Für meinen Papa

und Onkel Hermann –

damit auch unsere Kinder Euch immer in Erinnerung behalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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© Frieling-Verlag Berlin • Eine Marke der Frieling & Huffmann GmbH

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www.frieling.de

ISBN 978-3-8280-3356-6

1. Auflage 2016

Umschlaggestaltung: Michael Reichmuth

Bildnachweis: Archiv der Autorin

Sämtliche Rechte vorbehalten

Die Geschichte dieses Buches ist frei erfunden, ebenso die daran beteiligten Personen, mit Ausnahme Kommissars Plettners und seiner Familie.

Die Rückblicke auf das Leben Erich Plettners und seines Bruders haben sich mehr oder weniger genauso abgespielt, und eventuelle kleine Änderungen wurden nur gemacht, um sie den Ereignissen der Geschichte anzupassen.

Auch die historischen Begebenheiten, die in diesem Buch beschrieben sind, haben sich so ereignet, sofern man den Geschichtsschreibern Glauben schenken will.

Eventuelle Ähnlichkeiten mir realen Personen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Bled, Slowenien, Westufer, 14. September 1996, 22.18 Uhr

Der große Mann saß bereits im Boot, das an der kleinen Brücke am Westufer des Sees vertäut lag.

Diese Pletna-Boote, die den venezianischen Gondeln ähnlich sind, gehören zu den bekanntesten Attraktionen von Bled. Der ‚Gondoliere‘ steht ebenfalls am Ende des Bootes, das jedoch mithilfe von zwei Rudern fortbewegt wird und wesentlich breiter als seine italienischen Verwandten ist. Bis zu 18 Personen können damit auf einmal befördert werden.

Die Pletna-Boote werden nachts normalerweise nicht sehr oft benutzt, tagsüber dafür umso mehr, um die Touristen von allen Seiten des Seeufers zu der kleinen Insel mitten im Bleder See zu bringen, auf der eine Kirche der heiligen Maria steht. Die meisten, die zu der Insel fahren, läuten die Glocke, das soll Glück bringen. Im Sommer, wenn Bled von Touristen nur so wimmelt, gibt es fast keine Minute, an der man diese Glocke nicht läuten hört.

Viele Hochzeitspärchen lassen sich in der Kirche auf der Insel trauen. Allerdings ist das für den traditionsbewussten Bräutigam oftmals eine Tortur. Die Kirche steht auf einer Anhöhe, zu der nicht weniger als 99 Stufen hinaufführen. Je nach Gewicht der holden Braut mag sich schon so mancher, der gerade dabei war, seinen Junggesellenstatus aufzugeben, auf halbem Weg nach oben schnaufend überlegt haben, ob er seine Zukünftige, anstatt sie den Rest der Stufen hinaufzutragen, nicht doch besser wieder nach unten werfen sollte. Dabei sollten sie sich eigentlich nicht beschweren: Früher, als die Gläubigen noch zu der Wallfahrtskirche pilgerten, die auf alten Fundamenten eines Tempels stand, welchen die slawischen Karantaner, die Vorfahren der heutigen Slowenen, der Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit gewidmet hatten, war es Tradition, die Stufen zur Kirche auf den Knien hinaufzukriechen.

All das ging dem Mann im Boot nicht durch den Kopf. Er konzentrierte sich im Moment nur darauf, was sein Treffen an diesem Abend wohl für einen Verlauf nehmen würde. Er wollte ganz ungestört dabei sein, deshalb der ungewöhnliche Treffpunkt.

Sobald sein Gesprächspartner angekommen sein würde, würden sie mit dem Boot weiter auf den See hinausfahren, damit es ausgeschlossen war, sie zu belauschen. Es war nicht ungefährlich gewesen, sich auf dieses Treffen einzulassen, dessen war sich der Mann sicher. Heutzutage war es nicht mehr so gang und gäbe, jemanden wegen der Angelegenheit, über die sie sprechen wollten, umzubringen. Aber die Organisation hatte sich damals offenbar nicht gescheut, jeden, der im Weg stand oder der unangenehme Tatsachen ans Licht bringen wollte, einfach verschwinden zu lassen, und er zweifelte stark daran, dass sie heute mehr Zurückhaltung an den Tag legen würde.

Seine Verabredung verspätete sich, und langsam kroch eine gewisse Nervosität in dem Mann hoch. Kleine Geräusche ließen ihn hochschrecken und auf seiner Stirn zeigten sich winzige Schweißperlen.

Vielleicht wäre es doch klüger gewesen, sich bei Tag zu treffen, irgendwo, wo man in einer Menschenmenge leicht verschwinden konnte, aber das Gespräch würde sicher länger dauern und es wäre unmöglich gewesen, sich so lange unauffällig miteinander zu unterhalten.

Aus der Dunkelheit der umstehenden Bäume löste sich ein Schatten. Erleichterung machte sich in dem Mann breit. Viel länger hätte er nicht mehr gewartet.

„Was für ein Zufall“, sagte eine ihm nur allzu bekannte Stimme, die er allerdings schon einige Jahre nicht mehr gehört hatte.

Das Blut gefror dem Mann in den Adern. Das war nicht der Gesprächspartner, den er erwartet hatte. Absolut nicht! Etwas lief hier völlig falsch.

„Oh, so eine Überraschung“, versuchte er ungezwungen zu sagen, aber der Kloß in seinem Hals ließ es eher wie ein verängstigtes Krächzen klingen. „Wollen Sie eine Mondscheinfahrt genießen?“

„Das wäre eine romantische Idee.“ Der Sarkasmus in der Stimme des anderen war unüberhörbar.

Er stieg zu dem nun sehr nervös wirkenden Mann in das Boot und setzte sich. Er war ein relativ kleiner Mensch, mit einem gedrungenen Körperbau, doch seine breiten Schultern und das Hemd, das sich ein wenig über seinen Oberkörper spannte, ließen erahnen, dass sich darunter trotz seines hohen Alters noch immer Muskeln wie Stahlseile verbargen. Seine grauen Haare waren sehr kurz geschoren und an seinem linken Auge war eine kurze Narbe, die das Auge ein wenig kleiner wirken ließ als das rechte.

„Na, dann legen Sie mal ab“, sagte er und stellte seine Sporttasche vor sich auf den Boden.

Der Größere sah sich voller Panik um, ob nicht vielleicht jemand in der Nähe wäre, den er um Hilfe bitten könnte, wenigstens ein Zeuge, was seinen Passagier sicherlich davon abhalten würde, etwas Unüberlegtes zu tun, aber die Bucht war wie ausgestorben. Nicht umsonst hatte er ja diesen Platz und diese Uhrzeit als Treffpunkt gewählt. Er wusste, dass niemand in der Gegend sein würde.

Der Nachtwind, der bereits nach Regen roch, blies leise durch die Blätter der Kastanien, die das Westufer säumten. Dem Mann blieb nichts anderes übrig, als das Boot loszumachen, sich ans Ruder zu stellen und langsam auf den See hinauszufahren. Diesem Menschen schlug man besser keinen Gefallen ab.

Als er die Ruder anpackte, merkte er, wie sehr seine Hände zitterten, und die Griffe rutschten ihm fast aus den schwitzenden Fingern. Beinahe geräuschlos löste sich das Boot vom Ufer und glitt in Richtung Insel davon.

Einige Minuten lang sprach keiner der beiden. Der Mann mit der Narbe schien ganz entspannt die Gegend zu genießen. Sein Blick glitt über den spiegelglatten See, der jetzt vollkommen schwarz war. Bei Vollmond und schönem Wetter glitzerte er silbern, aber heute hingen dunkle Wolken über dem nördlichen Teil Sloweniens und kündigten einen grauen und verregneten Spätsommertag an.

Die Ostseite des Sees war von den Hotels, der Promenade und den vielen Privathäusern relativ hell erleuchtet, die Westseite, auf der das Boot jetzt leise dahinglitt, war jedoch stockdunkel.

„Sie enttäuschen uns.“ Mit diesen Worten brach der kleinere Mann das Schweigen.

Die Worte, die die Stille wie ein Messer durchschnitten, ließen den Größeren zusammenzucken.

„Was meinen Sie? Ich verstehe nicht …“

„Sie sollten Vergangenes ruhen lassen. Ihre Idee dieses Treffens heute Abend ist keine gute Idee gewesen.“

„Ich wollte mich mit niemandem treffen.“

„Natürlich nicht. Sie wollten sich ein wenig Geld als Gondoliere mit einer kleinen Nachtrundfahrt dazuverdienen. Kommen Sie – wir sind inzwischen alt, aber nicht vollkommen verkalkt. Haben Sie wirklich geglaubt, wir würden kein wachsames Auge auf Sie haben? Dass wir Sie einfach alles tun lassen würden, worauf Sie gerade mal Lust haben? Sind Sie wirklich so naiv?“

Der Mann mit der Narbe öffnete langsam seine Tasche.

Angstschweiß lief dem großen Mann nun über die Stirn, als er fast wie erstarrt zusah, wie sein Passagier etwas aus der Tasche zog.

„Ich habe nicht vorgehabt, etwas zu verraten. Wirklich nicht, ich schwöre. Ich wollte herausfinden, wie viel er schon weiß, ihn aushorchen, verstehen Sie?!“

Der Mann mit der Narbe sah ihm nun direkt ins Gesicht und hielt ihm einen Computerausdruck hin.

„Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich und sehen Sie sich das hier an. Interessante Lektüre“, forderte er den anderen mit gespielter Freundlichkeit auf. Seine wulstigen Lippen kräuselten sich zu einem schmalen Lächeln.

Der große Mann zog die Ruder ein und legte sie überkreuzt nach unten, dann setzte er sich zögernd neben den Kleineren, der nun eine Taschenlampe anknipste und sie dem anderen zusammen mit dem Ausdruck in die Hand drückte. Dieser lugte misstrauisch auf das Stück Papier. Es war eine Liste von Telefonaten. Seinen Telefonaten.

„Woher haben Sie das?“

Die Stimme des großen Mannes war nur noch ein heiseres Flüstern.

„Oh, das flatterte so rein zufällig in meine Hände. Ist aber recht aufschlussreich, finden Sie nicht? All diese verschiedenen Nummern, und dann immer wieder diese eine – fast zehnmal im letzten Monat. Bisschen auffällig.“

Noch immer umspielte das Lächeln den Mund des Kleineren, als er auf die Zahlen deutete, die immer dieselbe Nummer zeigten.

Ungläubig starrte der große Mann weiter auf die Liste, die er verkrampft mit beiden Händen festhielt. Die eng aneinandergereihten Zahlen und Daten waren in der für solche Auflistungen üblichen kleinen Schriftart ausgedruckt, und der Mann war in einem Alter, das seine Sehfähigkeiten bereits recht beeinträchtigt hatte, vor allem beim Lesen. Mit zusammengekniffenen Augen beugte er sich tiefer über das Blatt, ganz so, als wolle er versuchen, mit seinem reinen Willen die verdächtigen Nummern von der Liste zu löschen.

Der Mann mit der Narbe schien sich über die unübersehbare Furcht, die man nun schon riechen konnte, gut zu amüsieren. Er genoss den leicht säuerlichen Geruch der Angst, der von dem anderen ausging, das hatte ihn schon immer erregt. Dann langte er unauffällig wieder in seine Tasche, zog langsam und geräuschlos einen kurzen Schlagstock aus Holz hervor und holte hinter dem Rücken seines Opfers aus.

Der große Mann spürte kurz einen brennenden Schmerz – und dann nichts mehr. Wenigstens ging alles schnell und er musste nicht lange leiden. Obwohl der Mann mit der Narbe dies vorgezogen hätte – wie es ihm schon früher immer lieber gewesen war, seine Opfer leiden zu sehen.

Aber hier musste es wie ein Unfall aussehen. Ein kräftiger Schlag auf den Hinterkopf und seine Zielperson fiel bewusstlos aufs Deck. Aus einer kleinen Platzwunde lief ihm Blut ins Genick. Der Mann mit der Narbe beeilte sich. Eines der beiden Ruder warf er ins Wasser, dann verteilte er ein wenig von dem Blut auf den Bootsrand und die Ruderdolle. Danach warf er den bewusstlosen Körper über Bord, jedoch ohne ihn loszulassen. Er durfte es nicht dem Zufall überlassen, die Gefahrenquelle musste hundertprozentig entsorgt werden. Er hielt den großen Mann ca. fünf Minuten unter Wasser, bis er sicher sein konnte, dass sein Opfer nicht mehr am Leben war. Dann ließ er ihn los. Der Körper ging langsam ein wenig unter, als die Kleidung des Mannes sich mit Wasser vollsog. Das Gewicht würde ihn einige Meter in die Tiefe ziehen.

Ein kleineres Ruderboot näherte sich der Barke. Der Mann mit der Narbe packte den Schlagstock und die Telefonliste wieder in seine Tasche, vergewisserte sich, nichts Verdächtiges vergessen zu haben, und stieg in das Ruderboot um. Er hätte ein schnelles Motorboot natürlich vorgezogen, um so rasch wie möglich vom Tatort wegzukommen, aber Motorboote waren am Bleder See generell verboten. Nun, das Ruderboot hatte auch seinen Vorteil: Niemand würde sie hören. Alles würde danach aussehen, als ob der große Mann nachts – warum auch immer – allein auf den See gefahren, beim Rudern ausgerutscht war und sich den Kopf am Bootsrand aufgeschlagen hatte, dann bewusstlos in den See gefallen und ertrunken war.

Der Mann mit der Narbe grunzte zufrieden. Nach langer Ruhepause hatte er wieder einmal einen Auftrag zur Zufriedenheit ausgeführt – seiner eigenen und der seines Auftraggebers.

Am Westufer des Sees, ein wenig entfernt von der Anlegestelle, startete ein ziemlich verdrecktes unbeleuchtetes Auto den Motor und fuhr langsam in Richtung Bled. Erst als es sich einige Hundert Meter vom Ufer des Sees entfernt hatte, wagte der Fahrer, das Licht einzuschalten. Er hatte genug gesehen.

Pörtschach, Österreich, 15. September 1996, 17.30 Uhr

Chefinspektor i. R. Erich Plettner saß erschöpft auf seinem Balkon und genoss die herrliche Aussicht auf den Wörthersee und die Karawanken, die lange Bergkette, die sich in wenigen Stunden in allen Rottönen präsentieren würde, die ein Sonnenuntergang in Unterkärnten aufbieten kann.

Nie hätte er sich träumen lassen, dass ein Spaziergang mit einem Hund derart anstrengend sein kann. Nicht, bevor er seinen eigenen Hund bekam: eine Chow-Chow Hündin mit extrem ausgeprägtem ungarischen Temperament und einem Sturschädel, der jedem Lastesel Konkurrenz machen würde!

Während seiner Dienstzeit hatten seine Kollegen eigentlich immer erwartet, er würde später einen exzellent ausgebildeten Schäferhund haben, der zu einem pensionierten Kriminalchefinspektor passen würde. Aber daran hatte er nie wirklich Interesse gehabt.

Zu seiner Hochzeit hatten er und seine Frau aus der Chow-Chow-Zucht seiner Schwiegermutter einen Welpen bekommen und seither war er dieser Rasse verfallen.

Allerdings war diese erste Hündin – Nadja – ein sehr folgsames Tier, sofern man das von einem Chow überhaupt behaupten kann.

Diese Hunde folgen nur einem einzigen Herrn, dem Alpha, die anderen Mitglieder der Familie werden als Rudel akzeptiert und von den Kindern lässt sich ein Chow, der in einer Familie aufwächst, so ziemlich alles gefallen. Der Rest der Welt wird mit Verachtung gestraft, im besten Fall ignoriert.

Gäste des Hauses mussten mindestens 20 Mal zu Besuch gewesen sein und dem Hund wirklich jedes Mal ausreichend Aufmerksamkeit und Huldigung erwiesen haben, um mit einem kurzen Schwanzwackeln belohnt zu werden. Manch einer hatte versucht, sich das Wohlwollen der Haushündin mit kleinen mitgebrachten Leckereien zu erkaufen. Ein Blatt Wurst wurde, nach vorhergehender, meist recht misstrauischer Inspektion, auch meistens für akzeptabel befunden und höchst manierlich verspeist. Natürlich wurde niemals einfach nach der Wurst geschnappt! Oh nein, die berühmte lila Zunge tastete sich zuerst vorsichtig an das vor der Nase baumelnde Blatt heran, zuckte dann ein paarmal zurück, und erst wenn nach einigem Überlegen die Wasserpfützen, die sich nun definitiv im Mund gebildet hatten, hinuntergeschluckt waren, durfte der edle Spender die Wurst nun vorsichtig ins Maul von Nadja legen. Erst in diesem allerletzten Moment zeigte sich dann doch die Begeisterung Nadjas für die kleine Bestechung, indem sie für einen ganz kurzen Augenblick die Augen aufriss und halbmondförmig etwas Weiß über den tief dunkelbraunen Pupillen hervorblitzte.

Handelte es sich bei dem Bestechungsversuch jedoch um ordinäre Hundebelohnungen, wie zum Beispiel ganz banale Kauknochen oder gar profane trockene Hundekekse, so ließ Nadja während des gesamten Besuchs nur noch ihr Hinterteil von sich sehen.

Für eine Hunderasse, die vor Jahrhunderten als Tempelhunde verehrt wurde, nur eine allzu verständliche Reaktion.

Im Gegensatz zu dem jetzigen Hund war Nadja jedoch ein Lämmchen gewesen.

‚Whisky‘, die ihren Namen der Farbe ihres wunderschönen glänzend braunen Fells verdankte, war eine Katastrophe par excellence. Beim täglichen Spaziergang, jeweils einmal morgens und einmal abends, gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder Plettner zog den Hund oder der Hund zog ihn.

Bei jeder Stelle, die zuvor ein anderer Hund markiert hatte, musste Whisky schnüffelnd ‚Zeitung lesen‘, wie Plettner es ausdrückte. Vor allem der morgendliche Spaziergang in den nahe gelegenen Ort, in dem ausgesprochen viele Hundebesitzer ihre Lieblinge ausführten, ließ sich wohl am ehesten mit der Donnerstagausgabe der deutschen FAZ vergleichen, die durch ihren Annoncenteil schon fast Buchdicke erreicht.

Im Moment lag Whisky höchst zufrieden schnarchend mitten auf der Türschwelle zum Wohnzimmer. Der Lärmpegel ihres Schnarchens hatte bereits die 20-Dezibel-Marke überschritten. Ein Zeichen dafür, dass sie tief und fest schlief. Ab und zu zuckten die Vorder- oder Hinterpfoten, als würde sie laufen.

Wahrscheinlich ließ sie gerade Revue passieren, wie die Katze ohne Vorwarnung über die Straße gesprungen war und Plettner sich gerade noch rechtzeitig auf seinen eigenen Hosenboden setzen konnte, bevor sein 38-Kilo-Hund wie ein senkrecht startender Schlittenhund zur Verfolgung ansetzte. In diesem Moment glich sie einem Jeep mit Allradantrieb und Antiblockiersystem.

Mit Wehmut dachte Plettner noch einmal daran, wie peinlich es wohl ausgesehen haben musste, als Whisky ihn, immer noch am Boden sitzend, die Füße verzweifelt in den Kies gerammt, wie ein Wasserskifahrer beim Start, unter der Absperrungskette des Parkplatzes hindurchgezogen hatte, bevor sich die Katze durch ein kleines Loch im Zaun am Ende des Parkplatzes retten konnte und Whisky die Verfolgung aufgeben musste. DAS war sicher ein äußerst befriedigendes Erlebnis für den Hund gewesen.

Mit leicht aufgeschrammtem Hinterteil, die dunkelblaue Hose vom weißen Kies schwer geprüft, hatte Plettner erst einmal beschlossen, Zuflucht in der üblichen ‚Mittelstation‘ seines täglichen Spaziergangs zu suchen. Bereits gute 200 m vor dem Ziel hatte er Whisky von der Leine gelassen, da er sich sicher sein konnte, dass sie zielsicher einen Linksschwung in die bekannte und beliebte Bar ‚Anna W‘ einlegen und ihn unter seinem Stammtisch, versorgt mit einer Schüssel frischen Wassers, erwarten würde.

Gerald, der Besitzer des ‚Anna W‘ und der vollendete Barkeeper schlechthin, konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren, als er Plettners bemitleidenswerten Zustand sah, und stellte ihm mit einem Schulterklopfen einen besonders starken doppelten Ristretto auf den Tisch, den Plettner dankend annahm. Auf der Terrasse des im Jugendstil äußerst geschmackvoll renovierten und doch urgemütlichen Lokals des altehrwürdigen Hauses erholte er sich von seinem Schrecken, bevor er sich, einen recht missmutigen Hund hinter sich herziehend, wieder auf den Heimweg machte.

Zwischen Whisky und ihrem Herrn herrschte eine Art Hassliebe. Genauso oft, wie Plettner am Boden hockte und den Hund an seinen zwei bis drei Doppelkinnen – dem ‚Goder‘, wie die Kärntner sagen – kraulte, genauso oft hatte er auch Lust, einfach den Schlüsselbund nach ‚der Wabn‘ zu schmeißen.

Wenn Whisky ihm jedoch abends von einem Zimmer ins andere folgte, um bei ihm zu sein, und sich, alle viere von sich gestreckt, auf den Rücken drehte, damit er ihr den Bauch kraulen konnte, wusste Plettner, dass er diesen Hund einfach unheimlich liebte.

Schmunzelnd goss er sich ein Glas Grüner Veltliner ein, einen trockenen Weißwein aus der Wachau, den er den meisten anderen Weinen vorzog, und betrachtete die atemberaubende Unterkärntner Landschaft.

Das klare Wasser des Wörthersees präsentierte sich an diesem Spätnachmittag in einem Hellblau, in dem sich die sich bereits verfärbenden Laubwälder rings um den See vollkommen unverzerrt spiegelten. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es heute nicht mehr regnen würde, sonst hätte das Wasser bereits eine leuchtend grüne Farbe angenommen. Die dunklen Gewitterwolken türmten sich viel weiter südlich auf, waren Richtung Slowenien gezogen und würden sich wohl über dem Gailtal ausregnen.

Am See war es bereits viel ruhiger als im August. Die vielen Motorboote der High Society, die im Hochsommer ständig über den Wörthersee brausten, waren rar geworden. Nur noch einige Wasserskischulboote zogen noch ihre Bahnen über den See, der zwar noch immer 22 Grad hatte, aber die Sommersaison wurde einfach immer kürzer.

Überall waren bereits die ‚Zimmer frei‘-Schilder zu sehen. Von Jahr zu Jahr hingen diese Schilder immer länger an der Straße, sogar vor den am besten belegten Häusern. Plettner litt regelrecht mit den Hotel- und Pensionsbesitzern mit und konnte ihnen nachfühlen, wie schwer der ‚Kampf‘ um bessere Auslastung zu führen war. Schließlich war er in einer Hoteliersfamilie groß geworden und hatte selbst lange in der Gastronomie gearbeitet.

Eigentlich war es absurd, dass die Saison immer kürzer wurde. Abgesehen davon, dass man nicht unbedingt aus der Arktis kommen muss, um bei 22 Grad noch schwimmen zu gehen, sind die meisten Hotels rund um den See mit Sauna, Dampfbad und Wellnessbereichen ausgestattet, in denen man auch an einem verregneten Tag die Zeit durchaus angenehm totschlagen kann.

Plettner ging einmal alle 14 Tage mit ein paar Freunden und alten Kollegen in einem dieser Hotels saunieren.

Es war fast wie ein kleines Ritual, wenn Plettner zusammen mit seinem Freund Otto Kramer die Sauna betrat: zuerst tief einatmen, Luft anhalten, Bauch rein, Brust raus, Tür auf und mit einem gepressten „Sind Weiber da?“ in der Kabine umsehen.

Da die Runde nur aus Männern bestand, war die Antwort regelmäßig „Nein“, woraufhin beide erleichtert ein „Gott sei Dank“ schnauften und sich die athletische Brust beim Ausatmen im Bruchteil einer Sekunde wieder in den Bierbauch verwandelte, den sich die Herren während langer Sitzungen in diversen Gasthäusern in mühevoller Kleinarbeit erworben hatten.

Das war meistens der Auftakt zu einer ganzen Anzahl von Witzen – meistens aus den untersten Schubladen –, zu denen jeder der Runde sein Scherflein beitrug.

Nach drei durchschwitzten Saunadurchgängen traf sich die Saunapartie schließlich an der Bar, um die verlorene Flüssigkeit gleich wieder mit einem – meist jedoch mehreren – gut gekühlten Bierchen auszugleichen.

Früher hatte man Plettner die flüssigen Kalorien noch nicht so angesehen. Bis vor gut anderthalb Jahrzehnten, als er noch mitten im aktiven Dienst war, trieb der Oberinspektor regelmäßig Sport – nie übertrieben viel, er zog einen Sixpack Bier im Kühlschrank dem am Bauch vor –, aber er war doch recht akzeptabel durchtrainiert.

In seiner Freizeit ging Plettner auch oft in die Berge. Nicht dass das in Kärnten eine besondere Schwierigkeit darstellen würde, es laden Dutzende Erhebungen zum Wandern ein, vom Spaziergang auf kleinen, netten Hügeln bis hin zu schon anspruchsvollen Bergtouren.

Und von überall bot sich jedes Mal ein anderer, aber immer faszinierender Blick über das südlichste Bundesland Österreichs mit seinen Seen – vielleicht nicht allen 1271 Stück, aber doch so einigen davon – und seinen Bergen: den Karawanken im Süden, die die Grenze zu Italien und Slowenien bilden, und den Niederen Tauern, die Kärnten nach Salzburg und der Steiermark hin abgrenzen.

Heute fragte sich Plettner manchmal selbst, wie er es damals geschafft hatte, glatt zwei Mal den Mittagskogel zu besteigen, über dem sich gerade jetzt eine Kumuluswolke wie ein riesiger Wattebausch auftürmte und den Gipfel des Berges wie abgeschnitten aussehen ließ. Der Berg ist nicht ungefährlich und eher etwas für richtige Bergsteiger.

Da lobte sich der mit der Zeit schon etwas bequemer werdende Inspektor den viel leichteren Aufstieg auf das Ferlacher Horn oder die Gerlitze, und als auch das in Schweißausbrüche ausartete, ging er zum ganz profanen Wandern auf der Turracher Höhe oder in den Nockbergen über, immer darauf bedacht, dass die Wanderung auch mit Sicherheit auf einer ‚Hütt’n‘ endete, in der man sich von den Strapazen bei einer Brettljaus’n erholen konnte.

Anderen Gebieten hingegen drehte er nur verächtlich den Rücken. Auf die Koralpe hatte es ihn zum Beispiel nur einmal dienstlich verschlagen – einer der Grundbesitzer der Alm hatte in einem Wutanfall einem Schwammerlsucher ins Bein geschossen.

Der ganze Fall war für den Inspektor überhaupt nicht nachvollziehbar: Welcher Wahnsinn musste einen reiten, um jemanden wegen ein paar Pilzen anzuschießen? Da diese Leckerbissen auf Plettners Speiseplan inexistent waren, fehlte ihm jedwedes Verständnis für die Tat.

Später stellte sich heraus, dass der italienische Schwammerlsucher offensichtlich seit Stunden das gesamte Gebiet nach Pilzen ‚abgegrast‘ hatte, die er dann teuer an Restaurants verkaufen wollte. Der Besitzer des Grundstückes war allerdings bereits seit Tagen und Wochen wütend, weil Horden von Italienern schon bei Sonnenaufgang wie die Heuschrecken über die gesamte Koralpe herfielen und alles, was an Schwammerln und Preiselbeeren wuchs, abernteten. Dabei gingen sie noch dazu nicht immer sorgfältig vor, die Pilze wurden oft mit den Wurzeln herausgerissen, die Beeren mit einer Art Kamm gereffelt und die Pflanzen dabei oft ausgerissen, sodass im nächsten Jahr nichts mehr nachwachsen würde.

Als der Grundbesitzer dann fünf voll gefüllte Körbe im Auto des Italieners sah, kam es zum Streit, wobei der Pilzsucher den Kärntner beschimpft und getreten hatte, als dieser versuchte, einen Korb aus dem Kofferraum zu nehmen. Da das Auto noch dazu ganz frech vor dem Haus des Hobbyjägers geparkt war, rauschte dieser wutentbrannt hinein, tauchte kurz darauf wieder in der Tür auf und schoss dem Italiener in die Wade.

Im Grunde genommen konnte Plettner den wütenden Einheimischen doch irgendwie verstehen, aber Gott sei Dank musste er ja nicht über ihn urteilen, das konnte er dem Gericht überlassen.

In den letzten Jahren zog es Plettner vor, eher die Berge zu erklimmen, auf die man mit dem Auto fahren kann, wie beispielsweise auf den Großglockner, mit 3798 Metern der höchste Berg Österreichs im nordwestlichen Zipfel Kärntens.

Seit 1935 führt die Großglockner-Hochalpenstraße vom Bergdorf Heiligenblut bis zum Fuß des Gletschers auf über 2300 Meter Höhe, der erst im Sommer 1800 genau zur Jahrhundertwende zum ersten Mal bezwungen wurde.

In seiner Jugend, nach dem Krieg, als er in Bad Gleichenberg die Hotelfachschule besucht und lange bevor er sich für eine Laufbahn bei der Kriminalpolizei entschieden hatte, hatte Plettner unter anderem auch dort oben gearbeitet. Er musste heute noch lachen, wenn er daran dachte, dass auf der ‚Franz-Josefs-Hütte‘, in der er als 19-Jähriger in der Küche ein Praktikum absolviert hatte, noch Jahre danach die gleiche Grundsauce verwendet wurde, die sie damals für alle auf der Karte stehenden Speisen gekocht hatten, vielleicht mit Ausnahme der Desserts. Wahrscheinlich hatten sie damals so viel davon hergestellt, dass die Besitzer sie im Gletschereis eingefroren hatten und noch heute davon zehrten.

Die wildesten Tage auf der Hütte waren zu der Zeit die im ganzen restlichen Land ‚fleischlosen‘ Tage. In keinem Restaurant durfte Fleisch angeboten werden. Da die Franz-Josefs-Hütte eine Ausnahmegenehmigung hatte, kamen die Touristen und Ausflügler scharenweise in Bussen auf den Berg, und Küche und Service hatten alle Hände voll zu tun, um diesem Ansturm gerecht zu werden. Alles wurde versucht, um beim Service schneller zu sein, kein Weg wurde mit leeren Händen zurückgelegt und sogar in der Kommunikation wurde Zeit gespart: ein gemischter Salat wurde als ‚Gemsal‘ in der Küche abgerufen, ein ‚Obige‘ war ein gespritzter Apfelsaft und ein Wiener Schnitzel wurde ganz profan als ‚Bröselfetzen‘ bezeichnet, was zwar keine Zeitersparnis darstellte, aber immer wieder zur allgemeinen Belustigung beitrug – und manchmal vielleicht sogar den Tatsachen entsprach.

Die Hütte war vor einigen Jahren abgebrannt. Heute steht sie in neuer Pracht am gleichen Platz, aber für Plettner hatte sie ihr altes Flair verloren.

Auf dem Weg vom Parkplatz zum Restaurant können die Touristen die rund um das Haus lebenden Murmeltiere füttern. Normalerweise sind diese ca. 50 cm großen Tiere flinke, vorsichtige Selbstversorger. Bei der kleinsten Gefahr stoßen sie einen schrillen Pfiff aus, worauf sich die gesamte Murmeltierkolonie sofort in den Bau flüchtet.

Durch die verlockende Kost der Bergbesucher, die sich nicht nur auf Brot beschränkt, sondern oft die Reste der gesamten Speisekarte umfasst, haben sich diese ‚Murmalan‘ inzwischen jedoch zu vollkommen degenerierten, paviangroßen, fetten Herzinfarktanwärtern entwickelt, die ihre Scheu vor Menschen vollkommen verloren haben.

Von der Hütte aus gehen die meisten Bergsteiger auch heute noch los, um den Großglockner und seinen Gletscher zu bezwingen. Einige davon kommen nie mehr zurück, denn der Gletscher mit seinen unzähligen Spalten ist tückisch. Heutzutage gibt es gottlob zwar selten ein Unglück, doch auch die beste Ausrüstung ist keine unbedingt hundertprozentige Garantie, dass nichts passiert. Und seit seiner Erstbesteigung hat der Gletscher so einige Opfer gefordert.

Doch auch vor diesem ‚ewigen Eis‘ macht die globale Erwärmung nicht halt und jedes Jahr zieht sich der Gletscher um einige Meter zurück. Erst vergangenes Jahr hatte man die im Eis eingefrorene Leiche eines verunglückten jungen Mannes gefunden, der sich vor seiner Bergtour im Frühjahr 1943 von seiner Braut verabschiedet hatte und seither verschollen war. Nun, über 50 Jahre später, hatte der Gletscher seine Beute freigegeben, weil er selbst am Sterben war.

Plettner dachte gerade darüber nach, dass die Ungewissheit, was mit einem lieben Menschen passiert ist, wohl das Schlimmste daran sein muss, wenn jemand verschollen ist, als das entfernte Klingeln seines Mobiltelefons ihn aus seinen Gedanken riss.

Missmutig verließ er den Balkon, stieg vorsichtig über Whisky und begann mit der Suche nach dem Verursacher des Geräusches. Wenn er doch nur sein Handy nicht immer einfach irgendwo liegen lassen würde und es danach nicht mehr finden konnte. Hoffentlich hatte der Anrufer ein wenig Geduld, sonst hätte er seinen bequemen Platz am Balkon umsonst verlassen.

Endlich fand er das Telefon neben dem Holz, das vor dem Kachelofen aufgestapelt war. Während des Sommers diente das Holz eher dekorativen Zwecken. Wenn allerdings der erste Frost kam, vor allem jedoch im Winter, wenn es schon mal bis zu minus 20 Grad kalt wurde, war der große Kachelofen mit seiner Sitzbank rechts und links eine reine Wonne. Er erzeugte so viel Wärme, dass Plettner weder im Wohn- noch im Esszimmer eine andere Heizung benötigte, und wenn man von draußen aus der Kälte kam, war es eine unglaubliche Wohltat, den Rücken an die reich verzierten Kacheln zu lehnen.

Eine aufgeregte Stimme meldete sich am anderen Ende der Leitung. Seine Schwägerin war sehr besorgt. Sein Bruder sei gestern Nachmittag nach Slowenien gefahren, um sich mit jemandem zu treffen, der angeblich interessante Informationen für eine Dokumentation hätte, für die er gerade recherchierte.

„Markus wollte bis spätestens heute Mittag zurück sein“, sagte seine Schwägerin.

„Vielleicht hat er ja unterwegs jemanden getroffen. Du weißt doch, er ist überall bekannt wie ein bunter Hund“, meinte Plettner beruhigend.

„Ja, schon. Normalerweise würde ich mir ja auch keine Sorgen machen, aber seitdem er dieses Bild gefunden hat, ist er so komisch gewesen, so unruhig und aufgeregt – manchmal hatte ich das Gefühl, er wolle mir nicht alles erzählen, weil er fürchtete, er könnte mich in eine Sache hineinziehen, die vielleicht sogar gefährlich werden könnte.“

„Ach, Unsinn, da hätte er doch sicher mit mir gesprochen. Das glaube ich nicht“, wehrte er ab.

„Er hatte ja nicht wirklich die Möglichkeit dazu. Es ist ungefähr zwei Monate her, als er bei seinen Recherchen für eine Dokumentation auf ein altes Foto gestoßen ist, auf dem er jemanden zu erkennen glaubte, von dem er dachte, dass er einfach nicht auf diesem Foto sein sollte. Damals warst du ja gerade auf Urlaub. Er versuchte, mehr darüber herauszubekommen, aber ohne Erfolg. Also ließ er die Sache erst mal ruhen. Dann plötzlich hat sich jemand aus Slowenien gemeldet, der behauptet hat, er könne ihm weiterhelfen, aber nur für genug Geld. Markus hatte ihm gesagt, er würde nicht die Katze im Sack kaufen, und dass aus der Sache nur etwas werden würde, wenn sie sich persönlich treffen würden.“

„Warum hat er sich denn bei so was nicht an mich gewandt? Ich hätte doch ganz andere Möglichkeiten, etwas über solche Personen herauszufinden! Und um was für ein Bild geht es dabei überhaupt?“

Plettners professionelle Neugier war bereits von Anfang an geweckt gewesen und meldete sich nun unweigerlich, indem ihm ein leichtes Kribbeln vom Genick aus über den ganzen Nacken lief. Gleichzeitig allerdings drängte sich auch ein gewisses altbekanntes Ziehen in der Magengegend in sein Bewusstsein, dass Markus sich wieder einmal mit einer Sache beschäftigte, von der er seinen Bruder lieber nichts wissen lassen wollte, zumindest noch nicht jetzt. ‚Wäre ja nicht das erste Mal‘, dachte Plettner mit leichtem Bedauern.

„Wenn ich das nur wüsste“, seufzte seine Schwägerin. „Ich habe es nur ganz kurz gesehen, ein Foto mit zehn oder zwölf Personen drauf. Und dich wollte er erst später informieren, wenn er mehr herausgefunden hatte. Er war sich ja überhaupt nicht sicher, ob sein Verdacht gerechtfertigt war oder ob sich das Ganze nur als Unsinn herausstellen würde. Und außerdem glaubte er dem Mann zuerst kein Wort. Er dachte, der wolle einfach nur schnelles Geld machen. Vor allem, weil der Typ ein Treffen immer abgelehnt hat.“

„Und warum ist er dann gestern nach Slowenien gefahren?“

„Dieser Mann hat im vergangenen Monat immer wieder angerufen, sicher zehn Mal. Gestern Abend haben sie dann doch ein Treffen ausgemacht und Markus ist sofort losgefahren, um noch rechtzeitig dort zu sein.“

„Wo wollten sie sich denn treffen?“

„In Bled, aber wo genau, weiß ich nicht.“

„Ich könnte ja mal Mirko anrufen. Du weißt schon, der das kleine Wirtshaus in Bled hat. Wenn tatsächlich etwas passiert ist, weiß er davon.“

„Das hab ich schon getan. Aber ohne Erfolg“, erklärte seine Schwägerin resigniert. „Erich, es tut mir leid, dass ich dir den Abend vermiese, aber ich mache mir wirklich Sorgen.“

„Schon gut, ich werde sehen, was ich tun kann.“

„Danke, Erich.“

Plettner hörte die Erleichterung in ihrer Stimme.

„Ich halte dich auf dem Laufenden“, versprach er.

Mit einem leichten Seufzer legte Plettner auf. Heute würde er wahrscheinlich wenig ausrichten können, aber trotzdem wollte er sofort nach Bled aufbrechen. Durch den Karawankentunnel ist man in 50 Minuten in Bled, und wenn er sich beeilte, würde er sich noch bei den Einheimischen ein bisschen umhören können.

Whisky lieferte er bei der Nachbarin ab. Inzwischen vertrug sie sich ganz gut mit den drei Katzen von nebenan. Das erste Mal, als Whisky dort zu Besuch war, hatte Frau Koller sie an der langen Leine an dem massiven Eichentisch in der Sitzecke festgemacht und die Terrassentür einen Spalt offen gelassen, bevor sie zum Einkaufen fuhr. Whisky konnte so auf die Terrasse hinaus oder es sich einfach im Wohnzimmer bequem machen. Als Frau Koller zurückkam, stand der schwere Holztisch inklusive aller Stühle, die rund um den Tisch festgezurrt waren, in der Mitte des Wohnzimmers und Whisky hing hechelnd und an der Leine zerrend davor. Ungefähr 20 cm vor dem Hund saß eine höchst zufriedene Katze, die genau wusste, dass Whisky keinen Zentimeter näher kommen konnte.

Einige heruntergeworfene Blumentöpfe, eine umgeworfene Stehlampe und ein paar zerbrochene Stühle später hatten sich Hund und Katzen jedoch ganz gut zusammengerauft. Obwohl die Kratzspuren auf Whiskys Schnauze einige Zeit gebraucht hatten, bis sie vollkommen verheilt gewesen waren, und Plettner schon befürchtet hatte, dass ihm beim nächsten Schaden seine Versicherung kündigen würde. Er war Frau Koller sehr dankbar, dass sie sich, trotz des Chaos, das Whisky immer wieder anstellte, jedes Mal, wenn er sie darum bat, des Hundes annahm. Für Frau Koller war es allerdings nicht nur ein freundlicher Nachbarschaftsdienst, sondern brachte einige Vorteile mit sich. Schließlich hatte sie so im Laufe der Zeit ihre halbe Wohnzimmereinrichtung gratis vollständig erneuern können.

Plettner hatte sich bei seinem Freund Mirko angemeldet, bei dem er übernachten würde. Mirko war der Eigentümer einer kleinen Kneipe mitten in Bled.

Tief in Gedanken versunken fuhr Plettner auf der Autobahn an Villach vorbei in Richtung Slowenien.

Jedes Mal, wenn er auf dieser Strecke unterwegs war, beeindruckte ihn die breite, schroffe Seitenwand des Dobratsch, die steil hinter Warmbad Villach emporragte.

Der Gipfel des Villacher ‚Hausbergs‘ hatte sich bei einem gewaltigen Erdbeben am 25. Jänner 1348, am St.-Paulus-Belobigungstag, vom Rest des Berges abgespalten und war zu Tal gestürzt. 17 Dörfer, drei Schlösser und neun Kirchen wurden bei diesem Erdbeben zerstört, darunter auch die größte Kirche in St. Jakob bei Villach selbst, die zum Zeitpunkt des Erdbebens voll von Gläubigen war. Keiner der Gottesdienstbesucher hatte überlebt. Die prachtvollen Barockfenster zerbarsten, die Mauern stürzten zusammen und die Trümmer begruben die Menschen unter sich.

Die Erschütterung war wohl sogar so stark, dass die gewaltige Seeburg, die auf den Felsen über dem Nordufer des Wörthersees ragte, mitsamt dem kompletten Fels in den See stürzte. Auf alten Karten kann man erkennen, dass der Wörthersee vor 700 Jahren noch um einiges breiter war.

Auf den Trümmern der alten Seeburg stehen jetzt nicht nur viele Häuser, auch die von Kaiser Franz Josef gebaute Eisenbahn und die Wörtherseestraße waren darauf erbaut worden. Oben auf den senkrecht abfallenden Felsen kurz vor Pörtschach steht heute auf den Resten der Seeburg nur noch ein kleiner Aussichtspavillon, von dem aus man den gesamten See überblicken kann.

Im Moment schenkte Plettner dem Anblick der Felsen jedoch keine Beachtung. Eine unangenehme Vorahnung hatte ihn beschichen und er drückte das Gaspedal weiter nach unten.

Bled, Slowenien, 15. September 1996, 18.25 Uhr

113 m hoch über dem Bleder See liegt die alte Festung auf einem einzigen gewaltigen Felsen und überragt die Oberkrainer Szenerie. Ganz Bled war im Jahre 1004 von Heinrich II. an Bischof Alwin von Brixen geschenkt worden. Im Gegenzug hatte Alwin versprochen, Heinrich gegen seinen Konkurrenten Sicherung zu gewährleisten. 1011 baute Alwin dann die Festung, welche die Steuerverwaltung, das Gericht und infolgedessen gezwungenermaßen auch das Gefängnis umfasste.

Nachdem Bled ganze 799 Jahre in Brixener Besitz war, befindet sich außerdem eine kleine Kapelle des heiligen Kanzian, des Schutzpatrons von Brixen, in der Festung. Allerdings wird inzwischen eingeräumt, dass die Stadt Brixen tatsächlich niemals die Ehre des Besuches des Heiligen hatte. 1803 wurde Bled schließlich zu einem Spottpreis an die Franzosen verkauft, da Brixen das Geld dringend für Priesterausbildungen benötigte.

Der fantastische Blick über Bled und noch viel weiter über die abwechslungsreiche Landschaft Oberkrains war vor über 1000 Jahren jedoch nicht der ausschlaggebende Punkt für die Errichtung der Festung gewesen.

Da zu jener Zeit Bosnien türkisch war und nur das schmale Kroatien das heutige Slowenien von den nicht gerade friedliebenden Muselmanen trennte, kam es immer wieder zu Überfällen der Türken, vor allem von kleineren Banden, die raubten, plünderten und mit Vorliebe Kinder entführten. Die Mädchen wurden an die Eigentümer eines Harems verkauft, die Buben ins Militär gesteckt. Aus ihnen entwickelten sich die gefürchteten Eliteeinheiten der grausamen und gnadenlosen ‚Janitscharen‘, denen es untersagt war zu heiraten.

Städte und Klöster waren meist recht gut befestigt und gegen derartige Angriffe gewappnet, die Bauern jedoch hatten keinerlei Schutz, ihnen blieb nur die Flucht. Um rechtzeitig vor Überfällen gewarnt zu sein, wurden neben allen Kirchen, die von Weitem einsehbar waren, große Scheiterhaufen errichtet. Sobald die Türken die Grenze überschritten hatten, wurde dieser Scheiterhaufen von einem Wächter als Warnung entzündet, der Wächter der nächstgelegenen Kirche folgte dem Beispiel, und so war innerhalb kürzester Zeit die gesamte Region über die Gefahr informiert.

In der Nähe von Görz liegt das Dorf Hudajužna, was ‚böse Jause‘ bedeutet. Mit seinem Namen zeugt es noch von dieser Zeit, denn die Türken waren genau zur Jausenzeit eingefallen und die Dorfbewohner mussten die Köstlichkeiten einfach stehen und liegen lassen, um sich noch zu retten.

Von der hoch oben gelegenen Festung Bleds aus waren die Warnfeuer schon von Weitem zu sehen. So konnten die Einwohner von Bled und Umgebung zu diesen Zeiten immer Schutz in den vielen Höhlen suchen, welche in der Umgebung zahlreich vorkommen. Diese sind so groß, dass sie nicht nur Platz für die Menschen, sondern sogar für das Vieh boten, wenn von der Festung die Warnung vor den Türken kam.

Heute beherbergt das Gemäuer ein Museum über die Geschichte von Bled, ein Restaurant und einen kleinen Weinkeller, in dem Besucher sich ihren Wein selbst keltern und verkorken können. Auf einer echten Gutenberg’schen Druckerpresse wird der Besuch dann noch historisch gedruckt und besiegelt festgehalten.

Der Leiter der gesamten Anlage der Festung war ein langjähriger Freund der Familie Plettner. Dr. Lodek war ein Liebhaber der kulinarischen Genüsse und seit vielen Jahren ein gern gesehener Stammgast im Hotel der Plettners.

Als junger Student, der sich wie viele andere Mitte der wirtschaftlich schweren 30er-Jahre durchkämpfen musste und mehr als einmal zu wenig zum Leben hatte, war es Erichs Mutter gewesen, die sich fürsorglich um den ausgehungerten Slowenen gekümmert hatte, der auf einem Studienausflug in Klagenfurt war.

Sie hatte ihn am Markt beobachtet, als er hungrig die wenigen Stände angestarrt hatte, an denen die Bauern Speck und Würste anboten. Frau Plettner war eine äußerst warmherzige Gastwirtin, die alles teilte, auch wenn sie, wie während der Kriegsjahre und der schweren Zeit der Besetzung nach dem Krieg, selbst nicht gerade Unmengen zu essen hatte. Sie nahm den jungen Mann kurzerhand mit ins Hotel und verwöhnte ihn mit Schinkenschöberlsuppe, Backhendl und Salat und anderen Schmankerln, bis dieser dankend, aber vehement den in Klagenfurt weithin berühmten Haselnusspudding ablehnte, da er meinte, er würde sonst platzen.

Von diesem Tag an war Peter Lodek jeder noch so kleine Anlass Grund genug, in die Kärntner Hauptstadt zurückzukommen und den Plettners – und der Küche des Hotels – einen Besuch abzustatten.

Diese Freundschaft hatte all die Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten überstanden, die sich durch den Krieg oft zwischen Kärntnern und Slowenen ergeben hatten.

Peter machte seinen Doktortitel in Völkerkunde und wurde nach einigen Jahren Direktor eines Museums in der Nähe von Bled, bis er vor einigen Jahren die Leitung der Festung übernahm. Zwei, manchmal sogar drei Mal im Monat kam er bei den Plettners auf ein ‚kleines Mittagessen‘ vorbei, das sich dann meistens über mehrere Stunden hinzog, da Dr. Lodek nach einem üppigen Mahl gerne mit der Familie einen Kaffee genoss, wobei die Gespräche sich von Pontius zu Pilatus zogen.

Erich hatte des Öfteren den Eindruck, Dr. Lodek würde ab und zu selbst Vorwände erfinden, um einen Ausflug nach Klagenfurt zu unternehmen, aber er amüsierte sich nur heimlich darüber, denn die Gespräche mit dem Doktor waren immer unterhaltsam und interessant. Als Kinder saßen Markus und Erich oft am Boden und hörten Peter einfach nur wie gebannt zu, wenn dieser über sein Lieblingsthema schwelgte, die Geschichte der Völker Europas. Nie während ihrer ganzen Schulzeit hatten die Buben auch nur eine einzige Geschichtsstunde gehabt, die sie so gefesselt und amüsiert hatte wie die Stunden, in denen sie Peters lebensnah ausgeschmückten Ausführungen lauschten.

Heute aber erhoffte sich Plettner eine Geschichte aus der unmittelbaren Vergangenheit des Doktors. Wenn Markus in Bled war, ließ er es sich normalerweise nie nehmen, Dr. Lodek einen Besuch abzustatten, und sei es nur, um kurz Hallo zu sagen. Plettner hoffte, dass diese Gewohnheit seinen Bruder auch dieses Mal auf die Festung geführt hatte und dass Peter wusste, was Markus danach vorhatte.

Dr. Lodek kam ihm am Gang, der von alten Rüstungen gesäumt war, entgegen, strahlend lächelnd.

„Erich, was für eine Freude, dich zu sehen! Was verschafft uns denn die Ehre? Und warum hast du nicht vorher angerufen? Dann hätte ich mir freigenommen und wir könnten uns jetzt bei Mirko etwas Gutes gönnen.“

„Hallo, Peter. Entschuldige, dass ich dich einfach so überfalle. Ich bin auf der Suche nach Markus. War er zufällig bei dir?“

„Markus? Nein, nicht dass ich wüsste. Und ich war den ganzen Tag hier im Büro. Ich muss eine spezielle Ausstellung vorbereiten, weißt du?“, erklärte Peter und Plettner hörte am Tonfall sofort heraus, dass der Historiker nichts lieber täte, als seinem überraschenden Besuch in aller Ausführlichkeit von besagter Ausstellung zu erzählen. Doch dafür hatte er heute keine Zeit.

„Bist du sicher, hat er nicht vielleicht doch angerufen? Vielleicht bei deiner Sekretärin?“, drängte ihn Plettner wieder auf seine Frage zurück.

„Oh, die ist im Moment noch auf Urlaub. Ich bekomme alle Telefonate direkt zu mir ins Büro. Es ist die Hölle, kann ich dir sagen. Aber Markus hat sich nicht gemeldet. Tut mir leid. Stimmt etwas nicht? Du klingst so besorgt.“

Dr. Lodek sah Plettner eindringlich an.

„Ach, wahrscheinlich ist es nichts. Alte Berufskrankheit, dieses Misstrauen, du verstehst“, winkte er ab.

„Ah ja, déformation professionnelle, schon klar. Kannst halt nicht aus deiner Haut, obwohl du pensioniert bist, was? Verstehe ich nur allzu gut. Sonst wäre ich mit meinen 79 Jahren nicht mehr hier. Wahrscheinlich zählen sie mich sowieso schon zum Inventar.“

„Na, Gott sei Dank haben sie dir noch keinen Strichcode zur Registrierung auf die Stirn gestempelt.“

Beide lachten, aber Dr. Lodek merkte gleich, dass Plettners Lachen nur seine Nervosität überspielen sollte.

„Erich, jetzt mal im Ernst. Was ist los? Du machst dir wirklich Sorgen, oder?“, fragte Dr. Lodek und legte Plettner seinen Arm auf die Schulter.

„Markus ist irgendetwas oder irgendwem auf der Spur und gestern überstürzt zu einem Treffen hier in Bled aufgebrochen. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie habe ich ein sehr schlechtes Gefühl bei der ganzen Sache.“

„Na ja, jetzt übertreib mal nicht gleich. Wahrscheinlich sitzt er irgendwo in einer Hütte ohne Telefon und sein Mobiltelefon hat keine Batterie mehr“, beruhigte ihn Peter.