Gerrit Voß

Die Alabama-Verschwörung

Frieling-Verlag Berlin

Inhalt

„Für zwei Frauen, die ich nicht vergessen kann: Die eine habe ich verloren, die andere kann ich nicht gewinnen.“

Prolog

Der Verdammte

Tag 1, 22. September, 23:28:09 (CST)

Genaue Lokalisierung per GPS nicht möglich

Louisiana

Kaltes Eisen. Das Einzige, auf das man sich verlassen kann. Es fühlt sich erst kalt und abweisend an, aber nach wenigen Sekunden nimmt es deine Körpertemperatur an und wird ein Teil von dir.

Das Sturmfeuerzeug schnappte auf und entzündete eine Zigarette, deren glühende Spitze er mit seinen Augen fixierte.

Feuer und Glut. Es erinnert mich an unseren Staat. Es schenkt dir Licht, Wärme und das Gefühl von Geborgenheit, aber im nächsten Moment kann es wie ein gefräßiges Monster alles verschlingen, was dir lieb ist.

Die Poesie seiner Worte brachte ihn zum Lächeln. Er führte das Glas Whisky, das auf dem Beistelltisch stand, zu seinem Mund und trank.

Alkohol – welch gutes Gift, welch schönes Gift, das beste Gift. Es beruhigt die Rasenden, die sonst ihrer Wut freien Lauf ließen, es tröstet die Traurigen, die ihre Männer, Söhne, Töchter und Frauen an die ferne Wüste verloren haben, deren Tränen im Rinnstein fließen und die ihren Schmerz nicht mehr ertragen können. Es hemmt die Unzufriedenen, die sonst auf die Straße gehen würden, es euphorisiert die enttäuschten Gemüter, die an unsere falschen Propheten geglaubt haben. Es raubt uns Andersdenkenden den Verstand.

Der kleine Raum, in dem er saß, war spärlich möbliert und die nackten Wände warfen das Licht des alten Fernsehers schaurig zurück. Die linke Wand des Zimmers war mit Zeitungen tapeziert. Sie alle trugen dieselbe Schlagzeile und dasselbe Datum. Es war der 23. November 1963, einen Tag nachdem Präsident John F. Kennedy einem Heckenschützen zum Opfer gefallen war. Die rechte Wand war noch frei, aber das sollte sich bald ändern. Er zückte einen sechsschüssigen Revolver der Marke Colt und entfernte alle Geschosse bis auf eine Kugel. Als er die Trommel drehte wie eine Murmel in der Gosse und sie blitzartig zuschnappen ließ, lief gerade eine Sondersendung über den stark beschnittenen Wehretat. Und da sah er dieses Gesicht, das Antlitz eines Lügners, Betrügers und Versagers. Du oder ich. Er steckte den eisigen Lauf seiner Waffe in den Rachen. Es fiel ihm nicht schwer abzudrücken. Die Waffe klickte erlösend. Fast schon enttäuscht drückte er noch einmal ab, und wieder hallte nur ein metallisches Geräusch durch den Raum. Heute, so dachte er, ist mein Tag noch nicht gekommen. Aber am 25. dieses Monats wirst du deinem Schöpfer gegenübertreten, Nigger. Ohne zu zögern zielte er blitzartig auf den Bildschirm und zog durch. Der Fernseher explodierte in Dutzenden Funken und Einzelteilen.

Teil 1

Der russische Klient

„Ein Patriot muss immer bereit sein, sein Land gegen seine eigene Regierung zu verteidigen.“

Edward Abbey, amerikanischer Schriftsteller

„Ein Fanatiker ist – in psychologischen Begriffen definiert – ein Mensch, der bewusst einen geheimen Zweifel überkompensiert.“

Aldous Huxley

„When Johnny comes marching home again. Hurrah! Hurrah!“

US-amerikanisches Kriegslied

Gestorben in den USA

Tag 2, 23. September, 18:12:54 (EST)

Brooklyn, NYC

New York

„Der menschliche Körper eines Erwachsenen beinhaltet etwa fünf bis sieben Liter Blut, es ist eine Körperflüssigkeit, die mit Unterstützung des Herz-Kreislauf-Systems die Funktion…“

„Ey, Mann, Wadim, mach die Scheißtür auf, oder willst du, dass ich dich an deinen stinkenden serbischen Eiern aufhänge?“

Wadim Bajic erhob sich seufzend von seinem mit Flecken übersäten grünen Sofa, das die Farbe eines Tarnnetzes angenommen hatte.

„Ich komme, Mann, lass die Tür drin! Ich habe keinen Bock auf Ärger mit meinem Vermieter. Der Kerl macht mir eh für allen Scheiß die Hölle heiß“, rief er dem Neuankömmling zu, der dabei war, die Hintertür seines Heims in tausend Stücke zu zerlegen.

Er ging durch die schmale Küche seines vergammelten Mietshauses, wo er den vertrauten Geruch von ranzigem Fett und kaltem Zigarettenrauch wahrnahm. Als er die Tür öffnete, holte die vertraute Gestalt im Hinterhof gerade erneut zum Schlag aus.

„Ist gut, ist gut – willst du einen Zimmermannsnagel durch massiven Granit treiben oder was ist los?“

„Oh Mann, da bist du ja, Alter“, murmelte der junge Schwarze, gehüllt in eine XXL-Jacke und silbrig glänzende billige Jeans.

„Was um alles in der Welt machst du hier, Francis?“, fauchte ihn Bajic an. „Ich dachte, Treffen wäre erst um sieben?“

Francis Dillian grinste mit seinem schiefen Mund und brachte einige für einen Farbigen eigentlich untypisch krumme gelbe Zähne zum Vorschein. „Das ist Kapitalismus, Genosse, Flexibilität steht bei uns an oberster Stelle. Gab halt ’ne Planänderung“, meinte er und zuckte lässig mit den Schultern.

Dass es in Strömen regnete und sich seine billigen Klamotten, die er sicherlich bei einem Discounter in Harlem erstanden hatte, vollsaugten wie ein Tafelschwamm, schien ihn nicht zu interessieren.

„Nette Drecksbude. Kein Wunder, dass du nie ein Mädchen mit nach Hause nehmen kannst – bei dem Gestank in deiner Höhle fallen selbst die Fliegen tot von der Wand“, platzte der deutlich kleinere Francis plötzlich heraus.

Bajic erstarrte vor Wut. Der Nigger hatte ihn nie besonders gemocht, da er Ausländer war und erst vor ein paar Jahren in die Staaten gekommen war. Er hätte dem Kerl am liebsten gleich mit voller Wucht die Holztür, deren Klinke er immer noch in seiner Linken hielt, direkt ins Gesicht geschlagen, jedoch wusste er, dass Francis unter einem ganz besonderen Schutz stand. Also ließ er die Klinke los, schluckte den Ärger runter und murmelte etwas wie: „Warte ’ne Sekunde, ich muss eben die Glotze ausmachen“, und stolperte zurück durch die dunkle Küche, deren Glühlampe immer durchbrennen wollte. Er konnte sich genau Francis’ hässliche Fratze vorstellen, wie er weiter draußen höhnisch grinsend auf der Türschwelle stand.

„Na warte, Freundchen, irgendwann wird Onkel Alexej nicht mehr seine schützende Hand über deine Scheißafrolocken halten, und dann gnade dir Gott, wenn es einen geben sollte“, flüsterte er.

Bajic bezweifelte dies seit einigen Jahren. Er hatte im Balkankrieg gedient, und was er dort gesehen hatte, hätte ein Gott nie zulassen dürfen. Häufig verfolgten ihn diese Bilder und Geräusche nachts, aber auch tagsüber. Es brauchte nur ein bestimmter Geruch in seine Nase zu steigen oder ein Ton in sein Ohr einzudringen, und dann war er wieder da, der Tag in Srebrenica… Das Rattern der Kalaschnikows, das Winseln und Flehen der Männer, der Gestank nach Kot und Karbid. Er hatte nie den Mumm beziehungsweise das Geld gehabt, hier in den Staaten zu einem der zahlreichen amerikanischen Psychologen oder Seelsorger zu gehen. Nein, wenn diese Erinnerungen wiederkamen, half nur ein guter russischer Wodka.

„Sag mal, willst du dir jetzt wieder auf deinem gammeligen Sofa einen wichsen, oder was ist jetzt?“, riss Francis’ Stimme ihn aus seinem Träumen. Er schaltete den Plasma-Fernseher aus, den er auf seinen völlig verstaubten Glastisch gestellt hatte, und nahm seine alte Militärjacke von der improvisierten Garderobe. Den Flachbildfernseher hatte er sich nach seinem letzten Job gegönnt. Die Miete war seit einem Monat überfällig, aber der dicke Yankee mit Brille und Schnurrbart traute sich anscheinend nicht, ihn rauszuschmeißen. Seufzend ging er durch die Küche zurück, ließ das Licht im Flur brennen, um Einbrüchen vorzubeugen, und drückte sich an dem immer noch grinsenden Francis vorbei in die verregnete Nacht.

Sie gingen über die Einfahrt des Hauses, nachdem sie den handbreiten Garten hinter sich gelassen hatten, und betraten eine Nebenstraße. Der rissige Asphalt wurde durch den grellen Schein der Straßenlaterne erhellt. Halb auf dem Bürgersteig parkend stand ein unauffälliger alter 7er-BMW mit laufendem Motor. Bajic fröstelte und ging schnellen Schrittes auf den Wagen zu.

„Wohin so schnell, Bruder? Fällt dein Vanillearsch gleich in sich zusammen, wenn er ein bisschen Wasser abkriegt, oder was?“

Bajic überhörte den Kommentar und öffnete die Beifahrertür der gepanzerten Limousine. Im Auto war es warm, es roch nach Nikotin und dem teuren Aftershave seines Besitzers, der stolz am Steuer saß. Alexej „der Pascha“ Stavanovich war ein kräftiger, untersetzter Russe mit ständig gerötetem Gesicht und einem professionell aufgesetzten Lächeln. Sein graues Haar war militärisch kurz geschnitten und hinter seinem narbigen Pokerface befand sich ein messerscharfer Verstand. Er war über zwei Jahrzehnte einer der erfolgreichsten Waffenschieber der Ostküste gewesen, bis der Erfolg ihm beinahe zum Verhängnis geworden wäre.

„Wadim, Priwjet“, begrüßte er ihn, als habe er ihn seit Jahren nicht mehr gesehen. „Habe ich dich aus den Armen deiner kleinen Angelsächsin gerissen?“

„Die gibt es leider noch nicht“, entgegnete der Serbe.

„Wird sich bald ändern, mein Junge, verlass dich auf Onkel Alexej“, faselte Stavanovich, während er besserwisserisch den Finger seiner von Brandnarben übersäten rechten Hand hob. „Ob du eine Frau bezahlst oder sie deinen Ring am Finger trägt“, er winkte ab, „kostet immer das Gleiche.“

Bajic lächelte gequält über den schlechten Witz und Francis öffnete die Autotür und setzte sich auf die Rückbank.

Der Russe legte den ersten Gang ein und fuhr holpernd vom Bürgersteig, während sich Bajic anschnallte. Er mochte Stavanovich nicht besonders, aber er brauchte das Geld, und da er keine Greencard besaß, konnte er keiner ehrlichen Beschäftigung nachgehen und war so schließlich beim Pascha, einem sinkenden Stern der New Yorker Unterwelt, gelandet.

Besser, als sich zu Hause im sterbenden Serbien, wo er als Autoschlosser gelernt hatte, bevor er zur Armee ging, mit schlecht bezahlten Drecksjobs rumzuschlagen. Bajic wusste nicht, wohin die Fahrt ging, und versuchte ein Gespräch aufzubauen, während sie Brooklyn verließen, und Bajics Verdacht bestätigte sich, als sie auf die Interstate 78 fuhren. Der Berufsverkehr war größtenteils abgeflossen, und sie kamen schnell voran. Wir verlassen tatsächlich die Stadt Richtung Albany. Nach etwa einer Stunde, sie waren kurz vor Sloatsburg, fuhr Stavanovich in einer ländlichen Gegend ab und befuhr eine kleine Landstraße. Sie durchquerten eine Kleinstadt namens Hillburn und nahmen Kurs auf das Hillburn Reservoir.

Bajic sah die Chance gekommen, das bedrückende Schweigen zu beenden: „Ich dachte, der Deal sollte in Big Apple ablaufen, nicht hier irgendwo in der Pampa.“

„Lass das mal meine Sorge sein“, brummte Stavanovich. „Dieser Deal heute wird mich den ganzen Scheiß mit dem FBI, der mir in letzter Zeit passiert ist, vergessen lassen, und wahrscheinlich reicht das heute verdiente Geld aus, um mich für den Rest meines Lebens in einem Edelbordell einzuquartieren.“

„Sicher, wenn du es sagst.“ Das Schweigen, die warme, nach Kunststoff riechende Heizungsluft machte ihn nervös.

„In 500 Metern rechts abbiegen“, plärrte die elektronische Stimme aus dem modernen satellitengestützten Navigationssystem, welches Stavanovich angeschaltet hatte, nachdem sie die Interstate verlassen hatten. Der Wagen hielt.

„Warum hältst du an, Pascha?“, kam es vom Rücksitz.

„Um unsere Lebensversicherung abzuschließen. Der Wagen mag zwar gepanzert sein, aber wir sind es nicht. Bevor ich mich mit ein paar Freaks in der Wildnis treffe und den kränkesten Scheiß verticke, den ich je in den Händen gehalten habe, will ich sicher sein, dass wir perfekt ausgerüstet sind.“

Bajic wurde bei diesen Worten angst und bange. Er wurde häufig panisch, bevor es richtig brenzlig wurde. Wenigstens eine Gabe hatte der Krieg ihm geschenkt: seinen siebten Sinn. Wenn er auf Patrouille gewesen war, hatte er meist schon vorhergesehen, ob ein Feuerüberfall oder ein Artillerieschlag drohte.

„Hier“, meinte Stavanovich und deutete vielsagend auf das Handschuhfach direkt vor ihm. „Da ist deine Lady für diesen Abend drin – behandle sie gut.“ Bajic öffnete den Verschluss und das Fach sprang auf. Im Inneren lag eine silbrig glänzende 38er. „Eine achtschüssige Smith & Wesson, zuverlässig und auf kurze Distanz sehr effizient. Aber pass auf, sie ist geladen.“

Bajic nahm die handliche Waffe mit dem kurzen Lauf in die Hand und drückte den kleinen, unscheinbaren, in die Waffe eingelassenen Bolzen nach vorne. Ohne Mucken klappte die Trommel auf und gab ihren tödlichen Inhalt frei. Francis bückte sich und holte unter Bajics Sitz eine Kalaschnikow AK74U hervor, den kleinen Bruder der AK47. Die kleinere Karabinerversion hatte eine niedrigere Reichweite, war dafür aber wesentlich handlicher. Francis entsicherte die Waffe mit einem beunruhigenden Klicken und legte sie neben sich.

Stavanovich zog eine pechschwarz lackierte Pistole aus der Brusttasche seines maßgeschneiderten Anzugs. „Eine Walther P99 aus Deutschland. Es gibt drei Dinge, die die gottverdammten Nazis können: Waffen herstellen, Autos bauen“, er klopfte auf das Lenkrad seines BMWs, „und so grausam wüten, dass selbst Väterchen Stalin die Pisse am Bein runtergelaufen ist.“

Bajic musste grinsen. Er hätte nicht gedacht, dass Stavanovich Gefallen an den Produkten des russischen Erzfeindes fand.

Stavanovich schnallte sich ab und stieg aus, seine beiden Komplizen folgten seinem Beispiel. Der Regen war kräftiger geworden und auch der Sturm, der vom Wetterdienst angekündigt worden war, setzte ein. Für Ende September war es schon überraschend kalt und die Blätter der Bäume begannen sich bereits zu verfärben. Stavanovich ging zum Kofferraum und öffnete ihn. Zum Vorschein kamen zwei Kevlar-Westen, die er lose auf einen metallischen Aktenkoffer gelegt hatte.

„Francis, sei ein guter Junge und hilf mir mal!“ Der Russe begann in aller Ruhe seinen Armani-Anzug aufzuknöpfen und zog auch das sich darunter befindende weiße Hemd aus. Danach half Francis seinem Chef, die schusssichere Weste anzulegen, und reichte ihm seine Kleider, die er im Kofferraum zwischengelagert hatte. Danach war Bajic am Zug. Er fröstelte mit seinem nackten Oberkörper, und während Francis ihm die Weste anlegte, betrachtete sein Boss die muskulösen Arme des Serben. „Hättest Boxer oder so was werden sollen“, murmelte er verschmitzt. Nachdem sich Bajic seine Kleider wieder angelegt hatte kam er sich vor wie ein Ritter auf einem Turnier, der gleich seinem Widersacher ins Gesicht schauen musste.

„Du scheinst deinem Kunden nicht besonders zu vertrauen.“

„Wosmoshna, vielleicht, vielleicht hast du recht. Vertrauen ist gut, aber Sicherheit ist besser.“

„Aber…“,

Stavanovich schnitt ihm mit einer gebieterischen Handbewegung das Wort ab. „Francis, hast du das Fernglas?“

„Logisch, Boss.“

„Gut, hör mir zu. Der Deal soll nordwestlich auf einer Weide stattfinden. Ich bin mir sicher, dass du sie finden wirst. Schlag dich dort in die Büsche und such dir eine anständige Scharfschützenposition. Lass dich bloß nicht erwischen! Ich habe keine Lust, dass dieser Deal platzt. Halte genug Abstand, wir geben dir zwei Minuten Vorsprung, okay?“ Francis nickte. „Und jetzt los!“

Der junge Mann wandte sich ab und verschwand in den Büschen.

„Wadim, was ist los? Du guckst so komisch – hast du Angst vor diesen Lutschern, die uns gleich erwarten?“

„Mehr Angst vor Francis und seinen Künsten als Scharfschütze. Hättest du ihm nicht wenigstens ein Gewehr besorgen können?“

Stavanovich seufzte: „Seit das Scheiß-FBI und die Bastarde der ATF meine Konten eingefroren haben und der größte Teil meiner Freunde mir den Rücken gekehrt hat, sind meine Mittel, sagen wir mal, sehr begrenzt.“

„Verstehe! Holen wir Francis nachher wieder ab?“

„Ich werde ihn anrufen. Lass uns aufbrechen, das Geld kommt nicht von alleine zu uns.“

Sie stiegen wieder in den Wagen und nach 500 Metern bogen sie in einen unscheinbaren Waldweg ein. Die Räder der schweren Limousine gruben sich tief in den Morast ein und der Schlamm spritzte fast bis zu den Außenspiegeln, als sie durch eine Pfütze heizten. Stavanovich fluchte. Der Regen draußen war noch stärker geworden und verschlechterte die Sicht auf die Weide, die Bajic kaum erkennen konnte. Zwei Wagen fuhren aus dem Wald hervor. Bevor Bajic die Kennzeichen, geschweige denn die Automarke oder die Farbe sah, schalteten die Fahrer das Fernlicht an.

„Verdammt, das kann ich auch!“, brüllte Stavanovich verärgert und betätigte den entsprechenden Hebel. Die Weide war nun durch gleißendes Licht erhellt. Die beiden anderen Wagen hielten und es öffneten sich die Fahrertüren. Bajic erkannte zwei Gestalten. Die Motoren ließen sie laufen, anscheinend fürchteten sie, die Autobatterie könnte erlöschen.

„Hier ist was faul, die ganze Aktion stinkt doch zum Himmel“, murrte Bajic, als sie ausstiegen.

„Geld stinkt nicht, Genosse – das solltest du hier in Amerika schon gelernt haben.“

Bajic umklammerte seine 38er so heftig, dass seine Knöchel weiß wurden, ließ aber seine rechte Hand und den Revolver in der Jackentasche. Stavanovich hielt den mysteriösen Aktenkoffer in der Hand, den er zuvor aus dem Kofferraum geholt hatte. Sie traten den beiden Unbekannten entgegen, die auf sie zukamen. Der eine war nur etwa 1,70 Meter groß, dafür aber fast genauso breit wie hoch. Der andere war mindestens 1,85 Meter, schlaksig und bewegte sich mit einer unglaublichen Geschmeidigkeit. Beide schritten im hellen Licht auf sie zu wie Wesen aus einer anderen Welt.

„Hallo?“, rief Stavanovich mit sicherer Stimme.

„Haben Sie das, was wir bestellt haben?“ Die Gestalt klang völlig emotionslos, fast wie die Stimme aus einer Maschine.

„Sicher, man hat doch einen guten Ruf zu verlieren, mein Freund.“ Er klopfte auf den Koffer.

„Gut.“

„Frisch eingetroffen aus meiner alten Heimat.“ Stavanovich lachte gezwungen. „Wo ist das Geld?“

Der Hüne schien gar nicht auf seine Frage einzugehen. „Ich komme jetzt zu Ihnen, ich will die Ware sehen. Mein Partner holt das Geld aus dem Wagen.“

Die Gestalt kam langsam auf sie zu, während sich der Zwerg auf den Weg zu den Autos machte. Der Rädelsführer war jetzt noch zwei Meter von ihnen entfernt und Bajic konnte allmählich ein Gesicht erkennen, da sich seine Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten. Der Kerl war ein hübscher Bursche, er schätzte ihn auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Seine Haut war blass, die Augen waren zu Schlitzen verengt und die langen, nassen weißblonden Haare waren zu einzelnen Strähnen verklebt. Bajic erkannte auch den durchlässigen Bart am Kinn des Mannes.

Stavanovich öffnete den Koffer und hielt ihn dem Fremden so hin, dass dieser die Ware begutachten konnte. Er grinste zufrieden. Bajic konnte das Innere des Koffers nicht sehen und ihm fiel auf, dass Stavanovich sich zu diesem Thema in Schweigen gehüllt hatte.

„Wunderschön“, flüsterte der Blonde. „Wie ist zurzeit das Wetter in Russland?“

„Ähm, was, wie bitte?“

„Wärst du mit deinem Slawenarsch zu Hause geblieben, würdest du jetzt noch leben.“

Plötzlich ging alles ganz schnell. Der Hüne griff mit übermenschlicher Geschwindigkeit in sein Regencape und förderte blitzschnell eine T-förmige Uzi-Maschinenpistole zutage. Stavanovich ließ den Koffer achtlos in den Schlamm fallen und wollte seine Waffe ziehen. Die Uzi bellte einmal kurz auf. Es war so, als hätte ihn die Faust eines Riesen getroffen. Die Geschosse rissen seinen teuren Armani-Anzug auf und schlugen in die Kevlar-Weste ein. Der versteckte Schutzschild hielt zwar stand, aber der Druck der Waffe war so gewaltig, dass er hörte, wie seine Rippen brachen und er in den Schlamm geworfen wurde. Bajic riss die 38er aus seiner Tasche und wollte gerade feuern, doch der Blonde reagierte blitzschnell, ließ sich fallen und feuerte die nächste präzise Salve. Das sengend heiße Blei traf Bajic direkt vor den Kehlkopf, durchbohrte sowohl Luft- als auch Speiseröhre und schließlich schoss eine Blutfontäne aus seinem Nacken. Der Serbe fiel zu seinem Boss in den Schlamm und rührte sich nicht mehr. Der eiskalte Killer richtete nun die Uzi auf den am Boden liegenden, völlig wehrlosen Russen, der sich gelähmt vor Schmerz seinem Schicksal ergab.

„Kann verdammt ungesund sein, in meinem Land schmutzige Geschäfte zu machen“, murmelte der Blonde.

„Mach schon, mach ihn fertig – ich habe keine Lust, mich hier weiter nass regnen zu lassen“, kam es von seinem Komplizen.

„So was muss man genießen.“

„Pah!“ Der andere ging zu den Autos zurück.

„Francis!“, schrie Stavanovich, der seine Fassung wiedergefunden zu haben schien. In diesem Moment brach seitlich von ihnen auf einer bewaldeten Anhöhe die Hölle los. Francis hatte wohl auf eine Extraeinladung gewartet. Die Maschinenpistole donnerte los und das Mündungsfeuer erhellte gespenstisch die umliegenden Bäume. Die beiden Killer reagierten sofort, als die unpräzise automatische Waffe ihnen nach dem Leben trachtete. Der Blonde drehte sich um und legte einen fast unmöglichen Zickzack-Sprint in Richtung der Autos zurück, die immer noch als Blender fungierten. Stavanovich hatte so etwas noch nie zuvor in seinem Leben gesehen. Die Kugeln pfiffen durch die kalte Nachtluft und schlugen hinter dem Killer in den aufgeweichten Rasen ein. Der Blonde, scheinbar von einer Aura umgeben, die ihn vor den Geschossen der MP beschützte, erreichte einen der beiden Wagen, den sein Partner bereits als Deckung benutzte. Stavanovich hatte sich im Schutz des Sperrfeuers unter Schmerzen aufgerichtet und rannte zurück zu dem gepanzerten BMW, als das lebensrettende Feuer aus Francis’ Maschinenpistole plötzlich erstarb. Fuck, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte sowohl den Koffer als auch seine Walther bei dem Aufschlag verloren und war nun genauso wehrhaft wie eine Stubenfliege. Ein einzelner Schuss knallte und an seiner Wange zischte etwas Heißes vorbei und verteilte den scharfen Geruch von Schießpulver, der trotz des Regens deutlich wahrzunehmen war.

„Verdammt, das kann doch nicht wahr sein!“, hörte Stavanovich einen der Killer schreien. Er hatte noch etwa einen Meter bis zu seinem rettenden Auto, jedoch drehte er sich neugierig um und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Der für tot gehaltene Bajic hatte sich aufgerichtet und begann wie ein Wilder mit seiner 38er zu feuern. Die erste Kugel verfehlte ihr Ziel nur knapp, die zweite ließ einen Scheinwerfer der Autos mit einem lauten Knall explodieren. Als das gleißende Licht nun schwächer wurde, donnerte auch Francis’ Maschinenpistole wieder los. Die Kugeln schlugen dröhnend in die Karosserie ein und zerschmetterten das Verbundglas und zwei weitere Fernlichter. Stavanovich dachte fast schon, die Situation wäre so weit wieder unter Kontrolle, dass er zu seinem heiß geliebten und umkämpften Koffer zurückkehren könnte, als plötzlich etwas vor den Füßen des stark blutenden und nach Luft schnappenden, aber noch wacker stehenden Bajic landete. Stavanovich hatte in den 80er-Jahren in Afghanistan gedient und wusste, was dies zu bedeuten hatte. Er sprang panisch in seinen Wagen, wo er Schutz zu finden hoffte.

Dann explodierte die Handgranate mit einem Donnergrollen, das das Fleisch erzittern ließ. Bajics Beine verwandelten sich in eine rote Wolke aus Schlachtabfällen und das, was von dem Serben übrig war, landete bäuchlings mit einem Platschen im Schlamm. Stavanovich riss die Tür zu und startete den Motor. Durch die Windschutzscheibe sah er, wie der Breitschultrige hinter dem zerschossenen Wagen hervorgesprungen kam. Stavanovich erkannte das Gewehr, das der Fremde in den Händen hielt, sofort. Es war eine M16, die Standard-Primärwaffe der US-Infanterie. Zu seinen besten Zeiten hatte Stavanovich diesen Schießprügel haufenweise nach Mexiko und Kolumbien verschoben. Der Killer feuerte zwei Salven à drei Schuss ab. Die erste verfehlte Francis nur knapp und riss ein faustgroßes Loch in die Rinde eines jungen Ahorns, die zweite traf den Afroamerikaner direkt in den Solarplexus. Der Gangster schrie auf und fiel steif wie ein Brett zu Boden. Sein Finger verkrampfte sich um den Abzug seiner Waffe und er leerte das Magazin unkontrolliert in den Waldboden.

Stavanovich legte den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal bis zum Fußboden durch. Die Reifen fanden keinen Halt auf dem nassen Gras, drehten durch und hinderten den Pascha so an seinem schnellen Rückzug. Die beiden Gestalten verließen ihre Positionen, hockten sich hin, um ihre automatischen Waffen auf die immer größere Entfernung kontrollieren zu können. Die Uzi kläffte los und Stavanovich zog reflexartig den Kopf ein. Die Projektile prasselten gegen das kugelsichere Glas und hinterließen spinnwebenartige Risse im Material. Der BMW sauste rückwärts über den Waldweg, während weitere Geschosse diesmal an der gepanzerten Karosserie scheiterten. In diesem Moment bekamen die Hinterreifen wieder Asphalt unter das Profil. Blitzartig riss Stavanovich die Handbremse nach hinten und schlug das Lenkrad um 90 Grad ein. Der Wagen drehte sich durch das hollywoodreife Manöver um und das Auto stand auf der Straße mit der Schnauze Richtung Interstate. Er schaltete in den ersten Gang, löste die Handbremse und gab Vollgas. Der BMW schoss wie eine entfesselte Bestie über die regennasse Straße und Stavanovich riss bereits triumphierend die Hände in die Luft.

„Mich kriegt ihr nicht, niemals! An mir sind schon die Mudschaheddin gescheitert, ich bin kugelsicher.“

Während er die Landstraße entlangraste, griff er unter seinen Sitz, unter dem er noch etwas für solche Fälle versteckt hatte. Es war schwierig, mit Tempo 130, bei so ungünstigen Bedingungen, den Wagen unter Kontrolle zu halten, während er sich immer wieder nach unten bückte und nach dem kalten Lauf der abgesägten doppelläufigen Mosberg Kaliber 12 tastete. „Hab ich dich, Schätzchen!“ Zufrieden legte Stavanovich die Waffe auf den Beifahrersitz. „Jetzt könnt ihr wiederkommen!“ Es war eine Ironie des Schicksals, als er den Wagen hinter sich im Rückspiegel bemerkte. Die Killer hatten mit dem noch zu gebrauchenden Wagen die Verfolgung aufgenommen und die Scheinwerfer ausgeschaltet, um sich unbemerkt an den BMW anschleichen zu können. Stavanovichs Augen weiteten sich vor Furcht, als er sah, dass sich einer der beiden Freaks aus dem Fenster lehnte und ihn mit der M16 aufs Korn nahm. Der Waffenschieber ahnte Böses und machte sich so klein wie möglich. Die Waffe ratterte los und die wesentlich durchschlagskräftigere Gewehrmunition leistete im Gegensatz zur Uzi ganze Arbeit. Die erste Salve blieb noch im Glas stecken, die zweite zerschmetterte es, durchbohrte Stavanovichs Kopfstütze und blieb in der Windschutzscheibe hängen. Der Russe zwang sich zur Ruhe, hielt das Lenkrad weiter fest umklammert und den Fuß auf dem Gaspedal. Stavanovich war nicht zum ersten Mal in so einer Situation und wusste, dass er tot wäre, sobald sein Wagen zum Stehen käme. Er musste etwas unternehmen, sonst würde er in dieser Nacht mehr als nur eine ganze Stange Geld verlieren. Die Schrotflinte. Eine weitere Salve raste durch den Innenraum des Autos und der Pascha brüllte vor Wut, als diesmal das Armaturenbrett vom Blei aufgerissen wurde. Er umklammerte den Griff der Flinte.

„Okay, ihr Wichser, dann wollen wir mal sehen, wie ihr mit so einem irren Iwan fertig werdet, der nichts mehr zu verlieren hat!“ Stavanovich trat mit voller Kraft auf Bremse und Kupplung, die Limousine brach erstaunlicherweise nicht aus, verlor aber schlitternd gut 40 km/h in fünf Sekunden. Der Widersacher am Steuer des unbeleuchteten Nissans war im ersten Moment so perplex, dass er nicht wusste, ob er ebenfalls eine Vollbremsung machen oder ausweichen sollte. Der Pascha nahm ihm diese Entscheidung ab. Vor den Augen des Slawen lief alles in Zeitlupe ab. Er drehte sich um, schaute nicht mehr auf die Straße und zielte durch den verwüsteten Innenraum und die zerschlagene Heckscheibe. Der Schütze des tödlichen Duos feuerte im selben Moment wie Stavanovich. Die Kugel des Sturmgewehrs traf ihn glatt in die linke Schulter. Blut spritzte an die Windschutzscheibe und auf das Armaturenbrett. So eine kleine Mistratte, dachte Stavanovich und dann zog er selber durch. Der Überschallknall der Schrotflinte ließ seine Trommelfelle erzittern. Die winzigen Schrotkügelchen verließen den BMW und trafen wie ein bleierner Bienenschwarm auf die Windschutzscheibe des Nissans. Stavanovich konnte zwar nicht erkennen, ob die Schrotladung genug Wucht hatte, den Fahrer hinter dem zerberstenden Glas zu verletzen, da er seine Konzentration sofort wieder auf die Straße richten musste, er sah aber, wie der Wagen hinter ihm ins Schlingern geriet und schließlich von der Straße abkam. Er dachte erst einen Moment daran, zurückzufahren und seine Ware wiederzubeschaffen, doch die aufgehende Autotür und der aussteigende schlaksige Kerl mit der Uzi vertrieben diesen Gedanken wieder. Dennoch verspürte er Genugtuung, als er sich Meter für Meter von der Szenerie entfernte.

„Dasswidanja, ihr Hunde – so macht man das bei uns zu Hause!“ Er riss triumphierend die Arme hoch, als ein stechender Schmerz den mit Adrenalin vollgepumpten Gangster daran erinnerte, dass er noch ein verdammt großes Problem hatte.

Habemus Papam

Tag 3, 24. September, 09:18:38 (CST)

Air Force One im Landeanflug auf Louis Armstrong International Airport

Louisiana

Es gibt Jobs, die einfach gemacht werden müssen, und es gibt welche, die man gerne macht.

„Mein Daddy hat den wichtigsten Job der Welt!“

„Warum das denn, junger Mann?“

„Er passt auf den wichtigsten Mann der Welt auf!“

Mit diesen Worten im Ohr klappte Richard Gates, Leiter der Abteilung für Personenschutz des Secret Service, seufzend die Brieftasche mit dem Foto seines Sohnes zu. Er war 42 Jahre alt, 1,80 Meter groß und hatte grau meliertes Haar. Scheidung, erst gestern vor dem Abflug aus Atlanta erfuhr er es, Scheidung. So eine Scheiße – warum musste das unbedingt dieses Jahr und dann noch zur heißen Phase des Wahlkampfs passieren? Na gut, eigentlich brauchte er sich nicht zu wundern, das letzte Mal zu Hause hatte Eva schon so eine Andeutung gemacht, aber das durfte in dieser Minute eigentlich keine Rolle spielen. Erst nahm man ihm seinen Jungen weg und jetzt ließ ihn seine Frau im Stich. Berufliches und Privates musste man einfach auseinanderhalten können, zumindest in seinem Job. Seit der Reverend der Army bei ihnen geschellt hatte, hasste sie ihn aus ganzem Herzen. Er hätte nie zulassen dürfen, dass er sich nach der Highschool verpflichtete.

Er vertrieb die düsteren Gedanken in seine tiefsten Hirnwindungen und nahm den Sicherheitsund Notfallplan der örtlichen Polizei zur Hand. Langsam machte sich der Sinkflug in seinen Ohren bemerkbar und er schluckte, um einen mildernden Druckausgleich zu bewirken. Während des Wahlkampfs stieg das Risiko eines Anschlags auf den mächtigsten Mann der Welt locker um das Zehnfache. Man versteckte den Präsidenten gerne hinter kugelsicherem Glas oder in 110-prozentig abgesicherten Arealen, bewacht von einer kleinen Armee, Bewegungsmeldern, modernsten Alarmsystemen und scharfen Hunden. Hier draußen, wo sich Passagier Nummer eins zeigen und gut verkaufen musste, war es für jeden Secret-Service-Mann ein taktischer Albtraum. Dächer mussten gesichert, Kanalisationen blockiert und Straßen gesperrt werden. Zwar glaubte Gates nicht daran, dass der erste schwarze Präsident, der in diesem Jahr um seine Wiederwahl kämpfte, in New Orleans, einer Stadt, die ihn liebte, unter die Wölfe fallen sollte, aber möglich war in diesen schwierigen Zeiten alles. Unzufriedenheit lag in der Luft, im ganzen Volk gärte es. Obwohl Shane Sommers bei seiner Vereidigung vor vier Jahren den kriegsmüden Amerikanern versprochen hatte, der aggressiven Außenpolitik seines republikanischen Vorgängers ein Ende zu bereiten, war er gleich in den nächsten Nahostkonflikt geschlittert.

Alles hatte mit einem verheerenden Autobombenanschlag in der Innenstadt von Tel Aviv begonnen, wo über hundert Menschen getötet wurden. Eine neue Splittergruppe der Al-Kaida bekannte sich zu der Tat und kündigte das baldige Ende der westlichen Welt an. Anführer der Extremisten war ein gewisser Abdallah Öztürk, gebürtiger Türke, der in seiner Heimat wegen zahlloser schwerer Delikte zur Fahndung ausgeschrieben war. Die Weltöffentlichkeit hatte laut aufgeschrien und auf die Toten von Tel Aviv gezeigt, doch wie immer war der blutige Anschlag nach zwei Wochen aus den Medien verschwunden und man berichtete lieber wieder über die bereits schwer angeschlagene Wirtschaft des Westens.

Sechs Monate später passierte das Unfassbare: Öztürk und seine Komplizen, darunter hochrangige Generäle der pakistanischen Streitkräfte, putschten die Regierung in Islamabad und übernahmen große Teile der Armee. Zu ihrer Beute gehörten Tausende Handfeuerwaffen, Dutzende Panzer, Kampfjets und strategische Atomsprengköpfe zweier Mittelstreckenraketen. Mit den frisch erbeuteten Massenvernichtungswaffen hatte er gleich in einer Fernsehansprache auf Al Jazeera gefordert, dass alle amerikanischen Truppen und ihre Verbündeten augenblicklich den kompletten Nahen Osten verlassen und alle diplomatischen Verbindungen zu Israel abbrechen sollten. Diese realitätsferne Forderung konnte selbst ein liberaler Politiker wie Sommers nicht auf sich sitzen lassen und er sah sich gezwungen, die Amerikaner erneut in das so eng sitzende Kostüm des Weltpolizisten zu zwängen.

Ab dem frühen Morgen des 29. August des vergangenen schwarzen Jahres flogen 24 Staffeln B-52-Bomber vier Wochen lang Tag und Nacht Angriffe auf den pakistanischen Norden, während 30 000 Infanteristen des US Marine Corps Karatschi im Süden besetzten. Das primitive Land, in dem großenteils mittelalterliche Zustände herrschten, wurde endgültig in die Steinzeit zurückgebombt. Zwar wurde Öztürk durch ein Kommando der Navy Seals gestellt und durch einen Kopfschuss hingerichtet, und die beiden Atomsprengköpfe konnten gesichert werden, jedoch war dies nicht das Ende des Konflikts. Islamistische Organisationen, besonders Al-Kaida, reagierten umgehend mit einer Großoffensive. Bei den folgenden Sprengstoffanschlägen auf Soldaten der Vereinten Nationen starben 2300 Menschen in Afghanistan und 600 im Irak innerhalb eines Vierteljahres. Die Terroristen rechtfertigten den Vergeltungsschlag mit den 40 000 Opfern des „pakistanischen Zwischenfalls“, von denen die Hälfte aus Zivilisten bestand. Die Hilfslieferungen kamen nach dem wackligen Frieden mit einer aus dem Hut gezauberten Übergangsregierung nur schleppend in Gang, und als der Winter im November den trockenen Herbst ablöste, starben mindestens noch einmal so viele Menschen an Hunger und Kälte.

Er legte den Plan der Metropolitan Police beiseite und nahm die Personalakte seines neuen Funk- und Abschirmtechnikers zur Hand. Gates klappte das Deckblatt zur Seite und begann neugierig zu lesen. Joseph Littleton, 26 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in Philadelphia, Vater Fotograf und Kameramann für einen Regionalsender, Mutter italienische Migrantin, geboren in Rom. Highschool ohne Abschluss verlassen, verurteilt wegen einiger kleinerer Delikte, mit 17 Jahren der Air Force beigetreten, fiel durch Ungehorsam und überdurchschnittliche Intelligenz gleichermaßen auf. Wurde wegen hervorragender Qualifikationen zum Fernmeldetechniker und Informatiker ausgebildet und bestand mit Auszeichnung. Danach folgte die Versetzung zu einer Aufklärungsschwadron. Gates zog skeptisch die Augenbrauen hoch. Komischer Vogel. Aber er hatte den Mann in sein Team aufnehmen müssen, nachdem man den alten Abschirmtechniker wegen des Sexskandals im Juli zwangsversetzen musste… Gates wurde jetzt noch übel, wenn er daran dachte, als er damals die Zeitung aufgeschlagen hatte und man auf einigen körnigen Schwarz-Weiß-Fotos einer versteckten Kamera in einem Hotelzimmer angeblich erkennen konnte, wie sich die First Lady von einem Unbekannten begatten ließ. Kritisch war es geworden, als man tatsächlich bei näheren Untersuchungen die genannte Kamera gefunden hatte. In den Medien hatte man die Bilder schließlich als dreiste Fälschung unter den Teppich gekehrt, um den Wahlkampf nicht zu gefährden. Gates hatte getobt, es sei der Job des Technikers gewesen, so eine perfide Spionage zu verhindern, und keine andere Möglichkeit gesehen, den Mann wegen eines groben Fehlers in den Innendienst zu versetzen.

Er las weiter: 21 Einsätze in einer AWACS-Maschine über Afghanistan, seit Januar vergangenen Jahres beim Secret Service – das konnte ja noch heiter werden. Es war schon schwierig genug, einen Neuen im Außendienst anzulernen, auf den man sich in solchen Zeiten blind verlassen musste, und wenn man ihm mit diesem Littleton noch so einen Quertreiber unterstellte, würde das die Situation nicht gerade verbessern. Nun gut, er wollte Littleton, der seit Atlanta mitflog, erst einmal persönlich kennenlernen und hatte deswegen mit ihm ein Gespräch um 9:20 Uhr angesetzt.

Tatsächlich erschien der junge Mann pünktlich in Gates’ Aufenthaltsraum. Er musterte ihn von Kopf bis Fuß. Littleton war etwa 1,75 Meter groß, dunkelblondes Haar, Brillenträger, markantes Kinn. In seiner rechten Hand hielt er einen dampfenden Pappbecher Kaffee.

„Sie wollten mich sprechen, Mr. Gates?“

„Ja, ganz recht, Joseph – darf ich Sie Joe nennen?“

Littleton nahm ein Schluck Kaffee. „Nennen Sie mich einfach Pope.“

„Ist das ein Spitzname?“

„Nein, mein alter Kampfname aus Air-Force-Zeiten.“

Gates konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Aber warum ausgerechnet Pope? Das ist aber ein komischer Kampfname.“

„Meine Mutter ist katholisch und stammt aus Rom, meine Kameraden auf der Fernmeldeschule meinten, ich zolle somit meinen Vorfahren Tribut.“

Gates nickte. Pope hatte mit einem Italiener noch genauso viel gemeinsam wie eine Klobürste mit einem Q-Tip. Vielleicht war es gar nicht so eine dumme Idee, seine Herkunft in seinem Kampfnamen zu verewigen.

„Schön, Pope. Ich habe mir gerade Ihre Akte angeschaut und bin von Ihren Leistungen und Auszeichnungen überaus beeindruckt. Aber was mir überhaupt nicht passt, sind Ihre…“

„Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Das sind die Kaffeeflecken auf meiner weißen Weste, wenn Sie verstehen – den früheren Joe habe ich längst hinter mir gelassen.“

Gates nickte. „Das will ich hoffen. Ihrer Akte nach zu urteilen sind Sie so etwas wie ein Genie auf Ihrem Gebiet, aber gleichzeitig auch ein Experte im Scheißebauen, und nur einen dieser Jobs kann ich gebrauchen, okay?“

„Klar.“ Pope nickte knapp. „Sie können mir glauben, dass ich nicht hier wäre, wenn ich immer noch der von gestern wäre.“

„Schön.“ Gates war einigermaßen überzeugt. „Haben Sie sich schon mit Ihrem Arbeitsplatz und Ihren Kollegen vertraut gemacht?“

„Ja, ich habe bereits heute Morgen mit der Standardprozedur angefangen. Überprüfung unseres Digitalfunks auf Abhörsicherheit, Wanzencheck innerhalb der Maschine – verlief übrigens alles negativ.“

„Gut, gut, Pope. Sie sollten sich schon mal den Bericht der Metropolitan Police durchlesen – in einer halben Stunde erwarte ich eine Einschätzung der Lage auf Ihrem Gebiet.“ Er reichte Pope die Akte.

„Puh, eine nette Hausaufgabe, Sir.“ Er wandte sich zum Gehen.

„Ach ja, noch was, Pope“, rief ihm Gates hinterher.

„Ja?“ Er drehte sich wieder um.

„Setzen Sie sich hin, schnallen Sie sich an und trinken Sie Ihren Kaffee aus. Wir landen in fünf Minuten, und ich will nicht, dass Sie den teuren Anzug bekleckern.“

The only easy day was yesterday

Tag 4, 25. September, 10:42:49 (EST)

Atlantic Ave., Brooklyn, NYC

New York

New York, eine Stadt wie ein Dschungel, alles strebt nach oben zum Licht, Häuser, Pflanzen, Menschen und welche, die es mal waren. Entweder wächst du oder gehst ein. Der Mann am Steuer des Ford Focus war hier gestorben und wieder von den Toten auferstanden. Er war eigentlich ein unauffälliger Typ, ein Latino, 36 Jahre alt, trug Bluejeans und Lederjacke, fest geschnürte Turnschuhe, aber hatte auch eine rosa Narbe, die sich vom Nasenrücken waagerecht über das rechte Jochbein erstreckte und die Zeuge seiner Vergangenheit war. Er setzte sich seine Oakley Sonnenbrille auf, als die Sonne hinter einer Schäfchenwolke hervorbrach und ihre Lichtstrahlen auf die gebeutelte Stadt fielen. New York, das Herz Amerikas, die Schlagader der westlichen Welt. Ein Herz, das immer langsamer schlug. Die Arbeitslosenrate lag bei 14 Prozent, der Dow Jones stand noch knapp über 10 000, Manhattan war regelmäßig Schauplatz von Protestbewegungen und Demonstrationen, Brooklyn ein Ort der Hoffnungslosigkeit und Harlem ein Schlachtfeld, auf dem sich immer häufiger der jahrelange aufgestaute Rassenhass entlud und weiße Männer auf offener Straße verprügelt wurden. Als das Geld nicht mehr da war, verschwanden auch die Sozialarbeiter und die hohe Polizeipräsenz. Aus dem netten Basketball spielenden Afroamerikaner, der bei McDonald’s gejobbt hatte, war ein Drogendealer geworden und der weiße Jurastudent an der Columbia University war zum bekennenden Rassisten entartet.

Der Mann, seine Name war Logan Vance, war froh, dass er nicht der Durchschnittstyp war, für den man ihn hielt, der nur Portemonnaie und Mobiltelefon mit sich trug. An seinem Gürtel steckte eine Beretta 92 9mm und in den Taschen seiner Lederjacke versteckte er drei Ersatzmagazine und ein Mehrzweckmesser mit gezackter Klinge. Er dachte darüber nach, was wohl passiert wäre, wenn er sich damals die Heroinspritze gesetzt hätte, die er sich von seinem letzten Geld gekauft hatte, statt zum Anwerbebüro der bewaffneten Streitkräfte der USA auf dem Times Square zu gehen. Er wäre gestorben und 23 andere Menschen würden jetzt noch leben – nein, korrigierte er sich, sie hätten halt einen anderen geschickt. Vance war in Tallahassee, Florida, geboren und aufgewachsen. Obwohl er seit 20 Jahren dort nicht mehr gewesen war, konnte er seine Herkunft nicht leugnen: Den Südstaatenakzent hatte er nie abgelegt und den dunklen Teint hatte er von seiner Mutter, einer Exil-Kubanerin, geerbt. Die Mischehe seiner Eltern hatte ihm zumindest den Vorteil gebracht, dass er perfekt Spanisch sprach.

Sein Vater war Vertreter für Baumaschinen gewesen, als er sich auf einer Geschäftsreise nach Miami in den Stadtteil Little Havana verirrte und dort eine hübsche Latina kennengelernt hatte. Er wuchs in guten Verhältnissen auf, schloss die Highschool mit Bravour ab und sollte seinem Vater auf dessen Fußspuren folgen. Doch es sollte anders kommen. Sein Schicksal begann in den Armen einer jungen Frau, die ihm nach dem Abschlussball seine Unschuld raubte und mit der er ein uneheliches Kind zeugte.

Das überaus selbstbewusste Mädchen aus streng religiösem Haushalt dachte gar nicht daran, ihre Tochter abzutreiben, und mit der Geburt seines Kindes kam für Logan eine große Last namens Verantwortung in sein Leben. Logan floh. Er riss in einer stürmischen Herbstnacht von zu Hause aus, und als er sich wegschlich, mit 500 Dollar in der Tasche und donnerndem Herzen in der Brust, schaute er sich nicht einmal mehr um, als er über die Weißdornhecke sprang. Seine neunwöchige Odyssee per Anhalter und Überlandbus endete in New York City auf einem ungeputzten Klo der Zentralstation, eine Heroinspritze in der Halsschlagader. Er war völlig am Ende. Ungewaschen, ausgehungert und pleite, wollte er sich nur noch den Rest geben. Er wollte gerade abdrücken, als ihn ein großer Schwarzer der Reinigungskräfte entdeckte und auf ihn einschrie. Der verheulte Junge verstand erst gar nicht, was der Mann von ihm wollte, als dieser plötzlich auf seine Beinprothese hinwies. „Habe ich für mein Land 69 in Vietnam gelassen, und dabei ich habe immer so gerne Football gespielt. Ich habe es für mein Land dagelassen.“

„Und was hat das Ganze mit mir zu tun?“, schluchzte Logan.

„Mein Land soll ein Ort der Freiheit und des Glücks sein und ein Teil meines Landes liegt gerade vor mir in der Scheiße und pumpt sich Chemie in die Adern – dafür soll ich gekämpft haben?“ Er packte Logan am Arm und riss ihm die Nadel aus der Arterie und das frische junge Blut spritzte auf die schmutzigen Fliesen. „Was würde ich um dein Bein geben und erst recht alles, dass du ein anständiges, glückliches amerikanisches Leben führst.“

Logan hatte nicht geantwortet, sondern hatte schleunigst das Weite gesucht. Er stand nachts auf dem Times Square und betrachtete das bunte Treiben, das damals noch wesentlich unbeschwerter war als heute. Am frühen Morgen um acht war er der Erste im Anwerbebüro und kramte seine zerknickten Papiere und sein Zeugnis aus dem versifften Rucksack, den er in einer Raststätte in North Carolina gekauft hatte.

Der Offizier war zwar erst skeptisch gewesen und hatte die Nase gerümpft, Logan aber eine Chance gegeben. Er hatte einen guten Abschluss vorzuweisen, war ein kräftiger, großer Bursche und ein exzellenter Schwimmer. Der sich weiter zuspitzende Konflikt im Nahen Osten, nach Operation Desert Storm, zwang die Streitkräfte, immer mehr junge, qualifizierte Leute für den Dienst an der Waffe zu begeistern. Sechs Wochen später begann seine Grundausbildung bei einem Navy-Pionierbataillon. Er lernte, Minen zu entschärfen, mit Sprengladungen umzugehen und Schiffswracks aus eiskaltem Wasser und dunkelster Tiefe zu bergen. Desert Storm war schon beendet, noch bevor Logan zum ersten Mal eine scharfe M16A1 in den Händen halten durfte, doch beim nächsten Krieg, so versprach ihnen ihr Sergeant, würden sie dabei sein.

Nach dem Gottesdienst, der jeden Sonntag in einer kleinen Kapelle stattfand, sprach er den Kaplan an, da ihn sein Gewissen plagte. „Ich habe eine Tochter, die ich im Stich gelassen habe, und die Mutter des Kindes will mich bestimmt nicht mehr sehen.“

Der Geistliche, selber Familienvater, hatte ihn sanft angelächelt: „Dann besuche sie doch beim nächsten Heimaturlaub.“

„Das kann ich nicht – sie ist eine Furie und würde mir die Augen auskratzen.“

Der Kaplan lachte. „Mein Gott, Soldat, du lernst bei uns, dich nicht vor dem kalten Wasser der Meere und dem heißen Blei der Feinde zu fürchten, und du hast Angst vor einer Frau?“

„Vor ihr schon.“

„Rufe sie an! Brauchst du Kleingeld?“

„Sie würde sofort auflegen.“

„Hast du eine schöne Handschrift?“

„Wieso das?“

„Schreib ihr einen Brief.“

„Und Sie glauben, das funktioniert?“

„Ausprobieren würde ich es“.

Und so schrieb Logan einen Brief nach Tallahassee und heftete seinen kompletten Sold in Form eines Schecks an das Schreiben. Es dauerte nur eine Woche, bis sie ihm antwortete. Wenige Sätze, aber sie beinhalteten die Worte: „Ich verzeihe dir, Logan“, und zudem lag ein Foto von ihr und seiner Tochter im Umschlag, das er in seine Brieftasche steckte und von dem er sich nie wieder trennen sollte. Logan blieb zwei Jahren bei den Pionieren, bis er eines Tages in das Büro seines Vorgesetzten gerufen wurde.

„Logan, Sie sind jetzt seit zwei Jahren bei uns – wie gefällt es Ihnen?“

„Gut, Sir, sehr gut! Die Navy hat mir eine Chance gegeben.“