Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Frieling-Verlag Berlin • Eine Marke der Frieling & Huffmann GmbH & Co. KG

Rheinstraße 46, 12161 Berlin

Telefon: 0 30 / 76 69 99-0

www.frieling.de

ISBN 978-3-8280-3377-1

Auch als E-Book erhältlich (ISBN 978-3-8280-3378-8).

1. Auflage 2017

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Piera Lorenz

Bildnachweis U4 (Porträt): Record Team, Langenberg

Sämtliche Rechte vorbehalten

Hört Ihr Himmel und den darin wohnenden Göttern und guten Geistern, die mich begleitet und geleitet haben!

Ich will Euch Dank sagen und ein wenig bitten, um weiteren Beistand.

– Amen. –

Sehr dankbar bin ich auch meiner irdischen Buchhändlerin Eva Egner für die Empfehlung mehrerer Verlage und moralischem Beistandes.

– Ja, so fing das an. –

Einen dicken Blumenstrauß für unsere kregle Sende- und Empfangsstation, die beherzt nicht nur mein handgeschriebenes Manuskript in die Elektronikform transferierte, sondern auch gekonnt unsere Funksprüche an die durchaus sympathische Cheflektorin Katarina Grgic, von dem Empfangslektorat, absetzt und entgegennimmt.

Die Zusammenarbeit mit Frau Grgic läuft so angenehm. Das erwärmt uns wie ein Kachelofen den Salon. Ist das nicht fein, wenn man das sagen kann?

Also, auch hier muss ein ausgesucht schöner Blumenstrauß her. Merci.

Und schließlich denke ich an die vielen tüchtigen Spezialisten im Verlagshaus, die mir zwar unbekannt, aber sicher erforderlich sind, um ein Werk in die richtige Bahn zu bekommen, und danke ihnen.

So bin ich zuversichtlich, und voller Erwartung in der Schwangerschaft eines guten Gelingens.

, im Dezember 2016

Inhaltsverzeichnis

WILLKOMMEN

Nun sitze ich in meinem Polstersessel, den ich vor mehreren Jahren in Füssen von einem Trödler erstanden habe: gepflegtes Äußeres, halbhohe, blütenförmige Rückenlehne und alles in beigefarbigem Plüsch, unten gehen die langen Fransen ringsherum. Sie merken schon: Ich liebe dieses Ding, obwohl das Möbel beim Kauf nur drei wackelige Füße besaß. Es war wirklich Liebe von Anfang an.

Repariert und gründlich mit Wasser und Seife gereinigt nahm mein Sessel die Vorherrschaft meiner Sitzgelegenheiten ein. Jetzt BESITZE ich ihn jeden Tag an meinem Schreibtisch, der als Küchentisch in heller Birke zu höheren Diensten avancierte. Um meinen Ellbogen, links, vor der scharfen Tischkante bei meinem Schreiben zu schützen, platziere ich einen Frotteewaschlappen, lindgrün, zur Polsterung. Auch wenn er schon nach monatelangem Sondereinsatz etwas platt gedrückt dort ruht, hält er eisern durch und leistet mir so angenehmen Beistand. Das missliche Höhenverhältnis von Tisch und Sessel war wirklich schrecklich und so griff ich zu zwei Paketen Roh-Malkartons mit stets verrutschendem Sitzkissen. Ist das nicht wunderbar?

Der kleine Raum, der u. a. meine Literatur, mein Büro, einige Originalen von mir und viel Gedöns beherbergt, ist meine Zentrale, mein geliebtes Cockpit, von dem aus kommuniziert wird. Jetzt geht es also endlich los mit langem Bleistift, einem betagten Radiergummi, einem Stapel Blanko-Papierseiten und viel Zuversicht, auf dass mein Werk gelingen möge und sich mein Schreibstift ja nicht verschlucke, wenn so viele Ereignisse und Geschichten in vielfältiger Weise aus ihm herausfließen.

Wollen Sie mich ein wenig begleiten auf meinem Rückblick? Gut, gehen wir zusammen, denn es gibt viel zu erzählen! Und … und seien Sie von Herzen WILLKOMMEN!

AUS DEM INHALT

Erster Teil

Kindheit

Veränderung

Erwachsen

Garten

Kniffe

Zweiter Teil

Geschichten

Rezepte

Gedichte

Lustiges

Kritisches

Nachdenkliches

QUELLENANGABE

Jedes Ende ist ein strahlender Beginn, Autor Elisabeth Kübler-Ross, J.-K. Fischer-Verlag, ISBN 3-92378166-0, Seite 137

Mallorca Kultur und Lebensfreude, Autoren Ute E. Hammer, Frank Schauhoff, Carlos Agustin, Belen Tanago, Könemann Verlag, ISBN 3-8290-0261-0, Seite 187

I-Ging, Das Buch der Wandlungen, Autor Richard Wilhelm, Diederichs-Verlag, ISBN 3-424-00675-0, Seite 264, 265

Teil 1

BOMBEN

Das Leben fing schon recht spektakulär an: Breslau wurde bombardiert. Wir, meine Mutter, meine Schwester und ich und ein winselnder Dackel einer Nachbarin, befanden uns im Kellerraum der Wohnblockzeile, welcher auch im Innenstadtbereich als Bunker diente.

Es rumste, knallte und pfiff, es wackelte alles. Als wir hinauskamen nach dem Angriff, es war abends, stand ein ganzer Teil der Häuserzeile auf der anderen Straßenseite nur noch als Fassade. Aus den Fensterhöhlen waberten hell die Flammen.

Diese Eindrücke sind die einzigen von Breslau, mit meinen vier Jahren, als wir Breslau verlassen mussten.

DIE PFANNE

Meine Mutter, meine Tante und wir Kinder fuhren dann mit der überfüllten Eisenbahn nach Westen und kamen in Bayern an. Die Zwangseinweisung beim Bauern sorgte stets für Spannungen. Es war nicht so einfach, denn uns fehlte es an allem. Mutter hatte irgendwoher eine Bratpfanne organisiert. Ich weiß nur, dass sie oft, das Ding schwingend wie eine Fliegenklatsche, hinter den herumlaufenden Mäusen herlief, schimpfte, überall mit der Pfanne laut aneckte und nie eine erlegte.

FRANZÖSISCHE SOLDATEN

Eines Tages hörten wir dumpfe Geräusche und eine ganze Truppe mit Panzern und Fahrzeugen fuhr langsam die Dorfstraße herauf. Der Hof wurde besetzt, von französischen Soldaten, auch Schwarzen.

Wir Kinder mussten mucksmäuschenstill sein und durften uns unter dem Heu nicht bewegen, denn Mutter hatte uns vor den Soldaten im Heu versteckt. IHR nutzte es nichts. Sie wurde Opfer der weißen und schwarzen Söldner.

Diese machten sich einen Spaß daraus, alle Hühner zu köpfen und laufen zu lassen.

Nach einem strengen Winter kam das Frühjahr, das Winterwasser gurgelte die Bäche hinunter und an einer Sonnenseite des Baches gab es Tausende von gelben Himmelsschlüsselchen dicht beieinander. Den herrlichen Duft werde ich nie vergessen.

Mit den Lebensmitteln war das so eine Sache: Brot war knapp und schlecht zu bekommen. Da in unserer Nähe eine riesige Molkerei arbeitete, ging es irgendwie und wir bekamen original bayrischen Hartkäse mit den großen Löchern. Zum Teil verfügten wir über so viel Käse, den wir vor Hunger gern ganz aufgegessen hätten.

So aßen wir oft nur Allgäuer, bis das Salz die Zunge trocken machte. Gab es mal Brot, so kam es als Belag auf den Käse.

HOLZBIRNEN

Mit Mutter Lucie gingen wir, meine Schwester und ich, öfters einen geschlängelten Weg, denn wir lebten am Fuß der gewaltigen bayrischen Berge und hielten Ausschau nach dem Reifegrad der wilden Holzbirnen und Äpfel.

Diese Bäume trugen knochenharte, kleine Früchte an unveredelten Holzästen. Selbst wenn sie heranreiften: Essen konnte man sie bei aller Liebe nicht.

Im Frühjahr gingen wir sowieso zu den vielen kleinen Tannen, um die neuen Sprossen zu ernten. Mutter kochte dann die Spitzen mit viel weißem Zucker zu einem Sirup. Das war der Honigersatz.

KALB ALS HUND

Für mich war das Sammeln der Tannenspitzen recht lästig, da ich viel lieber bei den Kälbern auf der Weide war. Kam der Abend heran und ich hatte den ganzen Tag bei den Kälbern geklebt, so duftete ich so intensiv nach Kuh, dass Mutter schon mal aus der Fassung geriet und mir eine Predigt hielt. Das alles half nicht allzu viel, denn ich betrachtete „mein“ Kalb als eine Art Freund: Ich konnte es anfassen und streicheln, Nasen, Rücken und Ohren krabbeln.

Nähe ist es, die so viele Menschen berührt, beim Umgang mit Hunden, Katzen, Pferden, Kamelen, Elefanten und anderen Tieren. Ist es nicht so?

SÄGEWEIHER

Im anschließenden Sommer liefen wir mit den anderen Kindern zur Sägemühle, mit dem breiten Wasser davor. Dicke, lange Fichtenstämme schwammen vor dem Mühlengatter im seichten Grund, ganz ideal für uns Kinder zum Herumturnen.

Wir herumhüpfenden Kinder, in nassen, oft schief mit zum Teil zu tief gerutschten oder zu sehr bis unter die Achseln gezogenen Unterhosen der Erwachsenen, ergaben sicher ein skurriles Bild. Wir empfanden es als normal und keinen störte es. Uns machte es Spaß am Bach und mich faszinierte auch der immer wieder wabernde hellgrüne Pflanzenteppich in dem kristallklaren Gebirgswasser.

Der Mutter dagegen machte es keinen Spaß, von unserem Spaß zu erfahren, denn die Stämme konnten glatt sein, dann war die Gefahr eines Sturzes und von Quetschungen durch die Stämme riesengroß! Also: nicht noch einmal! Wir versprachen es.

TANTE UND DIE ZIEGE

Meine Tante, die Cousine meiner Mutter, wohnte mit ihren beiden Mädchen ein paar Häuser weiter und kam öfters zu Besuch. Da die Strecke doch ziemlich lang und im Zickzack zu laufen war, nahm Tante Käthe mehrmals die Abkürzung quer über eine eingezäunte Wiese. Doch einmal graste dort eine Gruppe Ziegen. Kaum war die Tante ein paar Schritte auf der Wiese, stürmte eine Ziege herbei und attackierte ihr das Hinterteil; sie stolperte mit Mühe und Not zurück, wieder über den Zaun und schrie ganz fürchterlich.

Seitdem gab es keine Abkürzungen mehr, wenn Tiere auf der Weide waren.

BRUNSBÜTTEL

Der Krieg war zu Ende. Mein Onkel meldete sich aus Norddeutschland von der BASF und so fuhren wir alle zusammen nach Brunsbüttel-Koog im Viehwaggon. Keine Bänke, kein Tisch, kein Fenster, nur oben Luken, keine Heizung, kein Licht, kein Wasser, kein WC und viele Personen!

Die Reise dauerte einige Tage, da der Waggon oft abgekoppelt länger stand. Dann verqualmte ein notdürftiges Feuer den Raum, aber wärmer wurde es nicht. Obwohl wir in Brunsbüttel in intakten Räumen wohnten, litten wir Not. Wir hungerten und froren lange, lange.

Ich weiß noch von einer Holzaktion: Meine Mutter, meine Tante und wir Kinder gingen in ein Buchenwäldchen, um Holz zu sägen. Die Frauen hatten eine lange Baumsäge mitgebracht, aber nachdem sie mit viel Anstrengung den Baum angesägt hatten, klemmte die Säge fest und alles war verloren.

Für uns Kinder gestaltete sich der Sommer ganz lustig. Wir spielten im Freien und überall gab es etwas zu sehen: die vielen Schiffe, der nahe Deich mit Ebbe und Flut, die Fischer mit ihren Reusen: mit Aalen, Schollen und Krebsen, die angrenzenden Bäche voller kleiner Fische und vor allem die nahe Gleisanlage von BASF. Dort fuhren kleine werkseigene Dampfloks, die ihre ausgebrannten Kohlen auf die Gleise schaufelten. Waren diese erloschen, pickten wir wie Aschenputtel die nussgroßen schwarzen, halbverbrannten Koksstückchen heraus, für den Ofen zu Haus. Manchmal warf der Heizer und Lokführer einen Klumpen Steinkohle ab, für uns Kinder.

Zum frühen Herbst ging meine Mutter mit meiner Schwester und mir oft „spazieren“ … an das Kartoffelfeld oder zum Kohlfeld. Auf dem Bauch robbte ich durch die Furchen und buddelte Kartoffeln aus. Mutter passte auf, wegen des Bauern.

VATERS HEIMKEHR

Irgendwie erfuhr Mutter Lucia, dass mein Vater in Lippstadt gelandet war und eine Anstellung bei der Kreisverwaltung gefunden hatte. Wir verließen Brunsbüttel und Lippstadt sollte unsere neue Heimat werden.

Wir bezogen zunächst eine kleine Wohnung direkt am Eingang des großen Friedhofes. Die häufigen Beerdigungen unterhielten unser kindliches Interesse. Denn die Leichenwagen, verglast und mit Kränzen behängt, zogen meistens schwarz gekleidete Pferde, schön geschmückt mit Bommeln und Quasten. Die Geistlichkeit unter dem Baldachin und Messdiener mit Weihrauch-Schwenkern beeindruckten uns schon sehr; vor allem, wenn die Prozession mit den vielen Leuten Gesang anstimmte. Manchmal war auch eine Blaskapelle dabei.

Der Friedhof war für uns Kinder ein schöner Spielort. Mutter verbot es später. An den frisch ausgehobenen Gräbern gab es schönen Sand in verschiedenen Farben. Mittlerweile war ich ca. acht Jahre und wir zogen an den östlichen Stadtrand in eine Wohnung im ersten Stock: eine Villa aus der Jahrhundertwende. Also wieder einmal umziehen!

Die rote Backstein-Villa, umgeben mit einem Garten voller Obstbäume und Haselnuss-Büschen, in der Nähe ein Bach und ein Fluss. In diesem Haus wohnten noch zwei Familien und ein fremder Onkel Willi im Dachstübchen.

Außer uns lebte noch eine Witwe mit ihren halb erwachsenen Töchtern auf derselben Etage im ersten Stock. Die Toilette befand sich auf dem Flur und war für zwei Familien gedacht. So benutzten wir für die Nacht einen Zinkeimer, ca. ein Drittel mit Wasser gefüllt. – Auf dem schmalen Eimerrand Platz zu nehmen, war höchst unangenehm, aber wir Kinder schafften es irgendwie. Am Morgen trugen wir dann den volleren Eimer oft mit etwas größerer Fracht über den Flur zum WC.

Mit den Kindern aus der Nachbarschaft waren wir ständig unterwegs. Bei trockenem Wetter spielten wir oft Seilhüpfen, Verstecken und Ähnliches … und auf einem Vorplatz „Stand Ohne“: Mehrere Kinder, mit einem Haselnuss-Stock versehen, kamen reihum zum Zuge. Das heißt, ein kurzes Haselnuss-Stöckchen, an beiden Enden angespitzt, musste durch Anschlagen mit dem Stock zum Springen kommen und dabei weit weggeschlagen werden. Wer den weitesten Schlag hatte, war Sieger.

Auch die nahen Teiche brachten stets Erlebnisse: Gelbrandkäfer, Wasserflöhe, Stichlinge, Frösche und Kaulquappen untersuchten wir und trugen sie im Einmachglas nach Haus.

DER SPATZ IN DER HAND

An einem Sommertag besuchte ich meinen Freund Alfons aus der Nachbarschaft. Der Hühnerstall bei ihm im Garten war natürlich immer attraktiv für uns Kinder. Doch diesmal gab es etwas Besonderes: Ein Huhn hatte einen vorwitzigen Spatzen erlegt und rannte damit herum. Alfons stieg in den Stall, rannte dem Huhn hinterher, bis es den leblosen Spatz fallen ließ, und gab mir den toten Vogel. Eiligst lief ich mit meiner Beute nach Haus.

Gerupft, ausgenommen und gereinigt garte ich auf Mutters Kohleherd das Tier und verzehrte es; allein, denn keiner aus der Familie wollte etwas von dem Braten probieren.

Es wurde dann wieder einmal Mai und die Maiandachten am Nachmittag wurden zur Schulpflicht. Aber immer klappte der Besuch nicht, denn ich hatte so oft eine gute Ausrede. Doch einmal, als es während der Andacht eine Pause gab für ein stilles Gebet und alles ruhig war, startete ein mitgebrachter Maikäfer mit tiefem Brummen den Rundflug und die Andacht erhielt eine willkommene Auflockerung.

ONKEL WILLI UND DIE TANTE

In der Dachkammer der Villa lebte der fremde Onkel Willi. Trotz des krummen Rückens konnte Onkel Willi doch die Treppen bewältigen und schimpfte recht ordentlich, wenn wir zu laut waren. Im Parterre lebte außer einer Witwe mit ihrem Sohn eine Tante Stoffregen, die wir selten sahen; doch eines Tages sollte sich das ändern:

Ein Treiben und Schaffen machte uns neugierig und am nächsten Tag lag die Tante an der Seite des Treppenaufgangs mit viel Grün und großen Kerzen. Dort ruhte sie nun tagelang und wir mussten mehrere Male täglich an ihr vorbei, langsam und leise. Nun, sie lag still und rührte sich nicht, die Augen geschlossen. Ob das so blieb? Zudem erfüllte ein fremder Geruch nach Grün, Harz und Friedhof das ganze Treppenhaus.

Ein paar Monate später war es auch um Onkel Willi geschehen. Jetzt schimpfte da oben niemand mehr; Onkel Willi war tot.

Er kam jedoch mithilfe der keuchenden Bestatter aus der Dachkammer herab, im engen Sarg über steile Treppen, und war dann weg.

PULLOVER FÜR MICH

Doch bevor ich von den Kleiderspenden berichte, kommt zunächst die kleine Geschichte von Onkel Hardy. Onkel Hardy war Feinkosthändler in Breslau und als Jugendfreund meines Vaters auch hier gelandet. Arbeit zu finden war nicht leicht und so brachte eine Adresse für Heimarbeiten immer etwas Hoffnung auf einen kleinen Verdienst. Diesmal zeigte er uns mehrere aus Zeitungspapier gewickelte Päckchen: Alles lose Schweineborsten! Diese mussten sortiert werden, nach Länge, Stärke und Richtung. Die fertigen, alle abgezählt, lagen in kleinen Bündeln und sahen schon etwas aus wie Pinsel.

Wir probierten auch einmal das Sortieren: Es ging ganz ordentlich auf die Augen! Es durfte auch keiner pusten, sonst waren sie weg vom Tisch. Das alles war äußerst mühsam! –

In der schlechten Zeit nach dem Krieg gab es kaum Bekleidung und die Winterzeit war lang, Temperaturen um −20 °C keine Seltenheit. Meine Eltern erhielten Zugang zu britischen Kleiderspenden. Die Freude an diesem Abenteuer war natürlich groß. Passte etwas nicht, wurde es passend gemacht, dank der Schneiderkünste von Mutter. Auch sonst gab es bereitwillig Zugeständnisse: Hauptsache es war tragbar und warm. Die meisten Sachen zählten zur Damengarderobe. So bekam ich von Mutter so manch einen bunten Pullover verordnet. Mir gefiel das. Im Laufe der Pubertät verstärkte sich mein Bewusstsein für feine, weiche Stoffe. Später bemerkte ich, dass mein Wunsch nach femininer Kleidung unausweichlich wurde: Mein Körper war nicht dafür gedacht, die übliche Männerkleidung zu tragen. Doch andere Aufgaben und Arbeiten lenkten mich ab und so verging die Zeit.

Nebenbei: Als junger Mensch hat man nicht die Kenntnis und die Erfahrung und dann läuft es halt, wie es ist.

Zunächst zurück zu den Spenden-Kleidern: Auch „reservierte“ ich mit hastigen Augen schon mal eine Bluse; manchmal war meine ältere Schwester schneller und der Fummel war weg. Anziehen konnte ich so etwas nicht. „Das ist nichts für dich!“, und gepasst hätte es sowieso nicht. Aber gehabt, nur so, hätte ich sie schon gerne. Und überhaupt: Weshalb das so bei mir war, das wusste ich nicht.

DAS HIMMLISCHE LAGER

Zur Ergänzung des neuen Hausstandes erhielten wir frische hölzerne Bettgestelle von … irgendwo, von der Stadt? Der Zusammenbau ging ganz einfach, da die Schenkelbretter nur in die Keilausfräsung an Kopfbzw. Fußendstück gesteckt werden brauchten. Und schon stand das Möbel. Eine ganze Reihe Buchenbretter, quer eingelegt, bildeten den Boden. Darauf kam eine einfache Decke für den anschließenden Jutesack mit eingestopftem Stroh! Die nächste Decke bildete den Abschluss, sodass mit einem Laken obendrauf das himmlische Lager bereitet war.

Im Gebrauch ging es spätestens nach zwei Wochen doch recht irdisch zu: Der Strohsack, in der Mitte schon platt gelegen, konnte wegen der Staubentwicklung nicht aufgeschüttelt werden und die runden Strohhalme waren flach gedrückt. So mutierte das Schlaflager zu einem Nest mit hartem Boden.

In unserer Wohnung gab es zwei Einzelbetten und ein Doppelbett. An einem Abend, es war schon spät, wurde ich durch einen lauten Rums wach und hörte zugleich ein Klagen und Schimpfen aus dem Schlafzimmer der Eltern. Meine Schwester und ich eilten hinzu und sahen Vater mit dem Strohsack hantieren und Mutter aus dem Bett krabbeln. Das Bett war zusammengebrochen unter der Last der beiden. Die Bettenebene lag schief, genauso wie die Stimmung von Mutter und Vater.

Wir Kinder fanden den Zusammenbruch des Bettes gar nicht mal so tragisch, sondern als besondere Einlage sogar ganz lustig und machten uns keinerlei Gedanken über die multiplen Eventualitäten als Auslöser der „Katastrophe“.

So angeheizt von der Abendvorstellung rannte ich in meinem Übermut zu meinem Bett und warf mich hinein … „Proch“ machte es und ich lag parterre! Auch meine Kamurke (gemütliches Bett) gehörte zu dem Stamme der Hochsensiblen! Mit einigen Handgriffen steckten wir das hölzerne Bett zusammen und ganz vorsichtig schlich ich mich auf mein Lager: gute Nacht.

ZUCKERSACKSCHLÜPFER

Heute kann man sich die Lage von damals kaum vorstellen: Es fehlte an allen Ecken und überall wurde improvisiert. Vater brachte einmal leere Zuckersäcke mit. Was sollte man damit anfangen? Mutter wusste es! Das weiße Material, die langen Partien, konnten bestimmt aufgeribbelt und zu irgendetwas gestrickt werden. Gewiss, etwas hart fühlte sich das Ganze schon an, aber in der Not …

Nun ja, Mutter, behände wie sie war, verwandelte die Säcke in Knäuel und fing an zu stricken. Was wird das? „Eine warme Unterhose für dich.“ Es dauerte nicht lange, da war das erste Modell fertig und sofort im Einsatz. Mein Gott, welche Überraschung! Ich kam mir vor wie in einer Ritterrüstung auf Raten. Das Material, hart wie es war, kratzte und biss schon beim Gehen! … und im Sitzen prägte sich das Muster in die Haut ein! So etwas vergisst man nie!

TABAK

Überall in der Stadt gab es Kioske. Für Vater kaufte ich Zigaretten, einzeln: einmal zwei Zigaretten oder drei, lose verpackt. Später auch schon mal eine Packung mit fünf Stück, Marke Golddollar, Eckstein oder Senoussi (die ovalen).

Wir Kinder passten auch auf, wenn britische Soldaten rauchend unterwegs waren, denn sie rauchten die Zigaretten nur zur Hälfte. Wir wechselten den Bürgersteig und hinter den Tommis liefen wir, bis der Glimmstängel weggeworfen wurde. Schnell war er gelöscht und als Beute nach Haus gebracht, denn Vater besaß auch eine kleine Pfeife.

LOCHBLECH VON SOENNECKEN

Einmal brachte er aus dem Büro ein Soennecken-Blech in ca. DIN-A5-Größe aus einem Karteikasten mit und trieb mit einem alten, wackeligen Hammer und einem dicken Stahlnagel präzise etliche Löcher hinein. Endlich hörte das Geklopfe auf und das Reibeisen lag mitten auf dem Küchentisch, neu geschaffen und sofort einsatzbereit für Kartoffelpufer! (Heute befindet sich dieses Blech in einem Museum in Ostwestfalen.)

Die ganze Familie tanzte um das Locheisen und um Vater, der als Held gefeiert wurde. Doch Vater kam in arge Bedrängnis, denn die hungrige Bande wollte Kartoffelpufer essen. Und wir hatten keine Kartoffeln und es gab auch keine zu kaufen. So zog Vater mit seiner Tasche los zum Hamstern über Land mit noch einem besonderen Schwerpunkt. Mit einigen Erdknollen und einem Hühnerei kehrte er müde und erschöpft, aber glücklich zurück.

ÖFCHEN / KARTOFFELPUFFER

Der kleine eiserne Küchenofen, auf seinen dünnen, fremdartigen Beinen, sah aus wie ein falsch getrimmter Pudel, aber er heizte ganz prima, wenn er etwas Gutes zu brennen bekam. Dann glühte schon mal die gerissene Platte und das Ofenrohr. Bei den intensiven Heizmanövern löste sich mitunter das Ofenrohr, die Dichtungsmanschette rutschte nach vorn und eine Ladung Staub und Ruß fiel herab. Ja, spätestens nach ca. vier Wochen musste das Rohr sowieso abgenommen und vorsichtig zum Reinigen ins Freie gebracht werden. Alle Gänge und Züge des Öfchens erhielten ebenfalls eine Säuberungsmaßnahme. Aber zurück zu den Kartoffeln:

Mutter nahm sich liebevoll das neue Haushaltsgerät und badete es erst einmal gründlich. Womit, das blieb mir verborgen. Jedenfalls gab es in der Küche Ata, Imi und Kernseife.

Beim Reiben der Kartoffeln musste Mutter Lucie sehr aufpassen, denn die neue Reibefläche raspelte sehr gut. Die Kartoffeln wanderten natürlich ungeschält durch das Reibeisen. So war der gewünschte rohe Brei im Nu fertig.

Mehl, Zwiebeln, Fett gab es nicht und so brauchten wir es auch nicht. Ach ja, die Pfanne! Wir hatten keine Pfanne die erste Zeit! „Nicht so schlimm“, sagte die Mutti Lucie. So fabrizierte sie die Puffer auf der gusseisernen Herdplatte; am Rande, sonst wäre noch mehr verbrannt.

Mein Gott, mir werden die Augen ganz feucht, wenn ich heute daran denke. Als Kinder haben wir so manches als normal empfunden, obwohl es das nicht war.

KUCHENSTREIFEN

Manchmal, ein paar Jahre später, so in den frühen Fünfzigern, wanderte ich mit Mutters Kuchenblech beladen mit Hefeteig und Pflaumen oder Äpfeln darauf zum Bäcker, mit der Bitte zum Abbacken. Zugleich hielt ich Ausschau nach Kantenstreifen von den Streuselkuchen oder Bienenstichen, denn diese waren schnell verkauft, da sie zu einem minderen Tarif gehandelt wurden.

Zu Hause wieder eingetroffen, berichtete ich Mutter über den Stand der Kuchenstreifen und mit ihrer Zusage erntete ich für 50 oder 80 Pfennige so manches Stück beim Abholen unseres bäckerofengebackenen Blechkuchens.

MEINE EINKÄUFE

Im Übrigen: Gern ging ich „einholen“, wie es bei uns zu Hause hieß, denn das Einkaufen mit ganzen Sinnen, das heißt: aufpassen, Kontakt mit unterschiedlichen Waren, Größe, Menge, Zustand und nicht zuletzt die Begegnung mit anderen Kunden: Das fand ich toll (oft traf ich auch Leute aus der Nachbarschaft) und bedeutete für mich eine abenteuerliche Herausforderung. Zum Beispiel samstags beim Fleischer: In Vierer-Reihe oder noch mehr musste gewartet werden, bis ich an der Reihe war.

Langweilig wurde es mir nie, denn die unterschiedlichsten Kunden mit ihren unterschiedlichsten Wünschen boten stets ein interessantes Bild. Obwohl der Einkaufszettel von Mutti mir die Hauptrichtung angab, konnte ich meine individuellen Überlegungen anwenden; war dieses oder jenes Stück Fleisch ausverkauft, so kombinierte ich einen passenden Ersatz. Oder es gab plötzlich ein Sonderangebot o. Ä., so konnte ich entscheiden.

Diese Freiheiten hatte mir meine Mutter Lucie schon längst zugestanden. Wie bei allem war der Anfang nicht so leicht, doch bald bekam ich eine angenehme Routine beim Einkauf.

ERSTER WAGEN

Doch ehe es so weit war, gab es ein paar Jahre vorher, in der Kuchenstreifen-Ära, noch das Thema Kohle.

Ich war ca. 13 Jahre alt. Die Freude war groß, als wir einen eigenen Wagen bekamen. Die Räder wackelten und schleiften beängstigend, doch das hölzerne Gestell insgesamt schien brauchbar. Wenn es beim Kohlehändler mal Kohle gab, Eierkohle, Briketts, Koks, Braunkohle, Torf oder sogar Anthrazit, so kam der Handwagen zum vollen Einsatz. Einmal gab es preiswerte Schlammkohle: Was das war? Vielleicht angesammelter erdiger Kohlenschlamm aus einer Sprühanlage im Bergwerk, aber kein Mensch wusste es genau.

Das Wort „Kohle“ allein genügte sicherlich schon, um dieses wundersame Material unter die Leute zu bekommen. Also, Schlammkohle sollte ich mit dem Handwagen holen.

Der Holzwagen, ein betagtes Modell, war ein besonderer: Das eine Seitenbrett, aus einem alten Sperrholzstück gefertigt, gab dem Bollerwagen eine spezielle Note. Die Holzspeichen der Räder, ausgetrocknet und deshalb lose, schlugen und schleiften an der hinteren Eisenstange, die außen für Stabilität sorgte. Das ganze Bauwerk bestand im Grunde aus wackeligen Elementen. Auch das Deichsel-Querholz, oben als Griff, wackelte und zwackte mir manchmal die Hand beim Ziehen.

SCHWARZER QUARK

Der Händler, nur ein paar Straßen weiter, war bequem zu erreichen. Gutes Wetter hatten wir auch und so ging es los. Ich komme um die letzte Straßenecke, da sehe ich eine lange Schlange mit anderen Leuten, auch mit Handwagen, die dort auf der Fahrbahn warteten. Es mussten mehr als zwanzig Wagen gewesen sein.

Als ich endlich drankam, schaufelte der Kohlenmann mit einer spatenähnlichen Schippe von einem nassen Puddingberg Stück für Stück ab und in den Handwagen hinein. Das nasse Material ähnelte einem großen Haufen hausgemachtem Quark – nur dass dieser in grauschwarzer Farbe glänzte.

Der Handwagen, voll bis zum Rand mit dieser Paste, war so schwer, dass ich Angst bekam, er könne zusammen- oder auseinanderbrechen. Nur mit äußerster Mühe zog ich ihn heimwärts. Jeden zweiten Schritt ein schneller Blick nach hinten, ob alles noch hält. Was sehe ich da?

Durch das Geruckel der Wanderung gab es eine glatte Oberfläche über den ganzen Wagen und eine Laufspur auf der trockenen Straße, denn an einer Stelle eines Brettes kleckerte es durch die Ritze direkt auf den Boden. So konnte man leicht erkennen, wo ich herkam. Und ich schämte mich …! Weil ich die Wege verschmutzte.

Nicht nur der Transport in den Keller, sondern auch das Schleppen mit einem schweren Eimer in den ersten Stock der Wohnung ließ die Herzen höherschlagen. Damit das Feuer im Ofen nicht ausging, musste das Öfchen erst mal mit Kohle auf Hochstimmung gebracht werden. Schien der Augenblick günstig, wurde der brikettgroße Klumpen in Zeitungspapier verpackt auf die Ofenglut geschoben.

SCHUSS IN DEN OFEN

Die nachfolgenden Stunden zeichneten sich aus durch verstärkte Ofenkontrolle, Hoffen, Bangen und Bitten, dass der Himmel das Feuer erhalten möge. Im Ofen rührte sich nichts. Das Zeitungspapier war zwar weg, doch nur an den Kanten glimmte unser Kuckucksei!

Und das Tollste an der Prozedur erwartete mich, als ich am anderen Morgen den Ofen zum Anheizen reinigen wollte: Die ganze Feuerstelle war genauso voll mit der Pampe, wie wir/ich sie zuvor beladen hatte/n, nur in hellbraunem Staub! Das war wirklich jedes Mal ein Schuss in den Ofen!

Bald war die Schlammgeschichte vorbei und der Kohlenmann brachte uns die Kohle in den Keller. Das war ein geschwärzter, stabiler Mann mit einer Lederschürze auf der einer Schulter. So trug er Huckepack die schwere Fracht die Stufen hinunter und schüttete die dickwandigen Säcke mit Geklunkere in einer Nische aus.

So begann nach der Schule mein Auftritt im Keller, denn ich, als einziger Junge in der Familie, hatte das Amt des Ofenmeisters inne. Bekamen wir Briketts, so war ich meist an zwei Tagen in meiner Freizeit im Keller und stapelte diese Dinger. Bei anderer Kohle wurde exakt in die Ecke geschaufelt.

Als ich nach getaner Arbeit stolz dem Keller entstieg und in die Wohnung kam, blickte ich stets als erstes in den Spiegel. Mein geschwärztes Gesicht ließ das Weiße in den Augen noch heller und leuchtender erscheinen. Schade, dass kein Karneval war, dachte ich so manches Mal. Aber an meine arme Lunge hat niemand gedacht! Ich auch nicht! Dieses Gefüge dauerte einige Jahre, bis wir 1952 in unseren Neubau einzogen, mit Gasheizung.

PREISE, KARTOFFELN, BRÖTCHEN, MILCH, MARGARINE ETC.

In dem Kohlenkeller gleich nebenan stand unsere wichtige Kartoffelkiste. Im Herbst fuhren die Bauern mit Pferdewagen voll bepackt mit Kartoffeln durch die Straßen. Bei den Lieferungen erhielten auch umstehende Leute Proben, ob ihnen die Sorte auch zusagt.

Wir orderten meist für vier Personen ca. vier bis sieben Zentner. Das reichte fürs Erste. Aßen wir zu wenig, so gab es im Frühjahr Keimkartoffeln, zum Teil verfault oder auch angeknabbert von den Kellergästen. Solch eine verdorbene Angelegenheit zu beseitigen, machte natürlich kein Pläsir. Ein Zentner oder fünfzig Kilo kosteten im Schnitt sieben D-Mark. Das sind 14 Pfennig pro Kilogramm. Für ein Brötchen aus Vollkornmehl reichten fünf Pfennig.

Auch gab es einen Milchwagen, der täglich morgens seine Straßen abfuhr. Milch kam in die mitgebrachte Milchkanne, abgefüllt aus einem größeren Edelstahltank. Im Sommer wurde nach einem Gewitter schon mal die gekaufte Milch sauer. Wunderbar schmeckte sie so, und als Quark stellte sie eine willkommene Abwechslung dar.

Beim Kauf von Margarine erhielten wir kleine Plastikfiguren: Reiter, allerlei Tierformen und je nach Hersteller auch bunte Sammelkärtchen mit diesen Motiven: Landschaften in Deutschland, Tiere, Blumen und Bäume. So etwas sprach uns Kinder sehr an und wir lernten dadurch automatisch vieles kennen. Und dann gab es noch die vielen bunten Blumen- und Tiermotive, diese erhaben gestanzten Glanzbildchen, aber nur im Papierladen und nicht umsonst.

Hatte Mutter wieder einmal mehrere Laufmaschen in ihren Nylons, so brachte ich diese in ein Textilgeschäft zur Reparatur. Nach ein paar Tagen konnten sie wieder abgeholt werden für den neuen Wettlauf mit den Maschen.

FUTTER SAMMELN FÜR DEN OFEN

Die Kohle war ja knapp. Fast alle Haushalte kochten und heizten mit Kohleherden und -öfen. So war die ganze Familie auch darin geübt, stets auf Brauchbares zu achten. Wir Kinder waren ja immer unterwegs und fanden schon öfters ein Stück Holz von einer alten Kiste, oder ein Baum lag gefällt darnieder und dort gab es immer Schnipsel.

Mutter war eine helle Spezialistin, auch sonntags beim Familienspaziergang oder -ausflug oder sonst – unsere Route führte meistens an einem Wäldchen, Wald entlang oder directement in den Wald. Die vielen Stoffbeutel und Taschen von Mutter Lucie füllten sich dann nach und nach, bis jeder etwas zu tragen hatte. Bevorzugt kamen Tannen- und Kiefernzapfen in die Sammlung, denn diese harzreichen Dinger, getrocknet und gesondert gelagert, verströmten ihr angenehmes, würziges Aroma in der ganzen Wohnung.

In den Ofen befördert, brannte mit starkem Knistern bald ein helles Feuer. Schnell musste nachgelegt werden, aber immerhin bereitete dieses Flammenspiel ein besonderes Vergnügen. Ein Stocher-Eisen besaßen wir nicht, jedoch eine armlange Fensterladenstange, die wir am Ende gebogen hatten und die gute Dienste leistete.

Vor dem Essen wurde natürlich gebetet und nach dem Essen der Teller abgeleckt. Es durfte ja nichts verloren gehen!

AM WASSER

Nach der Schule führte uns der lange Heimweg durch einen Park mit Wasserlauf. Besonders beim Niedrigstand schlenderten wir an den freigelegten Uferkanten entlang und ließen oft Schilfbötchen fahren.

Bei diesen Gelegenheiten fanden wir auch schon mal längliche Luftballons. Jeder wollte der Erste sein, denn Luftballons waren bei uns Kindern rar. Dann pusteten wir sie auf. Meist gelang es nicht, denn sie waren oft zerknittert und nass und platzten weg. Manchmal flogen sie doch einen Moment wie eine steuerlose Rakete. Es war schon lustig! Später achteten wir gezielt darauf, ob die Dinger zu finden waren. Woher sie kamen und wozu sie nütze waren, wir hatten keine Ahnung. Jedenfalls konnte man gut mit ihnen spielen.

AM CONTAINER

Wie schon berichtet, entwickelte sich ja in meiner frühen Zeit schon ein Faible für weiche, glatte, fließende Stoffe. Die Aufmerksamkeit in diese Richtung wurde fester Bestandteil meines Interesses.

Bei einem Geschäftsumbau (altes Kino) wurde jede Menge überflüssiger glatter Deko-Stoff auf den Container gehäuft; gut erhalten, aber weg. Als ich das sah, wusste ich, davon muss ich etwas ergattern! Das gelang mir dann auch und abends hüllte ich mich heimlich damit ein und kroch ins Bett. Bis mich eines Tages meine Eltern im Bett überraschten und fragten, was das solle, weshalb ich das tue! (Der Stoff wurde mir weggenommen.) Diese Antwort blieb ich ihnen schuldig. Dabei wollte ich doch nur weichen, glatten Stoff um meinen Körper haben!

Auch war ich lieber mit den Mädchen. Mein Gott, war ich schüchtern! … und ahnungslos! Es blieb aber beim Steinchen-Hüpfen, Sing-Sang-Spielen mit gemeinsamen Tanzschritten, Seilspringen und anderen Spielen.

KINDERSPIELE

Wenn ich meine Kinderzeit durchstreife, fallen mir auch die diversen Kinderspiele wieder ein. Wie viele frohe Stunden der Begeisterung und Freude verbrachten wir, nicht um die Zeit zu füllen, vielmehr um uns zu beweisen, was uns Spaß bereitete. Über den Nebeneffekt von Routine und Fähigkeiten machten wir uns keine Gedanken. Das Ziel lief immer darauf hinaus, einfach besser zu sein als die anderen, was aber nicht immer gelang. Es hängt ja auch vieles davon ab, wie man veranlagt ist. Ich glaube, Sieger zu sein, war für mich kein zwingender Punkt. Schon das Erlebnis, gemeinsam zu ringen und nicht unbedingt der Letzte zu werden, war schon genügend Anreiz zum Mitmachen. Dabei zählten ja die verschiedenen Umstände, Geschick oder Missgeschick, Glück halt, die dem Spiel die pikante, unberechenbare Note gaben.

Lili Marleen: Damals war ich gut fünf Jahre alt. Es muss Herbst gewesen sein, im Norden, in Brunsbüttel-Koog. Die Luft war relativ mild, kein Regen, aber beizeiten duster. So spielten wir gemeinsame Gehschritte. D. h. je nachdem, wie viele Kinder der Nachbarschaft da waren, vielleicht sechs bis ca. zehn, stellte sich die eine Hälfte zu einer Wand im Hof und die andere, vielleicht auf vier Meter Abstand, gegenüber auf. Dann fasste jeder den Nachbarn mit ausgestrecktem Arm an die Taille und zwar so, dass sich eine Reihe ergab. Befand sich mal ein Knirps dazwischen, so lag der Nachbararm auf dessen Schulter. War die Ausgangsposition der beiden Gruppen brauchbar, so gab das leitende Mädchen Anweisungen, welche Schritte wir zunächst machen und was wir singen wollten. Meistens erklang die Ballade „Vor dem großen Tore stand sie noch davor … Lilli Marleen …“ Wie sie in ganzer Länge lautet, bekomme ich heute nicht mehr zusammen. Jedenfalls sangen wir dieses frisch-fröhlich-tragische Lied mit Begeisterung. Gleichzeitig bewegte sich ein Cordon auf den anderen zu oder beide pulsierten in Variationen. Als wichtiger Punkt sollte auf Gleichschritt geachtet werden, was nicht immer gelang.

So gab es oft lautstarke Korrektur-Einwürfe und Gequake statt Gesang. Aber lustig war die Sache schon. Gehopse, Gesang, Geschnatter und Gelächter lösten also einander ab und brachten uns fröhliche Kurzweil.

Stand Ohne: Mit zehn Jahren lernte ich dieses Spiel kennen. Es eignete sich hauptsächlich für Jungen, aber auch Mädchen beteiligten sich. Zunächst musste ein fester Stock herbei. Wer ein Taschenmesser besaß, schnitt aus einem nahen Haselnussbusch eine ordentliche Gerte heraus. Nach dem Muster eines Bibers schnitzte er aus dem dickeren Ende ein ca. 15 bis 20 cm langes Stück ab. War es fertig, so sah das „Pinneken“ aus wie ein ganz dicker, kurzer Bleistift, an beiden Enden angespitzt. Die restliche Gerte, auf ca. 1,20 bis 1,50 m gekürzt, ergab den benötigten geraden und stabilen Stock aus dem harten und elastischen Nussbaumgehölz.

Jetzt kann es losgehen mit zwei oder mehreren Mitspielern: Am besten eignet sich ein großer, freier Hof oder ein ruhiges, großes Straßenstück mit einem Naturweg. Wenn man eine feste Bodenstelle gefunden hat, wo kein Gras steht, scharrt man mit dem Stock eine ca. 4 cm tiefe Rille. Darüber gelegt bildet das „Pinneken“ die Zentralstelle. Von diesem Punkt ca. 10 Schritte weiter zeigt eine gekratzte Linie mit einem Stein oder einem Stock (und nicht mit dem Fuß!) die Distanz an, wo der Mitspieler stehen soll.

So, jetzt geht es richtig los: Der Spielführer versucht nun, mit dem in die Erdrinne eingeführten Stock das quer darüberliegende „Pinne-ken“ weit wegzuschleudern. Natürlich darf das Rundhölzchen nach Gutdünken zurechtgelegt werden. Im Moment des Hochschleuderns ruft der Spieler: „Stand Ohne“. Wird das weggeschleuderte „Pinneken“ von feststehendem Mitspieler gefangen, bekommt er Sonderpunkte, die dem Spielführer abgezogen werden. Nun, dann werden die Rollen getauscht. Wenn aber das Holz, nicht gefangen, irgendwo landet, darf das „Pinneken“ durch Aufschlagen an die Spitze hochgejubelt und mit einem Luftquerschlag möglichst weit weggehauen werden. Hat das geklappt, kann noch einmal geschlagen werden. Jetzt wird die Entfernung vom Hölzchen bis zur Startstelle abgeschritten. Jeder Schritt – ein Punkt. Jeder hat also drei Kontakte mit dem Holz. Haut er dreimal daneben, dann macht der andere sein Spiel. Wer die meisten Punkte hat, hat die meisten Punkte – und das Rennen kann pausenlos weitergehen. –

Wagenfahren: In gehobener Position verfügt das heranwachsende Bürschlein natürlich über einen Wagen, wenn auch, und das immerhin, in komfortabler Holzklasse! Die Bundesbahn fing ja auch mit Holzklasse 4 an, bevor sie viel später zum französischen TGV hinüberschielte.

Zwar verfügten unsere ersten Vorkriegsmodelle noch über manche Kinderkrankheiten wie z. B. an den Radlagern, aber sie wurden im Allgemeinen nicht so drastisch eingeschätzt, dass eine Rückrufaktion gerechtfertigt erschien.

Die Karosserie bestand schon damals aus rostfreien Materialien, was auf der anderen Seite mancherorts für Wurmprobleme sorgte. Nun, unser H-Wagen hatte auch so manche Mucken, wie das so bei Oldtimern öfters mal der Fall ist: Die Radspeichen saßen nur bei Regenwetter fest im Eisenreifen. Bei längerer, trockener Zeit gestaltete sich ein alter Hammer mit einem abgesplitterten Griff als wichtigstes (und einziges) Utensil vom Bordwerkzeug. Damit klopfte ich nach kurzer Strecke und regelmäßig die verrutschten hölzernen Speichenstücke wieder an ihren Platz. Geschah das nicht, so signalisierte ein rhythmischer Schleifton die Notwendigkeit des Eingreifens. Im Fall der Bevorzugung einer anderen Aufgabe setzte eine Bremsautomatik ein, die sich so ausweiten konnte, dass die Parkstellung als letzte Konsequenz ein sicheres Halten ermöglichte. Bei der Inbetriebnahme des Oldtimers zum Zwecke einer Promenadenfahrt bei schönem Wetter ging das nur mit einer Zweierbesatzung:

Nach Herauslösen des Bug- und Heckteils des Laderaumes nahm der Pilot vorne Platz. Mit ausgestreckten Beinen am Lenkgestänge konnten so die delikatesten Kurven gemeistert werden. Der Kopilot, inzwischen auf dem Rücksitz Platz genommen, sorgte für den Antrieb. Die herunterbaumelnden Beine berührten bequem den Boden und regelten die Reisegeschwindigkeit wie auch erforderliche Bremsmanöver. Bei längeren Ausfahrten tauschte das Team schon mal die Plätze, denn diese Sportart verlangt das einfach. Und hatten wir es vor lauter Begeisterung wieder einmal übertrieben, zahlten wir am nächsten Tag mit Muskelkater. Das war unser H-and-Wagen.

Wenn sie auch nicht gerade spektakulär sind, will ich doch kurz noch folgende Aktivitäten aus der Erinnerung nennen:

Das Steinchen-Hüpfen in aufgemalten Quadraten, Hula-Hoop-Reifen mit Hüftschwung, Ballspiel an einer Wand mit Abstoß von Hand, Arm, Kopf im Wechsel, Federballspiel, Blinde Kuh, Versteckspiel, „1, 2, 3, ich komme!“ und andere.