute Substanz. Mit einem frischen Anstrich sieht alles gleich ganz anders aus.“

Marieke wiegte den Kopf hin und her. „Ich weiß noch gar nicht, ob ich es überhaupt behalten will“, antwortete sie zögernd.

„Oh, ich hoffe, Sie denken nicht, dass unsere Gesellschaft das Anwesen so hat verwildern lassen. Herr Waldow hat uns ausdrücklich untersagt, hier irgendwelche Arbeiten am Haus zu verrichten. Wir haben lediglich die Schlüssel für ihn verwahrt. Und natürlich regelmäßig nach dem Rechten gesehen.“

Seine Worte klangen auf Marieke eine Spur zu sehr nach einer Rechtfertigung, über die auch sein verschlagenes Grinsen nicht hinwegtäuschen konnte.

Der Verwalter trat einen Schritt beiseite und machte eine einladende Geste. „Sie werden sehen, dass der Schein von außen trügt. Im Innern ist es tadellos erhalten. Und geräumig. Sie werden staunen. Ich weiß ja nicht, ob Sie …“ Schönberg plapperte weiter munter vor sich hin, doch Marieke hörte ihm nicht mehr zu. Sie beließ es vorerst dabei, hin und wieder ein paar Zustimmungen in seinen Monolog zu streuen.

Ihre volle Konzentration galt dem Haus. Ihrem Haus. Und ob sie wollte oder nicht, sie musste dem kleinen Mann von der Hausverwaltung Recht geben: Der Fußboden war zwar staubig aber Haus Seegrund hatte einen Zauber an sich, der sie sofort gefangen nahm. Als sie durch die Tür trat, spürte sie, dass sie sich hier wohl fühlen konnte.

Das Gebäude war nicht leer. In jedem Zimmer befanden sich Möbel, die zumeist mit weißen Laken verhängt waren und die ganz sicher noch aus Siegfried Waldows Zeiten stammten.

Marieke warf hier und da einen Blick darauf und entdeckte bequeme Sitzmöbel im Landhausstil, einen langen Esszimmertisch aus Eiche mit nicht weniger als zwölf passenden Stühlen, rustikale handgeschnitzte Wäscheschränke und unzählige weitere Schätze.

Schönberg folgte ihr auf ihrem Rundgang auf Schritt und Tritt. Er kam Marieke wie ein Terrier vor.

Sie waren in der Küche angelangt, die zwar alt aber kaum benutzt war. Ein alter Kohleofen stand in der äußeren Ecke und ließ in Marieke sofort das Bild von wohligen Winterabenden aufflackern. Der Raum lag auf der Rückseite des Hauses. Von hier aus musste man vor Jahren noch einen uneingeschränkten Blick auf die Ostsee bis hinüber nach Dänemark gehabt haben. Nun hatten sich vor dem Fenster wilde Sträucher breit gemacht, die im Wind über das Glas scharrten. Ein Makel, den man leicht beheben konnte, überlegte Marieke. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie sie das Haus nach ihrem Geschmack einrichtete, umgestaltete und, wo es angebracht war, modernisierte.

Vom Wohnzimmer aus führte eine Holztreppe nach oben. Der quirlige Schönberg führte sie hinauf, während er weiter unaufhörlich auf sie einredete.

Im oberen Bereich befanden sich vier gleichgroße Zimmer unter den Dachschrägen. Auf den gemaserten Holzdielen lagen dunkle Teppiche. In zwei der Zimmer befanden sich große, massive Bauernbetten. Lediglich die Matratzen fehlten. Hier und da hingen Bilder an den Wänden, zumeist Landschaftsmotive oder Jagdszenen – das Einzige, was Marieke grässlich fand. Sie widerstand dem Impuls, die Gemälde auf der Stelle abzunehmen. Das hatte Zeit, bis Schönberg fort war. Ihr Blick schweifte über das Bett, an dessen Fußende die Initialen S. W. kunstvoll eingeschnitzt waren. Marieke spürte, wie ihr ein leichter Schauer über den Rücken lief.

„Wissen Sie, wann Herr Waldow das letzte Mal hier draußen war?“ fragte sie.

Schönberg knetete sein massiges Kinn. „Das muss schon eine ganze Weile her sein“, sagte er. „Wissen Sie, früher, vor 30 Jahren etwa, nachdem das Haus fertig gestellt war, ist er oft hier gewesen. Es machte ihm Spaß, Gäste und Geschäftsfreunde hierher einzuladen. Aber irgendwann war das plötzlich vorbei. Ich nehme an, dass er einfach das Interesse an Haus Seegrund verloren hat. Was natürlich sehr schade ist, denn es ist wirklich ein Prachtstück. Über uns befindet sich sogar noch ein Dachboden.“

Schönberg stand im oberen Korridor und deutete auf eine in die Decke eingelassene Holzluke.

„Möchten Sie einen Blick hinauf werfen?“ fragte er geschäftig und angelte bereits nach einer Stange, mit der sich die Luke herabziehen ließ.

„Danke, im Moment nicht“, wehrte Marieke ab. Sie hatte eigentlich nur den Wunsch, diesen Mann endlich loszuwerden. Er gehörte nicht länger in ihr Haus.

„Warum hat Waldow eigentlich überhaupt jemanden mit der Verwaltung des Hauses beauftragt? Hätte er es nicht einfach verkaufen können?“

Schönberg drehte sich zu ihr um. Für einen Moment wirkte er, als wisse er nicht, was er darauf antworten sollte. „Herr Waldow mag vielleicht das Interesse an dem Objekt verloren haben, aber offenbar konnte er sich doch nicht ganz davon trennen. Vielleicht hatte er auch die Absicht, sich hier zur Ruhe zu setzen. Über seine weiteren Pläne hat er nie mit uns gesprochen. So übernahmen wir dann die Aufsicht über dieses Objekt. Es existiert ein Vertrag, in dem Herr Waldow uns mit der Instandhaltung des Hauses und des Grundstückes beauftragt hat.“

Ein weiterer Eintrag auf der Liste der Rechtfertigungen, dachte Marieke. „Dafür hat er vermutlich monatlich einen vereinbarten Betrag überwiesen?“

Schönberg wich ihrem Blick aus. „Jährlich“, verbesserte er sie kleinlaut.

„Und er ist nie wieder hier gewesen, um selbst nach dem Rechten zu sehen?“

„Herr Waldow war bis zuletzt ein sehr beschäftigter Mann“, versuchte Schönberg zu erklären. „Vielleicht hat er es vorgehabt. Aber so weit ich weiß, hat er das Haus seit Jahren nicht mehr betreten.“

„Finden Sie das nicht ein wenig seltsam?“ hakte Marieke nach.

„Inwiefern?“

Marieke breitete die Arme aus und deutete in das Haus hinein. „Ich kann mir nur keinen Grund vorstellen, warum man dieses Haus, diese ganze Umgebung hier plötzlich meiden sollte, wenn man sich doch zuvor jahrelang regelmäßig hier aufgehalten hat.“

Schönberg zuckte mit den Schultern. „Den Grund dafür hätte uns vermutlich nur Siegfried Waldow selbst verraten können. Er hat mir gegenüber nie ein Wort darüber verloren. Aber mit dem Haus selbst hat es ganz sicher nichts zu tun. Darf ich fragen, ob sie beabsichtigen, es zu behalten? Oder möchten Sie, dass der Vertrag mit unserer Firma weitergeführt wird? Alternativ können wir auch einen Verkauf über einen hiesigen Makler in Auftrag geben.“

Marieke hob abwehrend die Hände. „Ich glaube, es ist noch etwas früh, so eine Entscheidung zu treffen, finden Sie nicht? Aber ich tendiere dazu, das Haus zu behalten und wieder herzurichten.“

Schönberg nickte und zeigte wieder sein makelloses Lächeln. „Eine gute Wahl, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben. Ich denke, ich lasse Sie jetzt erst einmal allein. Über eine mögliche Fortführung des Wartungsvertrages können wir ja später noch sprechen. Ich werde Sie einfach in den nächsten Tagen noch einmal anrufen.“

Marieke war froh, als Schönberg endlich ging. Sie stand am Fenster und sah seinem Wagen nach, bis dieser aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

Ein eigenartiger Kerl, dachte sie. Aalglatt und irgendwie … Marieke hegte den unbestimmten Verdacht, dass er ihr nicht alles verraten hatte.

Der Wartungsvertrag für Haus und Grundstück musste ein Witz sein, so wie es rundherum aussah. Oder Waldow hatte sich tatsächlich seitdem nicht mehr hier blicken lassen und Schönbergs Firma hatte jahrelang Geld für nichts kassiert.

Marieke atmete tief durch. Sie verspürte plötzlich Hunger und ertappte sich bei dem Gedanken, einfach an den Kühlschrank zu gehen. So unsinnig dieser Gedanke im ersten Moment auch schien, so verdeutlichte er ihr doch, dass sie bereits gedanklich anfing, alltägliche häusliche Abläufe umzusetzen.

Marieke trat vor die Tür und genoss die Mittagssonne, die auf die Lichtung schien, in deren Mitte sich das Haus befand. Sie blickte auf den kleinen silbernen Schlüssel in ihrer Hand und fasste einen Plan.

Sie würde noch einmal nach Flensburg fahren, um das Nötigste für die nächsten Tage zu besorgen. Sie hatte Zeit, sie hatte das nötige Kleingeld und was das Wichtigste war: Sie besaß den Mut (und ein Quäntchen Verrücktheit), um dieses Haus zu ihrem Zuhause zu machen.

Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so frei, so unabhängig gefühlt.

Sie schloss die Haustür ab und wandte sich auf dem mit Gras bewachsenem Vorplatz nach links. Dort verlief ein kaum noch erkennbarer Pfad zu einem kleinen Nebengebäude, das direkt am Waldrand stand. Davon hatte Schönberg gar nichts erwähnt, kam es ihr in den Sinn.

Sie trat an die blinden Fenster heran und versuchte, einen Blick hineinzuwerfen. Kein Zweifel, Waldow hatte damals daran gedacht, sich hier draußen ein Saunahaus hinzustellen. Er hatte in jeder Hinsicht Wert auf Komfort gelegt. Marieke umrundete das kleine Haus so gut es eben ging. Mehr als einmal kam sie dabei den Brombeerranken gefährlich nahe.

Auf der Rückseite von Haus Seegrund – sie wusste bereits jetzt, dass sie ihm einen anderen Namen geben würde – befanden sich zwei gemauerte Steinstufen, aus denen der Mörtel größtenteils herausgebröckelt war. Sie führten auf einen Pfad, der, hoffnungslos verwildert und zugewachsen, offenbar Haus Seegrund über die Steilküste mit dem Strand verband.

Plötzlich musste sie lächeln. Ihr war in diesem Augenblick klar geworden, dass sie hier draußen alles hatte, wonach sie sich immer schon gesehnt hatte: Ruhe und Frieden.

Hier war niemand. Der nächste Besitz lag wenigstens einen Kilometer entfernt. Waldow hatte das richtige Gespür für ein gutes Fleckchen Erde bewiesen.

Marieke beendete ihren ersten Rundgang, stieg in ihren Wagen und machte sich auf nach Flensburg. Die Fördestadt lag etwa 25 Kilometer von ihrem Haus entfernt. Sie besorgte sich eine passende Matratze, neues Bettzeug, Glühbirnen und andere nützliche Dinge und deckte sich auf dem Rückweg mit Lebensmitteln ein.

In Haus Seegrund angekommen, setzte sie den Herd wieder in Betrieb und bereitete sich eine einfache Mahlzeit zu. Dabei kam ihr in den Sinn, dass sie vergessen hatte, Schönberg nach dem Zustand der elektrischen Leitungen zu fragen. Überhaupt hatte sie viele Fragen nicht gestellt. So sehr hatte sie das Haus bei ihrem ersten Besuch fasziniert. Sie verwarf die Gedanken an Schönberg sofort wieder. Er war nicht aus der Welt und hatte immerhin von sich aus angeboten, sich bald wieder zu melden.

Am späten Nachmittag, als sie sich für eine erste abenteuerliche Übernachtung eingerichtet hatte, beschloss sie, an den Strand hinunter zu gehen. Da der direkte Pfad unpassierbar war, musste sie den Weg durch das Dorf nehmen. Er führte sie vorbei an Reetdachkaten, die den alten Ortskern bildeten. Hier und da kräuselte bereits dünner Rauch aus den Schornsteinen, der vom aufkommenden Südwest-Wind zerfasert und davongetragen wurde.

Unterwegs traf Marieke vereinzelte Spaziergänger, die genau wie sie das gute Wetter nutzen wollten. Der Weg zum Strand führte sie wiederum durch ein kleines Waldstück, das sich über einen Hügel hinweg zog und in dem es selbst um diese Jahreszeit noch nach Kräutern roch. Hinter einer Biegung lag die Ostsee. Ein schmaler, steiniger Strand, der auf einen Badetouristen nicht einladend wirkte, für Marieke jedoch den Charme dieser Gegend noch erhöhte.

Auch hier unten war sie allein, wie sie beinahe erleichtert feststellte. Sie füllte ihre Lungen mit der nach Salz riechenden Luft und spürte augenblicklich, wie ihr Körper Sauerstoff tankte.

Auf dem Strand wandte sie sich nach Osten und schlug damit unwillkürlich die Richtung ein, in der sich ihr Haus befand. Marieke blieb hier und da kurz stehen

In der Ferne sah sie ein kleines Boot auf dem Wasser. Ein Fischer war dabei, seine Netze einzuholen. Hinter ihm, zwei Sandbänke und die breite Fahrrinne für Küstenschiffe weiter, befand sich die Küste von Dänemark, mit der kleinen Stadt Sonderburg an ihrem Ende.

In der anderen Richtung senkte sich langsam die Sonne und änderte ihre Farbe in ein dunkles Orange. Marieke hatte das Gefühl, dass dies eine neue Heimat für sie werden konnte. Ein Platz, an dem nichts Böses existieren konnte.

Sie schlenderte an einer alten Fischerhütte vorüber. An der Außenwand hatte jemand zwei wRuder so angenagelt, dass sie ein Kreuz bildeten. Neben der Tür, die ein wenig schief in den Angeln saß, hing ein Gewirr aus Reusen.

Während Marieke weiterging, kehrte der Fischer langsam an Land zurück. Er zog das Boot mit seinem Fang auf den Sand. Der Mann war kräftig gebaut und trug grünes Regenzeug. Auf seinem Kopf saß eine blaue Strickmütze.

Marieke wusste nicht, was sie veranlasste, stehen zu bleiben. Vielleicht war es Neugier, vielleicht wollte sie sich in diesem Moment der guten Laune auch jemandem mitteilen. Sie blickte in das Boot und auf die Reusen, in denen sich die Leiber einer unbestimmbaren Anzahl von Fischen wanden.

Der Mann hatte ihren Blick bemerkt und unterbrach seine Tätigkeit. „Mögen Sie Steinbutt?“ Seine Stimme klang warm und freundlich. Er sah sie aus himmelblauen Augen an.

Marieke versuchte, sein Alter zu schätzen und tippte auf ungefähr 40 Jahre, korrigierte ihre erste Annahme allerdings im Verlauf des Gespräches mehr als einmal nach oben.

„Ich habe noch nie welchen probiert“, gestand sie wahrheitsgemäß.

„Sie sind nicht von hier?“

„Doch“, platzte Marieke heraus, und sie schalt sich gleich darauf eine Närrin. „Ich meine, ich bin erst heute hierher gekommen. Mein Haus liegt ganz in der Nähe.“

Der Fischer sah sie fragend an. „Ihr Haus? Welches meinen Sie denn?“

Marieke sah zur Steilküste hinauf und tatsächlich erblickte sie in der Ferne das Dach von Haus Seegrund zwischen den Bäumen. „Dort drüben“, sagte sie nicht ohne Stolz und wies mit dem Finger in die Richtung.

Täuschte sie sich, oder war der Mann kurz zusammengezuckt? Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und doch kam ihr der Fischer ab diesem Moment verändert vor.

Er warf einen flüchtigen Blick hinauf und hatte es eilig, sich wieder Marieke zuzuwenden. „Das ist doch das Haus von dem Unternehmer aus Hamburg? Hat viele Jahre leer gestanden.“

Marieke nickte „Sie meinen Siegfried Waldow. Er ist leider vor zwei Wochen gestorben. Haben Sie ihn gekannt? Oh, entschuldigen Sie, mein Name ist übrigens Marieke Kielmann.“

Es dauerte einen Moment, bis der Fischer ihre ausgestreckte Hand ergriff.

Er schien zu überlegen, ob ihm ihr Name irgendetwas sagen sollte. „Claasen“, sagte er schließlich. „Jan Claasen. Ich wohne oben im Ort. Den Waldow habe ich nur flüchtig gekannt. Jemand wie der hat sich nicht mit uns Dorfbewohnern abgegeben. Bis auf wenige Ausnahmen.“ Claasens Gedanken schienen für einen Moment nicht mehr bei ihrer Unterhaltung zu sein. Er wirkte für den Bruchteil einer Sekunde auf eine fast schon erschreckende Art und Weise abwesend.

Sie lösten den Händedruck.

„Es ist wunderschön hier bei Ihnen“, sagte Marieke. „Sind Sie hier geboren?“

Claasen nickte knapp. „Bin schon mein ganzes Leben lang Fischer.“

Ihr kam ein Gedanke. „Ich werde mir das Haus da oben zurecht machen. Es ist gar nicht so viel Arbeit, wie man vielleicht denkt.“ Sie legte eine kurze Pause ein. „Sagen Sie, Sie wissen nicht zufällig, ob in Haus Seegrund mal etwas Ungewöhnliches passiert ist?“

Claasen wandte den Blick ab und sah für einen Augenblick auf die Ostsee hinaus. „Etwas Ungewöhnliches?“ wiederholte er gedehnt. „Was meinen Sie damit?“

Marieke fühlte sich von seinen blauen Augen gemustert. Sie trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. „Nun, ich habe gehört, dass da mal etwas gewesen sein soll. Eine Art Verbrechen, das wohl vor einiger Zeit schon passiert sein muss. Falls es jemanden im Ort gibt, der sich daran erinnert, würde ich es gerne erfahren. Ich möchte nur etwas über die Geschichte meines Hauses wissen, verstehen Sie?“

Zwischen ihnen entstand eine Pause. Auf Marieke machte Claasen plötzlich den Eindruck, als würde er gerne mit seiner Arbeit fortfahren wollen. Plötzlich ärgerte sie sich, dass sie dem wildfremden Mann überhaupt ein Gespräch aufgezwungen hatte.

„Es gibt nichts, was Sie über das Haus wissen müssten“, sagte er barsch. „Und es hat auch keine Geschichte. Dieser Neureiche hat sich damals das Grundstück geschnappt und die Hütte da errichten lassen. Nach einer Weile wurde es ihm wohl langweilig und danach hat ihn kein Mensch mehr hier gesehen. Gut so, wenn Sie mich fragen.“

Marieke versuchte zu lächeln. Der Blick des Fischers hatte plötzlich etwas Feindseliges angenommen. Sie stellte sich insgeheim die Frage, ob seine Verärgerung Waldow galt oder ihr, da sie ihn offensichtlich an etwas Unangenehmes erinnert hatte.

„Ich möchte Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten“, leitete sie das Ende der seltsamen Unterhaltung ein. „Na dann, auf gute Nachbarschaft.“ Sie drehte sich um und ging.

„Moment“, rief Claasen ihr hinterher. „Ihr Steinbutt!“

Marieke drehte sich um. Sie kam sich ein wenig verloren vor.

Claasen war mit einem Satz in seinem Boot und machte sich über seinen Fang her. In seiner linken Hand hielt er einen kleinen Plastikeimer. In der anderen blitzte plötzlich ein langes Messer auf. Im Nu hatte er zwei Fische gegriffen, ihnen die Köpfe abgetrennt und sie fachmännisch ausgenommen.

Marieke erschreckte die Brutalität, mit der er dabei zu Werke ging. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Nur zögernd griff sie nach dem gelben Eimer, in dem die beiden toten Tiere lagen.

Sie bedankte sich bei Claasen und hatte es plötzlich eilig, weiterzukommen. Ob er ihr nachsah? Sie traute sich erst an der nächsten Biegung des Strandes, sich noch einmal umzudrehen, doch da war der Fischer bereits in seiner Hütte verschwunden. Der Gedanke, dass sie ihm nicht einmal angeboten hatte, die Fische zu bezahlen, erschreckte sie regelrecht. Sollte sie noch einmal umkehren? Was, wenn sie sich dadurch noch lächerlicher machte? Marieke fand, dass sie auch so bereits keine Glanzleistung abgeliefert hatte.

Sie schüttelte den Kopf, wie um sich von unangenehmen Gedanken zu befreien.

Die Sonne in ihrem Rücken wärmte sie plötzlich nicht mehr und als Marieke sich nochmals umdrehte, erkannte sie, dass sie schon fast völlig untergegangen war und es langsam dunkel wurde.

Etwa zwanzig Meter Luftlinie trennte sie von ihrem neuen Haus. Dazwischen lag die Steilküste; ein hoher, lehmiger und teilweise bewachsener Hang, der unpassierbar war. Sie erinnerte sich plötzlich daran, vor wenigen Minuten an einer Treppe vorbeigekommen zu sein, die mit Sicherheit auf direktem Weg in den Ort führte. Eine Abkürzung.

Marieke drehte sich um und ging dorthin zurück.

Auf einem massiven Betonsockel war eine Steintreppe aufgebaut, die steil noch oben führte. Nach einigen Metern ging sie in einen Pfad über, der sich zwischen dicht stehenden Bäumen weiter hinauf schlängelte. Hier und da waren Lehmstufen eingesetzt, um dem Wanderer den Aufstieg zu erleichtern.

Marieke war froh, als sie mit ihrem ungeeigneten Schuhwerk das Dorf erreicht hatte. Jetzt würde sie nur noch zehn Minuten zu ihrem Haus benötigen. Hoffentlich gerade rechtzeitig, bevor es stockfinster war.

In den kleinen Katen brannte Licht. Der Buchenrauch, der aus den Häusern stieg, war jetzt nur noch zu riechen.

Einmal glaubte sie, hinter einer der Gardinen eine Bewegung zu erkennen, doch im selben Moment war der Eindruck verflogen. Marieke fröstelte, als sie den schmalen Plattenweg entlang eilte, den Hügel hinauf. In der hereinbrechenden Dunkelheit sah die Umgebung plötzlich anders aus.

Sie war froh, als sie schließlich ihr Haus erreichte und im ersterbenden Licht des Tages die Tür aufschloss. Auf der Schwelle blieb sie kurz stehen und drehte sich um.

Hatte sie hinter sich ein Geräusch gehört?

Sie sah zum Waldrand hinüber. Ihre Augen versuchten vergeblich, die Dunkelheit zu durchdringen. Sie glaubte, zwischen den Bäumen kurz etwas aufblitzen zu sehen.

Vielleicht ein Tier, dachte sie. Sicher nur ein Tier.

- 4 -

VOGT HATTE AN diesem Sonntagmorgen lang geschlafen. Seit einigen Tagen bewohnte er ein Gästezimmer in Waldows Hamburger Villa, bis seine Mutter sich an die neuen Umstände gewöhnt hatte.

Um die Mittagszeit klingelte es an der Tür. Als seine Mutter öffnete, blickte sie in das zerknautscht wirkende Gesicht von Doktor Eckels. Er brachte einen Schwall kalter Luft mit herein. In der Diele klopfte er sich das Regenwasser von seinem Mantel und hing seinen Hut an die Garderobe.

„Was für ein Schmuddelwetter“, schimpfte er und schüttelte sich wie ein Hund.

Angela Vogt begrüßte ihren Gast herzlich und führte ihn in das Esszimmer. Als Vogt die Treppe herunterkam, drehte sie sich zu ihm um.

„Mahlzeit“, rief sie ihm mit lang gezogenem „A“ und einem Lächeln entgegen. „Bitte sei so gut und geh’ gleich hinein. Ich habe Doktor Eckels für heute zum Essen eingeladen.“

Vogt gab seiner Mutter im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange. „Ich weiß“, entgegnete er fröhlich. „Ich habe ihn gerade gesehen.“

Vogt kannte Eckels flüchtig. Er wusste, dass er Waldows Hausarzt gewesen war und durch diese Eigenschaft hatte er auch das eine oder andere Mal seine Mutter behandelt. Die beiden waren allem Anschein nach recht vertraut miteinander.

Eckels, der bereits am gedeckten Tisch Platz genommen hatte, erhob sich, als Vogt eintrat, und reichte ihm die Hand.

„Na, was machen die Geschäfte mit dem Alkohol?“ fragte der Arzt feixend und spielte damit auf Vogts Vertretertätigkeiten an.