LICHTSCHLAG 37

© Natalia Lichtschlag Buchverlag Grevenbroich 2016

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlag: Lichtschlag Medien Düsseldorf

ISBN: 978-3-939562-58-0

Books on Demand GmbH

Übersetzt ins Deutsche von Unbekannt (Manifest) und Axel B.C. Krauss (Geschichte und Rede)

Mit einem Vorwort von Stefan Blankertz

Inhaltsverzeichnis

Teil 2: Manifest der neuen Libertären

I. Etatismus: Unser Zustand

Libertarismus vs. Zwang. Die Natur des Staates. Bestandteile des Libertarismus und Diversität der Bewegung. Der Staat schlägt zurück: Antiprinzipien. Wege und Nichtwege zur Freiheit. Verrat und Antwort, Handeln über alles.

II. Agorismus: Unser Ziel

Konsistenz der Ziele, der Mittel, der Ziele und Mittel. Portrait einer agoristischen Gesellschaft. Restaurationstheorie: Entschädigung, Zeitverlust und Aufdeckungswahrscheinlichkeitskosten; inhärente Vorteile. Agorismus definiert. Bedenken entgegnet.

III. Gegenwirtschaft: Unser Mittel

Mikroaktivität und Makrokonsequenzen. Agoristen: Gegenwirtschafter mit libertärem Bewusstsein. Der Zweck der „Establishment“-Wirtschaft. Schritt für Schritt rückwärts vom Agorismus zum Etatismus (für theoretische Zwecke). Schwarze und graue Märkte: die unbewusste Agora. Status der Gegenwirtschaft in der „Dritten“, „Zweiten“, und „Ersten“ Welt und gröbste Beispiele. Gegenwirtschaft in allen Feldern des Handels sogar in Nordamerika, einige exklusiv gegenwirtschaftlich. Universalität der Gegenwirtschaft und Gründe dafür. Beschränkung der Gegenwirtschaft und Gründe. Die Rolle der Intelligenzija und der etablierten Medien. Scheitern der Gegenwirtschaften und der Schlüssel zum Erfolg. Schritte vom Etatismus zum Agorismus und das Risiko der Marktbeschützung. Die fundamentalen Prinzipien der Gegenwirtschaft. Der Grund für das unausweichliche Wachstum der agoristischen gegenwirtschaftlichen Subgesellschaft.

IV. Revolution: Unsere Strategie

Bewusstes Gegenwirtschaften genügt, aber manche brennen darauf, mehr zu tun – Kampf bekämpfen oder unterstützen. Kampf unangemessen ohne Strategie. Phasen des agoristischen Wachstums entscheiden über angemessene Strategie. Taktiken, die immer angemessen sind. Neulibertäre Allianz als Vereinigung zur Freiheitsunternehmung. Libertäre Überzeugung ist Bedingung der Neulibertären Taktiken.

Phase 0: Keine agoristische Gesellschaft.

Bewusstsein steigern.

Phase 1: Agoristische Gesellschaft mit geringer Dichte.

Radikale Ausschüsse und Libertäre Linke. Antiprinzipien bekämpfen. Krisen des Etatismus vorausahnen.

Phase 2: Agoristische Gesellschaft mit mittlerer Dichte und mit geringer Verdichtung.

Der Staat schlägt zurück, jedoch unterdrückt von der agoristischen Kontamination.

Phase 3: Agoristische Gesellschaft mit hoher Dichte und großer Verdichtung. Permanente Krise des Etatismus.

Bedürfnis, die Gegenwirtschaft zu vernichten, wächst, während die Fähigkeit schwindet. Antiprinzipien als größte Bedrohung. Der finale Schlag des Staates: Revolution. Strategie schließt Aufschiebungstaktiken und Gegenaufklärung ein. Korrekte Definition der (gewaltsamen) Revolution.

Phase 4: Agoristische Gesellschaft mit etatistischen Unreinheiten.

Kollaps des Staates und gleichzeitige Auflösung der NLA. Zu Hause!

V. Aktion: Unsere Taktiken

Liste einiger Taktiken. Taktiken müssen im Kontext entdeckt und angewendet werden. Aktivist = Unternehmer. Wo wir jetzt (dann) sind. Gelegenheit durch den Kollaps der etatistischen Linken. Gelegenheit durch verfrühten Parteiausverkauf. Die abschließende Aufgabe. Neulibertäres Versprechen und stürmischer Abschluss: Agora, Anarchie, Aktion!

Teil 1: Vorworte

Vorwort zur deutschen Ausgabe 2016 von Stefan Blankertz

Das Manifest der neuen Libertären von Samuel Edward Konkin III – nicht mehr ganz neu, aber heute notwendiger denn je

„Nahezu alles Handeln wird reguliert, besteuert, verboten oder subventioniert. Darum leistet jeder Widerstand in dem Maße, dass er in einer Gesellschaft überlebt, in der Gesetze alles kontrollieren und widersprüchliche Anweisungen geben. Jedes (freiwillige) menschliche Handeln, das unter Absehung des Staates begangen wird, begründet die Gegen-Ökonomie.“ Samuel Edward Konkin III, Mitte der 1980er Jahre.1

Die Notwendigkeit des neuen libertären Manifests – damals und heute

Schon als „The New Libertarian Manifesto“ 1980 erschien, war es nicht mehr neu. Ursprünglich hatte es bereits 1975 erscheinen sollen. Das Erscheinungsdatum des „Manifests der neuen Libertären“, obwohl fünf Jahre später als geplant, ist gleichwohl bedeutsam.

1980 fand die sogenannte „Reagan-Revolution“ statt. Ronald Reagan war der erste republikanische Präsidentschaftskandidat seit Barry Goldwater (1909-1998) 1964, der Staatsabbau auf dem Programm stehen hatte. Die Zeit dafür schien reif. In England regierte seit 1979 die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher (1925-2013). Überall in der westlichen Welt schienen die Wähler und zumindest Teile der politischen Klasse der bis dahin seit den 1960er Jahren vorherrschenden Sozialdemokratie überdrüssig zu sein. Im Lager der US-amerikanischen Konservativen und „alten (anti-autoritären) Rechten“2 machte sich eine gewisse Hoffnung breit, die traditionellen Werte der Amerikanischen Revolution wiederbeleben und sich erneut einen größeren Freiraum der Bürger gegenüber dem Staat verschaffen zu können. Zur „Old American Right“ zählten immerhin so explizite Anarchisten wie Albert Jay Nock (1870-1945), den Konkin mit seinem sloganhaften Buchtitel „Our Enemy, the State“ (1935) auch im vorliegenden „Manifest“ zu Beginn zitiert. So radikal war niemand im Umfeld von Ronald Reagan, dennoch erfüllte es viele mit Hoffnung, dass jemand Prominentes überhaupt wieder wertschätzend von „Markt“ und „Kapitalismus“ sprach.

Doch Samuel Edward Konkin III gab sich keinen Illusionen hin. Dafür hatte er zwei Gründe. Der erste Grund lag darin, dass er eine Einsicht in das Wesen und die Funktionsweise des Staates hatte.

Der Staat ist das Instrument der herrschenden Klasse, die sich mit diesem Instrument Vorteile auf Kosten der übrigen Bevölkerung verschafft, meist ökonomische Vorteile. Sie trachtet nicht danach, das Instrument in seiner Wirksamkeit zu begrenzen, sondern zu stabilisieren und auszubauen. Für eine solche Stabilisierung kann es nützlich sein, das Instrument zu verfeinern, ja, es kann nützlich sein, sich scheinbar und vorübergehend ein wenig zurückzuziehen, entweder weil die Staatstätigkeit zu dysfunktionalen Effekten geführt hat oder weil es eine verbreitete anti-bürokratische Strömung in der Bevölkerung aufzufangen gilt.

In der Tat zeigte sich bald, was es mit der „Reagan-Revolution“ auf sich hatte. Durch ein wahnwitziges und friedensgefährdendes Aufrüstungsprogramm verursachte der Präsident, der als Kandidat einen ausgeglichenen Staatshaushalt versprochen hatte, das größte Haushaltsdefizit, das es bis dahin gegeben hatte. Heute behaupten manche, es sei Reagans Aufrüstungsprogramm gewesen, das die UdSSR in die Knie gezwungen habe; insofern sei es nachträglich gerechtfertigt und keineswegs friedensgefährdend, sondern im Gegenteil freiheitsfördernd gewesen.3 Diese Version nehmen, mit umgekehrter Bewertung, die inzwischen wiedererwachten Verteidiger des Staatskommunismus gern auf und behaupten, die UdSSR hätten imperialistische Machenschaften zu Fall gebracht, nicht innere Probleme der staatlich gelenkten Wirtschaft. In Wahrheit war die UdSSR aufgrund ihrer Staatshandelswirtschaft marode. Nach fast zehn Jahren Krieg in Afghanistan, wo sich die Paschtunen partout nicht durch die hochgerüstete Supermacht unterkriegen lassen wollten, war die UdSSR dann ökonomisch am Ende. Der Widerstand der Afghanen, der einen Blutzoll von einer Million Toten kostete, hat die Welt vom Staatskommunismus befreit.4 Innenpolitisch setzte Reagan eine, freilich von seinem Vorgänger Jimmy Carter bereits geplante, Registrierungspflicht für junge Männer gegen massiven Widerstand durch, um künftig eine eventuelle Einberufung zum Kriegsdienst administrativ reibungsloser durchführen zu können. Privatisierungen von staatlichen Dienstleistungen ging man halbherzig an und zum Vorteil von staatsnahen Konzernen oder anderen Günstlingen; teilweise wurden die privatisierten Unternehmen wie zum Beispiel im Bereich der Energieversorgung solchen bürokratischen Regularien unterworfen, die einen sinnvollen Betrieb unmöglich machten und zu Problemen führten, die linke und rechte Etatisten dann der Privatisierung und „dem Markt“ anlasten konnten. Schließlich kam es unter Reagan zu einer Verschärfung des von Präsident Richard Nixon 1971 ausgerufenen „Kriegs gegen die Drogen“, einer Verschärfung, die dazu führte, dass es in den USA bis heute die (zweit-) höchste Gefangenenrate weltweit gibt.5

David Stockman, von 1981 bis 1985 Finanzminister unter Ronald Reagan, beschreibt in seinem Buch „Der Triumph der Politik“ die Tragik der Reagan-Administration.6 Das Buch von Stockman ist auch darum so überzeugend, weil Stockman, obwohl er sich nach vier Jahren enttäuscht von Reagan abwendete, nicht etwa radikale Positionen bezieht, sondern ziemlich naiv beschreibt, wie zwischen den Interessen von Politikern und Lobbyisten kein Platz für echte Veränderungen sich auftut. Eine Episode scheint mir besonders bezeichnend zu sein und den Charakter des Staates präzise wiederzugeben. Während des Wahlkampfes hatte Reagan stets die Abschaffung des erst 1977 unter Präsident Jimmy Carter eingerichteten Energieministeriums angekündigt, falls er zum Präsidenten gewählt werden würde.7 Nach dem Wahlsieg ließ der neu gewählte Präsident Reagan bei Stockman fragen, ob er an dem Posten des Energieministers interessiert sei. „Meine Absage“, schreibt Stockman merkwürdigerweise, „hatte nichts damit zu tun, dass Reagan im Wahlkampf versprochen hatte, das Energieministerium aufzulösen“.8 Merkwürdig daran ist, dass Stockman selbst nach dem Bruch mit der Reagan-Administration in diesem sich offensichtlich bereits derart früh anbahnenden Wahlbetrug keinen Skandal erblicken kann. Dagegen wunderte ihn überhaupt nicht, dass der dann ernannte Energieminister James Edwards nicht nur keine Anstalten machte, sein eigenes Ministerium abzuschaffen, sondern auch bei der Aufhebung von Regulierungen im Energiemarkt und der Senkung von Subventionen gehörig auf die Bremse drückte.9 Stockman fragt sich nicht, wie er denn gehandelt hätte, hätte er dem Angebot zugestimmt, dieses Ministerium zu übernehmen. Dass er anders gehandelt hätte als James Edwards, ist wenig plausibel. Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als der von mir hoch geschätzte libertäre Historiker und Weggefährte von Murray Rothbard Leonard Liggio (1933-2014) auf einer Konferenz 1985 in Beitostølen bei Oslo10 die Interpretation vorbrachte, Ronald Reagan sei als einziger Politiker, weil vom ganzen Volk gewählt, ehrlich an Staatsabbau interessiert; er würde als einziger Politiker den „Willen des ganzen Volkes“ widerspiegeln, allerdings gehindert durch nur einer partikularen Wählerschaft verpflichtete Kongressabgeordneten.11 Da fiel mir nur der alte Glaube der russischen Bauern ein, der gute Zar würde, wenn er von ihrem schlimmen Joch unter den Feudalherrn wüsste, ihnen sofort zur Hilfe eilen. Zumindest bliebe wahr, dass Zar Ronald so naiv war, den politischen Prozess als Instrument zur Veränderung der Welt zum Besseren zu wählen.

Samuel Edward Konkin III konnte diese Entwicklung der „Reagan-Revolution“ weder schocken noch überraschen. Mit Hilfe der anarchistischen Staatstheorie lässt sie sich präzise analysieren. „Nehmt den radikalsten Revolutionär und setzt ihn auf den Thron aller Russen oder verleiht ihm eine diktatorische Macht […], und ehe ein Jahr vergeht, wird er schlimmer als der Zar selbst geworden sein“, schrieb Michael Bakunin 1870;12 der Satz hätte von Konkin genau so 1980 formuliert werden können, Konkin hätte nur den „Thron aller Russen“ durch „Präsidentenstuhl im Weißen Haus“ ersetzen müssen. Der historische Rückblick gibt Konkin gegenüber Liggio recht: Die Reagan-„Revolution“ war nicht der Auftakt für radikalere Forderungen, wie Liggio noch 1985 hoffte, sondern der für den weltweiten Hass auf den „Neoliberalismus“, der dann von interessierten Seiten mit dem Libertarismus gleichgesetzt wurde.

Konkin hatte darüber hinaus einen zweiten Grund, um sich nicht von der Euphorie um Ronald Reagan anstecken zu lassen, und das ist seine Einsicht in das Wesen und den Ablauf einer Revolution: Die Veränderung einer sozialen Struktur beginnt nicht mit dem Austausch der sie befehligenden Elite. Das Wahlvolk, das die Heilung der sozialen Gebrechen durch einen Präsidenten erhofft, mithin von dem Haupt eben des Staates, der die Ursache der Gebrechen ist, klebt am System und ist gerade nicht für eine Revolution bereit. Die Veränderung, die wirklich die Emanzipation des Bürgers vom Staat erwirkt, muss damit beginnen, dass die Bürger gerade nicht sich zum Stimmvieh machen lassen, sondern ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen.

Dieses „die Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen“ darf dann freilich laut Konkins libertärer Überzeugung nicht (wie bei den staatsfixierten Linken) wiederum die gewaltsam-staatliche Struktur haben, sondern muss auf freiwilliger Kooperation basieren. Dafür prägte Konkin den Begriff „Agorismus“, abgeleitet von dem griechischen Wort für Marktplatz, auf dem im antiken Griechenland, wohlgemerkt, auch die gemeinsamen sozialen Angelegenheiten geregelt und nicht nur Geschäfte abgeschlossen wurden. Der Begriff „Agorismus“ erinnert daran, dass die Reduzierung des Marktplatzes auf die Marktwirtschaft bereits ein Einknicken der Idee der freien Kooperation vor dem Staat bedeutet.

Hatte Murray Rothbard noch, wenn auch nicht ganz ernst gemeint, auf einen „Knopf“ gehofft, der, wenn man ihn drückt, den Staat verschwinden lässt,13 war sich Konkin schon darüber bewusst, dass die an den Staat gewöhnten Bürger in solch einem Fall hilflos dastehen würden. Sie müssen zunächst beginnen, Handel ohne staatliche Einmischung zu treiben, untereinander Konflikte ohne staatliche Justiz zu lösen und so weiter, und erst dann werden sie bereit und in der Lage sein, den Staat zur Hölle zu schicken.

Die historische Situation, in der die libertäre Bewegung drohte, sich von der Idee eines sozialen Wandels zu verabschieden, und vor allem auf politische Veränderungen setzte, veranlasste Konkin, die „Bewegung der libertären Linken“ (Movement of the Libertarian Left, MLL) ins Leben zu rufen. Deren Gründungsdokument sollte das vorliegende „Manifest der neuen Libertären“ werden. Während in den 1960er und 1970er Jahren die Libertären den „anti-autoritären“ Linken erklären mussten, dass es auf der amerikanischen Rechten eine ebensolche, nein, eine viel konsequentere „anti-autoritäre“ Haltung gegeben habe, von der die Linken viel lernen konnten, stand nach Konkins Auffassung nun auf der Tagesordnung, klar zu machen, dass der Libertarismus gegen das politische Establishment steht, auch wenn dies durch scheinbar freiheitsfreundlichere „rechte“ Politiker ersetzt wird. Für diese Haltung und für nichts anderes steht das Wort „links“ in der „Bewegung der libertären Linken“. Ob es klug ist, sich auf solch eine Weise innerhalb des untauglichen Rechtslinks-Schemas zu verorten, können wir uns zwar fragen, aber von den Intentionen von Konkin macht eine Antwort keine Abstriche, die die Frage verneint.

Auch insofern war Konkins Analyse von damals weitsichtig, als in der Folge der „Reagan-Revolution“ und der weltweiten Wendung zu einem rechten Neoliberalismus weite Teile der libertären Bewegung partiell ihren Frieden mit dem Staat im Allgemeinen und der Demokratie im Besonderen machten. In dem Maße, in dem rechte oder konservative Themen wieder mehrheitsfähig wurden, insistierten die Kräfte, die die etablierten Medien heute summarisch als „Rechtspopulisten“ bezeichnen, immer stärker auf plebiszitäre, basis-, gar volksdemokratische Elemente (insofern ist die Kennzeichnung als „Populisten“ gar nicht falsch, aber für selbsternannte Demokraten höchst verräterisch, denn hecheln sie nicht alle dem Mob hinterher?). Wütend wird eingefordert, den „Volkswillen“ politisch umzusetzen, wenn eine faktische kleine Minderheit in einer Wahl die vermeintliche Mehrheit errungen hat. Das heißt, die siegestrunkene Rechte bedient sich nun genau der Mittel, mit denen die Linke an die Macht gekommen ist.

Ein Beispiel: Als in der Schweiz die Volksinitiative „Für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)“ gegen Ende 2010 angenommen wurde, entdeckte die deutsche Rechte ihre Liebe zur direkten Demokratie, die seit den 1960er Jahren eher ein Anliegen der linken Seite war. Seit der Annahme der Ausschaffungsinitiative wurde deren Umsetzung durch die Legislative allerdings immer wieder verschleppt. Nicht besser erging es der Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“, die Anfang 2014 angenommen wurde. Die Initiatoren riefen zornentbrannt dazu auf, Volksentscheide konsequent umzusetzen. Ob sie genau das gleiche Engagement aufbringen, wenn die Umsetzung eines politisch links verorteten Projekts behindert wird (wie etwa die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens), sei bloß ein Zweifel am Rande. „Parlamentariern und dem Bundesrat“, so lautete eine Presseerklärung, solle „in Erinnerung“ gerufen werden, „wer der Chef im Lande ist: Nämlich das Volk!“

„Volk“, das hört sich groß und harmonisch an. Die Initiativen sind mit einer Differenz von kaum sechs beziehungsweise. weniger als einem Prozent entschieden worden. Das „Volk“ schrumpft aber noch weiter zusammen. Die Beteiligung an den Initiativen lag jeweils nur knapp über 50 Prozent. Die Zustimmung beläuft sich demnach auf kaum mehr als ein Viertel der Wahlberechtigten. Nichtwähler werden üblicherweise der Mehrheit zugeschlagen. Das ist ein Trick, denn man könnte sie genauso gut zur Gegenseite rechnen.14 Wenn jemand die Wahl zwischen zwei Produkten hat und sich für keines entscheidet, wird er nicht gezwungen, das zu erwerben, wofür eine Mehrheit votiert. In jedem anderen gesellschaftlichen Verhältnis zählt die aktive Zustimmung, nur in der Politik wird der Indifferente gezwungen, zu kaufen, was die anderen ihm vorschreiben. Demokratie hat mit Freiheit nichts zu tun, sondern ist ein Herrschaftssystem.

Regional gesehen gab es sechs beziehungsweise neun Kantone, die sich anders als die Gesamtschweiz entschieden haben. Auch hier erhebt sich die Frage, woher die Kantone, in denen die Initiativen angenommen wurden, das Recht nehmen, die ablehnenden Kantone den eigenen Regeln zu unterwerfen.15 Der einzige mir bekannte Versuch einer Antwort wird zwar allgemein unbefragt akzeptiert, stellt sich aber genauer betrachtet als rechtsphilosophischer Slapstick heraus, die Antwort nämlich, schließlich müsse in einem Land ein homogenes Recht herrschen. Der Umstand, dass ein Sachzwang zu homogenem Recht sich auf historisch zufällige Grenzen bezieht, klingt allerdings fragwürdig. Die Staaten der Erde sind