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Wat mutt, dat mutt!

 

Stern

Das tiefe Dröhnen einer Horde Nebelhörner riss Désirée aus ihrem Dämmerschlaf. Mürrisch linste sie über den Rand ihrer Sonnenbrille und die Balustrade ihrer Dachterrasse hinweg hinaus auf die Förde. Es hatte bereits ein wildes Segeltreiben eingesetzt.

Désirée graute es immer vor diesem Tag, dem letzten Samstag der Kieler Woche, an dem traditionsgemäß und alljährlich die Windjammerparade stattfand.

Dabei störten sie weniger die Segelschiffe, die zu diesem Anlass zu hunderten um den besten Platz hinter dem Segelschulschiff Gorch Fock buhlten, welches die Parade anführte. Nein, was wirklich nervte, waren die unzähligen Besucher, die sich an der Fördeküste um die beste Aussicht kabbelten und Désirée damit um ihr vormittägliches Schläfchen auf der extrem bequemen Sonnenliege brachten.

Sie blickte herab auf die Massen, die sich um den kleinen Heikendorfer Fischereihafen und das U-Boot-Ehrenmal mit dem mächtigen Adler auf der Spitze versammelt hatten. Manche waren schon vor Stunden in das Ostseebad angereist und hatten emsig ihre Campingstühle und die am Vortrag angebrutzelten Fleischbällchen ausgepackt, um an der engsten Stelle der Kieler Förde ihren Platz in der ersten Reihe zu sichern.

„Fehlt nur noch, dass die sich mit Handtüchern die Promenadenbänke reservieren“, dachte Désirée genervt und nahm einen Schluck von ihrem eisgekühlten Pfefferminzwasser. „Dabei kann man doch auch ohne Gerangel prima gucken!“ Sie verzog ihre lipglossbetupften Lippen zu einem leichten Grinsen, strich sich eine widerspenstige Strähne ihres modernen Stufenschnitts aus dem Gesicht und ließ ihren Blick unverbaut über die Förde schweifen, ohne dabei auch nur ihre Liege verlassen zu müssen.

Zu ihrer Linken schob sich nun die Gorch Fock unter weißen Segeln hinter der Landzunge zur Heikendörper Bucht hervor. Herrschaftlich, das musste selbst Désirée zugeben.

Um den stolzen Dreimaster herum tummelten sich kleinere und größere, modernere und traditionellere Segler wie die Fliegen um einen besonders schmackhaften Kuhfladen. Auch ein Fördedampfer versuchte, besonders nah an das berühmte Flaggschiff heranzukommen und hatte dabei bedrohlich Schlagseite, weil alle Gäste an Backbord drängten, um einen besseren Blick auf den Marinesegler zu ergattern. Durch die Besuchergruppen am Ufer ging ein Raunen, gefolgt vom anhaltenden Klicken der mitgebrachten Spiegelreflexkameras.

„Und des iss jedscht dem Kieler sei berühmdes Schiffle, gell?“, schallte die schrille Stimme einer vermeintlich aus Hessen stammenden Nautik-Fachfrau herauf und vervollständigte damit das jährlich wiederkehrende Bild. „Nee, des iss jedscht dem Kieler sei berühmdes Audo“, konnte Désirée sich einen gehässigen Kommentar nicht verkneifen.

Sie verdrehte die Augen, versuchte die Geräuschkulisse auszublenden und fixierte die quirlige Formation: Unter den Teilnehmern musste sich auch die „Liberty“, das Boot ihres Lebenspartners Christoph und dessen Geschäftspartner Arno, befinden. Er war den Morgen in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um den Segler klar zu machen und Kurs Richtung Startlinie zu nehmen. Désirée hatte ihn lediglich mit einem kleinen Grunzlaut verabschiedet, vor neun Uhr war sie nicht zu Unterhaltungen aufgelegt. Ein wenig tat ihr das jetzt leid, und sie hoffte, es gleich durch ein freudiges Zuwinken wiedergutmachen zu können.

Ah, das musste es sein, dahinten, mit dem gelben Schriftzug auf den Segeln! Leider hatte sich die „Liberty“ aber auf der anderen Seite der Fahrrinne eingeordnet, Christoph würde sie wohl kaum sehen können.

Dann konnte sie sich den Aufwand auch sparen und entspannt liegen bleiben. Eigentlich war es ihr ganz recht, sich nicht wie einer dieser am Ufer euphorisch mit den Armen wedelnden Touristen verhalten zu müssen, die wirkten wie gestrandete Schiffsbrüchige.

Stattdessen verschränkte sie die Arme seufzend hinter ihrem Kopf. Sie würde es sich jetzt noch ein wenig bequem machen und dann zu einer Runde Golf im nahe gelegenen Club mit ihrer Freundin Patricia aufbrechen. Joggen konnte sie heute vergessen – dafür war viel zu viel los auf dem Fördewanderweg, und auf Slalom-Lauf hatte sie nun wahrlich keine Lust. Hinterher sollte ein Stelldichein im Kieler Yachtclub mit weiteren Bekannten folgen, bevor sie zu einem Bummel über die Kieler Woche starten und von der Yacht eines Freundes aus Rea Garvey Open Air ansehen wollten.

„Herrje, auf zum nächsten Menschenauflauf“, maulte Désirée leise. Da würde wohl nur das ein oder andere spritzige Gläschen Aperol helfen 

Am Ende waren es drei geworden. Dazu ein, vielleicht zwei Schluck Champagner. Désirée musste sich ein wenig konzentrieren, als sie ihren bronzefarbenen Sportwagen durch die nächtlichen Straßen lenkte. Zur Kieler Woche musste man immer mit Feiernden rechnen, die rote Ampeln eher als unverbindliche Empfehlung verstanden. Sie kniff die Augen zusammen, um ihren Blick zu schärfen.

Gerade zog die Partymeile an der Hörn mit ihren bunten Fahrgeschäften, Zelten und Bühnen links an ihr vorbei. Der Freefall-Tower krachte scheppernd zu Boden und zog zwei Dutzend Feierwütige kreischend mit sich. Blecherne Musik aus dem Bayernzelt und eine Grönemeyer-Coverband auf der Radio-Norden-Bühne dröhnten dagegen an.

„Zeit für ein wenig Ruhe“, beschloss Désirée und lenkte ihren Wagen zielstrebig gen Ostufer. Sie kannte da einen Ort, an dem sie runterkommen konnte. Sie mied die Bäder-Schnellstraße und wählte stattdessen den Weg über die Dörfer, direkt entlang der Förde.

In Mönkeberg, der Gemeinde, die Heikendorf mit Kiel verband, bog sie an der ersten Kreuzung links ab und fand nach kurzem Suchen die Sackgasse „An den Eken“. Am Ende der Straße näherte sie sich langsam dem Geländer, das die dahinter liegende Wiese begrenzte, und stoppte den Motor.

Vor ihren Füßen lag das Lichtermeer des gesamten Kieler Westufers und funkelte mit den Signalleuchten der Schiffe auf der Förde um die Wette. Von der Festmeile drangen gedämpfte Bässe herüber. Sie klappte ihren Sitz ein wenig nach hinten und lies den Kopf in die Nackenstütze sinken.

Was für ein Abend!

Am frühen Nachmittag hatte sie sich mit Patricia im Golfclub getroffen. Wie gewohnt erwartete ihre Freundin sie schon, aufgehübscht, als wäre sie gerade der aktuellen Ausgabe des „Golf Journals“ entsprungen. Das I-Tüpfelchen bildeten die modische Schirmmütze im Schottenkaro und die für sie typische Begrüßung „Désirée, Darling!“ mit Bussi links und Bussi rechts. Désirée bevorzugte es da doch ein weniger dezenter: Eine eng geschnittene Caprihose und ein gut sitzendes Poloshirt – gerne auch aus Kollektionen des letzen Sommers – genügten völlig, um ihren wohlgeformten Körper in Szene zu setzen. Da gaben ihr die bewundernden Blicke der männlichen und die neidischen Blicke der weiblichen Mitglieder recht.

Da sie später noch verabredet waren, spielten sie nur die ersten neun Löcher, obwohl der traditionsreiche Platz vor einigen Jahren auf achtzehn Loch erweitert worden war.

Die anderen, zwei befreundete Pärchen, warteten schon auf ihrem Stammplatz am Fenster des Yachtclubrestaurants, als sie frisch geduscht und zurechtgemacht hereinkamen. Scheinbar waren die großen sonnendurchfluteten und mit minzigem Hugo gefüllten Glaskelche bereits das ein ums andere Mal aufgefüllt worden, denn die Stimmung war ausgelassen.

Sandra, Besitzerin einer Modeboutique in der Dänischen Straße, berichtete gestenreich von dem kürzlichen Besuch des Ministerpräsidenten in ihrem Laden und den angestrengten Bemühungen, ein passendes Oberteil für dessen Gattin zu finden, ohne ihre genaue Größe zu kennen.

„Sie hat in etwa die gleiche Figur wie die Justizministerin“, fand Sandra als Aussage des Landesoberhauptes dabei wenig hilfreich, und am Ende entschied man sich lieber für ein hochwertiges Seidentuch in Einheitsgröße. Während sie erzählte, schnipste sie nach der Bedienung und orderte mit hochgezogener Augenbraue „mehr Eis, und wenn möglich vor Einsetzen des Schmelzprozesses“.

Désirée schloss in ihrem Wagen die Augen und kurz blitzten hinter ihren Lidern Erinnerungen auf, so lange her, schon gar nicht mehr wahr. Sie sah sich selbst, bekleidet mit einer eleganten Schürze und einem mit Gläsern befüllten Tablett in der Hand, im Gastraum des „Rauchfangs“. Damals war sie gerade achtzehn geworden und stand kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Restaurantfachfrau in der Gaststätte auf der noblen Sylter Whiskeymeile.

Ja damals, kurz bevor 

„Ach was“, Désirée schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verwerfen. Es gab keinen Grund, in alter Suppe zu rühren. Auf jeden Fall wusste sie, wie es sich anfühlte, von gut betuchten, aber schlecht erzogenen Personen der so genannten „besseren Gesellschaft“ wie ein Dienstbote behandelt zu werden. Und auch wenn sie heute auf der anderen Seite der Schürze war, so reagierte sie doch allergisch auf ein solches Verhalten.

„Benimm dich nicht wie ein Snob“, hatte sie Sandra zurechtgewiesen, und die Runde war in ihrem schadenfrohen Gelächter verstummt. Kurz fühlte sich Désirée, als hätte sie lediglich ein Besuchervisum auf dem Stern der Schönen und Reichen, nur weil sie ihren Wohlstand lieber in Form von Trinkgeld mit fähigem Servicepersonal teilte denn mittels abfälliger Bemerkungen.

Damit die anderen aufhören würden, sie anzustarren, schob sie in beschwichtigendem Ton „dass wir am oberen Ende der Nahrungskette hocken, heißt doch nicht, dass du gleich jeden fressen musst“ hinterher und fixierte angestrengt den Boden ihres Glases. Dort waren von dem eisigen Trendgetränk nur noch die verschrumpelten und verklebten Pfefferminzblätter übrig, so wie von den eben noch ausgelassenen Gesprächen jetzt nur noch peinliches Schweigen blieb. Sandra war die erste, die wieder zu ihrer Form zurückfand, ihr Glas erhob und aufgesetzt lachte:

„Süße, du bist echt zum Schreien! Immer für ein Späßchen zu haben.“

Danach machten alle gute Miene zu bösem Spiel. Es schickte sich einfach nicht, an einem Abend wie diesem schlechte Laune zu verbreiten, und die nächste Runde Hochprozentiges tat ihr Übriges. Später auf der Yacht, in der warmen Abendsonne, mit einer leichten Brise auf der Haut und der Live-Musik des sympathischen Iren in den Ohren, hatten alle den Vorfall vergessen und gemeinsam den Abend und sich selbst gefeiert.

Désírée prüfte zum x-ten Mal an diesem Tag das Display ihres Handys. Noch immer kein Zeichen von Christoph. Er müsste doch längst am Timmendorfer Strand angekommen sein! Arno und er betreuten dort den Neubau und Vertrieb einer Luxus-Immobilie in Strandnähe und hatten die Windjammerparade mit einem Besuch der Baustelle per Segelboot verbinden wollen. Mit potentiellen Käufern war zudem ein kleiner abendlicher Törn in der Lübecker Bucht geplant, ungestörte Verkaufsgespräche inklusive.

Seit neunzehn Jahren waren sie und Christoph jetzt ein Paar und, trotz vieler Dienstreisen, war nie ein Tag vergangen, an dem Christoph sich nicht wenigstens per Kurznachricht gemeldet hätte.

Naja, mal abgesehen von der einen Ausnahme, als er Mitte der 90er Jahre, ziemlich am Anfang ihrer Beziehung, beim Joggen die Orientierung im Wald verloren und die Nacht unter Eulen mit durchdringenden Blicken und 360-Grad-Hälsen sowie im Laub scharrenden Wildschweinen verbracht hatte. Damals trug noch nicht jeder permanent ein Handy mit GPS-Ortung am Körper, und wenn doch, hatte man nur in den seltensten Fällen Empfang. Gott sei Dank fand ihn am nächsten Tag ein Förster, der ihn aus dem Wald des Schreckens herausführte, nicht ohne dabei immer wieder in schallendes Gelächter auszubrechen – Christophs Nachtlager befand sich Luftlinie etwa zwanzig Meter entfernt vom Waldrand und von dem angrenzenden Golfplatz, nebst Clubheim.

Seitdem frönte Désirée dem Lauf-Hobby alleine und liebte es, Christoph, den coolen Kerl, von Zeit zu Zeit nachts mit Grunz-Geräuschen in Angst und Schrecken zu versetzen.

Aber das war viele Jahre her, und langsam machte sie sich wirklich Sorgen. Sie drückte die Wahlwiederholung und lauschte dem Tuten am anderen Ende der Leitung.

„Guten Tag, dies ist die Mailbox von Christoph Wendt. Ich bin momentan nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.“ Mist, wieder nur die verdammte Mailbox! Désirée warf ihr Handy entnervt auf den Beifahrersitz und ließ kurz ihre Stirn auf das Lenkrad sinken. Als sie wieder hochkam, waren die Lichter am anderen Ufer der Förde verschwommen und bildeten eine durchgängige Lichterkette.

„Wo bist du denn bloß?“, fragte sie und ließ ihren Blick über das Wasser gleiten. Gegenüber, vor den Schleusen des Nord-Ostsee-Kanals, warteten einige große Tanker auf den Einlass zur meistbefahrenen künstlichen Wasserstraße der Welt, direkt vor ihr fuhr ein Schiff der Wasserschutzpolizei Streife. Segler waren nur noch vereinzelt auf dem Wasser, die meisten lagen bereits im Hafen, bereit zur Nachtruhe.

Das war ein gutes Stichwort, denn auch Désirée fielen langsam die Augen zu. Es war ein langer Tag gewesen. Sie startete den Wagen und lenkte ihn durch das angrenzende Waldstück und entlang an dem kleinen Naturstrand im Süden Heikendorfs zurück zu seinem Heimathafen.

Durch die geöffneten Fenster drang das aufgeregte Kreischen der Möwen herein, die sich um die bunten Kutter im Hafen tummelten. Schon in der Nacht waren die Fischer rausgefahren, um nun am Vormittag mit ihrem frischen Fang zurückzukommen. An der Kaimauer wartete bereits eine Handvoll Liebhaber auf Scholle und Dorsch, direkt vom Kutter.

Désirée blinzelte hinter ihrer Schlafbrille hervor und stöhnte. Das letzte Glas Schampus hätte sie wohl besser abgelehnt. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigte an, dass es schon längst Zeit war aufzustehen. Sie griff nach ihrem Handy. Noch immer kein Lebenszeichen von Christoph. Erneut wählte sie seine Nummer … Nichts. Auch das Handy von Arno war ausgeschaltet.

Sie beschloss, erst einmal ihr morgendliches Läufchen zu absolvieren, um klare Gedanken fassen zu können, putzte kurz die Zähne und stieg dann direkt in ihre körperbetonte Sportkleidung und die Joggingschuhe aus dem örtlichen Fachgeschäft.

In dem kleinen Gärtchen vor ihrer Tür startete sie mit einem kurzen Aufwärmprogramm und winkte zu der freundlichen Dame aus der Tourist-Info am Fähranleger hinüber.

Zwar hatte sie noch nie mehr als drei Sätze am Stück mit der Servicetante gewechselt, aber Désirée hielt es für klug, sich gut mit ihr zu stellen. Immerhin kam es doch ab und an vor, dass einem das Kleingeld für den Bäcker oder das Feuerzeug für die Gelegenheitszigarette zum Schlummertrunk fehlte, und die Tourist-Info hatte sich in der Vergangenheit stets als Helfer bei diesen und ähnlichen kleinen Nöten bewährt.

Dann fiel sie auf dem Fördewanderweg in einen sanften Laufschritt. Unter den wachsamen Augen des Bronzeadlers um die Landzunge am U-Boot-Ehrenmal herum, vorbei am belebten Kurstrand mit seinen bunt behissten Fahnenmasten und entlang am gut belegten Campingplatz, erreichte sie schon bald den mit Zäunen gesicherten Weg, der durch das Munitionsdepotgelände zwischen Heikendorf und Laboe führte. Dieser mündete schließlich in einem Waldstück, welches sie am Yachthafen der Nachbargemeinde wieder ausspuckte.

Es war der Sonntag der Kieler Woche und das Wetter heiter bis wolkig und mild, so dass der Panoramaweg gut besucht war. Besonders als sie sich dem Zentrum des Ostseebades näherte, hatte sie Schwierigkeiten, den vielen Passanten auszuweichen, die durch die schöne Aussicht oder das tropfende Eis in ihrer Hand abgelenkt waren.

„Mensch, passen Sie doch auf!“, schimpfte Désirée, als ihr ein kleines wuscheliges Etwas mit Stummelschwänzchen zwischen die Beine lief, das eine auffällige Ähnlichkeit mit seinem Besitzer aufwies – also in Sachen Frisur, mehr vermochte Désirée zum Glück nicht zu beurteilen. Der Hundehalter meckerte zurück, was aber durch den von Sing-Sang geprägten Dialekt eher wie eine Einladung zum Essen klang.

„Nordrhein-Vandale!“, schnaufte Désirée für den erbosten Touri nicht mehr hörbar. „Umso höher die Socken, desto niedriger der Intellekt!“

Vor ihr tauchte jetzt die imposante 85 Meter hohe Silhouette des Marine-Ehrenmals auf. Die Menschen auf der Aussichtsplattform hatten von hier unten etwa die Größe von Ameisen. Désirée wurde schon beim Hinschauen ganz schwindelig. Ein einziges Mal hatte sie sich von Christoph überreden lassen, das Denkmal zu besuchen, und hinterher nicht mehr gewusst, was sie am schlimmsten gefunden hatte: die gemütserschwerende Gedenkhalle mit den vertrockneten Kränzen und den Namen der im Krieg auf See gebliebenen Soldaten, die endlos wirkende Ausstellungsfläche mit Schiffsmodellen und Schlachtszenarien, die 341 teilweise gitternen Stufen hinauf zur Aussichtsplattform oder einfach die allgemeine höhenbedingte Angst, mit dem ganzen Turm umzufallen.

Tatsächlich hatte sie auch jetzt kurz den Eindruck, das Ehrenmal würde sich leicht zur Seite neigen! Das würde sie wohl dringend mal mit ihrem Therapeuten angehen müssen! Eine bodenständige Höhenangst, wo gab es denn so was?

Erschrocken beschleunigte sie ihren Schritt und nahm den kleinen Sandweg, vorbei an der Meeresbiologischen Station, hin zur Steilküste. Auf der Treppe würde sie wie immer zwei Stufen auf einmal nehmen, das straffte den Po! Als sie die steile Holzkonstruktion ins Visier nahm, die just in diesem Augenblick in ihrem Blickfeld erschien, verfing sie sich um ein Haar in einem Stück rot-weißem Flatterband, das halb im Sand vergraben lag.

Richtig, darüber hatte sie in den Lokalnachrichten gelesen! Gerade gestern war hier der Angler angespült worden, dessen kleines Ruderboot zwei Tage lang herrenlos durch die Kieler Bucht gedümpelt war.

„Igitt!“, entfuhr es Désirée. Sie stoppte und stocherte mit einem Stöckchen den klebrigen Sand aus ihrer Sohle. Ein bisschen pietätlos war es ja, das musste sie sich eingestehen. Auf der anderen Seite hatten die Laufschuhe mit der extra weich federnden Sohle und dem Anti-Transpirant-System schlappe 300 Mäuse gekostet und waren so gut wie neu. Da durfte man ja wohl in Sorge um deren Zustand sein, den Angler würde es schon nicht mehr stören.

Als sie gerade einen besonders großen Klumpen entfernt hatte, hielt sie plötzlich inne und ließ ihr improvisiertes Werkzeug sinken. Christoph! Er würde doch nicht … Hilflos sah sie hinaus aufs Meer, das ohne Sonnenschein gerade sehr grau erschien.

„Nein!“, beschloss Désirée resolut. Ihr Liebster war nicht der Typ Mann, der unter der profilierten Sohle eines Sportschuhs landete. Er war ein Gewinnertyp … zumindest gelang es ihm immer ganz wunderbar, sich so darzustellen.

Emsig nahm sie die ersten Stufen, als sie ihr Handy in der Gesäßtasche vibrieren spürte. Sie nahm das Gespräch über die Freisprecheinrichtung ihrer Kopfhörer entgegen, aus denen bis eben noch eine speziell auf ihr Lauftempo abgestimmte Musikauswahl erklungen war.

„Polizeihauptmeister Petersen hier, guten Tag. Spreche ich mit Deetje Clausen?“, meldete es sich vom anderen Ende der Leitung. Wie vom Blitz getroffen blieb Désirée stehen. Da war sie wieder. Ihre Vergangenheit, die sie doch tatsächlich ausgerechnet beim Laufen einholte. Sie hätte wohl nicht haltmachen dürfen.

Stern

Keiner hatte sie mehr bei ihrem alten Vornamen gerufen, seit sie damals ihrer Heimatinsel Sylt den Rücken gekehrt hatte, um mit Christoph aufs Festland zu gehen.

Sie begegneten sich erstmals im „Rauchfang“ und, passend zur Kulisse, fingen sie sofort Feuer. Sie, die gerade volljährige Auszubildende, die noch nicht viel gesehen hatte, wofür man den Hindenburgdamm hätte überqueren müssen, er, der aufstrebende Immobilenmakler mit kräftigen Schultern und unerschütterlich wirkendem Selbstbewusstsein. Anstelle der sonst bei den Gästen des Lokals typischen Wolke aus „Le Male“ und „Acqua di Giò“, umgab ihn etwas für Deetje Unwiderstehliches: der Duft der großen weiten Welt, der sie aus ihrer würde entführen können.

Darin war es seit kurzem still geworden. Und die Stille war so laut, dass sie kaum noch zu ertragen war.

Kein Lachen drang mehr in ihr Zimmer, so wie sie es von den Abenden kannte, an denen ihre Eltern zusammen noch eine Runde Karten gespielt hatten.

Kein ungeduldiges Rufen forderte sie morgens mehr auf, zum Frühstück zu kommen.

Keiner schimpfte mehr mit ihr, wenn sie ihre Schuhe beim Nachhausekommen achtlos in die Ecke warf.

Es war keiner mehr da, um die Stille zu brechen.

Als Deetjes Mutter, einige Monate zuvor und viel zu früh, einem Krebsleiden erlegen war, hatte sie den Vater gleich mitgenommen. Wenn auch nicht dessen Körper, dann doch seinen Geist.

In den guten Zeiten hatte Deetje ihren Vater Hinnerk so oft wie möglich beim Einlaufen mit seinem Muschelkutter am Hafen von Hörnum abgeholt. Als sie noch ganz klein war, zusammen mit der Mutter, später meistens alleine.

Das Haus ihrer Familie lag nur einen Katzensprung vom Anleger entfernt, so dass sie sich meistens nicht mal die Mühe machte, die Schuhe anzuziehen. Also stand sie da, oft tänzelnd, weil das Pflaster entweder zu heiß oder zu kalt unter ihren Füßen brannte, und wartete. Sobald sich Hinnerks Boot dem Hafen näherte und er seine Tochter an der Kaimauer stehen sah, zog er immer seinen rechten Schuh aus, einen knallgelben Chuck, und winkte freudig zu ihr rüber.

Das war ihr Ritual gewesen. Bevor alles anders wurde. Bevor ihr Zuhause keins mehr war.

Als sich der Autozug, auf dem sie mit Christoph eingecheckt hatte, damals ratternd in Bewegung setzte und die Hochhäuser von Westerland im Rückspiegel immer kleiner wurden, hatte sie sich nicht einmal mehr umgedreht. Bis heute nicht. Nur manchmal, wenn sie alleine zu Hause im Bett lag und die Dieselmotoren der auslaufenden Kutter das einzige nächtliche Geräusch bildeten, sah sie sich wieder als Mädchen am Hafen stehen.

„Hallo? Frau Clausen? Können Sie mich hören?“, holte sie der Anrufer ins Hier und Jetzt zurück. Désirée verscheuchte mit einem Kopfschütteln die trüben Gedanken an ihre Vergangenheit.

„Am Apparat“, antwortete sie mit zittriger Stimme. Sie umging es bewusst, ihren früheren Namen zu bestätigen.

Was konnte die Polizei von ihr wollen? War sie etwa bei ihrer gestrigen Promillefahrt erwischt worden? Nein, sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr Fahrstil so auffällig gewesen sein sollte. Immerhin hatten sich ihre Drinks auf viele Stunden verteilt und der frische Seewind ihnen zwischendurch auf der Yacht den Kopf freigeblasen.

„Gut, also noch mal“, begann ihr Gesprächspartner erneut. „Hier spricht Polizeihauptmeister Petersen von der Heikendorfer Dienststelle. Gut, dass ich Sie telefonisch erreiche. Wir waren eben bereits bei Ihrer Wohnung, konnten Sie aber nicht antreffen. Ist es Ihnen möglich, aufs Revier zu kommen? Wir müssen eine Vermisstensache mit Ihnen besprechen. Es geht um ihren Lebensgefährten, Herrn Wendt.“

Eine gute halbe Stunde später stieß Désirée die massive Holztür zum Polizeibüro auf.

Sie konnte sich nicht erklären, warum sie sich kein Taxi genommen, sondern ihre Joggingrunde stattdessen wie geplant fortgesetzt hatte. Vielleicht stand sie unter Schock, vielleicht hoffte sie so, eine schlechte Nachricht aufschieben zu können. Das Herz schlug ihr zumindest bis zum Hals, sicher eine Kombination aus sportlicher Anstrengung und Angst vor dem Ungewissen.

„Moinsen“, wurde sie sofort von einem kleinen rundlichen Polizisten begrüßt, als sie eintrat. Der Raum sah aus, als wäre er einem Einrichtungskatalog für Büros aus den achtziger Jahren entsprungen. Der Tresen, der den Besucher- vom Arbeitsbereich trennte, war ebenso mit einer grünen Lackierung überzogen wie die Schreibtischplatten und die Telefone.

„Immerhin keine Wählscheiben“, stellte Désirée ironisch fest. Dafür stand auf einem der Plätze eine ebenfalls in grün gehaltene Schreibmaschine. Désirée schaffte es kaum, ihren Blick abzuwenden. Arbeitete man hier tatsächlich noch mithilfe solch vorsintflutlicher Gerätschaften, während sich das kriminelle Gegenlager in den sozialen Netzwerken organisierte? Also, sollte Christoph was passiert sein, würde sie sofort einen anderen Bearbeiter verlangen … sofern das überhaupt möglich war. Dass man freie Arztwahl hatte in Deutschland, war Désirée bekannt, aber konnte man sich auch den Beamten aussuchen, der den eigenen Fall übernahm?

Der Polizist schien ihre Gedanken vermeintlich erraten zu haben:

„Glauben Sie nicht, dass wir noch mit der Schreibmaschine arbeiten.“

Désirée nickte erleichtert, doch Herr Petersen fuhr fort: „Das hat uns die Obrigkeit in Kiel schon lange untersagt und uns stattdessen mit diesen neumodischen Apparaten ausgestattet.“ Missmutig nickte er zu dem Rechner mit Flatscreen-Monitor, der in den altbackschen Räumlichkeiten wirkte wie Lady Gaga im Heimatmuseum. „Stürzt ständig ab oder macht anderen wilden Krams. Da war unsere Gute hier doch viel zuverlässiger. Wenn da ein Fehler auf dem Blatt war, wusste man wenigstens noch, woran es lag.“ Liebevoll strich er über das Gerät und versank sichtlich in Melancholie.

Das war jetzt aber nicht sein Ernst, oder? Bestellte sie ein mit den wenig harmonischen Stichworten „Vermisstensache“ und „Lebensgefährte“ und sinnierte jetzt über seinen Fetisch für hässlich lackierte Büroausstattung!

„Wenn ich Sie mal unterbrechen dürfte!“, entfuhr es Désirée in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. „Ich möchte gerne zu Herrn Petersen, ich wurde angerufen.“

„Ah ja, dann sind Sie sicher Frau Clausen.“ Augenblicklich nahm sein Gesicht einen ernsthaften Ausdruck an. Sicherlich hatte er das an der Polizeischule im Fach „Psychologie für Anfänger“ so beigebracht bekommen und würde gleich seine Hand auf ihre Schulter legen. Ach, da war sie auch schon. Etwas unbeholfen tätschelten seine kleinen Wurstfinger ihren rechten Nacken.

„Bitte, setzen Sie sich doch erstmal.“ Sie nahm auf einem der mit grünem, rissigem Leder bezogenen Armlehnenstühle Platz und schaute den Beamten in ängstlicher Erwartung an. Dieser holte einmal tief Luft, bevor er ansetzte:

„Heute Morgen hat Herr Arno Jalowski ihren Lebensgefährten als vermisst gemeldet. Sie wissen, dass die beiden zusammen segeln waren?“

Désirée reagierte ungehalten:

„Ja, natürlich weiß ich das, was glauben Sie denn? Immerhin leben wir zusammen!“

„Ha!“, entfuhr es Petersen spöttisch. „Wenn Sie wüssten, was wir hier tagtäglich erleben! Da kann man sich keiner Sache mehr sicher sein. Erst letzte Woche hatten wir ein verkrachtes Pärchen hier sitzen, weil der werte Gatte durch einen Strafzettel erfahren hatte, dass sich seine Teuerste das Wochenende mit ihrer Affäre in Berlin am amüsieren war, anstatt wie angekündigt mit ihrer Freundin Wellness an der Nordsee zu machen. Und dann wollte der auch noch, dass wir herausfinden, wer der Typ ist. Und dabei sind wir noch nicht mal für den Strafzettel zuständig. Als wären wir das Ordnungsamt … tsss!“ Herausfordernd schaute er Désirée an und machte keinerlei Anstalten fortzufahren.

„Ja, und weiter?“, wurde Désirée ungeduldig. Wo war sie hier bloß gelandet?

Der Polizeibeamte schaute verwundert. „Was weiter? Habe die beiden nach Hause geschickt und gesagt, sie sollen einen Schnaps trinken auf den Schrecken. Und dass er nicht so streng mit seiner Frau sein soll. Jeder fährt doch mal ein wenig zu schnell.“

Jetzt war es Désirée, die Petersen sprachlos anstarrte. Dazu fiel ihr gerade nichts mehr ein.

Meinte der das ernst oder war sie gerade Opfer einer versteckten Kamera? Skeptisch blickte sie über ihre Schulter, ob sie irgendwo etwas Verdächtiges entdecken konnte. Nichts. Trotzdem fuhr sie sich verunsichert durch ihr vom Wind zerzaustes Haar. Ein unfreiwilliger Fernsehauftritt, in dem sie aussah wie ein in die Steckdose geratener Pudel, würde ihr jetzt gerade noch fehlen.

„Aber kommen wir doch zurück zu Ihrem Fall“, holte Petersen sie unverhofft in die Wirklichkeit zurück. „Wie Herr Jalowski zu Protokoll gab, sind die beiden heute zum Sonnenaufgang in der Lübecker Bucht aufgebrochen. Herr Wendt hatte wohl Sehnsucht nach Ihnen und wollte deshalb möglichst früh aufbrechen.“ Er blinzelte ihr freundlich zu und machte eine kurze Pause.

Sollte sie sich jetzt darüber freuen oder was erwartete dieser Komiker von ihr? Mit einem energischen Kopfnicken ermunterte sie ihn fortzufahren.

Tatsächlich wirkte er ein wenig enttäuscht, setzte aber wieder an: „Ja, und dann hat sich Herr Jalowski nach dem Auslaufen noch einmal hingelegt. Die Nacht war wohl sehr kurz, weil die beiden nach einer abendlichen Tour mit Kunden noch im ‚Nautic Club‘ feiern waren. Herrgott, da war ich das letzte Mal, als ich noch die Polizeischule in Eutin besucht habe. Krachen lassen haben wir’s da, das können Sie glauben! Die Mädchen von der Ostsee waren schon immer die hübschesten im Land. Und ich habe mir die allerschönste geschnappt. Sind jetzt seit 45 Jahren verheiratet. Kann man das glauben? So was gibt es ja heute schon gar nicht mehr …“

„Herr Petersen!“, wand Désirée mahnend ein, bevor dieser sich völlig verlor. „Was ist mit Christoph passiert?“

„Ach so, natürlich.“ Petersen wirkte ehrlich zerknirscht und überlegte kurz, wie er es am besten im Worte fassen konnte.

„Also, der ist wohl über Bord gegangen.“

Ihr war anscheinend kurz schwarz vor Augen geworden, zumindest fand sie sich auf einer Pritsche wieder, umgeben von kahlen Wänden und kaltem Licht. Sie hob vorsichtig ihren Kopf und starrte auf eine geschlossene Tür mit kleinem Gitterfenster auf Augenhöhe. Wo war sie nur? Gerade versuchte sie aufzustehen, als Petersen mit einer dampfenden Tasse in der Hand die Tür öffnete.

„Ah, da sind Sie ja wieder!“, begrüßte er sie zurück unter den Lebenden. „Ihnen ist ein wenig schwindelig geworden, deshalb habe ich Sie in unsere Zelle getragen. Haben sich ganz schön Ihr hübsches Köpfchen angeschlagen, als Sie vom Stuhl gerutscht sind.“ Ja, jetzt merkte sie es auch. Auf ihrer Stirn pochte eine dicke Beule. Na super!

„Warum bin ich hier?“, fragte Désirée, als die Erinnerung unvermittelt zurückkehrte.

„Christoph!“, wimmerte sie, und bekam als Antwort die Tasse Tee unter die Nase gehalten.

„Jetzt trinken Sie erstmal einen Schluck. Dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus“, versuchte der Polizeihauptmeister sie aufzumuntern. „Schon meine Oma hat das immer gesagt. Und die hat immerhin zwei Kriege miterlebt, muss also was dran sein.“

„Bitte, Herr Petersen“, unterbrach Désirée seine Ausführungen, „halten Sie jetzt einfach mal den Mund. Dann trink ich sogar freiwillig ihren billigen Beuteltee.“

„Na-na, Mädchen“, zeigte Petersen sich unbeeindruckt. „Du bist nicht die Erste, die meint, mich als Polizeibeamten beleidigen zu müssen. Meist sind es diejenigen, denen es einfach hier oben ein wenig fehlt“, er ließ seinen Zeigefinger an der Stirn kreisen, „oder solche, die meinen, etwas Besseres zu sein als Menschen mit Beuteltee. Aber denk doch mal darüber nach, ob du nicht lieber anders sein möchtest. Sympathisch zum Beispiel. Passt bestimmt richtig gut zu dir.“

Oha. Ganz so meschugge war der Dorfpolizist wohl doch nicht. Wieder zum Mädchen degradiert, nahm Désirée brav einen Schluck von ihrem Heißgetränk und überlegte, ob sie beleidigt sein oder eher einsehen sollte, dass sie diesen kleinen Einlauf verdient hatte.

„Sie sind vorhin nicht fertig geworden“, überging sie einfach die Entscheidung. Es gab jetzt Wichtigeres als ihren Stolz. „Was heißt das, Christoph ist über Bord gegangen? Hat man ihn etwa …“, ihr versagte fast die Stimme, „hat man ihn gefunden?“ Petersen nahm ihr behutsam die Tasse aus den zitternden Händen.

„Es tut mir leid, Genaues wissen wir noch nicht. Fest steht nur, dass Ihr Lebensgefährte nicht mehr an Bord des Schiffes war, als Herr Jalowski am Fehmarnbelt wieder an Deck kam. Das Boot trieb unter Segeln auf die Küste zu, er konnte gerade noch verhindern, dass es auf Grund lief. Zurzeit sucht die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger das gesamte Gebiet ab. Auch die Bundeswehr ist mit ihrem Rettungshubschrauber vor Ort, und die Kripo wird in Kürze beim Schiff eintreffen. Leider wissen wir nicht, ob Herr Wendt eine Rettungsweste getragen hat, Herr Jalowski war sich da nicht sicher.“

Désirée war während der Ausführungen auf ihrer Pritsche immer tiefer gesunken. Jetzt horchte sie auf:

„Was soll das heißen, er ist sich nicht sicher? Er wird doch wissen, wie viele Rettungswesten an Bord waren und ob eine davon fehlt!“

„Nun ja …“ Der Beamte wirkte beschämt.

„Nun ja, was?“

„Nun ja, wie man hört, hatten die Herren gestern Nacht noch Damenbesuch, und dabei kam es wohl auch zum Einsatz der Rettungswesten. Die Details möchte ich Ihnen gerne ersparen … Herr Jalowski sprach, wie drückte er sich aus, ach ja, von ‚maritimem Strippoker‘.“

Petersen setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. „Glauben Sie mir, ich verurteile das genauso wie Sie. Ich habe meine Mausi in all den Ehejahren nicht einmal betrogen. Und denken Sie nicht, dass bei uns immer alles eitel Sonnenschein war. Nee, nee, das nun wirklich nicht. Gerade, als sie ihre Phase hatte, in der sie zu Hause nur noch in so einem furchtbaren Flanelloverall herumlief, da …“ Er schaffte es nicht, seinen Satz zu beenden, denn Désirée sprang empört auf und drohte dem Polizeibeamten mit dem Zeigefinger:

„Sie sagen mir jetzt sofort, wo ich Arno finde!“

Petersen wich zurück. Er kannte diese Art von Frauen. Wütend konnten sie in etwa so gefährlich sein wie sein Kollege Bernd, wenn er seine nachmittägliche Telenovela wegen eines Einsatzes verpasste. Oder ein Aufeinandertreffen von Hells Angels und Bandidos. Beides fürchtete er bis aufs Blut.

„Der müsste bei seinem Schiff im Hafen von Düsternbrook sein. Die Kripo wollte dort die Spurensicherung vornehmen“, rückte er raus, ohne ihren Finger auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dann hörte er nur noch die Bürotür krachend ins Schloss fallen.

Stern

Désirée hielt sich nicht damit auf nachzudenken. Stattdessen nahm sie die Beine in die Hand und sprintete die Bergstraße hinunter, die mit saftigem Gefälle direkt zum Hafen führte. Dort angekommen nahm sie Kurs auf die Südmole, wo sie auf den Gehilfen des Hafenmeisters stieß, der gerade sein kleines Motorboot festmachte.

„Du da“, verlor sie keine Zeit. „Du musst mich zum anderen Ufer bringen.“

„Wat?“, fragte der Junge und schaute sie irritiert an.

„Mensch, frag nicht, mach die Leinen los!“ Désirée wurde immer nervöser. Am liebsten wäre sie einfach in die Nussschale gesprungen und hätte den Motor gestartet. Konnte ja nicht so kompliziert sein.

Der Hafenmeistergehilfe wendete sich wieder seiner Arbeit zu: „Ach, und wie stellen Sie sich das vor? Ich kann nicht einfach so weg. Das gibt einen fetten Anschiss vom Chef. Vor allem, nachdem ich letzte Woche fast die Außenmole gerammt hätte. Und drüben festmachen kann ich auch nicht so einfach. Da muss man Liegegebühren zahlen und der Hafen is ausgebucht. Schon mal was von Kieler Woche gehört?“

Désirée verdrehte theatralisch die Augen. Das waren Argumente, aber keine Hinderungsgründe. Und sie wusste genau, wie sie damit umzugehen hatte. 200 Euro würden genügen, um seine Meinung zu ändern. Als so ein Hilfsbengel verdiente man mit Sicherheit nur lächerlich wenig. Gut, dass sie immer einige große Scheine beim Laufen in ihrer Socke versteckte. Sicher war sicher.

„Hier, du Leichtmatrose. Und jetzt fahr gefälligst!“ Während sie ihm das Geld in die Hand drückte, bestieg sie schon das dadurch bedrohlich schaukelnde Bötchen. Kurz wirkte der Junge noch unentschlossen, dann begann er, den gerade kunstvoll geschlungenen Knoten, der sein Boot am Anleger hielt, wieder zu lösen. „Ach, der Alte wird schon nichts merken. Aber wehe, Sie verpfeifen mich.“

„Willst du den Motor nicht starten?“, fragte Désirée irritiert, als er danach anstatt zum Ruder zu seiner Thermoskanne griff, um sich in aller Seelenruhe einen Kaffee einzuschenken.

„Lady, jetzt schauen Sie sich doch mal um“, antwortete er und nahm schlürfend einen Schluck seines Getränks. „Fällt Ihnen irgendwas auf?“ Für Spielchen war Désirée jetzt gar nicht zu haben. Trotzdem riskierte sie einen Blick über ihre Schulter. Gerade nahm ein riesiges Kreuzfahrtschiff mit seinem aufgedruckten Kussmund Kurs auf die offene See. Bald würde es Heikendorf passieren, aber da war doch noch genug Luft! Dieser Bengel machte echt nur Probleme.

„Dann beeil dich halt! Gib Gas!“

Der Hafenmeistergehilfe verdrehte die Augen.

„Damit Sie mir bei dem Wellengang das Boot vollkotzen? Vergessen Sie’s! Wir warten hier, bis der Koloss durch ist. Basta!“

Völlig entnervt ließ sie ihren Kopf in die Hände sinken und atmete tief durch. Als sie wieder aufschaute, hatte sich der Kreuzfahrtriese schon so weit genähert, dass man die Passagiere erkennen konnte, die sich zum Auslaufen auf dem Oberdeck versammelt hatten. Wie wild schwenkten sie ihre Arme, um sich von dem eben besuchten Hafen zu verabschieden.

Auf Désirée wirkte das in diesem Moment wie Hohn. Für sie ging es gerade um Leben und Tod, während Herr und Frau Müller am Bug von Deck 12 über die Reling strahlten, zu ihr rüber winkten und so nonverbal von ihrem Glück erzählten. Hatte sie etwa danach gefragt? Nein, verflucht!

Gut, ein wenig konnte sie es ja verstehen. Zwischen Frühstück, Teezeit, Mittag, Kaffee, Abendbrot, Cocktailtime und Mitternachtssnack blieb auf einem dieser Futterschiffe natürlich kaum Zeit für körperliche Ertüchtigung. Da kam das Auslaufritual gerade recht. Winkearme gegen Winkearme quasi. Aber auf ihre Kosten? Sie würde einen Teufel tun, den Gruß zu erwidern. Lieber verwendete sie ihre Energie darauf, den weißen Stahlriesen grimmig anzustarren. Vielleicht würde das den nötigen Schub verleihen, damit der Weg schnell wieder frei wäre.

Als hätte es geholfen, erreichten sie jetzt die ersten kleinen Bugwellen, die der Kreuzfahrer bei seiner Fahrt durch die Förde auslöste. Ihr Bötchen verfiel in ein kontinuierliches Schaukeln.

„Bitte nicht!“ Désirée konzentrierte sich auf einen fixen Punkt an der Hafenmole, um das aufkommende Unwohlsein zu unterdrücken. Sie war schon immer seekrank geworden, sobald auch nur die leichteste Bewegung auf See aufkam.

Damals, als Fischerstochter, war ihr das sehr unangenehm gewesen. Ihrem Vater vermutlich auch.

„Kinder haben auf einem Muschelkutter nichts verloren“, schimpfte er, nachdem sie bei ihrer Jungfernfahrt speiend über der Reling gehangen hatte, und ersparte sich und ihr damit weitere mitleidige Blicke seiner Kollegen. Aus Scham oder um sie zu schützen? Wer wusste das schon so genau … er war kein Mensch der großen Worte oder Gesten. Aber sie war sich seiner Liebe immer sicher gewesen.

Heute würde sie darauf keines ihrer etlichen Paar Schuhe verwetten. Wie auch? Sie konnte sich ja kaum noch daran erinnern, wie er überhaupt aussah. Trotzdem hallte jetzt seine Stimme in ihrem Ohr, wie er ihr von der Brücke aus zurief:

„Suche dir einen festen Punkt am Horizont, Deetje-Deern. Das hilft gegen die Seekrankheit.“ „Deetje-Deern.“ So hatte er sie immer liebevoll genannt. Sogar, wenn er sauer war, dann jedoch mit einem grimmigen Unterton.

„So, nun können wir“, riss sie der Jungspund aus ihren Tagträumereien und startete so abrupt, dass das Boot einen Hopser machte und sie fast über Bord gegangen wäre. Ein Schwall Ostseewasser schwappte an Backbord über den Rand und durchnässte sowohl ihren Hosenboden als auch die sauteuren Turnschuhe. Désirée wollte ihrem unvorsichtigen Steuermann die Leviten lesen, doch der Fahrtwind verschluckte alle Worte, sobald sie ihren Mund verließen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich ihrem Schicksal zu beugen und sich weiter darauf zu konzentrieren, ihren Mageninhalt bei sich zu behalten. Ihr Glück, dass der Weg über die Förde mit dem kleinen Motorboot schnell geschafft war. Der Junge hatte sie geschickt zwischen den vielen Segelbooten hindurch manövriert. Sie konnte bereits klar die klassizistische Fassade des Kieler Yachtclubs und das dahinter liegende Wäldchen erkennen.

„Mach an der Außenmole fest!“, befahl sie ihrem Nachwuchskapitän.

„Aye, aye, Sir!“, salutierte dieser und nahm Kurs auf eines der Molenenden neben der Hafeneinfahrt. „Sie sind der Boss!“

Langsam näherten sie sich der Steinmauer, die den Hafen einrahmte, bis das Boot sanft mit dieser zusammenstieß. Verunsichert schaute Desiree die Wand hinauf. Etwa in Kopfhöhe begann eine rostige Leiter, die wohl für weitaus größere Schiffe gedacht war.

„Und wie soll ich da jetzt hochkommen, du Scherzkeks?“

„Da müssen Sie schon den Boss fragen, ich bin hier nur der Handlanger“, entgegnete der Hafenmeistergehilfe und grinste von einer Backe zur anderen.

„Das hast du extra gemacht, du, du …“ Désirée versuchte mit einem kleinen Hopser hinaufzukommen, gab aber schnell wieder auf, als sie damit beinahe das Boot zum Kentern brachte und einsah, wie doof sie dabei wirken musste. Das Wasser war hier mehrere Meter tief und sie trug keine Schwimmweste. Weder hatte sie daran gedacht, eine anzulegen, noch war sie bereit, auszusehen wie ein bei der Müllabfuhr beschäftigtes Michelin-Männchen.

„Mach mir eine Räuberleiter“, gab sie erneut eine Instruktion. Anstelle der erwünschten Reaktion hielt ihr Begleiter die Hand auf: „Und das sollte ich tun, weil …?“

„Na, weil ich dich sonst sofort den Haien zum Fraß vorwerfe“, giftete Désirée.