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ISBN 978-3-8280-3385-6

1. Auflage 2017

Umschlaggestaltung: Michael Beautemps

Sämtliche Rechte vorbehalten

Inhalt

Meine Kindheit

Auch wenn ich nicht gerade ein Kind der Liebe war und mein Schicksal mich am Ende des Zweiten Weltkrieges dann ausgerechnet auch noch in dieser kleinen Handwerkerfamilie zur Welt kommen ließ, wo ich in den schlimmen Bombennächten in Bremerhaven als das „Musste-das-nun wirklich-auch-nochsein-Kind“ dann wohl auch bereits im Mutterleib schon meine erste Angstprägung erfuhr, als sich meine mit mir hochschwangere Mutter Gertrud bei den schweren Luftangriffen in äußerster Todesangst an meine drei weiteren Geschwister klammerte, an meine siebenjährige Schwester Helga und an meine beiden 14-jährigen Brüder Eberhard und Friedrich. Tja, und was dann wohl auch in meiner Seele geschah, die sich doch noch ganz der Mutter anvertraute und sich ihr auch auslieferte? Und da ich ja noch eins mit meiner Mutter war, erlebte ich somit auch all ihre körperlichen und seelischen Vorgänge – auch alle Gedanken und Gefühle.

So war allein das blanke Überleben in dieser sehr schwierigen Zeit ja keineswegs sicher – und sollte uns nach unserer totalen Ausbombung und der nun erforderlichen Suche nach einer neuen Bleibe im Landkreis Bremervörde auch noch erheblich tangieren, als man in der kleinen Gemeinde Deinstedt bei Bremervörde dann auch nicht gerade begeistert war, uns nun auch noch aufzunehmen und durchzufüttern. Doch da unser eigentlicher Versorger, unser Vater Eberhard, ja im Krieg diente – und die Zeit meiner Geburt immer näher rückte –, hatte meine Mutter keine Wahl und bat letztendlich den Pfarrer des kleinen Örtchens um seinen Beistand. Und tatsächlich – so an die Hand genommen und an die Menschlichkeit appelliert, erklärte sich nach langem Hin und Her dann doch noch ein Großbauer bereit, uns aufzunehmen – auch wenn die allgemeine Stimmung seiner Großfamilie uns gegenüber eher unterschwellig feindlich war. Aber immerhin zeigte seine hochbetagte und über ihren eigenen Tellerrand hinausschauende Großmutter doch so unendlich viel Herz; wenn sie uns klammheimlich – ohne dass die anderen je etwas davon erfahren durften – unter ihrer großen Kittelschürze mit so mancherlei Köstlichkeiten aus der Küche versorgte.

Oh ja, man war dem lieben Mütterchen schon mehr als nur dankbar – allein auch wegen ihrer liebevollen Unterstützung während meiner wohl etwas schwierigen Geburt. Denn irgendwie hatte ich inzwischen so überhaupt keine Lust mehr, in solch eine grausame Welt zu kommen …

Kein Wunder also, dass meine Mutter dann sogar auch schon an Selbstmord dachte, als sie so in ihren Wehen ohne ärztliche Begleitung der Natur dann einfach ihren Lauf lassen musste – auch wenn dieser Gedanke gleich nach meiner Geburt schon wieder verschwunden war. Tja, und als unser Vater nach einigen Jahren doch wohlbehalten wieder heimkehrte, da konnten wir unser Glück kaum fassen, dass wir nun alle doch noch auf die Sonnenseite des Lebens gelangen sollten.

Wenn meine Eltern dann doch nur nicht die kleine Maschinen-Strickerei meiner väterlicherseits verstorbenen Großeltern übernommen hätten, um sich nun vom frühen Morgen bis in den späten Abend für ihren kleinen Handwerksbetrieb abzurackern, um ganz nach oben zu kommen, und wie von selbst im Laufe der Jahre dann aber immer mehr der Gewohnheit verfielen, dem ansteigenden Druck der Arbeit nachzugeben und sich ihr wie selbstverständlich unterzuordnen. Und da sie dabei alle unmittelbaren und langfristigen Freuden eines befriedigenden Privatlebens völlig missachteten, blieben sie selbst immer mehr auf der Strecke und gerieten mehr und mehr aus dem Gleichgewicht. Und als sie es dann so richtig bemerkten, waren ihnen der Spaß und die Liebe zueinander längst verloren gegangen. Natürlich brachten den beiden ihre jahrelange, anfangs wohl auch wirklich noch gut funktionierende Zusammenarbeit ganz sicher auch enorme berufliche und finanzielle Erfolge ein, wenn sie so an ihren Strick-, Stick- und Nähmaschinen wie Räder nahtlos ineinandergriffen. Wobei auch für mich in dieser Zeit die Welt eigentlich noch ganz in Ordnung war – wenn ich, mittendrin munter nuckelnd, nur auch schon an irgendeiner Nähmaschine meine ersten Puppenkleider nähen durfte.

Während meine Mutter in ihrer freundlichen und liebevollen Wesensart wie selbstverständlich immer auch den Familienmittelpunkt bildete und zweifelsohne wohl auch den Löwenanteil in ihrer Beziehung leistete, indem sie nicht nur uns Kinder und den Haushalt (zeitweise auch mithilfe einer Haushälterin) versorgte, sondern – quasi nebenbei – auch noch mehrere Angestellte in ihrer kleinen Näherei ausbildete und leitete. Ja, und natürlich war sie es auch, die allen Dingen immer erst den letzten Schliff gab. Und so verstand es sich dann auch von selbst, dass meine Mutter durch ihre allgemeine Vereinnahmung durch Haushalt, Familie und Beruf mir dann auch nicht immer so viel Aufmerksamkeit zukommen lassen konnte, wie sie es gern getan hätte – doch im Rahmen ihrer Möglichkeiten war sie ganz sicher eine gute Mutter. Auch wenn sie ihre eigenen Probleme hatte und selbst als Kind schon Schläge bekommen hatte, wenn sie nur die Schuhe durchgelaufen hatte. Da ihr so früh schon „Tugenden“ wie Sparsamkeit und Gehorsam nahegebracht worden waren, durfte sie selbstverständlich nicht an sich selbst denken, sondern wurde dazu angehalten, stets auf das Wohl oder die Ideen der anderen bedacht zu sein.

So war sie wohl auch schon von klein auf daran gewöhnt, sich und ihre Fähigkeiten zu unterschätzen; und auch die erwachsene Gertrud war sich ihrer gewissen Macht, die sie jetzt zweifellos hatte, keineswegs bewusst und ließ sich lieber vom Ehemann leiten, anstatt beizeiten ihre Kräfte für sich selbst zu mobilisieren und ihre eigenen Lebensvorstellungen zu verteidigen (falls sie überhaupt welche hatte). Denn je mehr sie sich auch für das Wohl der Maschinen-Strickerei ihres Mannes und das Glück ihrer Familie einsetzte, umso geringer wurde ihre eigene Entfaltungsmöglichkeit und ihre persönliche Entwicklung und desto mehr vernachlässigte sie auch alles andere – am meisten aber ganz gewiss sich selber (Arzt- und Friseurbesuche wurden meist auf den Nimmerleinstag verschoben). Völlig überarbeitet und ausgepowert kam sie gar nicht auf die Idee, erst einmal alle Einflüsse, die täglich auf sie einstürmten, nach eigenen Maßstäben zu filtern, um nicht ständig vom Strudel der Unsicherheit mitgerissen zu werden, in dem ihre eigenen Wünsche und Ziele sowieso meist auf der Strecke und unbeachtet blieben. Wohl auch nicht dazu erzogen, ihre eigene Fantasie ungehemmt einzusetzen, konnte sie sich dann auch kaum noch vorstellen, wie sie ein Leben in Ruhe und Glück, in größtmöglicher Unabhängigkeit von anderen, ohne Hast und nach eigenen Wünschen meistern sollte.

Und da sie ja sowieso nie gewagt hatte, mal richtig Nein zu sagen und gegen den Strom zu schwimmen – wie sollte es ihr da gelingen, ihre Ketten zu sprengen, um ihr selbst in Gang gesetztes Hamsterrad der maßlosen Inanspruchnahme anzuhalten und auszusteigen? Oder wenigstens nach einem Konzept zu suchen, das aus weniger Arbeit und mehr Freiraum für sie selbst bestand, welches sich dann auch mit der Realität in Einklang bringen ließe? Aber da ja eigentlich alles lief und alle zufrieden waren und niemand außer ihr eine Veränderung in der Familie oder Firma wünschte, nun ja, da tat sie eben das, was wohl auch das Bequemste für sie war – sie blieb in ihrem gewohnten Trott und versuchte sich mit dem Aufputschmittel Preludin über Wasser zu halten, auch wenn es ihr letztendlich mehr Nach- als Vorteile brachte, wenn sie sich immer nur ihrem Mann bzw. den jeweiligen Umständen anpasste und das unterdrückte, was ihr eigentlich ein Bedürfnis war. Und obschon ihr längst alle sagten, sie werde betrogen – sie glaubte es nicht und klammerte sich in ihrer Harmoniesucht nur noch fester an ihre einst, das heißt vor dem Krieg, so überaus glückliche Ehe- und Lebensgemeinschaft, selbst wenn die Atmosphäre von Geborgenheit, des Aufgehobenseins und des sich Behaglichfühlens inzwischen längst fehlte.

Und da mir unter dieser Prämisse etwa bis zum Schulbeginn die von meiner Mutter angebotene (ausbeutungshafte) Selbstfigurierung zu einem fröhlichen und sonnenscheinhaften Kind offenstand, gab ich meiner meist völlig überforderten und ratlosen Mutter dann wohl auch eine Hilfestellung, die sich später jedoch in einer mehr dienenden Helferinnenqualität fortsetzte. Als jüngstes Kind hatte ich immer wohl auch eine ganz besonders enge und liebevolle Beziehung zu meiner Mutter. Und da ich mich sogar mitverantwortlich für sie fühlte, übernahm ich viel zu früh die Elternrolle für mich selbst und übernahm die meiner Mutter – da ich in ihr keinen Halt fand und selbst noch keinen in mir hatte. Sicherlich war sie sich ihrer grenzenlosen Überforderung gar nicht bewusst, als sie meinte: „Ach Gila, ich möchte lieber dein Kind als deine Mutter sein!“ – „Aber Mama, werde doch endlich erwachsen – und lass mir meine Kindheit!“

Aber vielleicht brachte ja gerade die Kombination übersymbiotischer Wärme und personaler Unentschiedenheit aufseiten meiner Mutter diese gegenseitige Umklammerung zustande, deren Innigkeit sich durch die oft unvorhersehbare Willkürherrschaft meines Vaters noch zu verstärken schien, sodass es dann auch später nie zu einer emotionalen Annäherung zwischen meinem Vater und mir kam – es war nur immer ein Vater-Tochter-Spielen. Aber nie war es so ein liebevolles echtes Verhältnis wie bei meinen älteren Geschwistern, die unser Vater schon vor dem Krieg hatte aufwachsen sehen und mit denen er sich auch heute noch fest verbunden fühlt – ja, sie mochten einander wirklich sehr.

Aber wer weiß – vielleicht war mein Vater ja sogar schon drauf und dran, diese seltsame Kluft zwischen uns beiden zu überwinden, als er mich liebevoll auf den Arm nehmen wollte und meine Mutter wie eine Furie dazwischenfuhr und mich ihm wütend entriss … Alle waren wie vor den Kopf geschlagen – wusste sie mehr als die anderen?