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Titel

 

Nur der Wind kennt die Wahrheit.

Er trug sie fort.

Übers Meer, in die Ferne.

Hier und da berührte sie die Schaumkronen

der sich auftürmenden Wellen.

Doch sie versank, in der Tiefe des Nichts,

für lange Zeit.

Da lag sie.

Vergessen. Verschollen geglaubt.

Bis ein tosender Sturm

ihr ans Licht verhalf

und Flügel verlieh.

Prolog

Das Feuer loderte. Funken durchzuckten die Nacht. Rauch stieg empor. Es knisterte. Knirschte. Äste ächzten und knackten. Ein eisiger Hauch wehte über den Feuerschein hinweg. Unmengen von Menschen hatten sich um die züngelnden Flammen versammelt. Gelächter und Stimmengewirr durchzogen die Dunkelheit.

Die Halbinsel Eiderstedt hatte sich in eine weiße Decke gehüllt. Schon wochenlang schneite es. Häuser, Straßen und Wege waren überzuckert. Deiche verzaubert. Das Meer eisig.

Es war der Vorabend des Petritages. Der 21. Februar. Das alljährliche Biikebrennen war in vollem Gang. Die Vorfreude auf dieses traditionelle Volksfest war ungebrochen. Seit geraumer Zeit wurden Holz und Reisig gesammelt, zusammengetragen und aufgetürmt. Jede helfende Hand war heiß begehrt, jede freie Minute wurde genutzt. Ein von weitem sichtbarer Holzstoß wuchs Tag für Tag gen Himmel. Stolz wachte er über die Küstenregion und trotzte dem Winter.

Die Eiderstedter an ihrem Küstenfeuer. Wie schon vor hunderten von Jahren. Die Vertreibung des Winters. Die Verabschiedung der Männer, die sich Ende Februar zum Walfang aufmachen. Freude und Geselligkeit, Brauchtum und friesische Tradition.

Hauke Johannsen erfasste die Menschenmenge mit einem Blick. Seine Augen suchten. Wo war sie? Seine Liebste. Sein Leben. Seine Leevke. Er sah sie nicht. Schwer zog ihm der beißende Rauch in die Augen. Verkniffen schaute er in die Menge. Er war sich sicher. Sie würde kommen. Sie hatte es versprochen.

Ein Biikebrennen ohne Leevke an seiner Seite konnte und wollte er sich nicht vorstellen. Ebenso wenig ein Leben ohne sie. Sie war für ihn die anmutigste und reizvollste Frau, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht gewagt hätte vorzustellen. Anziehend und zugleich empörend selbstdenkend. Aber gerade das zog ihn an. Von jedermann heiß umschwärmt. Sie reckten sich ihre Hälse nach ihr, sie buhlten um sie. Doch Leevke hatte sich für ihn entschieden. Hauke Johannsen. Einen richtigen Kerl. Groß von Statur, kräftig, willensstark, herbe wettergegerbte Gesichtszüge, aus gutem Hause. Friesisch.

Sein Herz klopfte. Heute wollte er ihr seine Liebe gestehen. Endlich um ihre Hand anhalten. Doch er hatte Bedenken. Sie hatte sich verändert. Das war ihm nicht erst gestern aufgefallen. Schon eine ganze Weile war sie etwas reserviert, fast zugeknöpft. Nicht nur einmal hatte sie ihn in letzter Zeit versetzt. Daher war nun Eile geboten und sein Antrag drängte. Doch war dies wirklich der richtige Tag? Der richtige Moment? Heute, hier und jetzt?

Seine Hand glitt in seine Jackentasche und fühlte das kleine Kästchen. Gut behütet im Inneren der Ring. Es sollte ihr Ring werden. Schlicht und silberfarben, besetzt mit einem winzigen grünen Stein, geschliffen und poliert. Jade. Dem Stein der Liebe.

Wieder wanderten seine Augen über die unzähligen Gesichter. Noch immer sah er Leevke nicht. Ein eng umschlungenes Paar löste sich aus der Menge, um nur einige Schritte weiter noch dichter zusammenzurücken. Wie Kletten hingen sie aneinander. Dann erkannte er sie. Ihre Silhouette hatte sie verraten. Doch wie konnte das sein? Seine Leevke in den Armen eines anderen? Und wer war dieser andere?

Hauke begann zu schwitzen. Schweißperlen rannen über sein Gesicht. Gleichzeitig fröstelte er, schüttelte seine Schultern, um den ungebetenen Kälteschauer zu vertreiben.

Nervös trat er von einem Fuß auf den anderen und beobachtete die beiden aus der Entfernung. Das durfte einfach nicht sein. Was bildete sie sich ein? Wie würde er dastehen? Mit festen Schritten näherte er sich dem Paar, immer noch in der Hoffnung sich getäuscht zu haben. Doch je näher er kam, desto klarer erkannte er ihre ihm bestens vertraute Körperhaltung, die Art wie sie sich bewegte und schließlich auch den Mann an ihrer Seite. Abrupt blieb Hauke stehen.

Wut ergriff Besitz von ihm. Seine Augen blitzten wie die eines Panters vor dem Sprung und eine tiefe Zornesfalte zog eine Grenze zwischen seinen buschigen Augenbrauen. Er atmete laut und hektisch. Er wusste, was gleich passieren würde. Schon oft hatte er versucht seinen Jähzorn zu unterdrücken. Meist erfolglos, so wie jetzt. Er konnte es nicht verhindern. Der Teufel ging mit ihm durch.

Stürmischen Schrittes hastete er auf die beiden Turteltauben zu. Ungebremst prallte er gegen Leevkes ahnungslosen Begleiter, der augenblicklich ins Straucheln kam und zu Boden ging.

Hauke packte Leevkes Arm und zog sie dicht an sich heran. Zu dicht. Sie konnte seinen Atem riechen. Er roch nach Bier und Schweiß. Er ekelte sie an. Sofort versuchte sie sich aus seinem Griff zu befreien, schaffte es aber nicht. Durchdringend starrte er sie an und raunte ihr zu: „Hatten wir nicht eine Verabredung?“

Mittlerweile hatte sich ihr Begleiter aufgerappelt und Hauke ließ die verstörte Leevke los, um seinen Widersacher erneut in die Schranken zu weisen. Er war wie von Sinnen. Er kannte diesen Mann. Er hatte ihn beim Weihnachtstanz gesehen. Schon da war dieser Möchtegern-Bauer um seine Leevke herumgeschlichen. Vor Wut schäumend und mit hochrotem Kopf brüllte er drauflos:

„Was willst Du von ihr? Such dir gefälligst eine andere und verschwinde!“

Eine Traube Schaulustiger hatte sich um die Streithähne versammelt. Einige klatschen einen Rhythmus, um die beiden Männer weiter anzustacheln.

Leevke hatte ihren Schrecken überwunden und trat dem wild gewordenen Hauke entgegen.

„Was fällt dir ein? Was soll das? Bist du verrückt geworden?

Begreifst Du eigentlich nicht, dass wir nicht mehr zusammen sind? Wie oft soll ich dir das denn noch sagen?“

Wie besessen schüttelte Hauke seinen Kopf, versuchte seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen, was ihm jedoch nicht glückte. Wütend schrie er: „Du warst mit mir verabredet. Schon vergessen?“ Doch Leevke ließ sich nicht beirren.

„Lass uns in Ruhe und geh nach Hause. Du bist ja nicht bei Sinnen.“

Aber Hauke ließ nicht mit sich reden.

„Der Einzige, der hier jetzt verschwindet, ist dieser Kerl da“, und zeigte mit dem Zeigefinger auf Leevkes Begleiter. „Das wird er ganz bestimmt nicht tun“, empörte sich Leevke. „Fokko Klasen gehört zu mir. Wir werden heiraten, falls du es noch nicht mitbekommen hast. Und nun geh endlich!“

Hatte er richtig gehört? Sie wies ihn, Hauke Johannsen, zurück? Sie wollte diesen Nichtsnutz heiraten? Er war außer sich vor Zorn. Er spürte wie seine Wut weiter anschwoll, um sich binnen Sekunden, wie ein Geschoss zu entladen.

Ein Ruck ging durch seinen Körper. Wie besessen stürzte er sich auf Fokko und schlug zu. Der Schlag traf ihn frontal. Hauke johlte: „Treffer!“ und schüttete sich aus vor Lachen. Fokko taumelte, fing sich aber wieder. Hauke schrie weiter auf ihn ein: „Was willst du mit meiner Leevke? Sie gehört mir! Sie ist meine Frau! Sie wird mich heiraten und sonst niemanden.“

Noch bevor Fokko Klasen darauf reagieren konnte, brüllte Hauke: „Wer bist du schon? Wo kommst du überhaupt her? Was hast du schon? Ein Inhucker wirst du werden und allen auf der Tasche liegen.“

Leevke stellte sich zwischen beide. Sie kannte Hauke gut. Sie wusste, wenn er so drauf war, half nichts mehr. Er würde sich nicht so schnell beruhigen und erst Ruhe geben, wenn er am Ziel war. Nur einen kurzen Moment ließ sie ihn aus den Augen. Sie sah nicht, dass er erneut zu einem Schlag ausholte. Sie sah nur seine Faust auf sich zuschnellen. Mit voller Wucht traf seine Rechte ihr Gesicht. Wie ein gefällter Baum ging sie zu Boden. Dann wurde es schwarz um sie. Als sie die Augen wieder öffnete, war Fokko über sie gebeugt. Hauke tobte und krakeelte. „Das werde ich dir nie vergessen. Niemals!“. Wild schlug er um sich, griff in seine Jackentasche, holte die Schachtel hervor, würdigte sie keines Blickes und schleuderte sie im hohen Bogen über den Feuerschein in die Nacht. Kräftige Arme griffen ihn und zerrten ihn weg.

Leevke fasste sich an die Stirn. Sie blutete. Fokko bedeckte ihre Wangen mit zärtlichen Küssen. Liebevoll strich er ihr einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Doch aus der Ferne war immer noch Haukes schrille Stimme zu hören, bis die Nacht sie verschluckte.

Und im Feuer glänzte und glitzerte ein feiner Ring mit grünem Stein und war vergessen.

Sechzig Jahre später

1

Die Sonne schien erbarmungslos. Ihre Strahlen durchfluteten mein Schlafzimmer.

Mein Koffer lag aufgeklappt auf meinem Bett. Noch war er fast leer. Nur meine ausgefranste Lieblingsjeans und einige T-Shirts hatten bisher den Weg in den Trolli gefunden. Doch ich hatte noch Zeit. Erst in einer knappen Stunde würde mein letzter Arbeitstag beginnen. Das sollte ausreichen, um entspannt eine Tasse Milchkaffee zu trinken und den Koffer fertig zu packen. Wenige Handgriffe später stand ich mit einer Tasse Kaffee auf dem Balkon und hing meinen Gedanken nach.

Ich war glücklich. Endlich hatte ich mal freie Zeit und einer meiner größten Wünsche konnte in Erfüllung gehen. Ich würde in den Norden reisen, die Nordsee sehen, die salzige Meeresluft schmecken. Viele Jahre sehnte ich mich schon danach, doch bisher war für Urlaub nie Zeit. Schuld daran war unser Gasthof. Besser gesagt, der Gasthof meiner Eltern. Er ist seit Generationen im Familienbesitz, meine Eltern führen ihn auch heute noch und ich arbeite dort als Köchin. Wenn ich nicht gerade koche, dann bin ich Mädchen für alles. Pausenlos werde ich gebraucht. Sei es, wenn ein Zimmermädchen fehlt, oder die Rezeption nicht besetzt ist, der Service mit dem Auftragen nicht nachkommt oder, oder, oder …

Man sagt, ich sei eine exzellente Köchin. Natürlich würde ich mir selbst nicht anmaßen darüber zu urteilen, doch den Gästen schmeckt, was ich auf den Tisch zaubere zumeist überirdisch. Allerdings gefällt mir die zünftige Knödelküche nicht wirklich. Viel lieber versuche ich mich an Fischgerichten. Fangfrische Forelle, gebratener Seeteufel in Knoblauch geschwenkt, Sellerie-Süppchen mit Nordseekrabben und Trüffelöl. Ganz wonach mir gerade gelüstet. Meiner Experimentierfreude sind keine Grenzen gesetzt.

Ich kann mich noch gut an unsere Fischwoche im letzten Sommer erinnern. Eine ganze Woche gab es fast ausschließlich Fischgerichte. Nur die Leberknödelsuppe, Schäufele mit Kartoffelklößen und Apfelkräpfle befanden sich für die Fischverächter noch auf der Speisekarte. Doch für diese Gerichte war ich in der besagten Woche nicht zuständig. Ich durfte ausschließlich Fisch zubereiten. Göttlich!

Sogar meine Eltern waren im Nachhinein von der Fischwoche begeistert, obwohl sie dieser Idee anfangs mit Widerwillen begegneten.

Doch trotz des großen Erfolgs, wollten sie dennoch von einer erneuten Fischwoche nichts mehr wissen und so koche ich seitdem wieder durchweg regionale fränkische, besser gesagt, Würzburger Küche.

Da ich weiß, dass jegliches Aufbäumen gegen die Familientradition sinnlos ist, koche, backe und brate ich, wie mir aufgetragen. Vater ist froh darüber und spricht nun auch immer häufiger davon, dass ich eines Tages den Gasthof übernehmen werde. Eigentlich sollte das schon längst passiert sein, denn meine Eltern haben das Rentenalter schon Jahre überschritten. Aber bis jetzt konnten sie sich noch nicht von ihren Aufgaben trennen, was sicher zum größten Teil auch daran liegt, dass sie befürchten, ihr gut bürgerliches Restaurant würde in kürzester Zeit zu einem Fischrestaurant mutieren.

Heute arbeitete ich nur noch die Abendschicht und spätestens um 23.30 Uhr war Feierabend.

Mehrere Stapel Urlaubsprospekte, einige Bildbände und diverse Reiseführer füllten mein Bücherregal. Begierig hatte ich in der Vergangenheit Heft für Heft, Buch für Buch studiert, stets auf der Suche nach dem idealen Urlaubsziel, bis ich vor einigen Monaten endlich fündig wurde. Nordfriesland hatte es mir angetan. Die Halbinsel Eiderstedt. Plattes Land, saftiges Grün, Deiche, Schafe, Wind und Meer.

Robert war von meiner Wahl nicht begeistert. Ich hörte noch, wie er gerade gestern zum wiederholten Mal sagte: „Wieso willst du ausgerechnet dorthin? Da ist doch nichts außer plattem Land.“

Ich wusste ja selbst nicht, warum ich mich mit Norddeutschland so verbunden fühlte, aber irgendeine Anziehungskraft ging für mich von diesem Landstrich aus.

Robert war schon des Öfteren beruflich in Nord- und Ostfriesland gewesen. Er hatte die Nordsee seiner Meinung nach zur Genüge gesehen und sagte, es wäre ihm dort entschieden zu windig und viel zu kalt. Ihm schwebte ein All inklusiv Urlaub auf den Kanaren vor, mit Pool, Tennisplatz, Fitnessraum und allem Drum und Dran. Umso mehr freute es mich, dass er trotz all seiner Bedenken mit mir in den Norden reisen wollte. Ich musste allerdings schwören, dass wir den nächsten Urlaub selbstverständlich im Süden verbringen würden, denn erst Temperaturen von über dreißig Grad hatten für Robert Erholungswert.

Der Milchkaffe war leer und der Koffer lechzte danach fertig gepackt zu werden. Ich gab mir einen Ruck, eiste mich vom Balkon los, kehrte den mit roten Geranien bepflanzten Blumenkästen den Rücken, bevor ich mit frischer Energie weitere Hosen, Pullis und anderes in meinen Koffer wandern ließ.

Die Treppe zu meiner kleinen Dachwohnung knarrte, Roberts Metallkoffer schlug bei jedem Schritt an die Treppenstufen und ich hörte ihn leise vor sich hin schimpfen. Ich wusste, es war eine fürchterlich schmale Treppe, aber ich wohnte ja auch in einem fürchterlich alten Haus.

Er stellte den Koffer lautstark im Flur ab und rief:

„Hey Greta! Bist du da?“

Bevor ich überhaupt antworteten konnte, stand er schon im Türrahmen und fand mich kurz vor Beendigung meiner Packaktion.

„Bist du immer noch nicht fertig?“, fragte er erstaunt.

„Wie lange dauert das denn bei dir?“

Doch gerade in dem Moment klappte ich den Kofferdeckel zu.

Robert hatte es gut. Er hatte bereits eine ganze Woche Urlaub und war schon vollkommen relaxt. Eigentlich hätte er es sich auf meinem Balkon gemütlich machen können, doch war es eher unwahrscheinlich, dass er das tun würde. Das wäre ihm viel zu langweilig. Ich dachte, wenn gleich die Haustür hinter mir ins Schloss fiele und ich drei Etagen abwärts, an die Kochtöpfe eilte, würde er sich den Fernseher anstellen, irgendeinen Sportsender finden und in ihm versinken, bis ich wieder zurück wäre.

Sport jeglicher Art ist Roberts Erfüllung. Er gehört zwar keinem Verein an, aber er interessiert sich für jedwede sportliche Aktivität und versucht, so oft er es sich einrichten kann, neue Sportarten auszuprobieren.

Gerade letzte Woche hatte er an einem Triathlon teilgenommen. Dafür war er bis zum vier Autostunden entfernten Chiemsee gefahren, um dort eineinhalb Kilometer zu schwimmen, vierzig Kilometer Rad zu fahren und im Anschluss noch zehn Kilometer zu laufen. Ich fand das einfach bewundernswert. Was für eine Wahnsinnsleistung.

Gerne wäre ich dabei gewesen und hätte ihn angefeuert, doch die Kochtöpfe ließen mich nicht gehen. Aber Robert kam auch ohne meinen Beistand unter den ersten zwanzig Teilnehmern ins Ziel, was ihn jedoch nicht übermäßig freute. Er war mit seiner Leistung nur leidlich zufrieden, meckerte unentwegt herum und meinte, da ginge noch einiges und er würde an sich arbeiten müssen.

Ich verstand ihn zwar nicht, aber ich bewunderte ihn. Er besitzt eine enorme Energie, rafft sich seitdem jeden Tag auf und joggt, um noch mehr aus sich herauszuholen und noch besser zu werden. Kolossal!

Auf jeden Fall ist mein Robert ein absoluter Hingucker. Drahtig und muskulös, immer mit einer feschen Frisur. Kein Haar auch nur einen Zentimeter zu lang. Im Grunde genommen das komplette Gegenteil von mir und es grenzt schon an ein Wunder, dass wir ein Paar wurden.

Ich koche und esse für mein Leben gern, was man mir leider auch ansieht und Sport ist schon mal überhaupt nicht mein Fall. Nur ein einziges Mal schaffte Robert es, mich auf einen Wald-Trimmpfad zu schleppen. Ich lüge nicht, wenn ich sage, dass das eine einzige Katastrophe war, die keiner Wiederholung bedurfte. Schon nach kürzester Zeit saß ich schweißgebadet und vollkommen aus der Puste auf dem moosigen Waldboden. Ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen und wollte nur noch heim. Seit diesem Erlebnis joggt Robert wieder allein und wir frühstücken ausgiebig, wenn er ausgepowert zurückkommt.

Ich eilte vom Schlafzimmer ins Bad, brachte meine Flechtfrisur in Form, trug Lippenstift auf, spurtete in die Küche, trank dort ein Glas Leitungswasser und auf dem Weg zur Wohnungstür drückte ich Robert, der es sich bereits im Sessel vor dem Fernseher bequem gemacht hatte, einen dicken dunkelroten Kuss auf. Schon war ich weg.

Es war spät geworden. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, allerspätestens um Mitternacht im Bett zu liegen, um wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf vor der Reise zu bekommen, war es knapp 2.00 Uhr geworden. Hatte noch über zwei Stunden mit Maria und Franz zusammengesessen, die darauf bestanden, mir noch einige Tipps für unseren bevorstehenden Urlaub mit auf den Weg zu geben.

Erstaunt stellte ich fest, dass meine Eltern, ich nannte sie soweit ich denken konnte bei ihren Vornamen, sich auf Eiderstedt ganz gut auskannten und vor vielen Jahren ebenfalls dort ihren Urlaub verbracht hatten. Sie gaben mir mit auf den Weg, unbedingt dem Westerhever Leuchtturm einen Besuch abzustatten und auch den alten Leuchtturm in St.-Peter-Böhl anzusehen. Ich freute mich über diese guten Tipps und fieberte mehr als zuvor der Abreise entgegen.

Roberts Handywecker klingelte! Schrecklicher Ton. Hörte sich an, als wäre es der Startschuss eines Marathons. Augenblicklich war ich wach. Kerzengerade saß ich in null Komma nichts im Bett und mein Herz klopfte vor Schreck bis zum Hals. Robert war bereits putzmunter. Er hatte das Fenster weit geöffnet und machte Liegestützen vor dem Bett. Kaum zu glauben. Um diese Uhrzeit. Ich schaute auf meine Armbanduhr. 4.30 Uhr. Ich hatte entschieden zu wenig geschlafen. Gefühlt hatte ich gar nicht geschlafen. Wieso um alles in der Welt mussten wir unbedingt zu so einer entsetzlichen Uhrzeit aufstehen? Noch nicht einmal der bekloppte Hahn vom Nachbarhof hatte gekräht.

Es war Roberts Idee, so früh loszufahren. Er meinte, die Autobahn gen Norden sei immer so voll und daher müssten wir so früh los. Dann hätten wir schon mal ein ganzes Stück geschafft, bevor sich die Straßen füllten.

Ich kuschelte mich wieder ein, drehte mich auf die Seite und schloss die Augen. Ein paar Minuten sollten mir wohl noch vergönnt sein. Energisch zog Robert an meiner Bettdecke. „Greta! Aufstehen.“ Ich rührte mich nicht und flüsterte: „Gib mir noch zehn Minuten!“

Robert ruckelte an meiner Schulter. Müde blinzelte ich ihn von der Seite an. Ein strenger Blick traf mich. Dann sagte er: „Wenn ich schon mit dir in die Kälte fahre, dann aber bitte zu meinen Bedingungen!“

Das ging ja gut los. So hatte ich mir meinen ersten Urlaubstag nicht vorgestellt. Aber ich kannte ihn ja. Er hatte seine genauen Vorstellungen, nach denen die Welt funktionieren musste und eigentlich meinte er das auch gar nicht so und oftmals tat ihm sein Verhalten später leid.

Aber ich wusste, wenn ich jetzt noch länger liegenbliebe, wäre er vollends verärgert. Daher quälte ich mich aus dem Bett. Und? Siehe da! Schlagartig war Robert wieder so wie ich ihn mochte, nahm mich in den Arm, wuschelte mir durch die Haare und gab mir einen ordentlichen Schmatzer.

Nur eine halbe Stunde später schlichen wir uns wie zwei Einbrecher die Treppen hinunter, verließen das Haus, verstauten die Koffer und den Picknickkorb im Kofferraum und los ging die Fahrt.

2

Die Butzenfenster des Jensenhofs waren weit geöffnet.

Dichter Nebel überdeckte die Wiesen und Felder auf Eiderstedt. Inken Jensen stand am Küchenfenster und blickte in den milchig trüben Morgen. An anderen Tagen konnte sie vom Küchenfenster direkt bis zum Deich sehen, doch heute hing der Nebel wie eine Glocke über der Halbinsel. Nur langsam lösten sich die Nebelschwaden und verschwanden wie Gespenster im Nichts.

Die ganze Nacht hatte es in Strömen geregnet und die nach Wasser dürstende Gartenerde hatte jeden einzelnen Tropfen gierig verschlungen. Inken war froh darüber, denn eines war klar: Heute würde sie keine einzige Gießkanne zum Gemüsegarten schleppen müssen. Es roch nach frischer feuchter Erde.

Die Gemüsesuppe kochte gemächlich vor sich hin. Ein leises Blubbern aus dem Kochtopf war zu hören. Ansonsten war es still auf dem Hof.

Leevke Klasen saß auf der alten Holzbank unter dem Vorschauer. Eine Wolldecke umhüllte sie. Das weiße Haar hatte sie unter einem karierten Kopftuch verborgen. Sie schaute starr vor sich hin. Ihr feines Gesicht war blass, ihre Haut durchscheinend wie Pergamentpapier. Es ging ihr schlecht. Dieses feuchte Wetter war Gift für die Neunundachtzigjährige. Es zog ihr in die Knochen und ihr Gesicht war schmerzgeplagt. Doch sie klagte nicht. Kein Wort verlor sie darüber. Ein ganzer Tag konnte vergehen und die alte Frau hatte keinen Satz, noch nicht einmal ein Wort, gesprochen. Abwesend und in sich gekehrt saß sie an solchen Tagen schwermütig auf ihrer Bank oder blieb einfach im Bett.

Inken stellte den Topf mitten auf den alten Eichenholztisch und holte Großmutter Leevke zum Essen. Es war kurz vor 12.00 Uhr, die übliche Mittagessenszeit auf dem Jensenhof.

Schlag 12.00 Uhr polterte Thies Jensen mit Stallmist verdreckten Stiefeln in die Küche und setzte sich auf seinen Platz am Kopfende des Tisches. Genervt schaute Inken ihren Vater an, erfasste sein Schuhwerk mit einem Blick, atmete tief durch und schwieg. Inken schaute ihre Mutter an, doch diese hatte den Kopf gesenkt. Frauke sagte nichts. Es war alles wie immer.

Stille. Nur das Klappern des Bestecks und das unüberhörbare Schmatzen von Thies. Die Gemüsesuppe schmeckte. Einzig Großmutter Leevke aß nicht, sondern rührte abwesend im Teller umher. Wie gebannt starrte sie aus dem geöffneten Fenster.

Unvermeidlich schwappte die Suppe über den Tellerrand. Thies bedachte seine Schwiegermutter mit einem zornigen Blick und mit noch zornigeren Worten. „Zum Leben zu krank, zum Sterben zu gesund. Vielleicht entscheidest du dich endlich was du willst!“

Inken schüttelte den Kopf, blitzte ihren Vater böse an und unterdrückte angespannt ihre Versuchung ihm entgegenzuschleudern, was ihr gerade auf der Zunge lag.

Er war ihr Vater. Dafür konnte sie nichts. Hätte sie die Wahl gehabt, hätte sie ihn sich niemals ausgesucht. Sie konnte diesen gemeinen Menschen nicht mehr ertragen. Ruckartig sprang sie auf. Ihr Stuhl krachte auf die Küchenfliesen. Wutentbrannt verließ sie die Küche, das Haus, den Hof. Festen Schrittes preschte sie vorwärts. Nur weg von diesem Hof. Eine knappe Viertelstunde später lag sie erschöpft im kühlen Deichgras. Ihr Atem hetzte, ihr Körper kribbelte gereizt, sie beobachtete die Wolken, die wie Wattebällchen den Himmel schmückten und vorüberzogen.

Wieder stellte sie sich die gleichen Fragen. Warum tust du dir das an? Warum bleibst du noch auf dem Hof? Wofür das alles? Doch eine Frage prangte, wie in Leuchtschrift geschrieben, über allem. Wer würde sich um Großmutter kümmern, wenn nicht sie? Weder Mutter noch Vater nahmen Notiz von ihr. Das würde ihr sicheres Ende bedeuten.

Inken wusste, dass sie keine Wahl hatte. Sie konnte den Hof nicht verlassen. Noch nicht. Sie durfte Großmutter nicht ihrem Schicksal überlassen. Zu sehr fühlte sie sich mit ihr verbunden. Doch wenn der Tag kam und Großmutter wäre nicht mehr, dann würde sie vom Hof verschwinden.

Erst nach Stunden machte sie sich auf den Heimweg. Die Kaffeezeit war verstrichen und Vater würde toben, weil sie ihm keinen Nachmittagsimbiss aufgetischt hatte. Doch heute fürchtete sie seinen Zorn nicht. Heute tat er ihr einfach nur leid.

Friedlich stand der Jensenhof inmitten der saftigen grünen Wiesen. Eine Idylle gleich einer Postkarte. Wieder meldeten sich ihre Gedanken und Traurigkeit umschloss sie. Die Vorstellung, sich niemals mit Mutter und Vater gut zu verstehen, trieb ihr Tränen in die Augen.

Die Fenster standen immer noch offen. Keiner hatte sie geschlossen. Wahrscheinlich war Vater wieder im Stall und Mutter wühlte irgendwo im Garten herum. Das Haus war Inkens Terrain. Gegenseitige Hilfe gab es bei den Jensens nicht.

Daher wunderte sie sich auch nicht, dass das benutzte Mittagsgeschirr und der Suppentopf noch auf dem Tisch standen und ihr Stuhl noch auf dem Fußboden lag.

Großmutter Leevke schlief auf der Eckbank.

Vorsichtig weckte Inken sie und brachte sie in ihre Kammer, half ihr ins Bett und deckte sie zu.

Vielleicht musste sie sich nur einmal richtig ausschlafen. Vielleicht würde es ihr am Abend oder am nächsten Morgen schon besser gehen. Eine ganze Weile blieb Inken noch auf der Bettkante sitzen, sah wie ihre Großmutter dahindämmerte, endlich gleichmäßig atmete, schließlich einschlief.

Sie schaute sich im Zimmer um. Viel besaß Großmutter Leevke nicht. Großvater Fokko war vor Jahren gestorben und hatte den Hof schon zu Lebzeiten seinem Schwiegersohn Thies überschrieben. Großvater hatte kein Interesse an Inkens Mutter. Frauke zählte für ihn nicht. Sie war zwar seine Tochter, aber eben nur eine Frau. Sein gebührender Nachfolger war Thies. Er sollte in seine Fußstapfen treten. Und das tat er, nur zu gut.

Schon kurze Zeit nachdem Fokko starb, bestand Thies darauf, dass Großmutter in die kleine dunkle Kammer am Ende der Diele zog. Er gestattete ihr ein Bett mit Nachtschrank, einen Tisch, einen Stuhl und einen Kleiderschrank und Leevke gab sich damit zufrieden. Sie hatte schon vor langer Zeit resigniert und sich der Übermacht ihres Mannes Fokko ergeben. So liebevoll er anfangs ihrer Zweisamkeit war, so inbrünstig bestimmte er nach ihrer Hochzeit über sie, wie über ein Stück Vieh. Leevke hatte sich schon vor langer Zeit aufgegeben und sie wusste, sie würde auch gegen Thies niemals Stand halten. Doch sie war alt und hatte ihr Leben gelebt. Um sich machte sie sich keine Sorgen, umso mehr um Frauke. Denn die bitterböse Wahrheit war, dass sich Schicksale oftmals ungewollt wiederholten. So heiratete ihre einzige Tochter den galanten Thies Jensen, der ihr versprach, die Sterne vom Himmel zu pflücken. Der sie umschmeichelte und umgarnte, bis er endlich Herr über Haus und Hof war. Thies wurde zum Abbild seines Schwiegervaters. Herrisch und unbeugsam.

So verschwand alle Sonne über dem Jensenhof und ein großer Schatten verschluckte jedes aufkeimende Gefühl. Seitdem war Frauke ihrem Mann Untertan, muckte nicht auf, lebte und schwieg. Sie schlafwandelte durch den Tag und verrichtete gehorsam ihre Arbeit. Ihre eigene Mutter war Luft für sie. Thies würde es nicht dulden, die beiden Frauen in Eintracht miteinander zu sehen.

Inken wusste, dass sie nicht den ganzen Tag am Bett ihrer Großmutter verbummeln konnte, denn sie durfte ihre Hausarbeit nicht vernachlässigen. Sie würde später nochmal nach ihr sehen. Nun jedoch musste zwingend notwendig die Küche gewischt werden. Dicke Erdklumpen aus Vaters Stiefelprofil lagen auf den Fliesen. Sie ärgerte sich, denn gerade heute Vormittag hatte sie den Boden auf Hochglanz poliert. Aber das interessierte niemanden.

Sie war in Zeitnot und beeilte sich, denn pünktlich um 18.30 Uhr musste das Abendbrot auf dem Tisch stehen.

Für Großmutter richtete sie ein Tablett mit einer Tasse Suppe vom Mittag, einer Scheibe Weißbrot und einer Kanne Tee, dann klopfte sie an die Kammertür. Doch es kam keine Antwort. Vorsichtig öffnete sie die Tür und schlich leise ins Zimmer. Leevke war wach. Mit weit geöffneten Augen lag sie im Bett, zitterte am ganzen Körper und ihre Stirn glänzte verschwitzt.

Zügig stellte Inken das Tablett ab, rannte in die Küche, um den Eltern zu sagen, dass es Großmutter schlechter ginge, doch dort stieß sie nur auf kühle Ablehnung. Frauke schaute noch nicht einmal auf und Thies bedachte sie nur mit einem hämischen Lachen. Noch bevor Inken die Küche wieder verließ, hörte sie ihn vor sich hinmurmeln: „Wird auch Zeit, dass die alte Hexe endlich abtritt!“ Das war zu viel. Mit diesem Satz hatte er es wirklich übertrieben. Wütend ließ sie die Küchentür lautstark ins Schloss fallen.

Mit einer Schüssel Wasser und einem Tuch kehrte sie in die Kammer zurück und kühlte Leevke die Stirn. Ihr Atem ging unregelmäßig. Vielleicht sollte sie doch den Arzt rufen. Aber Großmutter war zäh und hatte sich schon oft wieder erholt. Und tatsächlich. Ganz langsam kam Leevke zu sich, die Augen lösten sich aus ihrer Starre und bewegten sich hin und her. Endlich sah sie ihre Enkelin an.

Inken atmete auf und versuchte die Anspannung der letzten Stunde abzuschütteln. Ohne ihre Großmutter auch nur eine Sekunde aus dem Blick zu lassen, ging sie zum Fenster und öffnete es einen Spalt. Ein bisschen frische Luft würde ihnen guttun.

Stirnrunzelnd schaute sie ihre Großmutter an. „Was machst du nur für Sachen? Mir so einen Schrecken einzujagen. Ich dachte schon, du wirst nicht mehr.“

Ein Lächeln huschte über Leevkes Mundwinkel und obwohl sie sehr schwach war, quälte sie einige Worte hervor. „Sicher ist es bald soweit. Lange kann es nicht mehr dauern. Das spüre ich.“ Inken griff Leevkes dünne Hand und flüsterte: „Was redest du da für einen Unsinn?“

Leevke schloss die Augen, seufzte kaum hörbar, atmete ruhiger. Inken war sich sicher, dass Großmutter gleich einschlafen würde. Aber nein! Ganz leise begann Leevke mit belegter Stimme zu sprechen. „Wenn der Wind sich dreht und Schatten über Deich und Meer ziehen, dann kommt es ans Licht.“