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Der Tote im Deich

 

1
Die kleinen Dinge

ER HATTE INZWISCHEN viel Zeit bekommen, um über sein Leben nachzudenken. Um ferne Pläne zu schmieden. Und sich zu erinnern.

Da war die älteste Schwester seiner Mutter. Sie wohnte nur ein paar Häuser weiter, damals. Die beiden saßen oft zusammen, abends, wenn die Arbeit getan war. Die Arbeit bei dem Bauern. Auf seinem Hof und seinen Äckern. Das Notwendige in der eigenen Familie. Es war tröstlich, wenn man über die Beschwernisse des Alltages mit jemand reden konnte.

„Es geschieht mit dir!“, behauptete Tante Milena. Er sah sie noch nach Jahren vor sich, wie sie überzeugt mit dem Kopf nickte. „Du kannst dich plagen, kannst hoffen. Aber du entgehst deinem Schicksal nicht. Es vergisst keinen.“

Sie starb, kaum vierzig Jahre alt, an einer kleinen Wunde, die sie sich bei der Arbeit zugefügt und die eine Blutvergiftung ausgelöst hatte. Damals starb man dort daran.

Er war noch nicht alt genug, sich zu fragen, warum Milena das Schicksal für grausam und unabänderlich hielt. Oder ihre Überzeugung etwa infrage zu stellen. Aber er erinnerte sich oft daran.

Er erinnerte sich daran, als seine Mutter die notwendigen Dinge für die Trauerfeier ordnete, mit zum Himmel gewandtem Blick sich bekreuzigte und ein um das andere Mal murmelte: „Sie hat es gewusst.“ Das rückte plötzlich die Überzeugung Milenas für den Jungen in die Nähe des Wissens über göttliche Planung. Sie lebten nach der katholischen Glaubenslehre, gingen sonntags in die Kirche und beteten um gnädige Nachsicht für ihre Sünden.

Irgendwann kam ein Mann. Er bot den jungen Männern im Dorf an, ein Anderer zu werden. Man werde ins Ausland geschickt, habe sein Auskommen und müsse dort Aufträge erfüllen. Ein Anderer werden? Er erinnerte sich an Tante Milena. Entginge er dann nicht auch dem bereits für ihn vorbestimmten Schicksal? Er verließ sein Dorf. Viele Jahre später würde er sich an Milenas Worte schmerzlich erinnern.

Seine Ausbildung dauerte lange und war hart. Vieles von dem, was sie ihm sagten, hatte er in seine alltäglichen Abläufe aufgenommen. Auch dieses:

„Achtet auf Kleinigkeiten“, hatte einer der Lehrer, mit wenigen grauen Haaren und einem Aussehen, das nicht auf sein Alter schließen ließ, ihnen eingeschärft. „Sie machen aus einem Risiko deine Sicherheit. Sie machen aus einer Möglichkeit den Erfolg.“ Er hatte nicht über negative Folgen der Unachtsamkeit gesprochen. Umsicht und Gründlichkeit wurden zur Voraussetzung für den Erfolg.

Er hatte es doch gewusst! Er hatte stets auf Kleinigkeiten, auf Nebensächlichkeiten geachtet. Seine Umsicht hatte es ihm leicht gemacht, erfolgreich zu arbeiten.

Warum hatte er es dieses eine Mal unterschätzt? War es die Erwartung gewesen, in seine Heimat zurückkehren zu dürfen? War es das Versprechen gewesen, dieses ihn nicht mehr befriedigende Abwarten beenden zu dürfen? Die Vorfreude auf ein freies Leben in finanzieller Unabhängigkeit?

Wegen einer solchen Kleinigkeit zerbrachen seine Träume, als er sich schon am Ziel sah. Wegen eines Knopfes! Wegen eines lächerlichen Jackenknopfes! Dessen goldenes Glitzern seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Ihm sagte, das bliebe ihm als Erinnerung an seine Befreiung. An den Start in ein neues Leben. An das Lösen aus den notwendig gewesenen, unbefriedigend gewordenen Umständen. Er steckte den Knopf nicht wegen seines trügerischen Anscheines, wegen eines denkbaren Wertes ein, sondern als Erinnerung an den Moment, an die wenigen Sekunden, in denen sich sein Leben änderte. Aus Eitelkeit.

War an Tante Milenas Überzeugung doch etwas Wahres?

2
Der Tote im Deich

ES WAR SONNTAGNACHMITTAG und es regnete. Ein heftiger Nordwest brachte arktische Kaltluft über die Nordsee und zwang die warme Luft über dem Festland, ihre Feuchtigkeit abzugeben. Kurz: Es war nass, kalt und stürmisch.

Womit hätte er sich trösten sollen? ‚Mai-Regen bringt Segen!‘, behauptete sein Großvater immer, er kam aus der Landwirtschaft, oben auf der Geest, da war man für jeden Regen dankbar. Oder: ‚Nach den Eisheiligen wird es wärmer!‘ Pankratius, Servatius, Bonifatius und die Kalte Sophie; in der evangelischen Familie seiner Eltern hatte man es nicht so mit den Heiligen, aber diese Vier kannte er. Kalte Sophie, das war am sechzehnten Mai, schon letzte Woche, und es war immer noch kalt. Hatte sich der Kalender verschoben, ohne dass es aufgefallen war? Siebenschläfer am siebenundzwanzigsten Juni war in den letzten Jahren auch nicht mehr so zuverlässig mit dem versprochenen Wetter umgegangen!

Und dann acht Windstärken aus Nordwest, schon seit gestern Nachmittag! Hätte es Hochwasser-Alarm gegeben und wären alle Kräfte zur Sicherung der Baustelle im Deich gerufen worden, es hätte ihn weniger erstaunt. Er sah zur Wasserlinie hinab. Etwa bei zweimeterfünfzig über Normalhochwasser, so schätzte er, hatte man vorsorglich eine Barrikade mit Sandsäcken aufgeschichtet. Jetzt spülten die Wellen nur über den deutlich niedriger liegenden Fahrweg mit der Teerdecke, der hinter der Steinschüttung der unteren Uferbefestigung entlangführte.

Aber zum Schutz vor Hochwasser hätte man ihn nicht gerufen. Sie hatten ihn gerufen, weil ein Toter in der Baugrube lag. Hans Jensen war Hauptkommissar in der Kriminalpolizeistelle Heide und hatte zum ersten Mal seit Wochen ein freies Wochenende. Er war vierunddreißig Jahre alt und freute sich oft im Stillen über die Schnelligkeit, mit der er den Aufstieg zum Hauptkommissar geschafft hatte. ‚Leistungsprinzip‘, dachte er dann. Andere brauchten dafür mindestens fünf Jahre mehr. Aber er nahm seine Aufgabe ernst, war ehrgeizig, wollte noch weiter hinauf, zumindest in die Leitung der Polizeidirektion, vielleicht sogar als Lehrer an die Fachhochschule. Aber dafür musste er weiter lernen, nicht nur öffentliches und Strafrecht, man brauchte Psychologie, eine Menge Sozialkunde, ein bisschen Philosophie. Er studierte neben seinem Alltag in Beruf und Privatleben im vierten Semester an der Fernuniversität Hagen. Wenn er sich auch für jedes Semester sein Programm selbst erstellte, also kein Regelstudium absolvierte, das nach bestimmten Abläufen Zwischenprüfungen und zum Schluss ein Examen forderte, so waren sein Eifer und Ehrgeiz deshalb nicht geringer.

Hans Jensen war groß. Kam er über seine Größe in ein Gespräch, so sagte er stets, es seien „ohne Socken gemessen“ eins zweiundachtzig. Sah sein Gesprächspartner ihn dann wegen des unerwarteten Ausbruches von Humor fragend an, behauptete er mit dem ernstesten Gesicht, dessen er fähig war, er benötige auch jeden der vielen Zentimeter, um sein Gewicht unterzubringen. Er wog über die Jahre hinweg fünfundachtzig Kilo, im Sommer mal kurze Zeit eines weniger, nach Weihnachten dafür zwei mehr. Als er, in Hemmingstedt geboren, das Werner-Heisenberg-Gymnasium in Heide besuchte, war er ein guter Sportler, in den Disziplinen, die Kraft erforderten: Kugelstoßen, Diskuswerfen, Fußball, Schwimmen. Während der dreijährigen Ausbildung für den gehobenen Polizeidienst an der Fachhochschule in Kiel ging ihm die Zeit hierfür verloren. Er beschränkte sich von da an auf Laufen, möglichst nicht auf Straßen oder Stadionbahnen. An zwei Abenden in der Woche war er für gut eine Stunde unterwegs, meistens auf den Feldwegen im Umland der Stadt. So konnte er sein Gewicht unter Kontrolle behalten.

Er trug aus Bequemlichkeit seine von Natur aus krausen blonden Haare kurz und ohne Scheitel. Er kleidete sich sportlich-leger, dem jeweiligen Zweck entsprechend. Niemand hätte ihn eitel genannt. Dafür nannten sie ihn einen „Streber“, und das war nicht wohlwollend gemeint. Er hatte sich den Makel schnell verdient, als er sich während des Studiums hinter den Lehrbüchern vergrub und die Geselligkeiten in der abendlichen Stadt mied. Es dauerte nicht lange, bis das Wort auch durch die Büros der Polizeistelle Heide huschte: er sei nicht ernsthaft, sondern verbissen; im Team sei er dickköpfig und stur; immer habe er schon eine Meinung, die ihn ungeduldig werden lasse; er sei nicht strebsam, sondern „ein Streber“. Aber die Polizeileitung schätzte sein verbissenes Arbeiten und seine Erfolge und sie mussten sich arrangieren.

Im Team diskutierten sie hart mit ihm, und manchmal vergaß er, dass er so mit Bärbel, seiner Freundin, seiner Partnerin, mit der er seit ein paar Monaten ein Ein-Familien-Haus bewohnte, nicht umgehen könne. Bärbel wusste, dass er sich manchmal wie ein Macho aufführen musste. Zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit gefiel ihr seine Selbstsicherheit, seine bestimmende Art. Und wenn mit der Zeit seine Antworten ihr einmal wehtaten, wusste sie inzwischen, ihn zu einem Eingeständnis, zu einer Entschuldigung zu bringen.

Er hatte sich viel vorgenommen, für das freie Wochenende. Vormittags waren gemeinsam mit seiner Freundin Bärbel Einkäufe zu erledigen, lange von einem Tag auf den anderen verschoben.

Bärbel Braack aus Büsum. Sie hatten sich vor Jahren an einem Rosenmontag in Marne kennengelernt. Hans Jensen war in einem Präventionsteam eingesetzt worden, das Jugendliche vor zu heftigem Alkoholgenuss bewahren sollte. Bärbel lief im Rosenmontagszug mit einer Gruppe, in der Büsumer Narren Märchenfiguren mit politischen Themen verbanden. Sie stellte Kanzlerin Merkel als Rapunzel dar, mit einer Haarpracht, die von sieben Zwergen hinter ihr hergetragen werden musste. Nach dem Umzug half Hans, die „Perücke“ in einen Pkw zu laden. So wurden sie auf einander aufmerksam und ließen sich nicht mehr aus den Augen. Sie verliebten sich, merkten bald, dass sie nie mehr auf den Anderen verzichten wollten. Sie suchten sich eine gemeinsame Wohnung, im Obergeschoss eines der schönen alten Gebäude im Loher Weg.

Seit dem vergangenen Herbst wohnten sie in einem eigenen Ein-Familien-Haus, am Langendamm im Osten der Stadt gelegen, mit kleinem Garten mit Sitzecke, Rasen und Blumenbeet. Dafür waren Besorgungen zu machen. Der gesamte Nachmittag wäre notwendig, dem Garten zu geben, was der Frühling erforderte, wäre das Wetter nicht so unfreundlich gewesen. So blieb ihnen genug Zeit, sich im Gartenmarkt zu informieren und auszuwählen. Am Abend saß er dann über seinen Lehrbüchern, recherchierte im Internet und versuchte, Material zu einem Thema zu finden und zu ordnen. Das konnte er am besten, wenn der Abend Dunkelheit über das Land schickte, wenn keine Blicke aus dem Fenster die Konzentration störten. Bärbel hatte gemurrt, sie wollte endlich mal wieder ins Kino, zumal gerade ‚Titanic‘ in 3D lief, und er musste, um den Frieden in der kleinen Familie zu erhalten, versprechen, dafür am folgenden Nachmittag mit hinaus zu ihren Eltern zu fahren. Es war spät geworden, aber er war mit den Ergebnissen seiner Nachtarbeit zufrieden.

Als sie schließlich bei ihrem Frühstück saßen, einem sehr späten Frühstück, eher schon einem Brunch, mit knusprig gebratenem Speck, Rührei und starkem Kaffee, klingelte das Telefon. Der Wachhabende in der Bereitschaft teilte ihm mit, dass in Oldenhusen eine Leiche gefunden worden sei, heute Morgen, in der Deichbaustelle, und dass die Kollegen von der Polizeistation ihn dort erwarten würden. Die Ursache sei noch unbekannt, keine Hinweise auf Fremdverschulden, deshalb komme niemand von der Mordkommission in Itzehoe.

Nun stand er hier, auf der Deichkrone, am hölzernen Geländer neben dem provisorischen Treppenabgang, die Kapuze seiner Wetterjacke als Schutz gegen Wind und Regen hochgeschlagen, Gummistiefel an den Füßen, und blickte hinab in die Baugrube. Es war schon der neue Deich, der die Bucht abschließen und dadurch die Deichlinie hier erheblich verkürzen würde, mit einer tiefen Baugrube für das Schöpfwerk und die kleine Schleuse. Eine Spundwand verhinderte das Herabstürzen des erst wenig verdichteten Bodens im Deichkörper. Pfähle waren gerammt worden, über dreißig Meter tief bis auf die tragenden Sandschichten. Dann hatten sie begonnen, Fundamente zu gießen, mächtige Fundamente für den Freilauf und die Schleusenkammer, den Treibgutrechen und das darüber stehende Gebäude mit der Pumpenhalle. Zwischen den Betonmauern der Fundamente lag ein Körper: Bauchlage, halb eingesunken im Morast, bekleidet mit einer blauen Jeans und einer Jacke aus demselben Material, beides durch Nässe und Blut dunkel verfärbt, ein Bein unnatürlich abgewinkelt an eine Mauer gelehnt, unübersehbar Blut auf der ihn umgebenden Pfütze.

„Polizeimeister Meier vom hiesigen Revier“, stellte sich ein Uniformierter vor. „Guten Tag, Herr Jensen. Üble Sache, das hier! Und dann auch noch an einem Sonntagmorgen!“ Er wies in die Baugrube. „Hatten wir lange nicht mehr im Bereich. Der letzte Tote war ein Fischer, vor drei Jahren, hing draußen an einem Stack.“

„Hallo Herr Meier! Wir kennen uns. Ja, man kann es sich nicht aussuchen. Wer hat ihn denn gefunden?“

„Der Polier, Holdorf, sitzt mit einem Kollegen im Baubüro. War wohl ein Schock für ihn.“

„Was wollte Holdorf denn auf der Baustelle? Heute ist Sonntag.“

„Arbeiten. Seine Leute wollten heute noch die Schalung machen, um gleich morgen die Sohlplatte betonieren zu können. Die haben ganz enge Termine vereinbart, Ende Oktober muss der Deich geschlossen sein.“

„Schöne Überraschung. Wann war das?“

Polizeimeister Meier fasste zusammen: „Meldung über die Leitstelle zehn Uhr vierzig. Ich war mit dem Streifenwagen auf der Geest, deshalb konnte ich erst um elf fünfzehn hier sein. Ich fand Holdorf, der dort auf der Holztreppe saß, völlig vom Regen durchnässt. Bin nicht runter gegangen, sieht man ja von oben aus, dass der Mann tot ist. Um elf fünfunddreißig habe ich Alarm gegeben, Sie sehen ja, ein gutes Stück vom Parkplatz aus zu laufen, und das bei diesem Wetter, das ging nicht schneller. Notarzt und Spurensicherung angefordert, die traf um zwölf fünfundvierzig ein, ist unten bei der Arbeit. Keine verdächtigen Personen, keine Fahndung.“

„Sie waren also der Erste hier. Irgendein Gefühl, Meier? Etwas Auffälliges?“

„Ich war der Zweite, Herr Jensen, ich sagte ja schon: der Polier, Holdorf. Nein, Auffälliges habe ich nicht gesehen. Bei dem Sturm und Regen bleiben ja auch keine Fußspuren im Gras auf dem Deich.“

Jensen sah nachdenklich in die Baugrube hinab, in der sich vier Personen um den Toten drängten. „Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter!“, murmelte er vor sich hin.

Meier sah ihn fragend von der Seite an: „Ahh, Sie haben ihn wohl auch gelesen: Theodor Storm, ‚Schimmelreiter‘:

‚Etwas Lebiges muss in den neuen Deich!‘“ Er schwieg, wartete auf eine Antwort, hatte er Jensen richtig verstanden?

„Liest doch jeder hier, an der Küste.“

Meier freute sich. Er konnte mal wieder Punkte sammeln mit seinem Wissen: „Ja, früher haben sie etwas Lebendiges im Deich eingegraben, nach ihrem Aberglauben dachten die Menschen, der Deich würde dadurch länger halten.“

Jensen sah Meier an. Das war eine beliebte Geschichte im Unterricht an der Polizeischule, wenn es um die Wandlung des Unrechtbewusstseins im Laufe der Zeiten ging: „Sie haben anfangs ein Kind dafür genommen. Wenn es ging, haben sie das einer durchziehenden Familie abgekauft. Lebendig eingegraben! Als die Menschen das mit einem Kind nicht mehr wollten, haben sie Tiere genommen: ein Kalb, einen Hund. Aber nie eine Katze. Eine Katze half nichts, die hätte das Unglück nur angezogen.“

„Konnte doch gar nicht helfen! Dass die Menschen das geglaubt haben …!“ Meier schüttelte den Kopf. „Heute unvorstellbar.“

Jensen nickte wieder, bedächtig, ernsthaft: „Und nun liegt da unten jemand!“ Er seufzte, wandte sich der Treppe zu. „Dann gehe ich mal zu den Spurensuchern.“

Die Männer in der Baugrube hatten inzwischen den im Morast liegenden Körper angehoben, auf den Rücken gedreht und auf den Brettern abgelegt. Mit einem schlürfenden Geräusch hob Jensen seine Füße aus dem aufgeweichten Boden, dessen dünne Grasdecke noch nicht viel Halt gab.

Die Beamten der Spurensicherung hatten zunächst die Holztreppe, die in die Baugrube führte, auf Spuren untersucht, dann den Boden der Grube und schließlich den leblosen Körper von allen Seiten fotografiert. Für den Notarzt hatten sie Bretter ausgelegt, sodass er sich dem Toten nähern konnte, ohne in dem nassen, morastigen Boden einzusinken. Jensen schätzte mit einem schnellen Blick die Größe des Verunglückten auf hundertachtzig Zentimeter und das Gewicht der schlanken Gestalt auf fünfundsiebzig Kilogramm.

Jensen blieb auf einem der Fundamente stehen und sah sich um. „Moin!“, grüßte er die mit ihrer traurigen Arbeit Beschäftigten, mit dem zu jeder Tageszeit passenden Gruß der Einheimischen.

„Moin moin Jensen!“ Klaus Hosse, Leiter der Spurensicherung, sah von der Arbeit des Notarztes auf und wandte sich zu dem Hinzugekommenen. „Scheint unglücklich gelaufen zu sein. Sieht mir nach einem Unfall aus. Kein Wunder bei dem Wetter.“

„Habt Ihr etwas gefunden?“

„Nein, nichts Ungewöhnliches.“

„Und wer ist das?“

„Das wissen wir noch nicht. Wir sind an seine Taschen noch nicht herangekommen.“

Der Notarzt hatte mit destilliertem Wasser aus einer Sprühflasche das Gesicht des Toten abgespült. Sie sahen das glatte Gesicht eines wahrscheinlich Mitte-Dreißig-Jährigen mit einem von kräftigem Bartwuchs gedunkelten energischen Kinn. Über dessen kantiger Stirn klaffte zwischen kurzen dunklen Haaren eine breite, tiefe Wunde mit zerfaserten Rändern und hellem Untergrund, wobei noch nicht zu erkennen war, ob es Schädelknochen oder Hirnmasse war. „Dr. Hufner, Klinikum Heide“, stellte er sich vor. „Schwerste Schädelfraktur, dürfte sofort tot gewesen sein. Kann man aber erst nach der Autopsie sagen. Ist vielleicht auch erst in dem Matsch erstickt oder ertrunken. Frakturen in beiden Beinen. Dort sieht man noch die Aufprallstellen.“ Er wies auf verwaschene Flecken auf den Kanten zweier gegenüberliegender Fundamentmauern hin. „Körpertemperatur nicht mehr vorhanden, das heißt seit mehreren Stunden tot. Wie lange muss man erst berechnen, Sie verstehen: der Regen. Ich schätze so um zwölf Stunden, plus minus zwei.“

„Danke. Wann habe ich Ihren Bericht?“

Dr. Hufner blickte nur kurz auf: „Gestern, Herr Jensen, gestern. Wäre gestern Morgen früh genug?“

„Ja, danke, Herr Dr. Hufner! Gestern Morgen würde mir sehr gut passen!“ Jensen stieg vorsichtig die von Regen und Matsch schlüpfrige Holztreppe hinauf. Jetzt würde er zunächst mit Holdorf reden.

3
Wer nie will dieken, …

DIE BEWOHNER DES Landstriches an der Küste waren an Sturmfluten gewöhnt. Dabei hatte es über die Jahrhunderte schon katastrophale Verluste gegeben, wie etwa im Januar 1362, als bei der ‚Groten Mandrenke‘ große Gebiete und mit ihnen das nordfriesische Rungholt verloren gingen. 1717 riss eine Sturmflut einen Koog, diesen Koog, auf, der mit allem lebenden und toten Inventar überspült wurde und erst nach knapp fünfzig Jahren wieder zurückgewonnen werden konnte. 1962 zog eine Sturmflut über die Küste mit schweren Schäden in den Niederlanden und im Mündungstrichter der Elbe bis in Stadtteile Hamburgs hinein. Trotz aller Gewöhnung war die Angst um Leben und Besitz tief in ihnen verwurzelt.

Die Regierung sah sich veranlasst, einen ‚Generalplan für den Küstenschutz‘ zu erstellen. Aber seine Verwirklichung, die Erhöhung und Verstärkung der Seedeiche, schritt nur langsam voran. Bis 1976 die nächste schwere Sturmflut auflief, mit noch höheren Wasserständen als 1962 und mit Überflutungen auch im Raum Oldenhusen. „Die zeitlichen Abstände werden kürzer und die Wasserstände immer höher!“, fasste eine regionale Tageszeitung mahnend die Erwartungen zusammen. Noch wollte niemand so recht daran glauben, dass es auch Folgen der Klimaveränderung wären, besonders des Anstieges des Meeresspiegels, die sich in den nächsten Jahrzehnten dramatisch zuspitzen würden. Dann hätte man ja auch das eigene Verhalten ändern müssen.

Die Oldenhusener wurden ungeduldig. In dem Gebiet, das durch einen Deichbruch gefährdet würde, lebten etwa zehntausend Einwohner. Sie verlangten, dass der Staat endlich nun auch ihr Eigentum gegen die Flut sichere. Schließlich zahle man seine Steuern pünktlich, habe geduldig bei den Maßnahmen in anderen Küstenabschnitten abgewartet, jetzt verlange man nach seinem Recht! Es müsse nun endlich weitergehen. Man könne sonst auch anders reagieren, bei der nächsten Wahl anders als bisher abstimmen!

Der ‚Generalplan für den Küstenschutz‘ wurde noch einmal überarbeitet. Abschnitte der Deiche, die noch nicht verstärkt worden waren, erhielten Vorrang: eine größere Höhe, ein flacheres Profil, zusätzliches Geld wurde zur Verfügung gestellt.

Der schwierigste Abschnitt war der alte Deich in Oldenhusen. Das Hochwasser bliebe nicht respektvoll vor der Lücke zwischen den landauf und landab bereits nach den neuen Erkenntnissen hergerichteten Deichstrecken stehen, würde es nur wenig höher als 1976 auflaufen. Es fehlten knapp zwei Meter an der neu errechneten schützenden Höhe. Und diese war hier besonders wichtig, denn es gab keine zweite Deichlinie zur Stadt hin: Wäre die Flut über das alte Hindernis gespült, so gäbe es kein Halten mehr!

Aber in Oldenhusen prallten die unterschiedlichen Interessen mit existenzieller Wucht aufeinander.

Auf dem Deich standen eine Reihe Wohnhäuser und ein Ausflugslokal. Es war eine historisch gewachsene Situation. Während die Bauern auch schon früher über das Geld und die Arbeitskräfte verfügten, sich für ihre Häuser Wurten aufhäufen zu lassen, künstliche Hügel als Bauplatz und zum Schutz vor Hochwasser für Familie, Vieh, Besitz und Ernte, konnten die Ärmsten, die Knechte und Landarbeiter, Witwen und Alte, sich diesen Schutz nicht schaffen. Ihnen erlaubte man, ihre Katen auf den Deich zu stellen und Viele zogen den Wasserschutz auf der Höhe des Deiches dem Zugriff des Sturmes vor. In dem Priel, von dem letzten großen Deichbruch 1717 geschaffen, legten Boote an, die Vorräte und Baumaterial in die Stadt brachten und mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zurückfuhren. Mit der Verbesserung der Verkehrswege zu Lande ging der Hafenumschlag zurück und machte Platz für Sportboote. Das Ausflugslokal entstand, mit gepflegter Küche, einem für seine Zeit ansehnlichen Kinosaal und mit Zimmern für die Unterbringung von Gästen. Das Haus war beliebt, nicht zuletzt wegen der Aussicht über den Bootshafen und den Fluss in die Ferne.

Mit den Jahren wandelte sich die Struktur der Deichbewohner. Die Aussicht über Land und See von dem wenige Meter höheren Wohnplatz aus machte die Häuser attraktiv. Wer genug Geld hatte, kaufte ein Haus auf dem Deich, sanierte, erneuerte und baute es aus. Jagte dann ein Sturm von der See und über den Fluss heran und ließ die Flut am Deich hinaufsteigen, dann konnte es passieren, dass Freunde anriefen und fragten, ob sie zum Kaffee-Besuch kommen dürften, um auch dem tosenden Wetter zuschauen zu können.

Diese Eigentümer waren natürlich nicht bereit, ihre Häuser aufzugeben, an den Staat oder den Deichverband zu verkaufen, damit der Hochwasserschutz für die Stadt endlich verbessert werden könne. Einer der Hausbesitzer, ein Belesener, machte sich zum Sprecher für alle: „Wir leben in einem freien Land, und wir haben uns entschieden, dort zu wohnen.“ „Aber ihr wohnt auf dem Deich!“, hatte jemand gewagt einzuwenden, „Der Deich wird doch für den Hochwasserschutz benötigt.“ „Die Häuser sind unser Eigentum und der Staat muss unser Eigentum schützen.“ Nein, der Staat müsse schon eine andere Lösung für das Problem finden, aber nicht hinter ihren Häusern, dann blieben sie schutzlos, auch nicht vor ihnen, dann ginge ja die Aussicht verloren. Aber es müsse nun endlich schnell etwas geschehen! Die Menschen im Dorf aber waren unschlüssig. Sie forderten den Schutz vor der Flut, wollten aber den Freunden in den Häusern auf dem Deich auch nicht schaden, zu viel Kritik an deren Verhalten hätte man ihnen als Neid ausgelegt. Also griffen sie zu dem üblichen Mittel: Sie kritisierten die ‚seit Jahren beklagte Untätigkeit des Staates‘, dem es mit seinen vielen, hoch bezahlten Fachleuten und Politikern nicht gelinge, eine dringend notwendige und akzeptable Lösung vorzuschlagen. Und sie fanden auch ein Opfer, auf das sie in ihrem Zorn mit Unverständnis zeigen konnten.

Der Eigentümer der Gaststätte war ein Fremder. Er hatte den Betrieb vor zehn Jahren gekauft und viel geliehenes Geld investiert, um den Hafen mit der Attraktivität des Ausflugslokales zu ergänzen: eine große Terrasse mit Wintergarten gegen das in der Übergangszeit oft raue Wetter, ein kleiner Spielplatz für die Kinder der Besucher und ein großer Parkplatz am Fuße des Deiches. Viele Bewohner der Stadt kamen zum Stammtisch, feierten dort ihre Familien- und Vereinsfeste, Klassen der Schule kehrten bei ihren Wandertagen regelmäßig bei ihm ein, oft kamen Besucher mit Omnibussen, um die schöne Aussicht zu genießen und durch das idyllische Oldenhusen zu wandern. „Was soll ich denn tun?“, hatte der Gastwirt in einer öffentlichen Versammlung in dem großen Saal mitten im Ort gefragt. „Das auf dem Deich ist mein Leben! Das ist alles, was ich habe! Ich habe meine Schulden noch nicht abgetragen. Ihr seid doch immer gerne zu mir gekommen!“

„Und wie soll das deiner Meinung nach weitergehen?“, fragte der Versammlungsleiter. „Hast du den Planern denn schon Vorschläge gemacht?“

„Weil der neue Deich die Aussicht nimmt und mich dadurch schädigt, muss das Land für einen Ausgleich sorgen.

Ich kann nicht schon wieder viel Geld investieren. Notfalls gehe ich vor das Gericht und klage!“

Die Versammlung hatte mit unwilligem Murren geantwortet. Eine Klage würde das Projekt erneut weit hinausschieben. Schließlich war jemand aufgestanden, in der letzten Reihe, ein großer, kräftiger Mann in gepflegter Freizeit-Kleidung: „Wer ni will dieken, de mutt wieken! Das war hier an der Küste schon immer so!“ Es gab heftige Zustimmung, der Gastwirt war ja ein Fremder, ihn konnten sie zur Zielscheibe für ihre Unzufriedenheit machen!