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EINE SCHWARZDROSSEL KAM vom Strand her geflogen, stieg noch einmal hoch in die Luft und ging dann in einen Sinkflug über. Sie landete auf dem Dachfirst des Hauses, das wie ein stummer Wächter am Rand der Steilküste thronte. Fast zwei Jahre hatte es leer gestanden – mit der Drossel, so schien es, kehrte neues Leben zurück. Neugierig reckte das Tier seinen Kopf, als würde es den Mann beobachten, der sich in der offenen Haustür soeben eine Zigarette angezündet hatte.

Er trat ins Freie, lehnte sich gegen einen der Pfosten, die den hölzernen Vorbau des Hauses stützten, und genoss die warmen Sonnenstrahlen. Lassek schloss die Augen, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch durch die Nase aus. Es war die Ruhe vor dem Sturm, und er wusste es.

In etwa 180 Kilometern Entfernung, in einer Großstadt namens Hamburg, trat Arndt Neumann vor den Spiegel im Ankleidezimmer und zog seine Krawatte zu. Sein dunkelblauer Anzug bildete den perfekten Übergang vom Business-Look zu modisch adrettem Aussehen, ohne jedoch diese Schwelle je zu übertreten. Sein Haar war über die Jahre seiner Stirn gewichen. Den Rest, der um seinen Kopf herum noch vorhanden war, trug er kurz geschnitten. Stilvoll, korrekt – eine tadellose Erscheinung. Wäre da nicht die Schwelle gewesen, die Neumann selbst übertreten hatte. Niemand sah sie ihm an. Nur er erkannte sie, wenn er so wie jetzt vor dem Spiegel stand.

Nebenan wurde die Dusche abgestellt. Die Tür zum Badezimmer stand halb offen. Im ganzen Obergeschoss roch es nach Duschgel, Parfüm und Rasierwasser.

Eigentlich hätten sie schon auf dem Weg sein sollen, dachte Neumann. Er hasste nichts so sehr wie Unpünktlichkeit. Er ließ sich auf die Couch sinken und dachte daran, dass er eine Entscheidung zu treffen hatte. Bald schon.

Sascha war ein vernünftiger Junge. Oder doch nicht? Carina zuckte mit den Schultern. Zumindest schien er in Ordnung zu sein. Wer war heutzutage schon vernünftig? Und war ihr vernünftig nicht auch zu langweilig? Sie drehte sich den Rückspiegel im parkenden Wagen so, dass sie ihren Lippenstift nachziehen konnte. Das Rot war ihr einen Tick zu grell, aber sie hatte auf die Schnelle keinen anderen Stift gefunden. Möglich, dass sie nicht einmal einen zweiten besaß.

Ein paar Tage an der Ostsee waren so ungefähr das Letzte, auf das sie getippt hätte, wäre sie noch vor Kurzem danach gefragt worden, wo sie ihr nächstes Wochenende verbringen würde.

Sascha hatte sie aus diesem dunklen Club abgeschleppt, hatte dafür von Danny und seinen Schlägern was aufs Maul bekommen und hielt es für eine gute Idee, sie, die durchgeknallte Carina, mitzunehmen, damit sie untertauchen konnte. Ein mulmiges Gefühl machte sich bei diesem Gedanken in ihrer Magengegend breit. Sie wollte endlich losfahren. Was trieb Sascha nur noch so lange?

Carina drehte den Rückspiegel zurück, beugte sich über den Fahrersitz und drückte zweimal auf die Hupe.

„Es muss hier irgendwo sein, jede Wette.“

Pia Schulte seufzte. „Wahrscheinlich sind wir schon dreimal an der Stelle vorbeigefahren, an der du hättest abbiegen müssen. Wenn dein Navi funktionieren würde …“

Henning Schulte grinste. „Das Navi hat bis vor zwanzig Minuten hervorragend funktioniert. Die Buchse vom Zigarettenanzünder aber nicht. Die hat einen weg. Jede Wette.“

„Jede Wette“, murmelte Pia, strich sich eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht und sah aus dem Seitenfenster. „Niemand, den man fragen könnte“, stellte sie fest. „Ich glaube, wir sind in der letzten halben Stunde keiner Menschenseele begegnet. Hast du dein Handy dabei?“

Henning kurbelte am Lenkrad und versuchte, auf der schmalen, rissigen Teerstraße zu wenden. „Mein Handy? Wozu?“

„Um diesen Typen anzurufen.“

„Lassek?“

„Keine Ahnung, wie der heißt. Der Kerl halt, der jetzt eigentlich schon beim Haus sein sollte.“

Henning Schulte ließ den Wagen rechts in einen Feldweg einbiegen, der nach etwa zweihundert Metern in einen Laubwald mündete. Wo scheinbar die Welt zu Ende war, schlängelte sich der schmaler werdende Weg weiter auf eine kleine Lichtung zu, die direkt an die Steilküste grenzte. Am Rande der Lichtung und am Rande des klippenartigen Gefälles befand sich das Haus. Es tauchte vor ihren Augen auf wie aus dem Nichts.

„Na bitte“, sagte Henning. „Wer braucht schon ein Navi, hm?“

Pia schluckte eine bissige Bemerkung hinunter und öffnete die Beifahrertür. Sie stieg aus, nahm ihre Sonnenbrille ab und streckte sich. Das Ferienhaus war größer, als sie angenommen hatte. Genau genommen hatte sie gar keine rechte Vorstellung von dem Domizil gehabt, in das Henning seine Gäste eingeladen hatte. Pia war positiv überrascht. Hinter dem Haus konnte man direkt auf die Ostsee hinaus blicken. Einige Segler waren auf dem Wasser, auf dem Weg nach Langballigau, Bockholmwik oder gar Flensburg. Hinter der spiegelnden blauen Fläche lag die Küste Dänemarks. Sonderburg.

Pia ließ ihren Blick zurück schweifen – und erschrak. Ein Mann war vor das Haus getreten. In der blendenden Mittagssonne konnte sie ihn nicht richtig erkennen. Es war, als ob seine Konturen zerfaserten.

Henning, der sich inzwischen um ihr Gepäck gekümmert hatte, ließ den Kofferraumdeckel zuknallen.

Von dem Geräusch aufgeschreckt, stieß die Schwarzdrossel mit einem Warnlaut hoch in die Luft. Im Nu hatte sie das Haus weit hinter sich gelassen, als fürchtete sie sich vor dem, was da kommen würde.

- 2 -

HERR LASSEK?“

Henning Schulte war auf den Mann zugetreten, der an dem Pfosten der Veranda lehnte und keine Anstalten machte, den neuen Gästen mit dem Gepäck zu helfen.

Henning stellte seinen Koffer ab und sah dem anderen in die Augen. Wasserblaue Augen, die eine gewisse Spur von Härte hatten.

Der Angesprochene löste sich von dem Balken und nickte Henning zu, was wohl so viel bedeuten sollte, dass er richtig getippt hatte.

„Schön, Sie hier zu treffen“, sprach Henning weiter und hielt dem anderen die Hand hin, die dieser aus einer lässigen Bewegung heraus ergriff. „Ist schon alles vorbereitet?“

Lassek nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette, die er bis auf den Filter hinunter rauchte und schnippte den Stummel achtlos davon. „Ich weiß nicht, was Sie unter alles verstehen, aber die Tischdeko ist fertig, das Haus ist sauber und das Wichtigste: die Getränke sind kalt gestellt.“

Henning grinste. „Na, dann kann ja nichts mehr anbrennen. Was ist mit dem Essen?“

Lassek sah auf seine Uhr. „Müsste in spätestens einer Stunde geliefert werden. Sie können ganz beruhigt sein und sich vielleicht so lange noch frisch machen, bevor die Gäste kommen.“

Henning sah sich nach Pia um, die ihren Trolley vor dem Wagen stehen gelassen hatte und in diesem Augenblick um die andere Hausecke bog. Ein schmaler Weg aus steinernen Platten führte um das Gebäude herum.

„Ich nehme alles zurück, was ich vorhin über die Gegend hier gesagt habe“, sprudelte es aus ihr heraus und sie strahlte dabei. „Das Haus und die Aussicht sind wundervoll.“

Ihr Blick fiel auf Lassek, und Henning hatte den Eindruck, als würde ihr Lächeln eine Spur kälter. Rasch handelte er. „Oh, das hier ist Herr Lassek, der sich heute Abend um unser leibliches Wohl kümmern wird und vermutlich auch hinterher die Küche aufräumt, nehme ich an?“ Henning lachte über seinen eigenen Scherz und ärgerte sich im selben Moment, dass er so unbeholfen dabei wirkte.

„Schaffen Sie denn das so ganz allein?“, fragte Pia.

Lassek lächelte und zeigte dabei zwei Reihen kräftiger Zähne, die in gesunden Kiefern steckten. „Die Zahl der Gäste ist überschaubar, das Essen wird fertig angeliefert; ich habe mich also nur um das Servieren und die Getränkewünsche zu kümmern. Das kriege ich hin.“

„Wunderbar“, sagte Henning hastig und drehte sich zu seiner Frau um. „Komm, Schatz, du musst noch das Haus kennen lernen.“ Er griff seinen kleinen Koffer und schnappte im Vorbeigehen nach dem schwarzen Trolley.

Pias Blick ruhte noch einen kurzen Moment auf dem Mann im dünnen weißen Rollkragenpullover, dann wandte sie sich ab und folgte Henning.

Sie traten durch die Haustür in einen hellen Flur, in dem zwei Garderobenständer aufgestellt waren. Auf der hölzernen Truhe, die mit Bauernmalerei verziert war, stand eine Vase mit frischen Rosen, die einen leicht süßlichen Duft verbreiteten. Von dort ging es in einen großen Raum, der in Ess- und Wohnzimmer unterteilt worden war. Der vordere Bereich wurde dominiert durch den langen, wuchtigen Tisch, der mit blütenweißen Tischdecken dekoriert war.

Darauf befanden sich die Gedecke für die Gäste. Pia ertappte sich dabei, dass sie nachzählte. Alles wirkte hell, freundlich und einladend.

Zur linken Seite zweigte die Küche ab, und dann gab es da noch die gedrechselte und mit Schnitzereien verzierte Treppe, die in die oberen Räume führte.

„Das ist toll“, lautete Pias erstes Urteil. Noch immer hatten ihre neugierigen Blicke nicht alle Einzelheiten des Hauses erfasst. „Diese Frau, wie heißt sie gleich … hat wirklich ein glückliches Händchen bewiesen. Warum wohnt sie nicht selbst hier?“

Henning stellte die Koffer am Fuß der Treppe ab. „Marieke Kielmann“, antwortete er, „das ist ihr Name. Und sie hat hier bis vor zwei Jahren gewohnt, so weit ich weiß. Keine Ahnung, warum sie hier weg ist. Wahrscheinlich ist ihr das Grundstück doch ein bisschen zu sehr abgelegen. Naja, und daher vermietet sie das Haus halt an Verrückte wie uns.“

Pia trat an das hintere Fenster im Wohnzimmer, zog den Vorhang beiseite und blickte nach draußen, auf die spiegelnde Wasseroberfläche der Ostsee. „Also, egal, wie das Wochenende verläuft: Ich denke, ich werde mich hier wohlfühlen.“

Henning trat an seine Frau heran und nahm sie in den Arm. „Das freut mich sehr. Ich möchte auch, dass es dir hier gut geht. Du weißt ja, wie wichtig diese zwei Tage für mich sind.“

„Ja“, gab sie zurück. Dann löste sie sich aus seiner Umarmung. „Auch wenn ich gestehen muss, dass ich ein bisschen Angst davor habe.“

Henning drehte sich zu seiner Frau um, wollte etwas erwidern, doch da registrierte er, dass Lassek mitten im Raum stand. Weder er noch Pia hatten ihn eintreten hören.

„Da kommt ein Wagen durch den Wald“, sagte der Mann. „Ich glaube, wir kriegen Besuch.“

Henning sah zur Uhr. Es war erst zehn Minuten nach vier. „Was denn? Jetzt schon?“ Er trat zwischen Pia und Lassek hindurch und eilte durch den Flur hinaus ins Freie.

Tatsächlich hörte er sofort das Geräusch eines Motors, und schon im nächsten Moment holperte ein schwarzer Sportwagen mit offenem Verdeck den Weg zur Auffahrt hinauf.

Henning blinzelte. Das war Saschas Wagen.

Der schwarze BMW wurde abgestellt, und Sascha Hiebler sprang heraus. Von weitem konnte Henning bereits erkennen, dass sein Freund kurze Hosen trug sowie ein sommerliches Kurzarmhemd, das von der Fahrt einige Knitterfalten davon getragen hatte. Noch mehr interessierte Henning jedoch die Tatsache, dass sich auch die Beifahrertür öffnete und dem Wagen eine junge Frau entstieg, die offenbar genug zu tun hatte, ihr langes braunes Haar wieder in Ordnung zu bringen.

Henning beobachtete, wie die beiden näher kamen, Sascha Hiebler wie immer mit dem breiten Grinsen eines jungen Mannes im Gesicht, dem die Welt offen stand. Seine Begleiterin hingegen wirkte eher schüchtern, bewegte sich in seinem Schatten und hatte den Blick zu Boden gesenkt.

Henning spürte das erste Mal an diesem Tag, dass etwas nicht so lief, wie er es geplant hatte.

„Hallo, mein Bester“, rief Sascha, und als er Henning erreicht hatte, klopfte er ihm herzlich auf die Schulter.

Henning erwiderte den Gruß. „Du bist früh dran“, sagte er und wartete darauf, dass Sascha ihn mit seiner Begleiterin bekannt machte. Doch genau das blieb aus. Henning nickte der Brünetten kurz zu und erwartete irgendwie, dass sie sich den Autoschlüssel nehmen und wieder davon fahren würde, aber auch das passierte nicht.

„Das ist also die Hütte, hm?“, sagte Sascha und trat an Henning vorbei, um das Haus näher in Augenschein zu nehmen.

Henning fühlte sich unwohl. Er stand der Frau nun direkt gegenüber, und sie – sie stand einfach da, sagte nichts. Stand und sah in der Gegend umher, als wäre nichts, während Sascha so tat, als wäre sie gar nicht da.

Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und drehte sich zu Henning um. „Bisschen spießig, oder? Aber so gesehen: Für den Alten genau das Richtige. Der steht auf so was.“

Henning trat so nahe an seinen jüngeren Kumpel heran, dass sich ihre Nasenspitzen hätten berühren können. „Sascha, verdammt, wer ist das?“

Der Angesprochene schien nicht zu verstehen. Er tat so, als müsse er sich erst erinnern. Dann zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht, und mit einer beiläufigen Bewegung schnippte er sich die Sonnenbrille, die in seinem flachsblonden Haar steckte, zurück auf die Nase. „Sie ist eine Freundin. Hab sie unterwegs aufgegabelt.“ Damit wollte Sascha sich abwenden, doch Henning hielt ihn am Oberarm fest.

„Aufgegabelt? Was soll das heißen? Ich meine, bleibt sie etwa hier?“

Sascha hob abwehrend die Hände. „Hey, bleib locker, ok? Hier ist doch Platz genug und mal ganz unter uns: Ein eigenes Bett braucht die sowieso nicht.“ Saschas Grinsen wurde noch breiter.

Henning verzog hingegen keine Miene. „Was ist sie für eine? Wo hast du sie her?“

„Ich sagte doch, ich hab sie mitgenommen. Sie ist aus Hamburg und muss für ne Weile eben mal … naja, untertauchen.“

Henning warf einen Blick zu der Frau hinüber, die sich noch immer keinen Millimeter gerührt hatte. Sie stand da, kaute an ihrem Daumennagel und starrte mit leerem Blick ziellos in die Gegend.

„Hat die was genommen?“

Sascha schüttelte den Kopf und klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Keine Sorge, ich passe schon auf sie auf.“

„Du weißt, was an diesem Wochenende für mich auf dem Spiel steht.“

Das Grinsen verschwand für einen kurzen Moment. „Ich habe gesagt, dass ich dir helfe, ok? Und dazu stehe ich. Und wegen Carina – mach es einfach so wie ich manchmal: Ignoriere sie. Wirst sehen, das funktioniert erstaunlich gut.“

Carina.

Henning atmete tief durch und setzte ein erzwungenes Lächeln auf. Vielleicht wurde doch noch alles gut.

- 3 -

HENNING UND PIA hatten die Zeit bis zum Essen genutzt, um sich frisch zu machen und sich in ihrem geschmackvoll eingerichteten Zimmer im Obergeschoss umzuziehen.

Draußen dämmerte es bereits, aber noch immer lag die Wärme des Herbsttages in der Luft.

Henning öffnete das Fenster und genoss den leichten Wind, der seine nackten Beine umschmeichelte. Er band sich mit routinierten Bewegungen die Krawatte um und zog den Knoten zu.

Henning hielt in seinen Bewegungen inne, als eine schwarze Limousine mit eingeschalteten Scheinwerfern den Waldweg herauf fuhr. Sofort fühlte er sich wie elektrisiert.

„Sie kommen“, sagte er zu Pia, die soeben aus dem kleinen angrenzenden Bad gekommen war. Sie trug ein hellblaues, schulterfreies Sommerkleid, das ihre schlanke Figur betonte. Ihr blondes Haar trug sie offen. Es fiel sanft über ihre wohlgeformten Schultern. Sie trat hinter ihren Mann und beobachtete, wie der schwarze Mercedes bis zur Auffahrt herauf fuhr und neben dem Cabrio von Sascha Hiebler zum Stehen kam.

„Bist du so weit?“, fragte Henning.

Pia wich einen Schritt zurück, betrachtete sich selbst in dem Spiegel neben dem Fenster und nickte. „Ich denke schon.“

Henning wandte seinen Blick für einen Moment vom Fenster ab. „Entschuldige bitte, du siehst natürlich bezaubernd aus. Wie immer.“

Pia seufzte. „Besten Dank auch. Ich weiß ja, wie viel Wert du darauf legst.“

„Aber doch nur, weil du bei dem Alten einen Stein im Brett hast.“ Henning sah wieder hinaus. Die Neumanns waren da. Soeben war Arndt Neumann ausgestiegen. Er zog sich sein Jackett über, das er beim Fahren abgelegt hatte. Neben ihm erschien seine Frau Elke, ihr feuerrotes Haar zu einer modischen Kurzhaarfrisur geschnitten. Sie steckte in einem schwarzen Cocktailkleid, das verdeutlichte, dass sie noch immer eine attraktive Person war. Gerade eben hatte sie ihre Puderdose in das mit Edelsteinen besetzte Handtäschchen zurück gesteckt. Sie hakte sich bei ihrem Mann unter. Gemeinsam traten die beiden auf das Haus zu.

„Es wird Zeit“, sagte Henning und verfiel in hektische Betriebsamkeit. Er schlüpfte in die Hose, die Pia ihm auf dem Bett zurechtgelegt hatte. Rasch stopfte er den Saum seines weißen Hemdes hinterher.

Unten im Erdgeschoss klingelte es.

Henning hörte, wie Lassek, der inzwischen ebenfalls Abendkleidung angelegt hatte, die Tür öffnete und ein paar Worte mit den neuen Gästen wechselte.

„Es wird alles gut gehen, wenn wir es ruhig angehen lassen“, sagte Pia in diesem Moment. „Du darfst ihn nicht gleich mit diesem Thema überfallen, hörst du?“

„Ich weiß.“

Pia lächelte. „Das hoffe ich. Ich möchte nur vermeiden, dass du wieder zu impulsiv bist. Du hast manchmal diese Art, dir dadurch selbst zu schaden.“

Sie küsste ihn und verhinderte damit die Antwort, die ihm auf den Lippen gelegen hatte.

Gemeinsam verließen sie das Zimmer und gingen Seite an Seite die Treppe hinunter.

„Na, wen sehe ich denn da?“, ertönte die kräftige Stimme Neumanns. Er stand am Fuß der Treppe, ein Sektglas in der Hand. „Frau Schulte, ich habe gedacht, die Sonne ist gerade untergegangen, aber wenn ich Sie sehe, kommt sie glatt noch mal zurück.“

Henning hörte Pia an seiner Seite lachen. Es klang gut und authentisch. Sie befand sich bereits in ihrer Rolle.

„Und Sie sind seit dem letzten Mal keinen Tag älter geworden, Herr Neumann. Und ein Charmeur sind Sie auch immer noch.“ Pia hatte das Ende der Treppe erreicht und ließ den Handkuss zu, den der übergewichtige Neumann ihr schenkte.

Henning folgte ihr und reichte seinem Vorgesetzten die Hand. Ein fester Druck folgte, und Neumann benutzte die freie Linke dazu, ihm auf den Oberarm zu klopfen. „Henning, alter Junge. Sag mal, wo hast du denn diese tolle Hütte aufgetrieben? Und wie das hier duftet! Hast dich doch hoffentlich nicht zu sehr in Unkosten gestürzt, was?“

Henning verneinte lachend. „Ich möchte, dass ihr euch an diesem Wochenende einfach wohlfühlt.“

„Das werden wir ganz sicher“, meldete sich Elke Neumann lachend zu Wort und reichte dem Gastgeber ihre rechte Hand, die in einem eleganten schwarzen Handschuh steckte. Henning ergriff sie und deutete einen Kuss an.

„Wo steckt denn mein ungezogener Neffe?“, polterte Arndt Neumann los.

Henning blickte suchend durch den Raum. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür zur Küche, und Sascha Hiebler trat heraus. In seinem Schatten bewegte sich Carina, die sich scheu nach allen Seiten umblickte. Sie vermied es, Henning in die Augen zu sehen. Hoffentlich ging das gut. Er hatte die Befürchtung, dass etwas mit dem Mädchen, das kaum älter als zwanzig sein mochte, nicht in Ordnung war. Immerhin hatte auch sie sich umgezogen; und wenngleich sie auch nicht dem Anlass nach gekleidet war, waren ihre engen Jeans zumindest sauber. Darüber trug sie ein modernes Oberteil, das, wenn Henning sich nicht allzu sehr täuschte, seiner Frau gehörte.

„Tagchen Onkel“, rief Sascha, als er Neumann erblickte. „Na, wie immer auf dem letzten Drücker unterwegs gewesen? Oder musstet ihr noch mal zurück, weil Elke ihre Handtasche vergessen hatte?“

Neumann lachte glucksend und reichte seinem respektlosen Neffen die Hand. Dann fiel sein Blick auf dessen junge Begleitung. „Nanu? Habe ich da etwas verpasst, mein Junge?“

Sascha griff Carinas Arm und zog die Frau spielerisch an seine Seite. „Das ist Carina“, sagte er. „Na komm, sag dem Onkel guten Tag.“

Carina tat, was man von ihr verlangte. Sie brachte es sogar fertig, ihren Kopf zu heben und den gewichtigen Neumann, Unternehmenschef der B & N Operations, anzublicken. Sie sah ihn mit einer Art unverhohlener Neugier an, als hätte man ihr soeben den letzten lebenden Vertreter einer vom Aussterben bedrohten Spezies vorgestellt.

Henning atmete nicht nur innerlich auf. Der Anfang war gemacht und er war reibungslos verlaufen.

Lassek tauchte in der Tür zur Küche auf. Seine Augen suchten Kontakt mit ihm.

Der Gastgeber nickte und Lassek schien zu verstehen.

Henning rief seine Gäste zu Tisch. Der Abend hatte begonnen.

Er sollte in eine Nacht des Entsetzens übergehen.

- 4 -

DER TOTE BEDEUTETE Ärger. Hauptkommissar Junge wusste es, noch ehe er die Leiche in Augenschein genommen hatte. Woher diese Gewissheit kam, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen. Vielleicht lag es in der Luft, oder aber es war einfach an der Zeit, dass die Dinge außer Kontrolle gerieten.

Eine junge Blondine in blauer Fantasie-Uniform lächelte ihn an und winkte ihn durch den Abfertigungsbereich, als er seinen Dienstausweis vorzeigte. Direkt dahinter nahm ihn Kommissar-Anwärter Dirk Schuhmacher in Empfang. „Na, Sie sehen auch aus, als hätten Sie sich Ihren Feierabend anders vorgestellt.“ Der Uniformierte grinste einfältig.

Junge stöhnte innerlich auf. Von allen zur Verfügung stehenden Beamten hatte man ihm ausgerechnet diesen Kriecher zur Seite gestellt.

Sie schritten durch das gläserne Gateway, von dem aus man einen großzügigen Blick auf den hell erleuchteten Schwedenkai erhielt. Heute Abend mischte sich das Blaulicht mehrerer Einsatzfahrzeuge darunter. Junge hatte kaum noch ein Auge dafür, solche Dinge gehörten zu seinem Alltag.

„Fast hätte der Pott abgelegt“, sagte Schuhmacher in diesem Moment. „Wir konnten es eben noch verhindern. Was meinen Sie, was da gerade hinter den Kulissen los ist? Der Kapitän wollte, dass ich ihn mit dem Kriminalrat persönlich verbinde.“ Schuhmacher tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

„Wer hat den Toten gefunden?“, fragte Junge knapp.

„Ein Mann namens Piotr Wolczek, ein junger Russe, der als Servicekraft auf der Linie arbeitet.“

„So“, machte Junge. „Ist der Mann noch da? Ich würde gerne mit ihm sprechen.“

„Ich, äh … habe ihm gesagt, er soll sich zu unserer Verfügung halten.“ Schuhmacher blinzelte seinen Vorgesetzten verunsichert an und schien nach Worten zu suchen. Hastig fuhr er fort: „Herr Albrecht hatte bei ihm zwei Flaschen Champagner in seine Kabine bestellt, kurz nachdem er an Bord gekommen war. Das war etwa gegen 18 Uhr 30.“

„Scheint ja einen Riesendurst gehabt zu haben.“

Sie legten die letzten Meter in dem gläsernen Zubringer zurück und erreichten nun die Gangway, die sie auf die mächtige Baltic Lady führte. Junges Füße setzten auf dem Deck auf, und von da an spürte er, dass dieser Fall anders werden würde. Es würde keiner der Routinefälle werden, in dessen Verlauf er den Täter ermitteln und überführen würde. Zuerst war in ihm nur dieser winzige Keim einer dunklen Vorahnung, doch er spürte, dass darin die Kraft lag, schnell zu wachsen.

Junge verdrängte diese Gedanken, als er sich von Schuhmacher, der die ganze Zeit über unaufhörlich redete, durch einen langen Korridor zur Kabine des Toten führen ließ.

Dort wartete Helge Majewski, der Polizeiarzt, bereits auf ihn. Der Mann, der aussah, als könne ihn die leiseste Windbö bereits von Deck fegen, nickte ihm zu, nahm die kleine goldgeränderte Brille ab und fasste sich mit Zeigefinger und Daumen an die Nasenwurzel.

Junge nickte dem Mann zu. „Kopfschmerzen?“, fragte er.

„Seit heute Morgen schon“, gab der Arzt zurück und setzte sich die Brille wieder auf. „Wir müssen da rein.“ Er deutete zum Kabineneingang. „Ihre Kollegen sind vor etwa einer Viertelstunde weg, aber wir haben alles so belassen, damit Sie sich ein Bild machen können.“

Junge und Schuhmacher folgten ihrem Kollegen ins Innere.

„Donnerwetter“, sagte Junge, der in dem feudalen Raum mit Ledercouch, Flachbildfernseher und einem einladenden Doppelbett stehen geblieben war und sich nach allen Richtungen umsah.

„Wirklich nett“, sagte er, „nicht mein Geschmack, aber trotzdem nett. Wo ist denn jetzt der Tote?“

Majewski wollte etwas sagen, doch Schuhmacher kam ihm zuvor. „Hier vorne. Moment.“ Er eilte auf eine dünne, dunkelbraun getäfelte Tür zu und öffnete sie. Junge drang ein aufdringlicher, süßlicher Geruch entgegen. „Er hatte sich ein Bad eingelassen. Ist wohl in der Wanne von seinem Mörder überrascht worden.“

Junge schob seinen Kollegen beiseite und betrat den Raum, der von einer runden Badewanne mit goldenen Armaturen und einem gefliesten Podest dominiert wurde.

Darin, den Kopf auf die Brust gesunken und mit geschlossenen Augen, lag er: Mirko Albrecht. Ein Mann von zweiunddreißig Jahren, schulterlanges blondes Haar, das ihm in nassen Strähnen am Kopf klebte, dünnes Oberlippenbärtchen, das wie zarter Flaum wirkte. Seine Haut war kreideweiß, und sein Gesicht hatte noch immer diesen knabenhaften Ausdruck, den Junge bereits von einigen Fotografien her kannte.

Kaum vorstellbar, dass ein Bengel, der aussah, als könne er nicht einmal Kaugummis aus einem Automaten klauen, einen Großteil von Hamburgs Drogenszene beherrscht haben sollte.

„Das Badewasser hatte noch eine Temperatur von neunundzwanzig Grad, als wir eintrafen“, sagte Majewski trocken. „Schätze, dass der Tod kurz nach seiner Begegnung mit dem Steward eingetreten ist. Also zwischen 18 Uhr 30 und 18 Uhr 45. Todesursache ist vermutlich eine Stichwunde in der linken Brust.“

Junge blickte auf das Badewasser, das sich rostig rot verfärbt hatte. „Tatwaffe?“

Majewski sah Schuhmacher an, der beinahe seinen Einsatz verpasst hätte. „Fehlt. Der Mörder hat sie vermutlich mitgenommen und über Bord geworfen.“

Majewski deutete auf die Einstichstelle. „Ich kann noch nicht mit Bestimmtheit sagen, was genau verwendet wurde. Fest steht aber, dass die Klinge, sofern denn eine benutzt wurde, nicht breiter ist als etwa eineinhalb Zentimeter.“

Junge trat einen Schritt näher und beugte sich mit dem Oberkörper über den Wannenrand. Der süßliche Geruch wurde stärker und zugleich unangenehmer. Irgendwo in Junges Magengegend regte sich etwas, das er gegen Mittag zu sich genommen hatte.

Ließ man die äußeren Umstände außer Acht, wirkte Mirko Albrecht, als wäre er in der Wanne eingeschlafen. Er sah harmlos und zugleich nichtssagend aus.

„Gibt es irgendwelche Spuren, die sich verwerten lassen? Hat er Anrufe erhalten? Wurde er kurz vor oder nach dem Einchecken mit irgendjemandem zusammen gesehen?“

„Leider nein“, gab Schuhmacher zurück. Sein Gesicht hatte dabei einen leicht gequälten Ausdruck angenommen. „Alles spricht aber dafür, dass er seinen Mörder selbst reingelassen hat.“

Junge drehte sich um und blickte durch die Tür zurück ins Wohnzimmer, wo aus einem verzinkten Eisbehälter die Hälse von zwei mit Goldpapier eingeschlagenen Flaschen ragten. Beide waren noch verschlossen. Daneben standen zwei Gläser, die an diesem Abend ebenfalls unbenutzt geblieben waren.

„Sieht aus, als hätte er noch einiges vorgehabt“, sagte Junge und drehte sich um. Er hatte plötzlich das tiefe Bedürfnis, das Badezimmer so schnell wie möglich zu verlassen.

Er wandte sich an Schuhmacher. „Also mit anderen Worten: Es gibt überhaupt keine Spuren, nein? Was ist mit seinem Handy oder seinem Notizbuch? Hat er einen Laptop bei sich gehabt oder eins von diesen anderen portablen Dingern?“

„Sein Handy haben wir beschlagnahmt“, kam plötzlich eine Stimme von der Kabinentür.

Junge wirbelte herum. Eine dunkelhaarige Frau hatte die Kabine betreten. Sie war in Begleitung eines uniformierten Beamten.

„Was soll das?“, entfuhr es Junge. „Was tun Sie hier?“

Die Frau kam näher. Ihr Gesicht war regungslos, als sie Junge gegenübertrat. „Kommissarin Katharina Lösch, Spezialeinheit Drogenfahndung Hamburg.“

Junge sagte kein Wort. Er war fast einen Kopf größer als seine jüngere Kollegin und sah auf sie herab. Waren sie sich schon einmal begegnet? Junge kannte die Antwort in dem Moment, in dem er sich selbst in Gedanken die Frage gestellt hatte. Es musste mindestens drei Jahre her sein, vielleicht sogar mehr. Die Drogenfahnder hatten einen Lieferwagen an der Autobahnraststätte Hüttener Berge abgefangen. Junge war damals hinter dem Fahrer her gewesen, einem Mann namens Kolbert, der in Kiel eine Frau überfahren hatte. Lösch war damals noch Polizeianwärterin gewesen und hatte sich mit ihrer energischen Art bei Junge schnell unbeliebt gemacht. Er mochte Leute nicht, die um jeden Preis der Welt Karriere machen wollten, und er hatte es damals ganz und gar nicht zu schätzen gewusst, dass die Drogenfahnder den Fall zum Abschluss gebracht hatten und ihn damit in einem schlechten Licht dastehen ließen. Vielleicht waren all diese Dinge auch mit der Grund dafür gewesen, dass Junge damals zum Hörer gegriffen hatte, um sich beim zuständigen Dienststellenleiter über die junge Lösch zu beschweren. Die Folge war eine miserable Bewertung für die junge Frau gewesen, und seitdem hatten sich ihre Wege nicht mehr gekreuzt. Bis heute.

„Sie bekommen es selbstverständlich zurück, wenn unsere Leute es ausgewertet haben, inklusive aller Ergebnisse, die wir in Erfahrung gebracht haben.“

„Hören Sie, Frau Lösch, dieser Mann hier wurde ermordet, und ich werde nicht zulassen, dass uns wichtige Beweismittel vorenthalten werden.“

„Dieser Mann hier“, sagte Lösch mit fester Stimme und deutete dabei mit der rechten Hand zur Tür des Badezimmers, „ist Mirko Albrecht. Ich nehme an, Sie wissen, wer er ist?“

Junge lächelte kurz. Es war der Anflug, die Ahnung eines Lächelns, das gleich darauf einem entschlossenen Gesichtsausdruck wich. „Sie werden sich dieses Mal nicht darüber hinweg setzen, dass der Fall in meinen Zuständigkeitsbereich fällt. Und wissen Sie was? Ich habe nicht die leiseste Lust, darüber mit Ihnen zu debattieren.“ Junge ließ seine Kollegin, die er nie als solche bezeichnet hätte, stehen und wandte sich dem Schreibtisch in der Kabine zu. Er nahm den Notizblock auf, der darauf lag und hielt ihn gegen das Licht der Deckenlampe.

Katharina Lösch, die ihr langes, dunkles Haar im Nacken zu einem Knoten gebunden hatte, zog unter ihrer Jacke ein Handy hervor, trat damit auf Junge zu und hielt es ihm vor das Gesicht. „Sehen Sie das hier? Das gehört nicht Albrecht, falls Sie das glauben. Es ist meins. Im Protokoll der letzten eingegangenen Anrufe werden Sie eine Nummer finden, die Ihnen nicht ganz unbekannt sein dürfte: Es ist die von Martin Faulner. Ich bat ihn um einen Rückruf, und ich habe ihn bekommen. Er hat mir persönlich zugesichert, dass ich in diesem Fall volle Befugnisse habe.“

„Sie können das Ding wieder einstecken“, sagte Junge, der so ruhig war, dass seine Stimme beinahe schon gefährlich klang.

Faulner. Ausgerechnet Kriminalrat Faulner hatte sich von der Frau in diese Sache hineinziehen lassen.

„Sie scheinen ja an alles gedacht zu haben“, sagte er schließlich und ließ den Notizblock demonstrativ wieder an seine alte Stelle zurück fallen. Er gab Schuhmacher einen Wink, der daraufhin herbei geeilt kam wie ein junger Hund, in der Erwartung, einen Knochen zu apportieren. „Sorgen Sie bitte dafür, dass der Zimmersteward sich hier einfindet. Wie heißt er noch gleich?“

„Piotr Wolczek.“

Junge nickte. „Wäre gut, wenn er in den nächsten Minuten hier ist, damit wir nicht noch mehr Zeit verplempern.“

Schuhmacher nickte beflissen und machte auf dem Absatz kehrt.

„Also gut“, fuhr Junge fort, „ihr wart also hinter Albrecht her. Sonst hättet ihr niemals so schnell vor Ort sein können. Es geht um Drogen, wahrscheinlich um eine ganze Menge Drogen. Albrecht wollte sich auf dem Schiff mit einem oder mehreren Personen treffen und bei der Gelegenheit sollte der Stoff seinen Besitzer wechseln, habe ich recht?“

Katharina Lösch schüttelte den Kopf. „Ja und nein. Ja, wir sind hinter Albrecht her. Eine ganze Weile schon. Wir haben durch einen Informanten Wind davon bekommen, dass Albrecht auf der Überfahrt nach Göteborg einen großen Deal abziehen wollte. Es ist von über fünf Kilogramm Heroin die Rede. Wir wissen nicht, wer die anderen sind und ob die Übergabe auf der Fahrt oder erst drüben in Schweden passieren sollte. Fest steht allerdings, dass er den Stoff bei sich hatte.“

„Wie hat er es angestellt?“, fragte Junge sofort. „Ich meine, wo hatte er das Zeug versteckt?“

Katharina Lösch hob ihren Kopf. „Er musste es nicht verstecken. Es war bereits hier an Bord und wurde durch einen Mittelsmann hier für ihn hinterlegt. Wir wissen nicht, von wem. Vielleicht einer der Stewards. Höchstwahrscheinlich ist es jemand von der Mannschaft der Baltic Lady.“

Junge lachte hart auf. „Ihr seid hinter ihm her und verpasst die Übergabe?“

„Wie gesagt: Der Mann hier an Bord ist nur ein Mittelsmann, der für Albrecht arbeitet. Wichtig sind die Männer, für die der Stoff bestimmt war. An die wollen wir heran.“

„Aus welchem Grund?“

„Nennen wir es Nachbarschaftshilfe. Wir haben Informationen, nach denen ein neuer Drogenring über ganz Skandinavien aufgezogen werden soll.“

Junge blickte zur Leiche hinüber. „Dann dürfte Ihr Plan ja jetzt genau so geplatzt sein wie seine Seifenblasen da drinnen.“

„Wir konnten seine Kabine nicht permanent observieren. Das wäre zu auffällig gewesen.“

Junge hob beschwichtigend die Hände. „Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen.“

„Es war auch keine Rechtfertigung, sondern eine Erklärung, warum uns die Identität seines Mörders nicht bekannt ist.“

Von außen wurden Schritte laut. Schuhmacher war es tatsächlich gelungen, den Steward ausfindig zu machen.

Piotr Wolczek war ein junger, dunkelhaariger Mann Anfang zwanzig. Seine Haut war gebräunt, und er trug einen dünnen Oberlippenbart. Der Russe war kräftig gebaut und gab auch ansonsten in seiner weißen Schiffsuniform eine gute Figur ab.

Schuhmacher machte die beiden Männer miteinander bekannt. Wolczek griff Junges Hand und drückte kräftig zu. Dabei lächelte er den Kommissar freundlich an, wurde aber sogleich wieder ernst, als sein Blick durch die halb geöffnete Tür ins Badezimmer fiel.

„Sie wollten mich sprechen wegen dieser Angelegenheit?“

Junge nickte und wunderte sich insgeheim über die gewählte Ausdrucksweise des jungen Mannes.

„Herr Albrecht hat kurz vor seinem Tod diese beiden Flaschen Champagner bestellt. Hat er das direkt bei Ihnen gemacht? Oder wie läuft so etwas?“

Der junge Steward blickte auf die Flaschen in dem Eiskühler. „Er hat sie telefonisch beim Service geordert. Da ich für diesen Trakt zuständig bin, habe ich den Champagner in die Kabine gebracht.“

„Verstehe“, sagte Junge. „Erzählen Sie doch mal, wie das genau ablief.“

Wolczek räusperte sich. „Ich klopfte an seine Tür und wartete, bis er öffnete. Er ließ mich herein und ich stellte die Flaschen hier vorn auf diesen Tisch.“

„Wissen Sie noch, wann das war? So in etwa?“

„Das war kurz nach halb sieben. Über dem Gang befindet sich eine Uhr, und ich erinnere mich, kurz zuvor noch drauf geschaut zu haben.“

„Sehr gut“, sagte Junge anerkennend. Dann schien ihm noch etwas eingefallen zu sein. „Als Herr Albrecht Ihnen öffnete, war er da noch vollständig angekleidet?“

Der Steward schüttelte den Kopf. „Nein. Er trug bereits einen Bademantel. Ich glaube, er war aus schwarzer Seide.“

„Das ist korrekt“, mischte Schuhmacher sich von der Seite ein. „Er lag im Badezimmer am Fußboden. Unsere Kollegen haben ihn ins Labor mitgenommen.“

„In Ordnung“, sagte Junge in leicht gereiztem Ton und wandte sich wieder dem Angestellten zu. „Hat Herr Albrecht noch mit Ihnen gesprochen? Ich meine, hat er irgendetwas gesagt, was Ihnen in Erinnerung geblieben ist?“

Wolczek ging kurz in sich. „Nur das allgemeine Geplänkel. Sie wissen schon: Er erkundigte sich danach, ob wir ruhige See haben würden und machte eine Bemerkung über seinen Magen.“

„Na“, entgegnete Junge, „dann hoffe ich, dass Sie ihn beruhigen konnten.“

„Ich denke schon. Für die kommende Nacht wird nur schwacher Wind aus Südost erwartet, und damit werden wir voraussichtlich keinen nennenswerten Seegang haben.“

Junge nickte. „Davon hat er nun leider nichts mehr. Ja, Herr Wolczek, ich glaube, das war auch schon alles. Halt, eins noch: Albrecht erwähnte nicht zufällig, wen er hier drinnen erwartete? Denn er wollte die beiden Flaschen doch ganz sicher nicht allein trinken – bei seinem nervösen Magen?“

Abermals schüttelte der junge Mann den Kopf. „Nein, tut mir leid. Ich habe ihn auch nicht danach gefragt.“

„Natürlich nicht“, sagte Junge lächelnd und gab dem Steward ein Zeichen, dass er die Befragung an dieser Stelle für beendet hielt.

Piotr Wolczek verabschiedete sich und verließ daraufhin die Kabine.

Junge und Schuhmacher folgten ihm, danach trat auch Katharina Lösch in den Korridor hinaus.

Junge drehte sich um und deutete in das Innere der Kabine. „Was glauben Sie, wen er hier erwartet hat, hm? Ein Doppelbett, ein heißes Wannenbad, zwei Flaschen Champagner. Sieht nicht so aus, als ob er auf eine Bande stoppelbärtiger schwedischer Drogendealer gewartet hat.“

„Sondern?“

Junge sah die Beamtin an. „Wie wäre es mit einer Frau? Mindestens einer Frau? Wem sonst hätte er wohl die Tür zu seiner Kabine geöffnet und sich dann in die Wanne gelegt? Oder habe ich in Albrechts Steckbrief etwas überlesen? Neigt er vielleicht neuerdings zu …“

„Kann schon sein, dass er Damenbesuch hatte. Aber das eine muss mit dem anderen nichts zu tun haben, oder? Das Heroin ist jedenfalls seitdem verschwunden.“

Junge klatschte in die Hände. „Wunderbar. Der Stoff ist weg, der Mörder ist weg, die Spuren sind weg. Da kann ich ja eigentlich gleich ins Wochenende gehen.“

„Ganz wie Sie wollen“, sagte Katharina Lösch. Sie zog sich die Kapuze ihrer Jacke über und wandte sich zum Gehen. „Dann werden Sie vermutlich erst am Montag erfahren, was mit Albrechts Wagen passiert ist.“

Junge fuhr herum. Ihre Blicke trafen sich. „Was ist mit seinem Wagen los?“

Die Mundwinkel der Lösch zuckten. „Er wurde heute Abend gestohlen.“

- 5 -

WIR HATTEN ALLEN Grund zu der Annahme, dass die Übergabe des Heroins auf dem Schiff passieren sollte. Es bestand keine Notwendigkeit, auch noch seinen Wagen zu observieren.“

Die grünen Augen der Lösch funkelten ihren Kollegen an.

Junge hatte beide Hände auf die Reling gestützt und blickte auf die lange Reihe der LKW-Auflieger hinunter, die den Kai säumte. „Und als Sie von der Schweinerei da drinnen erfuhren, ist er Ihnen aber ganz plötzlich wieder eingefallen, ja?“ Junge drehte sich zu der Beamtin um. „Warum gehen Sie davon aus, dass der Wagen gestohlen wurde? Oder anders herum gefragt: Wer ist jetzt mit dem Auto unterwegs?“

„Das ist das nächste Rätsel dieses Abends“, gab Katharina zurück. „Wir haben leider keine Ahnung, wer den Wagen genommen hat. Wir wissen nur, wo er geparkt war.“

Junge lachte kurz auf. „Wie sieht es mit einer Fahndung aus?“

„Läuft. Und falls es Sie interessiert: Es handelt sich um einen roten Porsche 911 mit Hamburger Kennzeichen.“

Junge zog die rechte Augenbraue hoch. „Wie nobel. Und wie erfreulich für Sie.“

„Wie meinen Sie das?“

Junge sah seine Kollegin ernst an. „Weil es gut wäre, wenn man den Wagen möglichst bald findet. Schätze, dass Ihnen ein kleines Erfolgserlebnis nach all diesen Pannen gut tun würde.“

„Das, was geschehen ist, konnte niemand vorhersehen.“

„Und was“, fragte Junge provokativ zurück, „ist denn Ihrer Meinung nach überhaupt hier passiert?“

Katharina sah Junge durchdringend an. Sie schien die Wahl ihrer Worte genau abzuwägen. „Albrecht wollte seine Kontakte zum skandinavischen Markt auffrischen. Das halten wir für sicher. Er ist – war – im Besitz von etwa fünf Kilogramm Heroin, das er persönlich seinen neuen Partnern überbringen wollte.“

„So etwas zieht er allein durch?“, hakte Junge sofort nach. „Hat er keine Gorillas um sich geschart?“

Die Kommissarin schüttelte den Kopf. „Wäre doch viel zu auffällig und außerdem war Albrecht ein ziemlich schräger Vogel. Angst kannte der nicht.“

Junge nickte. „Genau das scheint ihm jetzt zum Verhängnis geworden zu sein. Erzählen Sie weiter.“

Katharina breitete die Arme in einer leicht hilflosen Geste aus. „Alles Weitere ist mehr oder weniger Spekulation. Ich vermute, dass irgendjemand Wind von der geplanten Transaktion bekommen und Albrecht den Stoff abgenommen hat. Und dieser Jemand hatte es ziemlich eilig. Er wollte nicht abwarten, bis die Fähre abgelegt hat. Vielleicht wäre ihm das Risiko mitten auf der Überfahrt auch zu hoch gewesen.“

„Irgendeinen Verdacht, wer dieser große Unbekannte sein könnte?“, fragte Junge.

„Ich glaube nicht, dass es jemand aus Albrechts eigener Organisation war“, folgerte Katharina. „Und der schwedische Händler kommt für mich ebenso wenig in Frage. Das ist meine Vermutung.“

„Sind das nicht ein bisschen viele Spekulationen und ein bisschen wenig verlässliche Fakten?“, hakte Junge nach.

„Es ist alles, was ich Ihnen im Moment anzubieten habe“, gab Katharina zurück. „Nehmen Sie es an oder lassen Sie es bleiben.“ Damit wandte sich die Beamtin ab und trat auf die Gangway hinaus. Ihre Schritte dröhnten auf dem Metall und wurden erst leiser, als die Frau aus Junges Blickfeld geriet.

„Sind wir hier dann so weit fertig?“

Junge drehte sich zur Seite und erkannte Schuhmacher. Himmel, den hatte er in der Aufregung vollkommen vergessen. „Ja“, brummte er zurück, „bitte sorgen Sie dafür, dass der Bericht von Doktor Majewski auf direktem Weg zu mir kommt, ja? Er soll sich auch ein paar Gedanken zur möglichen Mordwaffe machen. Ich will wissen, womit Albrecht umgebracht wurde.“

Schuhmacher nickte eifrig und zog seinen Mantelkragen fester zu; ein kalter Wind war aufgekommen.

Den Weg zurück zum Wagen legten sie schweigend zurück, wofür Junge dankbar war. Hatte er die Lösch zu hart angefasst? Nein. Herrgott, wenn die ihre Arbeit richtig gemacht hätte, wäre der Fall jetzt bereits so gut wie geklärt. Zumindest versuchte Junge, sich das einzureden.

Er war froh, seinen Dienstwagen erreicht zu haben. Als sie darauf zusteuerten, erkannte er Katharina Lösch, die am Holm lehnte und sich in dem Augenblick abstieß, als Junge nahe genug war, um einzusteigen.

„Fahren wir direkt in Ihr Büro?“, fragte sie gerade heraus. Offenbar schien sie vergessen zu haben, dass ihre erneute Begegnung bis hierhin nicht gerade erfolgversprechend verlaufen war.

Junge blinzelte sie an. „Um was genau zu tun?“

„Fotos“, antwortete Katharina knapp. „Ich habe einen Kollegen bestellt, der sie mitbringt. Gute alte Hochglanzfotos.“

„Was sind das für Fotos?“, wollte Junge wissen.

„Wir haben Albrecht die letzten Wochen intensiv beobachten lassen und dabei umfangreiches Material gesammelt. Ich halte es für eine gute Idee, es noch einmal zu sichten. Am besten gleich noch.“

Junge atmete tief ein, um der Kollegin zu sagen, wie viel er von dieser Idee hielt, schluckte die Bemerkung dann jedoch herunter. Stattdessen entgegnete er: „Sie denken, dass wir dabei auf seinen Mörder stoßen könnten, ja?“ Junge überlegte einige Sekunden, dann zuckte er die Achseln. „Also schön, steigen Sie ein. Schuhmacher?“

Der Kommissar-Anwärter war sofort zur Stelle.

„Sagen Sie dem aufgeregten Kapitän, dass die Spurensicherung mit der Arbeit fertig ist. Sobald die Leiche von Bord ist und die üblichen Formalitäten geklärt sind, kann sein Kahn ablegen. Diese Information wird ihn vermutlich etwas heiterer stimmen.“

„Werde ich ihm ausrichten“, gab Schuhmacher zurück und nickte mehrfach.

Junge drehte sich zu Katharina Lösch um. „Ich gehe doch davon aus, dass ein paar Ihrer Leute die Fahrt nach Göteborg mitmachen?“