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Sonderveröffentlichungen

der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte

herausgegeben von Jürgen Jensen

Band 64

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image Umschlag: Unter Verwendung von Abb. 14.

image Bild 1 vorne: Gustav Noske (mit Hut) spricht zu revolutionären Matrosen im Kieler Hafen, 29. November 1918, Foto: Stadtarchiv Kiel.

image Bild 2 vorne: U-Boote im Kieler Hafen, 29. November 1918, Foto: Stadtarchiv Kiel.

© eBook: Boyens Buchverlag GmbH & Co. KG, Heide 2013

www.buecher-von-boyens.de

I. NOSKE ALS FÜHRENDER SOZIAL-DEMOKRATISCHER POLITIKER DER KAISERZEIT

Heute, nahezu ein Jahrhundert nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, ist Gustav Noske fast nur noch den Historikern bekannt. Zu seinen Lebzeiten jedoch, also in der Zeit des Wilhelminischen Kaiserreiches, während der Novemberrevolution 1918/19 und in der Gründungsphase der Weimarer Republik, gehörte dieser sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete zu den bekanntesten Persönlichkeiten im Lande. Als Oppositionspolitiker mit Kompetenz für militärpolitische Angelegenheiten hatte er sich einen Namen gemacht. Als es Anfang November 1918 in der Ostseestadt Kiel zu politischen Unruhen kam, die sich schon bald als das Signal zu einer reichsweiten Revolutionsbewegung erweisen sollten, entsandte ihn die Regierung der Volksbeauftragten in Berlin mit dem allgemeinen Auftrag nach Kiel, beruhigend zu wirken. Wie der aus Berlin angereiste Politiker diese Aufgabe anfasste, ist der Gegenstand der nachfolgenden Darstellung.

Man wird das politische Handeln Gustav Noskes in den Tagen der Kieler Revolution nicht angemessen verstehen können ohne einen Rückblick auf seine Herkunft und seine bisherige politische Laufbahn. Als Noske in das revolutionäre Kiel beordert wurde, war er bereits 50 Jahre alt, hatte eine mehr als dreißigjährige politische Erfahrung hinter sich und war daher in seinem politischen Denken und in seinen Verhaltensweisen weitgehend festgelegt.

Gustav Noske wurde 1868 in Brandenburg an der Havel als Sohn eines Tuchmachers geboren. Er hatte einen Lebensweg, wie er für sozialdemokratische Politiker seiner Zeit typisch war.1 Nachdem er die Bürgerschule absolviert hatte, machte er eine Korbmacherlehre. Gleichzeitig eignete er sich als Autodidakt eine breite Bildung an und engagierte sich früh in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Als 24-jähriger Holzarbeiter wurde er zum Vorsitzenden des Sozialdemokratischen Vereins in Brandenburg gewählt, der schon damals, 1892, auf die stolze Anzahl von 1000 Mitgliedern verweisen konnte. Seit 1897 – Noske war jetzt 29 Jahre alt – wirkte er in Königsberg und in Chemnitz als Kommunalpolitiker und als Redakteur sozialdemokratischer Zeitungen. 1906, mit 38 Jahren, kandidierte Noske erstmals für den Reichstag, und zwar im Wahlkreis Chemnitz/Sachsen. Er wurde auf Anhieb gewählt und behielt sein Mandat bis 1920, also 14 Jahre lang.

In der SPD-Reichstagsfraktion profilierte sich Noske gleich auf mehreren Feldern, nämlich in der Haushaltspolitik, in der Kolonialpolitik und in der Militärpolitik, teilweise sogar in Konkurrenz zu dem legendären SPD-Parteiführer August Bebel. Seit 1912, als die Reichstagswahlen die SPD-Fraktion zur stärksten im Parlament gemacht hatten, übte Noske die verantwortungsvolle und schwierige Funktion eines Koreferenten des Reichstages für den Marineetat aus. Vom Revisionismusstreit, der in diesen Jahren innerhalb der Sozialdemokratischen Partei ausgetragen wurde, hielt er sich fern. Theoretische Debatten lagen ihm nicht. Er galt seinen Kollegen und Genossen – und dies nicht zu Unrecht – als ein reformistischer Praktiker.

Schon vor 1914 hatte Gustav Noske auf mehreren SPD-Parteitagen zu erkennen gegeben, dass er sich – im Gegensatz zur Beschlusslage der Partei – ein Ja zur Landesverteidigung durchaus vorstellen könne, sollte Deutschland je Opfer eines Angriffs werden. Diese Positionierung stieß innerparteilich auf heftigen Widerstand, galt doch offiziell die von Bebel ausgegebene Parole „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“, die eine Totalopposition signalisierte. Vor diesem Hintergrund konnte es nicht verwundern, dass Noske am Beginn des Weltkrieges 1914 ein überzeugter Befürworter der Bewilligung von Kriegskrediten war und dass er an dieser Linie unbeirrt bis zum Kriegsende festhielt. Gleichzeitig setzte er sich auch unter den schwierigen Bedingungen des Krieges als ein gestandener Demokrat, der er immer war2, für eine Stärkung der Parlamentsbefugnisse ein.

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image Abb. 1 Gustav Noske mit seiner Frau Martha, geb. Thiel, Aufnahme nach Juli 1891. Foto: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, Nachlass Noske, Teil II, F 81 1578.

In den Jahren 1916–1918 trat er als parlamentarischer Wortführer einer Kommission von Parlamentariern hervor, die von der Regierung eingesetzt worden war, um die Kriegslieferungen der Rüstungsindustrie zu überprüfen.3 Es handelte sich bei dieser Tätigkeit um eine frühe Version von parlamentarischer Rüstungskontrolle. Der Abgeordnete Noske machte sich in dieser Kommission sehr verdient, indem er die Rüstungsgeschäfte durchleuchtete und die parlamentarischen Befugnisse zu dieser Überprüfung immer weiter ausdehnte. Während des Weltkrieges spielte er überdies eine wichtige Rolle als Ständiges Mitglied des Hauptausschusses des Deutschen Reichstages. Dieses Gremium war in den Kriegsjahren so etwas wie ein Ersatzparlament. Ihm gehörten die politischen Schwergewichte der im Reichstag vertretenen Parteien an.

Überblickt man Noskes politischen Weg während des Ersten Weltkrieges, so bietet sich das Bild eines Mannes, dessen oberste politische Leitlinie durchgängig lautete, die Sozialdemokratie fest in die nationale Front einzubinden. Es war seine Überzeugung, dass die Landesverteidigung in vollem Umfang auch den Interessen der Arbeiterschaft entsprach, die er politisch zu vertreten hatte. 1916 begrüßte er den Rausschmiss derjenigen Sozialdemokraten aus der Partei, die daran zweifelten, dass es sich wirklich um einen Verteidigungskrieg handelte, und die es daher von einem bestimmten Zeitpunkt an ablehnten, weitere Kriegskredite zu bewilligen. Mit der nun gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) wollte er nichts zu tun haben. Mit seiner nationalen Einstellung zum Krieg schloss sich Noske weitgehend der offiziellen Regierungspolitik an. Dort, wo ihm dies nicht möglich war, opponierte er in gemäßigter Form, stets darauf achtend, dass die Erfordernisse der militärischen Landesverteidigung keine Beeinträchtigung erfuhren. Diese Politik war allerdings nicht, wie man vermuten könnte, die Folge einer opportunistischen Haltung Noskes, sondern sie entsprach seinen schon vor 1914 artikulierten, eigenen Überzeugungen.

Im letzten Kriegsjahr gehörte der – politisch auf dem rechten Flügel seiner Partei angesiedelte – Sozialdemokrat zu den Durchhaltepolitikern. Gelegentlich ging seine Unterstützung dieser Politik so weit, dass er die Friedenssehnsucht, die in der deutschen Bevölkerung seit 1916 weit verbreitet war und sich in der Folgezeit in großen Streikbewegungen unter der Parole „Frieden, Freiheit, Brot!“ Luft machte, öffentlich verhöhnte. Für ihn war jetzt der von außen gefährdete deutsche Machtstaat der eigentliche Mittelpunkt seines politischen Denkens. Es fällt auf, dass Noske sich in den Kriegsjahren zu einem Politiker entwickelt hatte, der den Krieg zunehmend weniger als das Leiden und Sterben von Menschen zu sehen vermochte, sondern als eine nationalpolitische Auseinandersetzung, der man nicht entrinnen konnte. Damit hatte er sich von dem sozialen Umfeld, dem er entstammte, weithin entfremdet.

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image Abb. 2 Bereits im Jahr 1920 publizierte der gelernte Journalist Noske seine Revolutionserinnerungen im Berliner Verlag für Politik und Wirtschaft.

II. DIE KIELER MISSION

In den letzten Tagen des deutschen Kaiserreichs, als die militärische Niederlage Deutschlands längst eine Tatsache war, was allerdings von vielen Deutschen systematisch verdrängt wurde, stand die große Frage auf der politischen Tagesordnung, was dem militärischen Zusammenbruch folgen sollte. In welchen Formen und mit welchen Zielen würde sich die allseits erwartete Neugestaltung der politischen und sozialen Verhältnisse Deutschlands vollziehen? In dieser wichtigen Phase der deutschen Geschichte stand der sozialdemokratische Politiker Gustav Noske zwei Monate lang im Brennpunkt des politischen Geschehens, nämlich in der Ostseestadt Kiel, wurde hier doch die Initialzündung zur revolutionären Umgestaltung des Deutschen Reiches gegeben.

Weshalb wurde der Reichstagsabgeordete Noske, der aus dem sächsischen Wahlkreis Chemnitz stammte, in das revolutionäre Kiel entsandt? War der Mann, der soeben noch Durchhalteparolen ausgegeben und seine Partei davor gewarnt hatte, der Massenbewegung gegen den Krieg irgendwelche Konzessionen zu machen, plötzlich zu einem Sympathisanten der revolutionären Matrosen geworden? Oder lagen die Dinge ganz anders? Hielt er es mit seinem – politischen und persönlichen – Freund Friedrich Ebert, der einmal gesagt hatte, er hasse die Revolution wie die Sünde? Sollte Noske die revolutionäre Bewegung an ihrem Entstehungsort erdrosseln oder doch zumindest eindämmen?

Als Gustav Noske in den ersten Novembertagen in Kiel eintraf, konnte er kaum ahnen, dass die politische Rolle, die er dort spielen würde, auch für ihn selbst, für seine eigene politische Laufbahn, eine entscheidende Bedeutung erlangen würde. Im Rückblick betrachtet, markierte „Kiel“ in Noskes Leben insoweit eine wichtige neue Station, als der sozialdemokratische Parlamentarier, dessen beratende Tätigkeit bislang, unter den verfassungsmäßigen Bedingungen des Kaiserreichs, kein sonderliches politisches Gewicht hatte, nunmehr in den Status eines Politikers überwechselte, desses Ämter mit Machtbefugnissen ausgestattet waren. Wie sich alsbald erweisen sollte, fühlte sich Noske jetzt in seinem Element. Von seiner „Kieler Mission“ führt insoweit eine direkte Linie zu der späteren historischen Rolle als Volksbeauftragter für Heer und Marine beziehungsweise als Reichswehrminister in mehreren Reichsregierungen.4

Bekanntlich begann die Matrosenrevolution nicht in der Ostseestadt Kiel, sondern in Wilhelmshaven, an der Nordseeküste. Auf den dort liegenden Kriegsschiffen kam es am 29./30. Oktober 1918 zu Matrosenmeutereien, nachdem gerüchteweise bekanntgeworden war, dass die Marineführung einen eigenmächtigen Vorstoß gegen die englische Flotte plante, und dies zu einem Zeitpunkt, da der Abschluss eines Waffenstillstandes in greifbarer Nähe lag, der Krieg also praktisch zu Ende war, verloren war.5 Die Matrosen zeigten keine Bereitschaft, sich in dieser Situation einem als sinnlos empfundenen Opfertod auszusetzen. Sie verweigerten den Gehorsam und setzten die Admiräle damit außerstande, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Die Marineführung ihrerseits musste plötzlich begreifen, dass ihrer Befehlsgewalt Grenzen gesetzt waren. Um einen Ausweg aus der gespannten Lage zu finden, fasste sie nach einer kurzen Phase der Ratlosigkeit den Entschluss, die bei Wilhelmshaven liegenden Verbände der Hochseeflotte zunächst einmal auseinanderzuziehen, um sie auf diese Weise wieder unter Kontrolle bekommen zu können.

Damit wurde die Revolte nach Kiel importiert.6 Denn auf Anordnung des Flottenchefs begab sich das III. Geschwader, in dem die Matrosenmeuterei ihren konsequentesten Verlauf genommen hatte, am 31. Oktober auf die Fahrt von Wilhelmshaven in die Ostseestadt, die der Heimathafen des Geschwaders war. An Bord der fünf Großkampfschiffe befanden sich mehr als 5000 Mann Besatzung, darunter auch 47 Matrosen, die der Geschwaderchef, Vizeadmiral Hugo Kraft, als Rädelsführer hatte festnehmen lassen. Diese Festsetzungen lieferten den direkten Konfliktstoff für die nächsten Tage, war doch wegen des schweren Vergehens der Meuterei um das Leben der verhafteten Matrosen zu fürchten.

Die Entwicklung von der Revolte zur Revolution nahm einen raschen Verlauf. Denn sobald das III. Geschwader am 1. November 1918 in Kiel angekommen war, suchten die Matrosen umgehend Kontakt mit den im Bereich der Ostseestation beheimateten Landmarineteilen sowie mit den örtlichen Gewerkschaften und den Politikern der Mehrheitssozialdemokratischen Partei Deutschlands (MSPD) und der USPD. Gemeinsam wurde für Sonntag, den 3. November, zu einer großen Demonstrationsversammlung aufgerufen. An ihr nahmen etwa 5000 bis 6000 Menschen teil, zumeist Matrosen. Als wichtigste Redner traten der Oberheizer Karl Artelt als Matrosenvertreter und der Kieler Gewerkschaftsvorsitzende Gustav Garbe auf.

Bei dem Protestmarsch durch die Kieler Innenstadt, der sich an die Demonstrationsversammlung anschloss, wurden die Demonstranten beschossen. Den Schießbefehl gab Reserveleutnant Oskar Steinhäuser, der vom Gouverneur, Admiral Wilhelm Souchon, die Weisung erhalten hatte, mit seinem 30 Mann starken Rekrutenzug den Demonstranten entgegenzutreten und rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.7 Als Opfer des Gewaltakts zählte man sieben Tote und 29 Verletzte.

Diese „erste Salve“8 rief in ganz Kiel eine ungeheure Empörung hervor. Sie führte zu einer breiten Solidarisierungswelle. Die unmittelbare Folge war, dass anderntags, am 4. November, neben den Mannschaften der Hochseeflotte auch die der Landmarineteile rebellierten und die Arbeiter der großen Germaniawerft sowie der Torpedowerkstatt die Arbeit niederlegten. Am Mittag desselben Tages schlossen sich die Mannschaften der 1. Torpedo-Division, in der der bereits erwähnte Oberheizer Artelt eine führende Rolle spielte, der Bewegung an, die nun schon den Charakter einer Aufstandsbewegung angenommen hatte. Tausende Matrosen bewaffneten sich aus den Waffenkammern ihrer Kasernen.

Am 4. November waren die revoltierenden Matrosen Kiels im Besitz der Macht. Teile der Kieler Arbeiterschaft hatten sich mit ihnen solidarisiert, und für den kommenden Tag (5. 11.) hatten die Arbeitervertreter Kiels den Generalstreik beschlossen. Am gleichen Tag wurde in der Torpedo-Division ein Soldatenrat gebildet und Karl Artelt zu seinem Sprecher bestimmt. Es war der erste Soldatenrat in der Geschichte der deutschen Revolution. Der Gouverneur, der seit der Verhängung des Kriegszustandes im Jahre 1914 die militärische und zivile Gewalt in seiner Hand vereinte, hatte keine militärische oder polizeiliche Formation mehr zur Verfügung, die ihm Gehorsam geleistet hätte. Die Marineoffiziere waren, da sie ihres Machtmittels, des Befehls mit Anspruch auf Gehorsam, verlustiggegangen waren, weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Die Matrosenbewegung hätte angesichts dieser realen Machtverhältnisse ohne Weiteres den Gouverneur für abgesetzt erklären können.9 Es gab jedoch weder ein klares, über den Tag hinausweisendes politisches Programm noch führende Persönlichkeiten, die den Weg zur konsequenten Ausnutzung der gewonnenen Machtpositionen aufgezeigt hätten. Bei einer spontanen, nur wenige Tage alten Massenbewegung konnte dies wohl auch gar nicht anders sein. Die Schaffung einer neuen politischen Organisation, nämlich die Wahl von Matrosenräten in den Marineteilen und von Arbeiterräten in den Fabriken, kam eben erst in Gang.

Das Reichsmarineamt und die Reichsregierung in Berlin wurden in den ersten Novembertagen durch beunruhigende, aber ziemlich unklare Nachrichten aus Kiel aufgeschreckt.10 Der erst wenige Tage zuvor als Gouverneur eingesetzte Admiral Wilhelm Souchon berichtete dem Reichsmarineamt am 3. November telegrafisch von „äußerst gefährlichen Zuständen“ in Kiel, ohne jedoch die Regierung in vollem Umfang über die Unruhen aufzuklären.11 Er sprach von einem zu befürchtenden Streik. Alarmierend musste jedoch der Schlusssatz der Depesche gewirkt haben: „Bitte, wenn irgend möglich, hervorragenden sozialdemokratischen Abgeordneten hierherzuschicken, um im Sinne der Vermeidung von Revolution und Revolte zu sprechen.“ Gleichzeitig teilte Souchon seiner vorgesetzten Dienststelle mit, er versuche „möglichst mit Regierungssozialisten zum Zwecke der Beruhigung zusammenzuarbeiten“.12

Da waren sie also erstmals gefallen, die Worte „Revolte“ und „Revolution“. Am Nachmittag des 4. November begriff Souchon, dass aus der Meuterei eine Massenbewegung geworden war sowie dass das Gouvernement kaum mehr über eigene Machtmittel verfügte. Da schnelle Hilfe von außen nicht zu erwarten war, entschloss er sich, von dem zunächst eingeschlagenen Kurs einer gewaltsamen Konfrontation abzurücken und hinhaltende Verhandlungen mit den Matrosen einzuleiten, bis der von ihm angeforderte „hervorragende sozialdemokratische Abgeordnete“ in Kiel eintreffen würde.

Wie kam der in Kiel noch wenig erfahrene Chef der Ostseestation, Souchon, auf die Idee, die Regierung um die Entsendung eines „Regierungssozialisten“ zu bitten, damit dieser versuchte, was ihm selbst nicht gelungen war? Souchons Chef des Stabes, Konteradmiral Hans Küsel, gab hierauf später die Antwort, man habe seinerzeit die Hauptgefahr in der Haltung der Kieler Arbeiter und ihrer Führer gesehen und aus diesem Grunde geglaubt, ein sozialdemokratischer Abgeordneter könnte am ehesten beruhigend wirken.13 Nun war dieser Schritt gewiss ungewöhnlich, musste er im Reichsmarineamt doch als klares Eingeständnis der Hilflosigkeit der führenden Militärs in der Ostseestation Kiel interpretiert und gewertet werden.

Tatsächlich hat diese Maßnahme Souchons, insbesondere sein Verzicht, gegen die meuternden Matrosen nach der „ersten Salve“ auch weiterhin mit militärischer Gewalt vorzugehen, später massive Kritik hervorgerufen, und zwar sowohl aus den Reihen des Marineoffizierkorps als auch seitens der konservativen Geschichtsschreibung.14 Es waren jedoch Souchon und Küsel, die rechtzeitig begriffen, dass eine politische Lösung des Konflikts gesucht werden müsse15, da eine gewaltsame Konfrontation mit den Matrosen wegen fehlender eigener Machtmittel unmöglich und aussichtslos war.16 Zugleich scheint der Gouverneur die politisch naheliegende Idee verfolgt zu haben, auf regionaler Ebene zu kopieren, was in Berlin seit Oktober 1918 durch die Regierung Prinz Max von Baden praktiziert wurde, nämlich die Zusammenarbeit mit den Mehrheitssozialdemokraten, die seitdem „Regierungssozialisten“ genannt wurden. Souchon dachte also politisch und nicht bloß militärisch, und dies hatte er seinen Kritikern voraus.

Weitere Informationen über die Vorgänge in Kiel gingen der Regierung in Berlin durch den Vertreter der mehrheitssozialdemokratischen Partei in Kiel zu. Der MSPD-Parteisekretär für Schleswig-Holstein, Heinrich Kürbis, reiste am 3. November aus eigener Initiative in die Reichshauptstadt und berichtete dort seinem in der Regierung sitzenden Parteigenossen Staatssekretär Philipp Scheidemann – er war Ende Oktober 1918 als Staatssekretär ohne Portefeuille in die Regierung Max von Baden eingetreten – in großer Sorge über die Entwicklung in der Ostseestadt. Kürbis hatte selbst miterlebt, wie in Kiel auf die demonstrierenden Matrosen geschossen wurde. Von einer bevorstehenden Revolution machte er seinem Gesprächspartner in Berlin jedoch keine Andeutungen. Auch er befürchtete einen Streik der Werftarbeiter.17 Kürbis’ Anliegen war, ähnlich wie das Souchons – ob in Absprache mit ihm, ist nicht feststellbar, aber unwahrscheinlich –, dass die Regierung einen prominenten MSPD-Abgeordneten nach Kiel entsenden sollte18, um beruhigend zu wirken.

Am 4. November tagte in Berlin das Kriegskabinett.19 Der etwas verspätet eintreffende Marine-Staatssekretär Ernst Ritter von Mann überreichte Scheidemann „in größter Erregung“ einen Stoß von Telegrammen, die zeigten, „dass die Lage in Kiel sehr schlimm war“.20 Ehe noch dem Kabinett, das mit anderen dringenden Arbeiten beschäftigt war und das sich mit den Vorkommnissen in Kiel nur ganz am Rande beschäftigte, vom Inhalt der Telegramme Mitteilung gemacht wurde, verließ Scheidemann den Sitzungssaal und rief in Gegenwart eines Offiziers den MSPD-Parteivorsitzenden Friedrich Ebert an, um ihn über seine Informationen aufzuklären. Scheidemann machte Ebert den Vorschlag, Noske nach Kiel zu schicken. Nach eigener Bekundung kam er auf diesen Gedanken, „weil Noske seit Jahren in der Budgetkommission die Marineangelegenheiten vertrat und immer mit Kiel Fühlung hatte“.21 Ebert war mit Scheidemanns Vorschlag einverstanden. Scheidemann rief daraufhin Noske an, schilderte ihm kurz, dass in Kiel „bedenkliche Dinge vorgekommen“ seien, und bat ihn, er möge sich zu einer weiteren Rücksprache sofort in die Reichskanzlei begeben.22

Mit Noskes Funktion als langjährigem Marinereferenten argumentierte Scheidemann auch im Kabinett23 und stieß damit bei Reichskanzler Prinz Max von Baden auf offene Ohren.24 Schließlich war das Kabinett mit der Entsendung Noskes einverstanden. Es beschloss, es solle auch noch „ein Mann anderer Couleur mitgehen“25, und wählte dazu den demokratischen Abgeordneten Conrad Haußmann aus.26 Der Reichstagsabgeordnete der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei war Mitglied des Reichstages seit 1890. Im Kabinett Prinz Max von Baden bekleidete er seit dem 14. Oktober 1918, also seit etwas mehr als zwei Wochen, wie Scheidemann den Posten eines Staatssekretärs ohne besonderen Geschäftsbereich.

Haußmann und Noske erhielten vom Reichskabinett den wenig klaren Auftrag, in Kiel „unter der Hand aufklärend zu wirken“.27 Haußmann verstand darunter, sie sollten den Gerüchten entgegentreten, dass die Marineführung eine Verzweiflungstat beabsichtigt habe.28 Noske glaubte, seine Aufgabe bestehe darin, „zu verhüten, dass ein großer Werftstreik ausbreche“.29 Aus diesen unterschiedlichen Aussagen geht zumindest eines eindeutig hervor: Die Regierung konnte aus den bis zum 4. November eingegangenen Berichten nicht klar ersehen, was sich in Kiel wirklich abgespielt hatte und was sich aus den Unruhen möglicherweise entwickeln würde. Ihre beiden Abgesandten konnten daher nur sehr vage instruiert werden. Haußmann fuhr als Vertreter der Reichsregierung nach Kiel, Noske als Repräsentant der Sozialdemokratischen Partei.30

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